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Über dieses Buch:

Während Konditorin Helene noch ihre Hochzeitstorte dekoriert, nascht ihr Verlobter bereits an anderen süßen Dingen. Und so flüchtet sie zu ihren Eltern aufs Land: Dort ist Helene wenigstens erst einmal vor neuem Herzschmerz sicher. Denkt sie zumindest … Maren hat dafür ganz andere Probleme mit ihrem Mann: Harald ist zwar eine treue Seele, doch als er einen Unfall hat, muss sich Maren auf einmal um alles kümmern – und so bringt die frischgebackene Familienunternehmerin mit ihrer unkonventionellen Art die Welt der Familie Behringer ganz gehörig durcheinander … Die Schauspielerin Melina hat hingegen gleich das ganz große Los gezogen: Sie bekommt die Rolle der Starköchin in einer neuen Fernsehserie. Dummerweise würde Melina aber auch Wasser anbrennen lassen! Ob ihr wohl der Koch Luke – der auch noch zum Anbeißen gut aussieht – aus dieser vertrackten Lage helfen kann?

Über die Autorin:

Stella Conrad, 1960 in Recklinghausen geboren, lebt an der Nordseeküste. Nach zehnjähriger Tätigkeit als Köchin (wobei sie backstage sogar Stars wie Tina Turner, Joe Cocker, Depeche Mode, Herbert Grönemeyer und Die Toten Hosen bekochte) arbeitete sie als Veranstalterin, Pressebetreuerin und in einer Schauspielagentur, bevor sie sich dem geschriebenen Wort zuwandte.

Stella Conrad veröffentlichte bei dotbooks bereits »Die Küchenfee«, »Die Tortenkönigin«, »Die Glücksträumerin«, »Der Feind an meinem Tisch« und »Die Glücksköchin«.

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eBook-Sammelband-Originalausgabe April 2020

Copyright © der Originalausgabe von »Die Tortenkönigin« 2011 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe von »Die Glücksträumerin« 2009 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Dieses Buch erschien bereits 2009 unter dem Titel »Blindflug« bei Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe von »Die Glücksköchin« 2016 dotbooks GmbH, München. Dieser Roman erschien 2016 unter dem Titel Geständnisse einer Fernsehköchin bei dotbooks. Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Maya Kruchankova / Alina Ches / Irina Kaliukina / Miriam Doerr und Martin Frommherz

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96655-064-2

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Stella Conrad

Zimt und Zucker für die Liebe

Drei Romane in einem eBook: »Die Tortenkönigin«, »Die Glücksträumerin«, »Die Glücksköchin«

dotbooks.

Stella Conrad
Die Tortenkönigin

Roman

KAPITEL 1

»Helene, du bist eine Göttin«, sagte Leon und grinste lüstern. »Und das Beste ist, du bist meine Göttin.«

Er lehnte sich zurück und leckte sich genießerisch einen Klecks Vanillecreme von der Unterlippe, den ich ihm liebend gern weggeküsst hätte.

»Ich muss wirklich aufpassen«, fuhr er fort und tätschelte sich den Bauch, »Marcel bringt mich um, wenn ich zunehme. Er sagt, ich werde zu fett, wenn ich so weitermache, aber ich kann dir einfach nicht widerstehen.«

Mein Gesicht wurde heiß – wie immer, wenn Leon mir ein Kompliment machte.

»Du hast mich in dein Bett gekocht«, sagte er immer, »das ist pure Verführung, was du auf den Tisch bringst – und deine Torten sind besser als jeder Orgasmus.«

Ich warf ihm eine Kusshand zu und begann, den Tisch abzuräumen. Plötzlich umfingen mich seine Arme von hinten, und er presste sich eng an mich.

»Du bist so süß wie deine Törtchen«, murmelte er in mein Haar, »du duftest so köstlich, hmmm ... und deine Haut ist wie Marzipan ...«

Er küsste mich seitlich auf den Hals, und sofort wurden mir die Knie weich. Seit unserem allerersten Kuss musste er mich nur berühren, und ich schmolz dahin. Und eines musste man ihm lassen: Leon wusste, wie und wo man eine Frau richtig berührt.

Seine Hände wanderten höher, während er weiter meinen Hals küsste. Ich wollte vor lauter Seligkeit gerade ohnmächtig werden, als das Dudeln seines Handys unser romantisches Intermezzo am Abend höchst unromantisch unterbrach, denn sofort ließ er mich los und zog sein Telefon aus der Hosentasche.

»Marcel«, murmelte er nach einem Blick auf das Display. Er drehte sich um und verließ die Küche, um mit seinem Manager zu telefonieren, während ich mich erst einmal sortieren musste.

Verdammter Marcel!, dachte ich wütend. Der Kerl hatte ein untrügliches Gespür für den unpassendsten Augenblick, um aufzutauchen oder anzurufen, kurz: um uns zu stören. Oder besser: um mich zu stören.

Eines hatte ich sehr schnell lernen müssen, seit Leon und ich ein Paar waren: Ich war die Nummer zwei in seinem Leben.

O nein, ich rede nicht von einer anderen Frau.

Ich rede von der Musik und Leons Ehrgeiz, ein Star zu werden. Dafür ließ er alles stehen und liegen. Bei einer Castingshow hatte er es immerhin auf den vierten Platz und damit zu einiger Aufmerksamkeit gebracht. Die Mädchen liebten ihn, und flugs war dieser Marcel auf der Bildfläche erschienen, hatte ihn unter Vertrag genommen und ihm eine große Karriere versprochen. Dafür musste Leon sich allerdings sieben Jahre jünger machen, als er in Wirklichkeit war – nämlich neunundzwanzig –, und vor allem musste er offiziell Single sein.

