cover

Marie Louise Fischer

Die Leihmutter

 

Saga

I

»Wie konnte das geschehen?«

Beate stellte die Frage mit beherrschter Stimme, aber das Blau ihrer Augen hatte sich verdunkelt und spielte ins Violette, wie immer, wenn sie zornig war. Mit der linken Hand hielt sie Florian, ihren kleinen Sohn, fest im Griff, in der rechten, anklagend erhoben, den Brief der Hausverwaltung.

Frank Werder, ihr Mann, begriff, daß die Zeichen auf Sturm standen. Aber selbst in diesem Augenblick, vor dem er sich seit Wochen gefürchtet hatte, war ihm bewußt, wie schön sie war, wie lebenssprühend. »Reg dich doch nicht so auf!« sagte er und merkte, wie kläglich dieser Beschwichtigungsversuch klang. »Eine Schlamperei, nichts weiter«, fügte er hinzu, »so was kann doch mal vorkommen.«

»Daß man drei Monate vergißt, die Miete zu zahlen?«

»Ja eben.«

»Lächerlich!«

Florian spürte nichts von der Spannung zwischen den Eltern. Er war ganz darauf versessen sich loszureißen. Wie immer, wenn er in der Boutique seines Vaters war, spürte er größte Lust, zwischen all den schönen Dingen herumzustöbern.

»Sollten wir das nicht lieber in aller Ruhe zu Hause besprechen?« schlug Frank vor. »Statt hier im Geschäft, wo jede Minute ein Kunde kommen kann?«

»Ich muß wissen, woran ich bin. Hast du wenigstens das Geld?«

Frank wand sich unter ihren Fragen, die auf ihn wie ein Angriff wirkten. Er war 35, zehn Jahre älter als seine Frau, aber sein Haar hatte schon begonnen sich zu lichten, und seine Figur war schwer geworden. Nur sein gut geschnittenes Jackett konnte seinen Bauchansatz noch kaschieren. »Ich muß zugeben, daß ich momentan nicht sehr flüssig bin«, erklärte er hilflos.

»Du hast also die Miete nicht gezahlt, weil du es nicht konntest?«

»Bitte, Beate, versuch das doch zu verstehen! Ich hatte immer gehofft, von Woche zu Woche ...«

»Und nun stehen wir auf der Straße!«

»Aber nicht doch, Beate! Wir werden das schon schaffen. Irgendwie wird es uns gelingen ...« Er unterbrach sich mitten im Wort. »O mein Gott!« stöhnte er auf und verkrampfte sich.

Eine Sekunde lang, nein, nur den Bruchteil einer Sekunde, die sie sich später nie verzeihen würde, glaubte sie, daß er ihr einen Anfall vorspielte, um sich so der Auseinandersetzung zu entziehen. Aber dann sah sie, wie weiß sein Gesicht geworden war und wie angstverzerrt. Unwillkürlich ließ sie Florian los und stürzte zu ihrem Mann. »Du mußt dich hinlegen, sofort! Ich werde den Notarzt benachrichtigen.«

»Keinen Arzt, bitte nicht! O mein Gott!«

Beate führte Frank in das Hinterzimmer, bettete ihn auf die Couch und stopfte ihm das Kissen und seinen zusammengerollten Trenchcoat in den Rücken, um so sein Herz zu entlasten. Dabei zwang sie sich, beruhigend auf ihn einzusprechen, obwohl sie selber fast tödlich erschrocken war. Als sie den Telefonhörer abnahm und den Notdienst verständigte, protestierte er nicht mehr dagegen. In seinen Augen, die gewöhnlich so sanft blickten, stand die blanke Angst.

»Sie kommen sofort, Liebling!« versicherte Beate und rang sich ein Lächeln ab. »Keine Sorge, du wirst nicht sterben.« Sie zog ihm das hellblaue Einstecktuch aus der Brusttasche seines Jacketts und tupfte ihm den kalten Schweiß von der Stirn.

Der entsetzliche Schmerz ließ nicht nach. Er hatte Brust und Oberbauch wie eine Zange gepackt und strahlte bis in den linken Arm aus. Franks Gesicht war qualvoll verzerrt. Beate war sich nicht sicher, ob er noch verstand, was sie zu ihm sagte.

Florian, der inzwischen einen Turm bunter, glänzender Seidenpullis erst ins Schwanken gebracht, dann umgestoßen hatte, war es unheimlich geworden, so unbeobachtet Unfug treiben zu können. Er kam in das Hinterzimmer, blieb aber, die Hände auf dem Rücken, im Türrahmen stehen. »Papi krank?« fragte er. In seinen runden blauen Augen stand Besorgnis.

»Papi hat Bäuchleinweh«, erklärte Beate. Sie stand so, daß sie dem Kleinen den Blick auf seinen Vater verdeckte.

»Zuviel gegessen?«

»Mag schon sein.« Beate schoß es durch den Kopf, daß sie die Ladentür abschließen sollte. Aber sie konnte sich nicht überwinden, Frank in diesem Zustand allein zu lassen. Außerdem hätte sie es dann noch einmal tun müssen, wenn der Notarzt kam. »Gleich kommt der Onkel Doktor«, sagte sie, »geh weiter spielen.« Als Florian sich schon umdrehte, rief sie ihm nach: »Aber geh nicht auf die Straße!«

»Tu ich doch nie!«

Es ging Frank schon ein wenig besser, als der Notarzt eintraf. Sein Gesicht war nicht mehr ganz so verzerrt, aber er rang immer noch mühsam nach Atem.

»Endlich!« rief Beate.

Tatsächlich waren nicht mehr als fünf Minuten seit ihrem Anruf vergangen, aber es waren die längsten ihres Lebens gewesen.

Der Arzt glaubte sich entschuldigen zu müssen. »Wir sind schwer durchgekommen. Die Türkenstraße war wieder völlig verstopft.« Er war ein noch junger Mann, dessen scharf geschnittenem Gesicht eine randlose Brille den Ausdruck eines Wissenschaftlers verlieh. Er trug einen weißen Kittel und hatte ein Stethoskop um den Hals gehängt.

