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Über das Buch

Rory Shy ist ein ungewöhnlicher Detektiv: Es ist ihm unangenehm, Zeugen zu befragen, er ist zu schüchtern, um mit Informanten zu sprechen, und viel zu höflich, um Verdächtige mit Fragen nach einem Alibi zu belästigen. Dafür besitzt er eine geheime eigene Methode, mit der er bislang auch die kniffligsten Rätsel lösen konnte. Bis jetzt: In der Villa einer Millionenerbin ist eine Perle spurlos verschwunden. Und von der Sekretärin bis zum Butler scheint jeder ein Geheimnis zu hüten. An Befragungen führt kein Weg vorbei! Mithilfe der zwölfjährigen Matilda stellt sich Rory dem schwersten Fall seiner Karriere …

Ein herrlich schüchterner Krimi

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Inhalt

Mörderische Ehefrauen

Der schüchterne Detektiv

Schnee und Puderzucker

Zunge auf Eis

Windbeutel, Dreadlocks und ein Praktikum

Schüchterner Kaffee und ein Anruf

Vorschläge und Beichten

Die Sprudel-Perle

Schokolinsen und Verdächtige

Der Casanova-Cockerspaniel

Engel und Zicke

Ein Springer in Pink

Behutsam im Wesen, kraftvoll im Tun

Ein Schlag auf den Kopf und seine Folgen

Mundwasser und andere Geheimnisse

Koalas, Knöpfe und ein Traum

Krümpelmann und hochnäsiger Butler

Ein schüchternes Verhör und eine Spur

Etwas taucht auf und verschwindet

Perle in Hund

Ein heimliches Paar

Eine bekloppte Verfolgungsjagd

Eine eisige Falle

Schüchterne Enthüllungen

Ein zarter Kuss und eine Ohnmacht

Auf ein schüchternes neues Jahr

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Mörderische Ehefrauen

Wer wissen will, wie man einen lästigen Ehemann ins Jenseits befördert, der sollte Frau Zeigler fragen. Frau Zeigler ist unsere Haushaltshilfe und Expertin für Bodenreinigung, Fleckenentfernung und die Beseitigung nörgelnder Ehegatten. Jeden Nachmittag, um Punkt siebzehn Uhr, macht sie es sich nach getaner Arbeit mit einer Schachtel Pralinen auf unserem Sofa gemütlich, um eine Doppelfolge Mörderische Ehefrauen zu schauen. Alles Kriminalfälle nach wahren Begebenheiten. Von Schauspielern nachgestellt.

Ich interessiere mich nicht sonderlich für Fleckenentfernung und Bodenreinigung – für Verbrechen dafür umso mehr. Weswegen Frau Zeigler und ich die Mörderischen Ehefrauen stets gemeinsam gucken. Pro Folge wird ein Ehemann von seiner Frau abgemurkst. Immer mit List und Tücke, häufig mit einem stumpfen Gegenstand, gelegentlich auch mal per Stromschlag. Einmal sogar durch einen Gartenhäcksler.

In der heutigen Episode kommt Gift zum Einsatz … »Als Norbert Kümmerling am späten Nachmittag des siebten November 2016 nach Hause kommt, empfängt ihn seine Ehefrau Gundula mit einer Tasse heißer Schokolade«, ertönt die Stimme eines Sprechers aus dem Fernseher. Auf dem Bildschirm ist genau das zu sehen: Norbert Kümmerling und seine Frau begrüßen sich mit einem flüchtigen Kuss, dann nimmt sie ihm Mantel und Aktentasche ab, führt ihn ins Wohnzimmer und bringt ihm einen Kakao mit Sahne.

»Halten die vom Fernsehen eigentlich sämtliche Zuschauer für Idioten?«, frage ich. »Warum muss ein Sprecher all das erklären, was man doch sowieso sieht?«

»Pscht!«, zischt Frau Zeigler, schiebt sich eine Praline in den Mund und starrt gebannt auf den Fernseher, aus dem nun düstere, bedrohliche Musik erklingt.

»Norbert Kümmerling ahnt nicht, dass dies der letzte Kakao seines Lebens sein wird«, verkündet der Sprecher in unheilvollem Tonfall, während man sieht, wie Herr Kümmerling an seiner Schokolade nippt und ein ahnungsloses Gesicht macht. Dann runzelt er die Stirn und ruft: »Gundula? Moppelchen? Der Kakao schmeckt irgendwie anders als sonst.«

»Weil ich ihn heute mit besonders viel Liebe gemacht habe!«, trällert seine Gattin aus der Küche.

»Aha?«, macht Norbert, nimmt noch einen Schluck und verzieht angewidert das Gesicht. »Jetzt mal im Ernst, Moppelchen: Die Sahne ist schlecht. Hast du wieder nicht auf das Haltbarkeitsdatum …« Mitten im Satz verstummt er, reißt die Augen weit auf, fasst sich an den Hals und schnappt nach Luft. Seine Gesichtszüge verzerren sich, die Tasse gleitet ihm aus der Hand und zersplittert auf dem Parkett, der Kakao spritzt durch die Gegend. Norbert Kümmerling rutscht röchelnd aus dem Sessel, bleibt bewegungslos auf dem Boden liegen – und gibt keinen Mucks mehr von sich.