Ich war viel zu verliebt in ihn, als dass ich dagegen protestiert hätte, für die Öffentlichkeit nicht zu existieren. Trotzdem hasste Marcel mich und machte sich nicht einmal die Mühe, mir gegenüber höflich zu sein, wenn wir uns begegneten. Das äußerte sich allein schon dadurch, dass er mit mir nur französisch sprach, obwohl er genau wusste, dass ich diese Sprache gerade erst lernte – und obwohl er wie Leon gebürtiger Schweizer war und Deutsch beherrschte.

Mir war es egal.

Marcel war mir egal.

Für mich war nur wichtig, dass Leon und ich uns liebten und dass wir beschlossen hatten zu heiraten.

Als Marcel davon erfahren hatte – wir hatten ihn zu einem Abendessen zu uns eingeladen, um es ihm zu sagen –, war er auf mich losgegangen wie ein wild gewordener Stier und hatte mich beschimpft – auf Deutsch, damit ich auch ja keine seiner Beleidigungen verpasste. »Willst du seine Karriere zerstören?«, hatte er wütend gebrüllt. »Was soll er mit einer alten, fetten Kuh wie dir?«

Und während ich sprachlos und gedemütigt dagesessen hatte, hatte er Leon mit einem rasend schnellen französischen Wortschwall überschüttet, von dem ich kein einziges Wort verstand außer merde, das gefühlte viertausend Mal vorgekommen war. Leon hatte schweigend zugehört, und nachdem Marcel seine Tirade endlich beendet hatte, zuckte mein Geliebter nur mit den Schultern und sagte ungerührt: »Helene und ich werden im Mai heiraten.«

Ganz ehrlich – mir war in dem Moment ein Stein vom Herzen gefallen. Marcel war so heftig aufgesprungen, dass sein Stuhl umgefallen war. Er bebte vor Zorn, holte tief Luft und brüllte Leon an: »Das wirst du bereuen!«

Dann fuhr er zu mir herum, zeigte auf mich und zischte: »Und du auch. Du wirst noch an meine Worte denken, Helene.« Er sprach meinen Namen französisch aus – Älänn –, und ich glaube, es war bis dahin das einzige Mal, dass er mich überhaupt mit Namen angeredet hatte.

Danach hatte er Türen schlagend unsere Wohnung verlassen. Ich saß da, mit klopfendem Herzen, und wagte kaum, Leon anzusehen. Denn eigentlich hatte Marcel nur das Kind beim Namen genannt. Zugegeben, seine Worte waren nicht besonders freundlich gewesen. »Alte, fette Kuh« ist nicht gerade das, was man gern über sich hört. Aber ich war gerade dreiunddreißig geworden, und Leon war offiziell zweiundzwanzig. Und ja, ich hatte Übergewicht.

Nicht diese Art von »Übergewicht«, wenn eine Frau, die Größe 38 trägt, herumlamentiert, dass der Bund ihrer knallengen Jeans kneift.

Nein, ich spreche von saftigem Größe-44-Übergewicht, von dem, was man allgemein als Rubens-Figur bezeichnet. Von der Art Übergewicht, das Leute sagen lässt: »Immerhin hat sie ein schönes Gesicht«, wenn sie etwas Nettes über dein Äußeres bemerken wollen.

Nicht, dass ich mich dessen schämen würde, überhaupt nicht. Ich weiß, ich bin eine attraktive Frau. In meinem Leben haben viele Männer mich umworben, aber niemand so wie Leon, den ich vor einem Jahr auf einem Konzert in Bremen kennengelernt hatte, bei dem ich backstage für die Verpflegung der Künstler zuständig gewesen war. Er hatte nicht lockergelassen, bis er meine Telefonnummer hatte. Ich war geschmeichelt gewesen, dass dieser wunderschöne, umschwärmte, blonde Adonis mit mir geflirtet hatte, aber ich hatte nie damit gerechnet, dass er sich wirklich bei mir melden würde.

Seit drei Monaten wohnte ich jetzt bei ihm in Paris. Er lebte dort, weil Marcel über hervorragende Kontakte in der hiesigen Musikszene verfügte. In Frankreich war Leon bereits eine kleine Berühmtheit, und Marcels Plan war es, von hier aus die musikalische Welt zu erobern.

Mir war es egal, wo ich mit Leon wohnte, ich wäre ihm bis ans Ende der Welt gefolgt Und außerdem: Konnte es Romantischeres geben, als in der Stadt der Liebe zu leben? In zwei Wochen wollten Leon und ich heiraten. In ganz kleinem Kreis und heimlich, denn die Medien sollten nichts davon erfahren, damit Leons Image keinen Kratzer bekam. Andere Frauen hätten vielleicht dagegen aufbegehrt – aber wozu hätte ich das tun sollen?

Ich hatte sowieso nicht vor, den Rest meines Lebens als Leons Anhängsel zu verbringen und hinter irgendwelchen Bühnen darauf zu warten, dass das Konzert endlich zu Ende war.

Ich hatte eigene Pläne.

Ich war eine hervorragende Konditorin, ich hatte meinen Meisterbrief in der Tasche, und mein Traum war es, eine kleine Patisserie zu eröffnen. Paris war der ideale Ort dafür. Ich hatte jahrelang jeden Euro gespart und verfügte über eigenes Startkapital.

Leon fand die Idee großartig. Er sah mich schon in einem nostalgischen Lädchen mit altmodischer Einrichtung, eine weiße Rüschenschürze umgebunden, umgeben von köstlichen Torten und bunten Petits Fours. Er hatte sogar schon ein Ladenlokal für mich gefunden, im 18. Arrondissement in der Nähe von Sacre Cœur, einen kleinen Eckladen mit dunkelgrün gestrichener Fassade in der Rue Chappe, ein paar Straßen entfernt von unserer hübschen Wohnung. Der jetzige Besitzer, ein Schuster, wollte sein Geschäft aus Altersgründen in Kürze aufgeben und suchte ab September einen Nachmieter.