»Ich weiß«, sagte Beate ungeduldig.

Der Arzt steckte sich die Knöpfe seines Stethoskopes in die Ohren, schob Franks Pullover hoch und horchte das Herz ab. Dann richtete er sich auf und klemmte die Bügel seines Stethoskopes wieder hinter den Hals.

»Vorhin war es noch schlimmer«, sagte Beate.

Der Arzt öffnete seine Bereitschaftstasche und zog eine Einwegspritze auf.

»Ein Nitropräparat?« fragte Beate.

»Sie sind Kollegin?« fragte der Arzt erstaunt.

»Ich studiere noch.«

»Aber Sie haben die Symptome erkannt?«

»Ich fürchte ja.« Zögernd setzte sie hinzu: »Ein Angina-Pectoris-Anfall ?«

»Sieht ganz danach aus.« Der Arzt setzte die Spritze und stach zu. »Hat er das schon öfter gehabt?« Er desinfizierte den Einstich.

»Ich glaube, nein. In meiner Gegenwart jedenfalls nicht.«

»Na, es gibt immer ein erstes Mal. Am besten bringen wir ihn in die Klinik.«

»Aber ich will nicht!« protestierte Frank, dessen Gesicht wieder Farbe bekommen hatte.

»Du bist jetzt Patient, Liebling, du hast gar nichts zu wollen«, bestimmte Beate.

»Es ist doch schon vorbei! Es tut mir leid, wirklich, daß ich soviel Mühe gemacht habe.«

»So ein Anfall kommt nicht von ungefähr.« Der Arzt warf die Spritze in den Papierkorb. »Es ist wirklich das beste, Sie lassen Ihr Herzchen mal durchleuchten.«

»Wozu? Ich fühle mich ganz gesund!«

»Vor fünf Minuten hast du noch Angst gehabt, du würdest sterben!« erinnerte ihn Beate.

»Das Ganze ist doch nur gekommen, weil ich mich so wahnsinnig aufgeregt habe.«

»Ein gesunder Mensch«, sagte der Notarzt, »kriegt auch bei einer Wahnsinnsaufregung keinen Anfall, im Gegenteil, so was tut von Zeit zu Zeit ganz gut.«

»Bitte«, sagte Beate, »nehmen Sie ihn mit!«

»Aber ich will nicht ...«

»Ruhig, ganz ruhig!« mahnte der Arzt. »Für heute haben wir Aufregung genug gehabt. Ihre Frau hat völlig recht. Dieser Anfall war eine Warnung. Man sollte der Sache sofort auf den Grund gehen.« Er ließ das Schloß seiner Bereitschaftstasche zuschnappen, hatte sein Stethoskop aber immer noch um den Hals hängen. »Außerdem werden Ihnen ein paar Tage Bettruhe unbedingt guttun.«

»Aber wer soll das bezahlen?«

»Irgendwer wird schon dafür aufkommen«, erwiderte der Arzt ungerührt. Er ging durch den Laden, sagte im Vorbeigehen: »Na, du?« zu Florian, der mit Krawatten spielte, öffnete die Tür und gab seinen Helfern ein Zeichen. Sie drückten ihre Zigaretten aus und zogen eine Trage aus dem Krankenwagen, der in zweiter Reihe parkte.

Im Hinterzimmer sagte Beate: »Aber du mußt doch versichert sein.«

»Nein«, gestand er.

Beate mußte sich beherrschen, nicht aus der Haut zu fahren.

»Ich war doch nie krank«, versuchte er sich zu verteidigen, »und als ich mich selbständig gemacht habe, dachte ich, ich könnte mir das sparen.«

»Schon gut. Geld ist jetzt wirklich nicht das wichtigste«, behauptete Beate, obwohl sie sich tatsächlich nicht vorstellen konnte, woher sie es nehmen sollte.

»Du meinst, ich soll trotzdem ins Krankenhaus?«

»Unbedingt.«

Er war noch zu sehr geschwächt, um ernsthaften Widerstand leisten zu können. Beate verließ das Hinterzimmer, um den Trägern Platz zu machen. Frank versuchte aufzustehen, war aber dankbar, als die Männer abwinkten.

»Lassen Sie nur!«

»Das machen wir schon.«

Beate hielt Florian wieder fest an der Hand, als die Trage durch den Laden gebracht wurde. Frank schenkte seinem Sohn ein schwaches Lächeln.

»Wohin bringen Sie ihn?«

»In die Interne Ambulanz, Ziemsenstraße.«

Sie beugte sich über ihn und gab ihm einen sanften Kuß auf die Schläfe. »Ich komme, sobald ich kann!« versprach sie.

Auf der Türkenstraße hatte sich ein kleiner Auflauf von Neugierigen gebildet. Beate sah nicht zu, wie ihr Mann eingeladen wurde. Sie verschloß die Ladentür.

»Ist Papi jetzt ganz weg?« fragte Florian.

»Nein. Nur für ein paar Tage. Dann kommt er wieder nach Hause.«

»Und hat er dann kein Bauchweh mehr?«

»Nein, Florian.« Sie strich ihm durch das weiche blonde Haar, das er fast mädchenhaft lang trug. »Weißt du, was wir beide jetzt tun? Wir räumen ganz schnell zusammen auf, ja? Und dann gehen wir nach Hause, und ich koche uns was Gutes zu essen.«

»Paghetti mit Tomaten?«

»Wenn du willst.«

Florian rieb sich sein Bäuchlein. »Immer!«

 

Die Wohnung der Werders lag, wie »Franks Boutique«, auf der Münchner Türkenstraße, nur wenige Minuten entfernt, in einem Hinterhaus aus der Zeit der Jahrhundertwende, das saniert worden war. Die junge Familie lebte dort zusammen mit Franks Vater, Doktor Hugo Werder, einem Richter im Ruhestand. Dieses Arrangement bedeutete für Beate eine Belastung, da sie den alten Herrn mitversorgen mußte. Allerdings war es auch eine Erleichterung für sie, denn wenn er nicht jeder Zeit bereit gewesen wäre, auf Florian aufzupassen, hätte sie unmöglich die Universität besuchen können. Es war auch gut zu wissen, daß Florian nie allein war, wenn sie nachts arbeitete. Frank pflegte dann schon mal auf ein Bier auszugehen.

