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Ernst Wiechert

Der Todeskandidat. Drei Erzählungen

 

Saga

DER TODESKANDIDAT

In der Gymnasialaula einer kleinen östlichen Stadt hängt unter der Orgelempore eine Ehrentafel für die Toten des Großen Krieges. Sie hängt dort im Schatten, wie es sich für Tote gebührt, aber so, daß jeder, der den Raum betritt oder verläßt, genötigt ist, sie anzublicken. Sie ist aus weißem Marmor, und aus der breiten Schattenwand, hinter den alten Holzpfeilern, leuchtet das weiße Viereck so deutlich und mahnend heraus wie ein Wegweiser oder ein Meilenstein aus einem dämmernden Walde.

Die Namen sind mit gotischen Buchstaben in die weiße Fläche eingegraben, und ihre verschlungenen Furchen — sehr viele Furchen — sind mit einer lichtblauen Farbe getönt, so daß über dem kalten Weiß ein gleichsam tröstlicher Schimmer schwebt. Am unteren Rande aber, wo die Namen der gefallenen Lehrer stehen, ist seit dem Morgen nach der Einweihung des Totenmals etwas Seltsames zu sehen: ein goldener Namenszug. Das Gold ist nicht mit dünnen Blättchen hineingefügt in den Stein, nicht fest und starr, sondern gleichsam hineingehaucht wie in die Furchen der Walnüsse, die Kinder unter den Weihnachtsbaum hängen. Es hat etwas Mattes und Zerbrechliches, und davon kommt es, daß dieser Name über den andern zu schweben scheint. Daß es ist, als sei er nicht eingegraben in den harten Stein, sondern als hebe er sich auf aus ihm als aus einem fremden Element.

Der Name des Toten ist Georgesohn, Oberleutnant Heinrich Georgesohn, gefallen am 17. 10. 1918 vor Le Cateau, und fünfzehn Jahre vor dem Großen Kriege nannten wir ihn den Todeskandidaten. Wir waren Tertianer, grausam wie alle Kinder, und in einer harten Landschaft allen lyrischen Umschreibungen abgeneigt. Georgesohn kam als Probekandidat an unsere Schule, und auf das noch Ungesicherte einer solchen Existenz, wurzellos zwischen Staatsexamen und Anstellung schwebend, stürzte sich die Klasse wie ein Rudel junger Hyänen.

Auch waren wir nicht ohne Erfahrungen in dem Kampf gegen schwache Könige. Wir hatten ein System der gewaltsamen Erkundung ausgebildet, das nicht ungefährlich, aber von unbedingter Zuverlässigkeit war. Da haben wir Jonas, eines Niederungsbauern Sohn, zum vierten Male sitzengeblieben, breit und stämmig wie ein Memelkahn, mit Stimmbruch und deutlichen Anzeichen eines Schnurrbartes. Wir stehen auf, wenn ein Probekandidat zur ersten Stunde bei uns erscheint, langsam, grinsend, lauernd, aber noch ohne Anzeichen von Meuterei. Wir studieren sein Gesicht, seinen Gang, die Bewegung seiner Hände, seine Augen, und bevor er das Katheder erreicht hat, sehen wir einander schon an: wir wissen, was ein Richter zu wissen hat. »Setzt euch!« sagt der Kandidat, oder »Bitte, setzt euch!« oder »Hinsetzen!«, auch das wissen wir vorher. Aber dann bleibt Jonas stehen. Er steht in der vordersten Bank am Fenster, breit und gefährlich, und starrt den Kandidaten an. »Auch du darfst dich setzen«, sagt dieser freundlich, mit einem mißlingenden Versuch der Ironie, während seine Augen schon unruhig über die feindlichen Gesichter fliegen. Aber Jonas bleibt stehen. »Ich bin gelähmt in den Knien«, sagt er mit einer erschreckend tiefen Stimme, »von Kindesbeinen an . . . ich muß immer stehen . . . den ganzen Vormittag.«

Dies ist der Augenblick der Entscheidung. Niemand atmet in der Klasse, und alle wissen, daß nun der Würfel fällt. Auch der Kandidat. Er begreift es am schnellsten. Da steht das Schicksal, nicht nur dieser Stunde, sondern aller kommenden, ja vielleicht des ganzen Lebens. Ein breites und stämmiges Schicksal, mit gelähmten Knien und kalten Augen, die furchtlos zur Entscheidung auffordern.

Fast alle scheitern schon an diesem Augenblick. »Wie heißt du?« fragten sie. »Ich werde mich erkundigen, ob sich das so verhält. Wenn nicht, dann mußt du bestraft werden . . .« Ein Hohngeheul bricht auf ihn nieder und Jonas, die Mundwinkel verächtlich herabgezogen, wendet sich langsam zur Klasse, hebt die Hand mit zur Erde gekehrtem Daumen und läßt sich nachlässig in seiner Bank nieder. Das Urteil ist gefällt.

Nur ein einziges Mal in den vier Jahren der Tertien und Sekunden erlebten wir eine Niederlage. Mit einem Doktor der Theologie, einem schmalen, blassen Männlein mit einer blauen Brille vor seinen unsichtbaren Augen. »Von Kindesbeinen an?« wiederholte er lächelnd. »Sieh mal an . . .« Und er ging zu Jonas hinunter, hob ihn aus der Bank heraus, trug den nun wirklich Gelähmten durch die Klasse und warf ihn gegen die Tür, daß der Kalk von den Pfosten rieselte. Und als Jonas, taumelnd und betäubt, sich aufzurichten versuchte, empfing er ein paar Maulschellen, die sich weit über unsern Erfahrungskreis erhoben. »Geheilt!« sagte das Männlein ruhig. »Hinsetzen!« Erst in der Pause kam Jonas völlig zu sich. »Allerhand . . .«, sagte er, als das Männlein gegangen war. »Allerhand . . .«

Aber Georgesohn trug keine blaue Brille. Er war lang und hager, und seine großen Füße stießen überall an. Sein Gesicht erschrak bei jedem Laut, und in der ersten Stunde entdeckten wir, daß er unter dem Katheder seine Hände faltete. Er errötete, als Jonas von seinen »Kindesbeinen« erzählte, suchte hilflos und vergeblich eine Wohnung in unsern kalten Augen und sagte dann leise: »Ja . . . ein schweres Schicksal . . . so bleib also stehen, mein Kind . . .«

»Mein Kind«, entschied den Fall. »Guten Morgen, mein Kind«, riefen wir zu Beginn der nächsten Stunde, auf den Treppen, im Hof, auf der Straße. Er lächelte, demütig, verloren, und auch wir lächelten, aber es gereichte ihm nicht zum Troste.