Die Gegend war ruhig, lag aber an der Peripherie zu den Wegen der Touristen, die täglich zu Tausenden die Sehenswürdigkeiten dieser wunderschönen Stadt besuchten. In der Nachbarschaft lebten viele Künstler und Studenten, die tagsüber die Straßencafés bevölkerten. In der Rue Chappe gab es Weinhandlungen, Geschäfte für Maler- und Musikerbedarf und eine Ballettschule, aus deren geöffneten Fenstern häufig klassische Musik erklang.

In Gedanken hatte ich das Lädchen schon Hunderte Male eingerichtet.

Ich träumte von einer dunklen Holztheke, hinter der ich stehen würde, ein paar verschnörkelten Metalltischen und -stühlen, an denen Kunden sitzen und meine selbst gemachte heiße Schokolade genießen würden – eine Oase des Genusses, in der die Zeit stehen blieb, ein kleines, intimes Schlaraffenland für Menschen, die wussten, wie sinnlich das Vergnügen sein konnte, in aller Ruhe ein Stück Torte zu essen, die sich kaum entscheiden konnten zwischen all den Verführungen aus Sahne, Biskuit und Früchten, die hinter der Glasscheibe meines Tresen lockten ...

»Ich muss weg!«, rief Leon, der zurück in die Küche gekommen war und mich aus meinen Tagträumen weckte.

Na super, hatte Marcel also wieder mal einen Grund gefunden, Leon aus dem Haus zu locken.

Er umarmte mich ungestüm und sagte: »Du bist mir doch nicht böse, oder? Marcel hat kurzfristig einen Termin mit einem Typen von einer großen Plattenfirma bekommen. Er will uns in der Bar seines Hotels treffen, ganz zwanglos, um mal zu sehen, ob wir ...«

Er brach mitten im Satz ab und drehte sich von mir weg, um sich in dem großen Spiegel über unserem Esstisch zu mustern. Routiniert zupfte er seine Haare zu einer gewollt zerzausten Frisur, dann sah er mich an und fragte: »Sehe ich gut aus? Oder ...«

Was für eine Frage! Natürlich sah er gut aus.

»He«, sagte ich gespielt empört, »was ist mit unserem romantischen Abend?«

Er zauberte eine zerknirschte Miene in sein Gesicht – ein bisschen süßer Hundewelpe, ein bisschen unwiderstehlicher Herzensbrecher, dem man nichts übel nehmen konnte.

»Ich komme so schnell wie möglich zurück«, gurrte er, »und dann ...«

Ich tat verständnislos. »Und dann?«

Er zog mich an sich. »Dann liegst du im Bett, nackt, und wartest auf mich. Und ich werde den ganzen Abend an nichts anderes denken können, als endlich ...«

Seine Hände verschwanden unter meinem T-Shirt, während er mich lange küsste.

Ich entwand mich ihm und sagte: »Ach so, das meinst du.«

Er sah mich verwirrt an, und ich musste kichern. Manchmal verstand er meinen Humor einfach nicht – es war kinderleicht für mich, ihn auf die Schippe zu nehmen.

»Los, zisch ab, Marcel ist bestimmt schon ganz ungeduldig. Und je schneller du zu ihm gehst, desto schneller bist du wieder bei mir. Und vergiss nicht«, ich drehte mich einmal um mich selbst, »das alles hier wartet auf dich. Nackt.«

Für einen Moment schien er drauf und dran, sich doch gleich auf mich zu stürzen, aber dann gab er sich einen Ruck und stürmte zur Tür hinaus.

Ich ging auf unseren kleinen Balkon und beugte mich weit über das Geländer. Die Rue des Martyrs war, genau wie die Rue Chappe, eine schmale Kopfsteinpflasterstraße mit alten, mehrstöckigen Häusern mit hohen Fenstern und hölzernen Fensterläden. Würde aus dem Frisörladen im Erdgeschoss nicht immer die aktuellste Popmusik ertönen, könnte man glatt glauben, die Zeit wäre stehen geblieben.

Vor der Haustür stand mit laufendem Motor Marcels grüner Peugeot, laute Discomusik schepperte aus dem geöffneten Sonnendach bis zu mir hoch in den fünften Stock. Ich sah Leon aus der Haustür kommen, ameisenklein. Bevor er einstieg, blickte er hoch und warf mir eine Kusshand zu. Dann klappte die Autotür zu, und Marcel fuhr mit aufheulendem Motor los.

Ich sah dem Auto hinterher, bis es mit quietschenden Reifen um die nächste Ecke verschwand.

Ich ging zurück in unsere Puppenstubenwohnung, die im Großen und Ganzen aus einem riesigen Bett, einer altmodischen Badewanne mit verschnörkelten Löwenfüßen und einer erstaunlich großzügigen Küche bestand, die sogar Platz für ein kleines Sofa bot. Da hatte vor Jahren jemand bei der Einteilung der Wohnung klare Prioritäten gesetzt: baden, Liebe machen, essen. Perfekt für Leon und mich.

Da er viel unterwegs war, gingen wir uns auch nicht auf die Nerven. Während er Gesangs- oder Sportstunden hatte, Fotoshootings, Besprechungstermine oder immer wieder Strategiebesprechungen mit Marcel, lernte ich Französisch – womit ich mich sehr schwer tat –, kümmerte mich um den überschaubaren Haushalt und probierte neue Kuchenrezepte aus.

Ich hatte schon mehrere dicke Kladden gefüllt mit Rezept- und Dekorationsideen für Torten und Törtchen und Cremerollen, gefüllte Waffeln und Plätzchen. Besonders gelungene Exemplare fotografierte ich und klebte die Bilder in die Kladden.