Florian stürmte in die Wohnung, kaum daß Beate die Tür aufgeschlossen hatte. »Opa!« schrie er. »Papi ist weg!«

Doktor Werder kam aus seinem Zimmer. Er war, wie immer, im grauen Anzug mit Hemd, Krawatte und schwarzen Slippers so adrett und korrekt angezogen, als hätte er etwas vor. Dabei verließ er das Haus nur sehr selten für einen kleinen Spaziergang, einen Besuch in der Bibliothek oder um sich die Haare schneiden zu lassen. Aber er haßte jegliche Schlamperei, und das war einer der wenigen Punkte, über die er bisweilen mit Beate aneinandergeriet. Denn sie, durch ihr Studium, die Familie und die Nachtarbeit überfordert, nahm es mit der Ordnung nicht so genau.

»Was ist denn los?« fragte er jetzt, mehr gestört als beunruhigt. »Was brüllst du hier so herum?«

»Ein Onkel Doktor war da, und zwei andere in weißen Kitteln«, berichtete Florian eifrig, »und sie haben den Papi fort gebracht.«

»Nur für ein paar Tage«, sagte Beate beschwichtigend.

»Etwas Ernstes?«

Beate gab ihrem Schwiegervater mit den Augen ein Zeichen. »Wir sollten später darüber reden. Wenn wir gegessen haben.« Sie hing ihre Tasche über den Garderobenständer, setzte Wasser für die Spaghetti und zum Häuten der Tomaten auf, schälte eine Zwiebel.

Großvater und Enkel kamen ihr nach.

Gewöhnlich hatte sie ganz gerne Gesellschaft beim Kochen, heute aber spürte sie den dringenden Wunsch allein zu sein. »Es dauert noch eine halbe Stunde«, sagte sie.

Doktor Werder verstand. »Gehen wir bis dahin noch ein bißchen in den Garten«, schlug er vor und nahm Florian bei der Hand.

Dieser Garten, eine Grünanlage mit Kinderspielplatz, den die Bewohner der umliegenden Häuser aus einem ehemals trostlosen Hinterhof geschaffen hatten, war in den Augen der Werders ein wahrer Glücksfall. Da er keinen Zugang zur Straße hatte, konnte Florian hier auch schon einmal unbeaufsichtigt spielen, obwohl Beate nie ein gutes Gefühl dabei hatte.

Mechanisch begann sie die Zwiebel zu würfeln, erschrak, als sie merkte, daß ihre Hände zitterten. Sie legte das Messer beiseite und atmete tief durch. Aber es half nichts. Sie mußte, so gut es ging, weitermachen und sich darauf konzentrieren, sich nicht in die Finger zu schneiden.

Später bei Tisch – sie aßen alltags gewöhnlich in der Küche – konnte sie kaum eine Gabel Spaghetti herunterbringen. Da sie gleichzeitig damit beschäftigt war, Florian beim Essen zu helfen, hoffte sie, daß es dem Schwiegervater nicht auffallen würde.

Aber er merkte es doch. »Moment mal«, sagte er und stand auf, »ich bin gleich wieder da.« Er verschwand, kam mit einer angebrochenen Flasche Rotwein zurück, nahm zwei Gläser aus der Kredenz und schenkte ein.

»Lieb von dir!« Beate nahm ihr Glas nur zögernd, aber da der Schwiegervater, sein Glas in der Hand, abwartete, bis sie es zu den Lippen führte, trank sie dann doch.

»Jetzt kriegst du endlich wieder ein bißchen Farbe«, stellte er fest.

»Ja, ich glaube, der Wein tut mir gut.«

»Du mußt jetzt aber auch versuchen, etwas zu essen!« mahnte er.

»Ich werde mein möglichstes tun.«

Tatsächlich ging es, nachdem sie ein halbes Glas getrunken hatte, jetzt besser, und es gelang ihr, den Teller zu leeren. Danach nahm sie Florian die Serviette ab, die sie ihn um den Hals gebunden hatte, führte ihn ins Bad und wusch ihm sein über und über mit Tomatensauce verschmiertes Gesicht ab. Wie stets hatte er keine rechte Lust, sich mittags hinzulegen. Gewöhnlich machte Beate ein Spiel daraus, streckte sich auf der schmalen Couch in dem kleinen Zimmer aus, erzählte Geschichten, tat, wenn es ihr zuviel wurde, als wäre sie eingeschlafen oder schlief auch wirklich ein. Aber heute wandte sie sich, nachdem sie ihn ausgezogen und in sein Gitterbett gesteckt hatte, sofort zur Tür.

»Sei brav, mein Schatz, und schlaf jetzt schön!«

»Aber, Mami, warum willst du fort?«

»Weil ich heute keine Zeit habe. Tut mir leid, mein Schatz.

»Bin aber behaupt nicht müde.«

»Du mußt ja nicht schlafen. Bleib einfach liegen und ruh dich aus!« Sie zog die Tür hinter sich zu, obwohl sein Geschrei ihr ins Herz schnitt. Aber sie wußte, daß er sich in den Schlaf jammern würde.

Zu ihrer Überraschung stand der Schwiegervater in der Küche, hatte sein Jackett ausgezogen, sich die Ärmel hochgekrempelt, eine Schürze vorgebunden und spülte ab. Beate war gerührt. ›Das mußt du doch nicht tun!‹ hätte sie beinahe gesagt, aber dann dachte sie, daß es bestimmt nichts schaden konnte, wenn er sich nützlich zu machen suchte. Es kam selten genug vor. Sie nahm ein Küchentuch und trocknete ab.