Ganze Tage verbrachte ich damit, mit Marzipan zu arbeiten. Kaum eine Blüte oder ein Blatt, die ich noch nicht aus der süßen Masse geformt hatte. Natürlich stellte ich mein Marzipan selbst her, auf die gute, altmodische Methode, die ich wie ein Ritual zelebrierte. Die ganzen Mandeln ließ ich quellen, dann zog ich die Haut ab und mahlte die Nüsse mit einer alten Küchenmaschine zu Brei. Die Masse wurde mit Puderzucker und Rosenwasser angereichert und dann so lange geknetet, bis sie geschmeidig genug war, um sie zu verarbeiten. Ich liebte es, Teige mit der Hand zu kneten, kräftig und sanft zugleich, ich liebte die aufsteigenden, süßen Düfte, die mich immer wieder in Hochstimmung versetzten. Das war meine Art, zu meditieren und zu entspannen. Ich fühlte mich am wohlsten, wenn in der Luft Mehlpartikel schwebten, wenn es nach Schokolade, Zimt und den Gewürzen, mit denen ich experimentierte, duftete. Ich genoss die Überraschung auf den Gesichtern meiner »Testesser«, wenn die Marzipanrose nicht, wie von ihnen erwartet, nach Zucker und Mandeln, sondern nach Orange oder Rosmarin schmeckte.

Besonders gern dachte ich mir neue Hochzeitstorten aus. Warum sollte eine drei-, vier- oder fünfstöckige Hochzeitstorte immer nur mit roten oder weißen Marzipanrosen geschmückt sein? Warum nicht mal blassblaue Hortensien oder zart gefiederte Farnblätter, winzige Maiglöckchen, Stiefmütterchen oder schillernde Orchideen, die von bunten Seidenschmetterlingen auf haarfeinen Golddrähten umflattert wurden? Warum sollte die Torte immer weiß oder cremefarben sein? Ich träumte von Fantasiegebilden in Pink, Türkis oder Sonnengelb.

Und warum sollten die Stockwerke immer übereinander stehen – warum nicht nebeneinander? Oder warum sollte die traditionelle, mehrstöckige Torte nicht mal aus vielen winzigen Törtchen bestehen, die auf einer schönen Etagere arrangiert waren?

Und ganz nebenbei arbeitete ich an unserer Hochzeitstorte, Leons und meiner. Dreistöckig sollte sie werden, das stand bereits fest. Jede Etage würde eine andere Füllung bekommen: Vanille-Buttercreme mit frischen Erdbeeren, Cassis-Mascarpone und Schokoladenmousse. Zwar würde die Heirat selbst nur ein schlichter, formeller Akt sein, aber ich wollte Leon mit einer romantischen, intimen Feier und einer spektakulären Torte überraschen.

Und den erotischsten Dessous, die er je an mir gesehen hatte.

KAPITEL 2

Je näher unsere Hochzeit rückte, desto aufgeregter wurde ich. Die Frequenz meiner Telefonate und Mails mit Marie, meiner besten Freundin aus Jugendtagen, wuchs stetig. Ach, Marie wenn ich dich nicht hätte ... Sie war meine Vertraute, sie kannte jedes meiner Geheimnisse, jedes Detail meiner Liebesgeschichte mit Leon. Sie hatte schon gewusst, dass ich mich in ihn verliebt hatte, als ich selbst mich noch strikt geweigert hatte, es mir einzugestehen.

Meine Familie dagegen ahnte nichts von meinen Plänen – aus gutem Grund, denn keiner von ihnen hatte besonders begeistert reagiert, als ich sie beim Familienkaffeetrinken an Omas Geburtstag damit überrascht hatte, zu Leon nach Paris ziehen zu wollen. Unisono hatten sie das Scheitern unserer Beziehung prophezeit, wenn auch mit unterschiedlichen Worten.

Peter, mein Vater: »Bist du verrückt geworden, diesem windigen Schnulzenheini hinterherzulaufen? Und wer übernimmt jetzt mein Geschäft? Habe ich dir dafür die Meisterschule bezahlt? Wenn du von hier weggehst, kannst du dein Erbe vergessen, hörst du?« (Das war ein ungewohnt emotionaler Ausbruch meines Vaters, so hatte ich ihn noch nie erlebt.)

Waltraud, meine Mutter: »Dein Vater hat recht. Wozu haben wir all die Jahre geschuftet? Für dich, damit du ein gut gehendes Geschäft übernehmen kannst. Wenn du jetzt gehst und uns mit dem Laden allein lässt, brauchst du nicht mehr wiederzukommen, hörst du? Was kann dieser ... dieser ... Leon dir schon bieten? Was ist er schon – ein brotloser Künstler. Und seinetwegen willst du in ein fremdes Land gehen, nach allem, was wir für dich getan haben? Wie willst du dich denn da verständigen? Kannst du überhaupt Französisch?« (Bei aller Aufregung immer noch pragmatisch, meine Mutter. Die Möglichkeit, Französisch zu lernen, existierte für sie nicht. Entweder man kann Französisch, oder man kann es nicht. Ein waltraudsches Naturgesetz.)

Cäcilie, meine Oma: »Ach, Kind, bist du wirklich sicher? Der Junge hat listige Augen – auf so einen Süßholzraspler musst du als Frau ständig aufpassen. Aber wenn du mit ihm glücklich bist, freue ich mich für dich.« (Leon hatte mich einmal bei meinen Eltern besucht und sofort eine Charme-Offensive gestartet, was ihn in den Augen meiner Sippschaft nur noch suspekter machte.)

Susanne, meine Schwester: »Der will doch nur ein Muttchen, das ihm zu Hause das Bett warm hält und ihn bekocht, wenn er von den Groupies gelangweilt ist. Wie kannst du nur so dumm sein, dafür eine gesicherte Existenz aufzugeben? Wenn ich so denken würde, wäre ich nicht das, was ich heute bin!« (Und was war sie? Die Gattin eines Dorfbürgermeisters, die sich für Jackie Kennedy hielt.)