»Du hast dich nicht hingelegt«, stellte er fest.

»Ich könnte doch nicht schlafen.«

»Willst du mir jetzt erzählen, was passiert ist?«

»Natürlich. Ich wollte nur vor dem Kleinen nicht sprechen. Schlimm genug, daß er es miterlebt hat.« Sie biß sich auf die Lippen. »Frank hatte einen Anfall.«

»Einen ... was?« Dr. Werder ließ den Topf, den er gescheuert hatte, auf die Ablage sinken.

»Wahrscheinlich Angina pectoris. Ich dachte schon, es wäre ein Herzinfarkt, und er würde ... würde ...« Sie konnte nicht weitersprechen.

»Kopf hoch, Mädel, er lebt ja noch!« Er nahm ihr den Teller, den sie poliert hatte, aus der Hand und legte ihr den Arm um die Schulter. »Die Küche kann warten. Gehen wir zu mir und trinken noch einen Schluck.«

Er nahm sich die Schürze ab, zog die Ärmel glatt und schlüpfte in sein Jackett.

Sein Zimmer war gemütlich, wenn es auch, da es zum Schlafen und Wohnen dienen mußte, übermöbliert war. Der schwere Schreibtisch aus dunkler Eiche, von dem er sich nicht hatte trennen können, schien fast den halben Raum einzunehmen, den die Bücherregale und Schränke an den Wänden noch mehr verengten. Aber der Sessel, in den er Beate drückte, war sehr bequem. Er selber holte zwei schön ziselierte Gläser aus einem Fach, polierte sie mit seinem blütenweißen Taschentuch behutsam aus und stellte sie auf den kleinen, sechseckigen Eichentisch. Dann nahm er eine Flasche Rotwein aus einem Ständer und öffnete sie ein wenig umständlich. Beate wußte, daß er das alles tat, um ihr Gelegenheit zu geben, ihre Fassung zurückzugewinnen.

Er schenkte sich einen Schluck ein, probierte ihn, fand ihn lobenswert und schenkte sich und der Schwiegertochter ein. Dann setzte er sich auf die Couch, die ihm nachts zum Schlafen diente, tags mit dunkelrotem Brokat bedeckt war, und trank Beate zu.

»Du mußt mir verzeihen«, bat sie, »es war ein schwerer Schock für mich.«

»Als wüßte ich das nicht! Du bist der letzte Mensch, dem ich Tapferkeit absprechen würde.«

Sie berichtete und trank hin und wieder einen Schluck.

Er hörte ihr, ohne Zwischenfragen zu stellen, aufmerksam zu. Endlich aber konnte er nicht länger an sich halten. »Nicht versichert!« rief er. »Das sieht Frank ähnlich! Wer außer ihm könnte so hirnrissig sein!«

Sie versuchte ihren Mann zu verteidigen. »Er dachte eben, es wäre rausgeworfenes Geld. Vielleicht hoffte er auch, Monat für Monat etwas für einen Krankheitsfall beiseite legen zu können.«

»Unverzeihlicher Leichtsinn!« grollte der alte Herr.

»Er konnte doch nicht damit rechnen, daß ihm so etwas passieren würde.«

»Jeder muß damit rechnen, daß er plötzlich krank wird. Aber wieso eigentlich hast du das nicht gewußt? Ehepaare sind doch gemeinhin zusammen versichert?«

»Nein. Ich bin in einer Studentenversicherung, aus der ich, auch durch eine andere Versicherung, nicht herauskönnte.«

»Und Florian?«

»Für den habe ich eine Zusatzversicherung abgeschlossen.«

»Braves Mädel.«

»Aber das nutzt Frank nichts.«

»Eines verstehe ich nicht. Warum hast du ihn so gedrängt, sich untersuchen zu lassen? Wenn er es sich nicht leisten kann, hätte er eben darauf verzichten sollen.«

»Das Geld kriege ich schon irgendwie zusammen«, behauptete Beate und überlegte, ob jetzt wohl der Zeitpunkt gekommen wäre, das Thema der überfälligen Miete anzuschneiden.«

»Aber das ist nicht deine Aufgabe! Er ist ein erwachsener Mann, und er muß selber für sich sorgen.«

»Er ist mein Mann, und ich liebe ihn. Meinst du, ich möchte riskieren, daß er tot umfällt?«

»So schlimm wird es schon nicht sein.«

»Hoffentlich nicht. Aber meiner Ansicht nach deutet alles darauf hin, daß mindestens eine seiner Arterien beschädigt ist. Dadurch kam nicht mehr genug Blut, beziehungsweise Sauerstoff in bestimmte Herzmuskelzellen. Nur so sind die heftigen Schmerzen zu erklären.«

»Aber wie kann so etwas aus heiterem Himmel passieren?«

»Wir hatten eine Auseinandersetzung, und ich fürchte, ich habe mich sehr dumm benommen.« Beate berichtete von dem Anlaß ihres Streites.

Jetzt, zum ersten Mal, verlor der Schwiegervater die Nerven; er setzte sein Glas so hart auf den Tisch, daß der Wein überschwappte. »Was sagst du da? Er hat die Miete nicht bezahlt? Was zum Teufel hat er sich dabei gedacht?«

»Bitte, nun reg dich nicht auch noch auf, Vater! Er war eben knapp bei Kasse ...«

Er ließ sie nicht aussprechen. »Dann hätte er an allem anderen sparen sollen, nur nicht an der Miete!«

»Wem sagst du das?«

»Wußtest du, daß sein Geschäft so schlecht geht?«

»Nicht in dem Ausmaß. Du weißt ja, wie er ist. Er versucht, den Erfolg durch große Sprüche heraufzubeschwören. Es liegt ihm nicht, sich zu beklagen. Aber natürlich habe ich bemerkt, daß seine Laune nicht gerade blendend war, und man muß nicht viel von Geschäften verstehen, um sich ausrechnen zu können, daß dies verregnete Frühjahr ein Reinfall werden mußte.«

»Jedenfalls war deine Wut durchaus berechtigt. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen.«

»Tue ich aber. Sie war völlig sinnlos. Durch Vorhaltungen war das Geld nicht herbeizuzaubern. Außerdem hätte ich begreifen müssen, daß diese leidige Geschichte ihn ja selber sehr bedrückt. So leichtsinnig ist er ja nun doch nicht.«

Dr. Werder hatte sich wieder gefangen. Beate merkte es daran, daß er sein Taschentuch zückte, um die Rotweintropfen abzuwischen, sich dann aber eines Besseren besann und ein Papiertuch zur Hilfe nahm.

»Frank muß in Behandlung, Vater«, sagte sie, »und dafür werde ich das Geld schon zusammenkratzen, irgendwie. Wir werden eben noch sparsamer leben müssen. Aber wegen der Miete weiß ich mir wirklich keinen Rat. Wenn man uns rauswirft ... wohin? Wir brauchen doch ein Dach über dem Kopf. Billige Wohnungen sind in München so gut wie gar nicht zu haben, und einen Umzug könnten wir uns auch nicht leisten.«

»Das ist es eben, was ich nicht begreife! Daß er daran nicht gedacht hat!«

»Wahrscheinlich hat er den Gedanken immer wieder von sich geschoben, weil er ihm unerträglich war.«

»Die Vogel-Strauß-Methode also! Oder auch: im äußersten Notfall wird schon jemand einspringen.«

»Wer?«

»Ich. Ich werde meine Ersparnisse angreifen müssen.«

»Das willst du wirklich tun?« Beate empfand Erleichterung und Scham zugleich. »Mir fällt ein Stein vom Herzen.« Sie sprang auf, lief zu ihrem Schwiegervater hin und umarmte ihn.

Er wehrte ab. »Nicht doch! Ich tu’s ja auch meinetwegen. Wo sollte ich alter Knacker hin, wenn ich nicht mehr bei euch leben kann?«

Beate lächelte, zum ersten Mal seit diesem schrecklichen Vormittag. »Du bist ein ganz reizender alter Herr, und du weißt das. Es wimmelt auf der Welt von Witwen, die sich alle um dich reißen würden.«

»Ich noch einmal auf den Heiratsmarkt? Ausgeschlossen.«

»Davon hat ja niemand gesprochen. Ich hatte an eine Witwe mit einer schönen, runden Pension gedacht.«

»Ich wußte gar nicht, daß du so berechnend sein kannst.«

»Du hast recht. Das sind wir beide nicht. Deshalb habe ich dich auch so lieb.« Sie drückte ihm einen Kuß auf die Stirn und ließ sich wieder im Sessel nieder.

Der alte Herr fuhr sich über das militärisch kurz geschnittene graue Haar. »Du machst mich ganz verlegen, weißt du das?«

»Ich habe noch eine kleine Bitte: Könntest du nachher etwa zwei Stunden auf Florian aufpassen? Ich muß Frank doch ein paar Sachen in die Klinik bringen, seinen Rasierapparat und so.«

»Erst gehe ich zur Bank, hebe das nötige Geld ab und bringe die Sache mit der Hausverwaltung in Ordnung.«

»Danke.« Beate wollte aufstehen.

Er hielt sie mit einer Frage zurück. »Sag mal, könnten seine geschäftlichen Sorgen Ursache für die Erkrankung sein?«

»Nein. Eher zu wenig Bewegung, zu viele Zigaretten, seine Vorliebe für Schweinshaxen und seine nächtlichen Plünderungen des Eisschranks.«

»Wenn er also seine Gewohnheiten ändern würde ...«

»Das wird er müssen. So oder so. Ich bin sicher, daß ihm die Ärzte das einhämmern werden.« Sie stand auf. »Aber jetzt möchte ich doch versuchen, mich wenigstens ein halbes Stündchen auszuruhen.«

»Du willst doch nicht etwa heute nacht wieder ins Krankenhaus?«

»Doch, Vater.«

»Sehr unvernünftig. Du brauchst jetzt deine Kräfte.«

»Vielleicht werde ich sie bald noch mehr brauchen. Sieh mich doch, bitte, nicht so mißbilligend an!«

»Nur besorgt.«

Beate nahm ihr Glas vom Tisch. »Ich habe selber schon daran gedacht, den Knaben anzurufen, mit dem ich die Personalstelle als Nachtwache teile. Aber das würde nur ein unnötiges Durcheinander geben, und nachholen müßte ich die Arbeit doch. Also lassen wir es lieber so, wie es ist.«

»Es ist mir unbegreiflich, wie du mit so wenig Schlaf auskommen kannst.«

»Man gewöhnt sich, Vater. Außerdem sind es ja nur sieben Nächte im Monat.«

»Meiner Ansicht nach sieben zu viel!«

»Wir brauchen das Geld, außerdem nützen mir die praktischen Erfahrungen im Krankenhaus bei meinem Studium. Durch sie bin ich meinen Kommilitonen gegenüber im Vorteil.«

Der alte Herr leerte sein Glas und reichte es ihr, ebenso das mit Rotwein durchtränkte Papiertaschentuch. »Eine seltsame Art von Vergnügungssucht.«

Sie lächelte ihm liebevoll zu, bevor sie das Zimmer verließ.

 

Weder Beate noch Frank Werder besaßen ein Auto, und sie brauchten auch keines. Die schmale, geschäftige, leicht schäbige Türkenstraße verläuft parallel zu der prachtvollen Ludwigstraße. Von Werders Wohnung war es nur noch zwei Blocks weit bis zur U-Bahnstation an der Ludwig-Maximilian-Universität. Von dort aus pflegte Beate abends bis zum Platz Münchner Freiheit zu fahren. Die »Private Klinik Dr. Scheuringer«, in der sie als Nachtwache angestellt war, lag nur wenige Schritte weit entfernt.