Lutz, mein Schwager: »Du kannst nicht glauben, dass dieser Typ ernsthaft in dich verliebt ist, Helene. Sag selbst: Warum sollte er dich nehmen, wenn ihm schöne Frauen in Scharen hinterherlaufen?« (Und das ausgerechnet von Lutz mit seinem Schmerbauch und seiner Halbglatze. Irgendwann werde ich Susanne erzählen, dass er mich in angetrunkenem Zustand angebaggert hat – an ihrem Polterabend. »Noch ist es nicht zu spät für uns, Helene«, hatte er mir damals ins Ohr gelallt, »lass uns zusammen durchbrennen!« Ich habe ihn natürlich ausgelacht, und seither nutzte er jede Gelegenheit, mich zu beleidigen.)

Niemand aus meiner Familie wäre von unseren Hochzeitsplänen begeistert gewesen. Im Gegenteil. Jeder Einzelne hätte nichts unversucht gelassen, mich davon abzubringen, niemand hätte sich mit mir oder auch nur für mich gefreut. Nicht aus Missgunst, o nein, nur aus Sorge um mein Wohlergehen, selbstverständlich.

Dass ich nicht lache.

Susanne, zwei Jahre älter als ich, hatte schon als Kind keine Gelegenheit ausgelassen, mich zu übertrumpfen und mir ihre Überlegenheit zu demonstrieren. Bis heute hatte sie nicht begriffen, dass sie diesen Konkurrenzkampf gegen sich selbst führte, da ich mich strikt weigerte, ihr Spiel mitzuspielen.

Deshalb war Marie so wichtig für mich – sie war nicht nur meine Freundin, sondern auch so etwas wie Familienersatz. Sie würde nach Paris kommen und meine Trauzeugin bei der kurzen Zeremonie im Rathaus sein. Die Vorbereitungen dafür mussten in aller Heimlichkeit abgewickelt werden, denn sie arbeitete ausgerechnet für meinen Schwager.

Ich konnte mich noch genau an das Telefonat erinnern, in dem Marie mir von Lutz' Reaktion auf ihr Ansinnen, ein paar Tage Urlaub zu nehmen, erzählt hatte.

Wir nannten ihn Majestix, nach dem Häuptling des kleinen, gallischen Dorfes in den Asterix-Comics. Das war der dicke – und ziemlich dumme – Kerl, der sich immer auf seinem Schild quer durchs Dorf tragen ließ. Die Ähnlichkeit mit Lutz – oder umgekehrt – war frappant.

»Es war großartig!«, kiekste Marie vergnügt. »Seine Hoheit wollte natürlich wissen, wozu ich Urlaub brauche.«

»Wie bitte? Das geht den doch einen Dreck an. Das darf der dich gar nicht fragen.«

»Na und? Als ob den das jemals gestört hätte! Er glaubt, es steht ihm dienstgradmäßig zu, über alles und jeden in unserem Kaff Bescheid zu wissen, das kennst du doch.«

Und ob ich das kannte. Aus eigener, leidvoller Erfahrung.

»Und was hast du ihm gesagt?«, wollte ich wissen.

Marie bekam einen Kicheranfall.

»Gynäkologischer Eingriff«, verkündete sie triumphierend, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte.

»Und? Wie hat er reagiert?«

»Wie alle Männer reagieren, wenn sie so etwas hören«, prustete Marie, »Kopp so rot wie ein Himbeerlolli und zentimeterdick Schweiß auf der Stirn. Ich habe so getan, als hätte ich es nicht bemerkt, und was von Uterus erzählt und Infektion ...«, sie brach ab, weil sie vor Lachen nicht mehr weiterreden konnte.

»Das hast du nicht getan!«

War Marie nicht einfach göttlich?

»Doch!«, kreischte sie zurück. »Und ich hätte noch endlos so weitermachen können, wenn er mich nur gelassen hätte! Aber er wurde grün im Gesicht und fragte mich, warum ich ihm nicht einfach einen Krankenschein bringen würde.«

Sie machte eine Kunstpause, um mich ein bisschen zappeln zu lassen.

Ich tat ihr den Gefallen und sagte: »Komm, spann mich nicht auf die Folter. Was hast du geantwortet?«

»Ich habe ihm den Todesstoß versetzt. Ich habe gesagt, ich wäre nach dem Eingriff ein bisschen wund untenrum und könnte dann bestimmt nur breitbeinig laufen, und beim Pinkeln würde es schrecklich brennen. Er sah aus, als würde er sich stehenden Fußes auf seinen Angeberschreibtisch übergeben!«

Bei der Erinnerung daran seufzte sie selig.

»Und er hat nicht bemerkt, dass du ihm da unglaublichen Unsinn aufgetischt hast?«

»Ich bitte dich!«, rief Marie. »Welcher Mann, der nicht Gynäkologe ist, würde das bemerken? Die schalten doch alle ab, sobald die Worte Arzt und Unterleib in einem Satz genannt werden, und wollen nur noch, dass du aufhörst, darüber zu sprechen! Das funktioniert todsicher.«

»Hast du keine Angst, dass er Susanne danach fragt und die ihm dann klarmacht, dass nicht jede Entzündung gleich eine Operation erfordert?«

»Du machst wohl Witze. Er mag ja dumm wie ein Stück Pappe sein, aber er weiß sehr wohl, dass er dann Gefahr läuft, zu erfahren, dass auch seine kostbare Gattin einen Unterleib hat, der ab und zu mal zum Arzt muss.«

Und so hatte Marie sichergestellt, dass ihr kleiner Urlaub für ihren Chef fortan ein absolutes Tabuthema war.

Ich freute mich wahnsinnig auf sie.

Ein Zimmer in einer kleinen Pension in der Nähe unserer Wohnung war bereits gebucht, und ich zählte die Tage, bis ich sie am Aéroport Charles-de-Gaulle abholen konnte. Wie kleine Kinder erzählten wir uns bei jedem Telefonat, wie oft wir noch schlafen müssten, bis wir uns endlich sahen. Noch zehn Mal, noch neun Mal, noch acht Mal ...