An diesem Nachmittag fuhr sie mit dem Köfferchen, das sie für Frank gepackt hatte, in die entgegengesetzte Richtung zum Marienplatz und stieg dort in eine andere Bahn um, die sie zum Goetheplatz brachte. Unterwegs gelang es ihr, ein bißchen vor sich hinzudösen. Darin hatte sie Übung. Sie hatte die Fähigkeit abzuschalten, wann immer sich eine Gelegenheit ergab, und dadurch den Mangel an nächtlichem Schlaf auszugleichen. Trotzdem war sie froh, als die Rolltreppe sie aus der Unterwelt wieder ans Tageslicht brachte. Es war Anfang Juni, aber, obwohl die Sonne schien, noch viel zu kalt für die Jahreszeit. Nach einem hoffnungslos verregneten Frühling ließ der Sommer immer noch auf sich warten.

Beate dachte darüber nach, wie sich das auf Franks Geschäft auswirken würde. Sie überlegte, wie schlecht es um seine Finanzlage stehen mußte und ob es einen Sinn hatte, wenn er einfach so weitermachte. Sicher waren seine Sorgen, wie sie schon ihrem Schwiegervater gesagt hatte, nicht die Ursache seiner Erkrankung, aber sie konnten womöglich dazu beitragen, sein geschwächtes Herz noch mehr zu strapazieren. Aber das waren Überlegungen, mit denen sie Frank jetzt nicht kommen durfte. Der Zeitpunkt, darüber eine Entscheidung zu treffen, war noch zu früh. Erst mußte sich herausstellen, wie krank er wirklich war.

Während all dieser Überlegungen ging Beate rasch, mit weit ausholenden elastischen Schritten dahin. Der weite, weiße Leinenrock schwang um ihre schlanken Beine, das rotblonde Haar, das sie in einer Ponyfrisur trug, wehte ihr aus der Stirn. Es war ihr nicht bewußt, daß sie immer wieder interessierte Blicke auf sich zog. Niemandem, der ihr auf der belebten Straße der Innenstadt entgegen kam, wäre es eingefallen, daß sie Sorgen haben könnte. Sie wirkte ernst, ja, gefaßt, aber durchaus nicht kummervoll. Mit ihrer gesunden Gesichtsfarbe, den vereinzelten kecken Sommersprossen, der geraden, kräftigen Nase und dem festen entschlossenen Mund wirkte sie wie das blühende Leben.

Auf der Höhe des Sendlinger Tors bog sie rechts von der Lindwurmstraße ab, und dann stand sie auch schon vor der »Internen Ambulanz der Medizinischen Klinik«, einem mächtigen alten Gebäude mit renovierter Fassade. Da sie selber Medizinerin war, empfand sie nicht die Beklommenheit, die Laien gemeinhin beim Eintritt in ein Krankenhaus überfällt. Präzise stellte sie dem Pförtner ihre Fragen, fand sich rasch zurecht, eilte die breiten Treppen hinauf und einen der hohen Gänge entlang.

Frank lag in einem Vierbettzimmer, gleich neben der Tür. Seine Augen leuchteten auf, als er sie sah. »Na, endlich!« sagte er. »Ich habe schon so auf dich gewartet!«

»Es ging nicht eher!« Sie begrüßte die anderen Patienten mit einem Lächeln und gab ihm dann einen raschen Kuß. »Du siehst prima aus«, stellte sie fest.

»Ich fühle mich auch ganz okay. Sag mal, wäre es nicht das gescheiteste, wenn ich gleich mit dir nach Hause käme?«

»Nichts da! Wie ich den Verein kenne, wirst du erst morgen untersucht, habe ich recht?«

Er nickte. »Hast du mir wenigstens einen Morgenrock mitgebracht? Im Bett brauche ich ja nun wirklich nicht zu liegen.«

Sie öffnete den Koffer und gab ihm seinen Morgenmantel, ein höchst elegantes Stück aus roter Seide. Er stand auf und hatte es eilig hineinzuschlüpfen, denn er kam sich in dem hinten offenen Klinikhemd einigermaßen komisch vor. Beate stellte ihm die Hausschuhe vor die Füße.

»Wo ist dein Spind?«

»Der außen rechts.«

Beate ordnete Unterwäsche, Strümpfe, Taschentücher und was sie ihm sonst noch mitgebracht hatte, hinein. Das Jackett, das er am Morgen getragen hatte, hing untadelig korrekt über dem Bügel, auch die Hose war so ordentlich wie nur möglich über die Querstange gelegt. Frank liebte schöne Dinge nicht nur, sondern er ging auch sorgsam und liebevoll mit ihnen um.

Gemeinsam traten sie auf den Gang hinaus.

Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, fragte er: »Hast du eine Zigarette für mich?«

»Darfst du denn rauchen?«

»Drinnen nicht, aber ...«

»Frank, das habe ich nicht gemeint. Ich habe an dein Herz gedacht.«

»Ach was. Das bißchen Nikotin wird es schon noch vertragen.«

»Hat der Professor nicht gesagt, daß es schädlich für dich ist?«

»Keinen Ton.«

»Dann kommt das noch, darauf kannst du dich verlassen. Das klügste ist, du fängst gleich damit an, es dir abzugewöhnen. Hier in der Klinik hast du dazu die beste Gelegenheit.« Um ihn abzulenken, fragte sie: »Hat sich Professor Meyser überhaupt selber um dich gekümmert?«

»Doch. Er hat ein paar Worte mit mir gesprochen, mich nach meinen Lebensgewohnheiten gefragt und so. Aber abgehorcht und den Blutdruck gemessen hat ein jüngerer Arzt.«

»Das ist so üblich.«

»Wie lange, meinst du, daß ich bleiben muß?«

»Ich nehme an, daß du spätestens morgen nachmittag nach Hause kannst.«

»So rasch?«

»Du hast dich wohl schon auf eine längere Faulenzerperiode eingestellt«, neckte sie ihn.