Mittlerweile waren wir bei »noch drei Mal« angelangt, und ich saß summend an meinem Küchentisch und bastelte die Lilienblüten, mit denen ich die Hochzeitstorte schmücken wollte. Nach langen Telefonaten und Dutzenden Fotos von Torten, die ich an Marie gemailt hatte, stand endlich fest, wie sie aussehen sollte: glänzend pink und gekrönt mit Feuerlilienblüten aus Marzipan.

Die Blüten hatte ich bereits gestern geformt und über Nacht trocknen lassen. Jetzt war ich dabei, sie mit Lebensmittel-Farbspray orange zu färben, um dann mit einem hauchfeinen Pinsel lebensechte Strukturen und Flecken aufzutupfen.

Als plötzlich das Telefon klingelte, fuhr ich vor Schreck derart zusammen, dass ich kurzzeitig die Kontrolle über meine Spraydose verlor und meine linke Hand orange ansprühte. Mit der Rechten griff ich nach dem Telefon. Die Nummer auf dem Display kannte ich nicht.

»Hallo?«

»Helene, Liebling, ich bin's. Du, ich komme später, die Besprechung dauert länger als geplant«, sagte Leon.

»Lass dir Zeit«, antwortete ich geistesabwesend und betrachtete den orangefarbenen Umriss meiner linken Hand, den mein kleiner Unfall auf der Tischplatte hinterlassen hatte. Je mehr Zeit ich hatte, die Blüten zu vollenden, desto besser.

»Ich komme so schnell wie möglich«, versicherte Leon, »wir werden höchstens noch ...«

Das, was er sagte, wurde von einer Lautsprecherdurchsage übertönt. Eine weibliche Stimme rief nach einem Docteur Picard, der bitte auf dem schnellsten Weg zum Operationssaal 4 kommen solle. Welch ein Glück, dass die letzte Lektion meines Französischkurses auf CD sich mit dem Thema »Arzt und Krankenhaus« beschäftigt hatte – eine Woche zuvor hätte ich vielleicht noch nicht verstanden, was die Durchsage zu bedeuten hatte.

Ich erstarrte.

Leon war in einem Krankenhaus?

»Wieso bist du im Krankenhaus, Leon? Was ist passiert?«, rief ich, während ich schon nach meinen Schlüsseln suchte und in meine Jacke schlüpfte.

»Wir hatten einen kleinen Auffahrunfall, nicht weiter schlimm«, murmelte er, »ich wollte dich nicht beunruhigen.«

»Ich komme sofort. Wo bist du?«

Mit gezücktem Stift wartete ich auf seine Antwort.

Er lachte. »Unsinn. Ich bin schon so gut wie raus hier. Die haben mein Handgelenk geröntgt, aber das ist bestimmt nur verstaucht. Marcel wird mich später nach Hause fahren. Mach dir keine Sorgen, hörst du, Liebling? Ich bin bald wieder bei dir.«

»Bist du sicher? Dann bis später«, antwortete ich und notierte mir schnell die Nummer auf dem Display.

Als er aufgelegt hatte, wählte ich diese Nummer, und eine weibliche Stimme meldete sich mit: »Ici Hôpital Saint Joseph, bonsoir.«

Ich legte auf, ich wusste, was ich wissen wollte.

Ich rief mir ein Taxi, knallte die Wohnungstür hinter mir zu und rannte die Treppen hinunter.

KAPITEL 3

Nach einer halsbrecherischen Fahrt durch das nächtliche Paris lieferte der Fahrer mich endlich vor dem Krankenhaus ab.

Ich war schweißgebadet, und mir war übel, hätte aber nicht sagen können, ob die Furcht einflößende Angewohnheit des Fahrers, kaum auf die Straße zu gucken und stattdessen – mir zugewandt – wie ein Maschinengewehr auf mich einzuschnattern, der Grund war oder meine Sorge um Leon.

Ich raste zur Rezeption und radebrechte mich dann bis zur Notaufnahme durch, wo ich schließlich vor einer verschlossenen, blickdichten Glastür mit einem Klingelknopf landete.

Ich hämmerte auf die Klingel ein.

Nach kurzer Zeit riss eine Schwester die Tür auf. Sie wirkte genervt. Aus den Räumlichkeiten hinter ihr drangen Geschrei und Gezeter. Es hörte sich an, als würden ein paar Frauen miteinander streiten.

Die Schwester bellte ungehalten: »Oui?«

Schlagartig schien ich meine mühsam erworbenen, rudimentären Französischkenntnisse verloren zu haben. Verzweifelt kramte ich in meinem scheinbar komplett gelöschten Gedächtnis nach Möglichkeiten, mich verständlich zu machen, und stammelte: »Leon Leblanc? Äh ... victime d'un accident ... äh, moi«, ich tippte mir auf die Brust, »la fiancée!«

Die Schwester seufzte, zog die buschigen Augenbrauen hoch und musterte mich von oben bis unten. Dann schüttelte sie langsam den Kopf.

Wie bitte?

Hatte sie mich vielleicht nicht verstanden? Fiancée hieß doch Verlobte, oder etwa nicht?

Ich erwog kurz die Möglichkeit, sie einfach aus dem Weg zu rempeln, rechnete mir aber keine besonders hohen Chancen aus. Mit ihrer massigen Figur – gegen sie war ich eine Gazelle – füllte sie die Tür fast komplett aus. Ohne mindestens zehn Meter Anlauf würde ich sie keinen Millimeter bewegen können, und vermutlich würde sie mich einfach packen und wie einen läppischen Diskus von sich schleudern.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und spähte über ihre Schulter in die Notaufnahme.

Und richtig, wen sah ich da stehen?

»Marcel!«, schrie ich und winkte hektisch mit beiden Armen. »Marcel, sie will mich nicht reinlassen!«

Er blickte von seinem Handy hoch, auf dem er gelangweilt herumgetippt hatte. Seine Mimik sprach Bände, als er mich erkannte: zuerst Erstaunen, dann Ärger, schließlich Resignation.

Er stieß sich von der Wand ab, an der er lässig gelehnt hatte, und kam zögernd auf die Tür zu.

»Helene«, sagte er über die Schulter der Schwester, die mit verschränkten Armen noch immer wie ein Felsmassiv zwischen Marcel und mir stand, »du hättest nicht herkommen sollen.« Er seufzte.

Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Sah ich da Mitleid?

»Wieso? Was ist mit Leon? Geht es ihm schlecht? Ich will zu ihm!«, zeterte ich schrill.

Marcel schüttelte den Kopf. »Fahr nach Hause, Helene«, sagte er beschwörend, »glaub mir, es ist besser so.«

»Ich will zu dem Mann, den ich in drei Tagen heiraten werde«, fauchte ich, mittlerweile echt wütend. Was glaubte dieser Kerl eigentlich?

Marcel hob beide Hände in einer Du-hast-es-so-gewollt-Geste und sprach ein paar Worte mit der Schwester, die daraufhin widerstrebend den Weg freigab.

Ich schoss an ihr vorbei.

»Wo ist Leon?«

Marcel deutete mit dem Daumen auf eine halb geöffnete Tür. »Da drin«, murmelte er und fuhr fort: »Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Je mehr ich mich dem Behandlungszimmer näherte, desto lauter wurde das Geschrei, das ich draußen schon gehört hatte.

Ich stieß die Tür mit einem energischen Tritt auf und blieb wie angewurzelt stehen.

Leon lag mit selbstgefälliger Miene auf einer Liege, sein rechtes Handgelenk war verbunden. Am Fußende standen zwei Mädchen, die sich wütend anschrien. Eins der Mädchen trug einen frischen Kopfverband. Beide waren filigrane, hübsche Geschöpfe mit langen, glatten Haaren, eine blond, die andere rothaarig.

Zuerst verstand ich nicht, was hier ablief. Leon hatte mich noch nicht bemerkt. Was wollten diese Mädchen hier? Und worüber stritten sie sich? Ich drehte mich zu Marcel um, der mir gefolgt und in der offenen Tür stehen geblieben war. Meinen fragenden Blick beantwortete er mit einem Achselzucken.

Ich wandte mich wieder den streitenden Mädchen zu, die mittlerweile Handgreiflichkeiten austauschten – und da fiel mir plötzlich ein Detail auf: Beide trugen den gleichen, auffälligen Ring mit einem großen, pinkfarbenen Kristall in Herzform. Diesen Ring kannte ich nur zu gut. Leon hatte ihn mir zur Verlobung geschenkt.

»Leon!«,schrie ich, um das Gekreische der Damen zu übertönen, die daraufhin abrupt verstummten und mich anglotzten.

Leon zuckte erschrocken zusammen, sah in meine Richtung und wurde kreidebleich. »Helene ...«, keuchte er, und das blanke Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Was ist hier los?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort längst kannte.

Seine Augen irrten hektisch durch den Raum.

»Was ... was machst du denn hier?«, stammelte er. »Ich ... ich hatte dir doch gesagt, du sollst zu Hause auf mich warten.«

Die beiden Mädchen waren aus ihrer Starre erwacht und redeten auf Leon ein, während sie immer wieder auf mich zeigten. Er sagte fassungslos: »Warum bist du nicht zu Hause geblieben, Helene?«

»Weil ich das hier sonst verpasst hätte«, gab ich schnippisch zurück. »Und jetzt schick die Damen weg, ich will mit dir reden.«

Ich wunderte mich, wie cool ich blieb, obwohl sich gerade meine Zukunft in Luft auflöste.

Marcel kam in den Raum und sagte ein paar Worte zu den Mädchen, die bei ihnen wütenden Protest auslösten, aber er ließ sich nicht beirren und drängte sie unerbittlich in Richtung Tür. Die mit dem Kopfverband sträubte sich mehr als die andere, aber Marcel ergriff ihr Handgelenk und zerrte sie hinter sich her aus dem Raum.

Die Tür wurde mit einem lauten Knall geschlossen.

Ich ging auf Leon zu, der noch immer um Fassung rang. Vor der Liege blieb ich stehen.

»Und?«, herrschte ich ihn an.

»Helene«, sagte er beschwörend, »ich liebe dich, das glaubst du mir doch?«

Beinahe hätte ich gelacht.

»Ich glaube dir überhaupt nichts mehr«, antwortete ich. »Wer sind diese Mädchen?«

»Gute Bekannte«, beeilte er sich, zu versichern. »Nicht mehr, ehrlich. Du bist die einzige Frau, die ich liebe.«

Ich hielt ihm meine Hand mit dem Verlobungsring unter die Nase. Er zuckte erschrocken zurück.

»Ach, und deshalb hast uns allen den gleichen Ring geschenkt? Gab es die im Sonderangebot? Nimm drei, zahl zwei? Ein bisschen mehr Fantasie hätte ich dir eigentlich zugetraut.«

Sein Mund, den ich so gern geküsst hatte, ging auf und zu, ohne dass er ein Wort hervorbrachte. Was hätte er auch sagen sollen?

Ich zog mir den Ring vom Finger und warf ihn Leon an den Kopf. Der Kristall riss die Haut an seiner Stirn auf, und ein dünnes Rinnsal Blut lief an seinem Gesicht herunter. Ich hoffte inständig, dass eine Narbe zurückbleiben würde, die ihn immer an mich erinnern sollte.

»Ich will dich nicht mehr sehen, hörst du?«, schrie ich ihn an.

Er rang nach Luft. »Ja aber, Helene ... unsere Wohnung ... wo soll ich denn ...«

»Mir doch scheißegal«, fauchte ich, »ich gebe dir Bescheid, wenn ich ausgezogen bin. Und bis dahin wird dir sicherlich eine der Damen ein Bettchen anbieten. Mit Freuden, möchte ich wetten.«

Damit drehte ich mich um und stürmte aus dem Zimmer. Ich stieß die Mädchen zur Seite, die direkt vor der Tür standen.