Aber er fand diese Bemerkung nicht lustig. »Du weißt, wie sehr ich an meiner Boutique hänge. Was hast du mit ihr gemacht?«

»Geschlossen natürlich.«

»Könntest du nicht ...«

»Vergiß es, Frank! Nicht dieses Thema. Du weißt, was wir ausgemacht haben: das Geschäft ist einzig und allein deine Sache.«

»Aber dies ist ein Ausnahmefall ...«

»Liebling, ich könnte dich nicht vertreten, selbst wenn ich es wollte. Ich habe heute Nachtdienst, und beim besten Willen kann ich mich nach einer schlaflosen Nacht nicht auch noch tagsüber in den Laden stellen. Das mußt du doch einsehen.«

»Schon gut, schon gut, ich sag ja nichts weiter. Sag mal, hast du nicht doch eine Zigarette für mich?«

»Woher sollte ich? Du weißt, daß ich nicht rauche.«

»Aber du hättest daran denken können.«

»Du mußt dich umstellen, Frank, und am besten fängst du gleich damit an, wie ich dir schon gesagt habe.«

»Du bist verdammt hart, Beate.«

»Wäre ich es nicht, könnte ich das Leben, das ich führe, wohl kaum aushalten.« Sie merkte sofort, daß sie zu weit gegangen war. »Entschuldige, Frank, das war nicht als Vorwurf gemeint. Du weißt, wie sehr ich dich liebe. Ich würde alles dafür tun, um mit dir leben zu können. Es ist auch nicht deine Schuld, daß du nicht besser für uns sorgen kannst.«

»Ich hätte das Geld für die Miete beiseite legen sollen«, sagte er, »aber dann hätte ich keine Ware einkaufen können ... nicht die Ware, die ich wollte, und ohne Ware ...«

Sie hatte mehrfach versucht ihn zu unterbrechen. Jetzt endlich gelang es ihr, indem sie seinen Arm heftig drückte. »Wegen der Miete brauchst du dir keine Gedanken mehr zu machen, Vater hat das für uns erledigt.«

Er atmete auf. »Soll das heißen, du hast ihn rumgekriegt?«

»Ich habe ihm unsere Misere dargelegt, und er hat sich sofort von sich aus erboten, die Sache in Ordnung zu bringen. Er ist ein fabelhafter Mann, dein Vater.«

Seine Miene verdüsterte sich. »Ich wollte, er hätte es nicht erfahren.«

»Es war unumgänglich.«

»Ja, schon, aber ...«

»Grüble nicht länger darüber nach, Liebling! Die Sache ist gelaufen.«

»Ich werde ihm das Geld zurückgeben«, versprach er.

»Ja, sicher wirst du das.«

Beate und Frank waren während ihres Gesprächs auf dem langen Gang auf und ab gegangen und kamen jetzt wieder an einer mit Sand gefüllten Schale an, die als Ascher diente. Es entging ihr nicht, daß er einen sehnsüchtigen Blick auf einen halblangen Stummel warf.

»Sieh nur, was für ein Dreck!« sagte sie. »Am leichtesten gewöhnst du dir das Rauchen ab, wenn du dir die widerlichen vollen Aschenbecher vorstellst, den Geruch von kaltem Rauch, der sich in den Kleidern festsetzt.«

»Du hast gut reden«, sagte er unglücklich.

»Es ist so wichtig, daß du es schaffst. Bisher war es nur eine dumme Angewohnheit, und du wirst zugeben, daß ich mich nie deswegen angestellt habe. Aber jetzt geht es um dein Leben.«

»Du übertreibst.«

»Das würde ich mir wünschen, für dich und für mich.« Sie zog ihn fort, war sich aber nicht sicher, ob er sich, wenn sie erst gegangen war, die verlockende Kippe nicht doch holen würde. Sie schob den Gedanken von sich, denn darauf kam es jetzt auch nicht mehr an.

»Der Professor hat etwas davon gemurmelt, daß er mich röntgen müßte«, berichtete er.

»Das wird er wohl.«

»Aber warum hat er es dann nicht gleich getan? Heute?

Dann könnte ich doch mit dir nach Hause und das Geschäft ...« Er brach ab.

»Es ist ein ziemlich komplizierter Vorgang«, erklärte sie vorsichtig.

»Wieso?«

»Um die Herzkranzgefäße röntgenologisch darstellen zu können ...« Sie sah ihn an. »Du verstehst mich doch?«

»Schon. Die Herzkranzgefäße müssen also geröntgt werden.«

»Ja, und dafür muß ein Kontrastmittel in jede einzelne Coronararterie eingebracht werden.«

»Wie geht denn das?«

»Mit einem Katheder.«

»Hört sich ziemlich schauerlich an.«

»Angenehm ist es bestimmt nicht, und da fällt mir ein: vielleicht lassen sie dich auch erst übermorgen nach Hause, damit du dich davon erholst.«

Abrupt blieb er stehen. »So schlimm?«

»Vielleicht bekommst du eine Narkose und spürst gar nichts davon, aber eine Narkose ist natürlich auch ein Vorgang, nach dem man nicht gleich aus dem Bett springen sollte.«

»Was werden sie mit mir machen? Ich will es genau wissen.«

»Es macht mir keinen Spaß, dich zu ängstigen.«

»Das weiß ich ja.« Er packte sie bei den Schultern und blickte ihr beschwörend in die Augen. »Sag es mir! Sag mir alles! Und komm mir jetzt nicht damit, daß ich einen der Ärzte fragen soll. Du weißt besser als ich, wie die sind.«

»Ich finde, die tun ganz recht daran, die Patienten nicht mit Einzelheiten zu beunruhigen.«

»Aber ich bin nicht dein Patient, sondern dein Mann. Einen Vorteil muß es doch haben, wenn man eine Medizinerin geheiratet hat.«

»Nur einen?« fragte sie und merkte sogleich selber, daß ihr Versuch, die Unterhaltung ins Scherzhafte abzubiegen, kläglich war.