Nur schnell raus hier, dachte ich, denn ich spürte, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Diese Blöße wollte ich mir vor versammelter Mannschaft nun wirklich nicht geben.

Halb blind vor Tränen prallte ich in Marcel, der mich festhielt und sagte: »Ich fahre dich nach Hause, Helene.«

Das war der Moment, als alle Dämme bei mir brachen.

Nach Hause?

Ich hatte kein Zuhause mehr.

KAPITEL 4

Ich schluchzte hemmungslos, als Marcel mich in sein Auto verfrachtete und mir den Sicherheitsgurt anlegte.

Er schwieg, während er mich – deutlich zivilisierter und vorsichtiger, als ich es von ihm gewöhnt war – nach Hause chauffierte.

Ich weinte während der gesamten Fahrt, und irgendwann beugte Marcel sich über mich, öffnete das Handschuhfach und gab mir eine Packung mit Papiertüchern.

Vor meiner Haustür parkte er ein und stellte den Motor ab.

»Kommst du klar, Helene? Ich leiste dir gern noch Gesellschaft, wenn du das möchtest.«

Trotz meines Kummers war ich erstaunt.

War das der Marcel, der mich gehasst und immer ignoriert hatte? Ich verstand die Welt nicht mehr.

Ich nickte schniefend, und er stieg aus, kam um das Auto herum und öffnete die Beifahrertür für mich.

Mit bebenden Händen versuchte ich vergeblich, den Haustürschlüssel ins Schloss zu manövrieren, und war froh, als Marcel das für mich übernahm. Im Hausflur nahm er mich an der Hand und zog mich hinter sich her die Treppen hinauf bis zu der kleinen Dachwohnung, die bis vor ein paar Stunden noch mein kuscheliges Liebesnest gewesen war.

Jetzt blieb ich im Eingang stehen und zögerte.

»Komm«, sagte Marcel, legte mir den Arm um die Schultern, bugsierte mich vorsichtig in die Küche und platzierte mich auf das kleine Sofa. Ich vermied den Blick zum Küchentisch, auf dem noch immer die Lilienblüten für meine Hochzeitstorte lagen, an denen ich gearbeitet hatte – zu einem Zeitpunkt, als die Welt noch in Ordnung gewesen war.

Moment mal, Helene – auch da war die Welt nicht in Ordnung gewesen.

Du hast es nur nicht gewusst.

Ein Teil von mir war wie betäubt von dem Schock, von der Erkenntnis, dass Leon mich betrogen hatte – und das ausgerechnet mit diesen Mädchen, die ausgesehen hatten, als wären Paris Hilton und Victoria Beckham ihre modischen Vorbilder. Muss ich extra erwähnen, dass Leon mir immer sagte, er fände meine weibliche Ausstrahlung (ha!) besonders sexy?

Der andere Teil brannte förmlich darauf, jedes noch so schmerzhafte Detail von Leons Betrug zu erfahren, als hätte das jemals in der jahrtausendelangen Geschichte des Fremdgehens irgendeinem betrogenen Menschen auch nur das Geringste gebracht – außer noch mehr Schmerzen.

»Kanntest du die Mädchen?«, fragte ich Marcel, der mittlerweile dabei war, uns Wein aus der angebrochenen Flasche im Kühlschrank einzugießen.

Er stellte mein Glas auf den Tisch und nickte.

»Hatte Leon was mit denen?«

Er nickte wieder.

»Mit beiden?«

Nicken.

»Schon lange?«

Achselzucken.

Ich schauderte und war kurz davor, Marcel anzuschreien, warum er mir nie etwas davon gesagt hatte. Wie konnte er das alles mit ansehen und mir trotzdem noch ins Gesicht gucken? Aber vielleicht war genau das der Grund, weshalb er sich mir gegenüber immer so seltsam verhalten hatte.

»Wollte Leon mich wirklich heiraten?«

»Ja«, sagte Marcel.

»Aber das hätte nichts an der Existenz dieser Mädchen geändert, richtig? Oder irgendwelcher anderer Mädchen.«

»Vermutlich nicht, Helene. Leon ist eben so. Soweit er dazu imstande ist, liebt er dich wirklich.«

»Soll mich das trösten?«, fauchte ich aufgebracht.

Marcel schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass dich jetzt nichts trösten kann.«

Er setzte sich zu mir auf das Sofa und beobachtete mich, wie ich mein Glas mit einem Zug leerte.

»Hast du die gemacht?«, fragte Marcel und deutete auf die Blüten.

»Die kannst du alle essen, wenn du willst. Oder wegwerfen. Ich brauche sie nicht mehr«, sagte ich und sah angestrengt an den Blüten vorbei.

»Wie – essen? Ich dachte, die wären aus Stoff oder so.« Er griff nach einer Lilienblüte und leckte daran. Dann hellte sich sein Gesicht auf, und er biss ein Blütenblatt ab und lutschte darauf herum.

Ich begann wieder zu weinen. »Die sollten für unsere Hochzeitstorte sein«, schluchzte ich.

»Ach, Helene«, sagte Marcel, »das tut mir alles unheimlich leid. Auch wenn du mir das nicht glaubst – ich mag dich wirklich.«

»Warst du deshalb immer so fies zu mir?«

»Was hätte ich denn machen sollen? Erinnere dich, ich habe dir prophezeit, dass du es bereuen wirst, als ihr mir von der Hochzeit erzählt habt.«

»Du hast mich eine alte, fette Kuh genannt«, rief ich empört.

»Das habe ich getan?«, fragte er erstaunt. »Wow. Dann entschuldige ich mich dafür.«

»Warum hast du mir nie die Wahrheit gesagt?«