Er ging nicht darauf ein, sah ihr nur weiter tief in die Augen.

»Es ist nicht gefährlich«, behauptete sie, »aber für einen Laien hört es sich, fürchte ich, ziemlich übel an. Also ...« Sie suchte nach leicht verständlichen Worten. » ...die große Oberschenkelarterie wird in der Leistenbeuge punktiert, das ist so, als kriegst du eine Spritze dort hinein. Tatsächlich aber wird ein Katheder durch die Aorta in Richtung Herz geschoben. Hier werden dann die Abgänge der Coronarien, also der Herzkranzgefäße, aufgesucht. Das ist natürlich nur mit Hilfe einer komplizierten Technik möglich, von der ich selber nichts verstehe.«

Endlich löste er die Hände von ihren Schultern und gab ihren Blick frei. »Und wozu das Ganze?«

»Um ein Kontrastmittel zu applizieren, also einzuführen. Unmittelbar danach wird der Abfluß des Kontrastmittels röntgenologisch in schneller Bildfolge festgehalten. Ich glaube, man macht zwei bis sechs Bilder in der Sekunde. Dabei wird sich dann herausstellen, ob es in der einen oder anderen Arterie eine Engstelle gibt.«

»Dann bin ich beruhigt«, erklärte Frank überraschend.

»Wirklich?« fragte sie.

»Na hör mal, wie sollte ich denn an eine Engstelle in einer Arterie kommen? Das ist doch alles Unsinn. Ich bin erst fünfunddreißig, und habe nie mit dem Herzen zu tun gehabt. Mein Anfall war ein bloßer Zufall.«

»Schon möglich«, gab sie zu, um ihn nicht weiter zu beunruhigen, obwohl sie selber gerade auf dem medizinischen Gebiet nicht an Zufälle glaubte.

Er spürte, daß sie nicht seiner Meinung war. »Erklär mir doch mal, bitte, wie es zu einer solchen Engstelle hätte kommen können?«

»Es gibt verschiedene Ursachen, die zu einer Verletzung der inneren Arterienschicht führen können, hoher Blutdruck zum Beispiel. Wann hast du zuletzt deinen Blutdruck messen lassen?«

»Heute morgen.«

»Und?«

»Der Doktor murmelte irgendwelche Zahlen, mit denen ich nichts anfangen konnte.«

»Ist ja auch egal. Es könnte auch durch einen überhöhten Cholesterinspiegel passiert sein oder durch deine blöde Raucherei. Irgend etwas könnte jedenfalls zu einer Verletzung geführt haben, und daraus entsteht dann eine Art Narbenbildung, in der sich dann allerhand ablagert. Dadurch verhärtet sich dann logischerweise der betreffende Gefäßabschnitt.«

»Scheiße«, sagte er.

»Bei dir muß es nichts Ernsthaftes sein. Ich glaube das auch gar nicht. Aber ich bin jetzt nachträglich ganz froh über deinen Anfall. Morgen werden wir wissen, wie es wirklich um dich steht.« Sie umarmte ihn und legte ihren Kopf an seine Brust. »Ach, Liebling, ich wäre ja so froh, wenn alles bloß falscher Alarm gewesen wäre!«

Er beugte sich zu ihr und küßte sie zärtlich auf den Mund. »Ich bin ganz sicher.«

Beate rang sich ein Lächeln ab. »Um so besser. Sag mal, wann kommt der Professor heute nachmittag zur Visite?«

»Ich weiß es nicht.«

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Wahrscheinlich gegen vier. Das ist so üblich. Ich werde mal versuchen, ihn abzufangen.«

»Wozu?«

»Weil ich dabei sein will, wenn er dir das Ergebnis der Untersuchung mitteilt.« Plötzlich hatte sie das Gefühl, zu besitzergreifend zu sein. »Das ist dir doch recht?«

»Unbedingt.« Lächelnd fügte er hinzu: »Außerdem – auch wenn ich es nicht wäre – bin ich überzeugt, du würdest deinen Willen durchsetzen.«

»Bin ich wirklich so eine Xanthippe?«

»Du bist überbesorgt.«

»Ich will dir doch nur helfen.«

Wieder umarmten sie sich, als könnten sie so einander Kraft geben.

Sie lösten sich erst voneinander, ein wenig beschämt, als Professor Meyser, gefolgt von einem Troß junger Ärzte und der Oberschwester um die Ecke bog.

Entschlossen bekämpfte Beate ihre Verlegenheit und lief auf ihn zu, bevor er noch das nächste Krankenzimmer betreten konnte.

»Herr Professor!« sagte sie, ein wenig atemlos.

»Ja?« Er war ein sehr großer, schlanker Mann, mit leicht vornüber gebeugten Schultern und einem gänzlich kahlen Kopf.

Sie kannte ihn nur vom Sehen. »Mein Mann hatte heute früh einen Angina-Pectoris-Anfall.«

»Sie scheinen sich ja auszukennen.«

»Ich möchte dabei sein, wenn er das Ergebnis der Untersuchung erfährt.«

»Na, bitte.«

»Wann wird das sein?«

Der Professor wechselte einige Worte mit einem anderen Arzt. »Morgen nachmittag um drei. In meiner Ordination.«

»Danke, Herr Professor.«

Er ließ sich die Tür zu dem Krankenzimmer öffnen, vor dem sie standen, und verschwand darin samt seinem Troß.«

»Ich muß jetzt laufen«, sagte Beate, »du weißt, Vater wird nervös, wenn er zu lange auf Florian aufpassen muß.«

»Grüß die beiden von mir.«

»Wird gemacht. Dann also bis morgen.« Sie küßte ihn noch einmal zärtlich und eilte dann mit ihren weit ausholenden, elastischen Schritten davon. Aber als sie die Treppe erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal zu ihm um.

Er stand immer noch da, wo sie ihn verlassen hatte.

Sie warf ihm eine Kußhand zu, und er winkte, ein wenig müde, zurück.