Frau Kümmerling tritt ins Wohnzimmer, bedenkt ihren leblosen Gatten mit einem finsteren Blick und sagt: »Dreißig Jahre lang habe ich dir jeden Abend deinen blöden Kakao gebracht. Hast du es mir auch nur einmal gedankt? Nein. Du hast dich nie für irgendwas bedankt, Norbert. Immer nur gemeckert. Und mich Moppelchen genannt. Das hast du jetzt davon! So!«

Dann wischt sie in aller Seelenruhe den Kakao auf, verschwindet kurz in die Küche, kehrt mit einer Plastikplane zurück und wickelt ihren toten Gatten darin ein.

»Gift im Kakao. Gar nicht mal dumm!«, befindet Frau Zeigler und gönnt sich noch eine Nuss-Praline. »Man kann es der Frau nicht verdenken. Wenn ein Mann immer nur meckert, darf er sich nicht wundern. Und Moppelchen geht gar nicht.«

Mitunter frage ich mich, woher Frau Zeiglers auffälliges Interesse an mordenden Ehefrauen kommt. Ob sie sich vielleicht Tipps oder Anregungen holen will. Wenn ich mit ihr verheiratet wäre, würde ich mir vorsichtshalber jegliches Gemecker verkneifen.

Frau Zeigler ist eine kleine, kräftige Frau mit roten Wangen und einer Frisur, die an eine Drahtbürste erinnert. Nicht die Art Gattin, die ihren Ehemann vergiftet. Sie ist eher der Typ für einen entschlossenen Schlag mit der Bratpfanne. Frau Zeigler kommt eigentlich nur zweimal die Woche, um unseren Haushalt auf Vordermann zu bringen. Aber wenn Papa und Mama auf Reisen sind, wohnt sie hier, bekocht mich und passt auf mich auf.

Ich bin sicher, dass ich das auch sehr gut alleine hinkriegen würde, aber Mama ist leider anderer Meinung: »Du bist zwölf, Matilda. In vier oder fünf Jahren sieht die Sache anders aus. Aber bis dahin hält Frau Zeigler die Stellung, wenn dein Vater und ich unterwegs sind. Und dafür bin ich ihr sehr dankbar.«

Meine Eltern – Kristina und Thomas Bond – sind Tierfilmer und bekannt für ihre Dokumentationen über seltene und exotische Tiere. Ich bin es gewohnt, dass sie wegen ihrer Arbeit häufig von zu Hause fort sind. Dennoch habe ich gehörig geschluckt, als sie mir offenbart haben, dass sie ausgerechnet an Heiligabend nach Australien aufbrechen müssen. Um einen Film über Koalas zu drehen.

»Es tut uns so leid, Matilda«, hat Papa mit schuldbewusster Miene gesagt. »Wir haben alles versucht, den Drehbeginn um ein paar Tage zu verschieben. Aber die Filmproduktion hat nicht mit sich reden lassen. Wir müssen am vierundzwanzigsten Dezember fliegen.«

Weswegen wir Weihnachten in diesem Jahr schon am dreiundzwanzigsten gefeiert haben. Am vierundzwanzigsten hat Raimund – Frau Zeiglers Mann – Papa und Mama zum Flughafen gefahren. Ich war dabei und habe es geschafft, nicht zu weinen, als ich mich von ihnen verabschiedet habe. Aber als ihr Flieger in Richtung Australien abhob, habe ich dann doch still und heimlich ein paar Tränen verdrückt.

Sie werden erst Ende Januar zurückkommen.

Heute ist der siebenundzwanzigste Dezember. Die Weihnachtsfeiertage haben Frau Zeigler und ich größtenteils vor dem Fernseher verbracht. In warme Decken gekuschelt und bei voll aufgedrehter Heizung. Draußen ist es bitterkalt und seit dem ersten Weihnachtstag schneit es beinah ununterbrochen. Vor dem Fenster zur Terrasse schweben dicke weiße Flocken durch die Dunkelheit.

»Oh, Mann! Sie will ihn doch wohl nicht ernsthaft in einem See versenken? Voll der Anfänger-Fehler!«, kommentiere ich, während ich zusehe, wie die Kakao-Mörderin ihren toten Gatten aus einem Kofferraum hievt und an ein Seeufer schleppt. »Es ist völlig schwachsinnig, eine Leiche in einem See zu versenken«, erkläre ich Frau Zeigler. »Früher oder später wird sie an die Oberfläche getrieben und dann hat Frau Kümmerling den Salat. Die Gerichtsmedizin wird feststellen, dass der Mann vergiftet wurde, und die Polizei wird herausfinden, welche Art von Plastikplane das ist, in die er gewickelt wurde. Und dann werden sie nachforschen, wo diese Plane gekauft wurde. Vielleicht wird sich ein Verkäufer an Frau Kümmerling erinnern. Dann wird es eng für sie. Und wenn sie auch noch so dumm war, mit Kreditkarte zu zahlen oder die Plane im Internet zu bestellen, kann sie sich überhaupt nicht mehr rausreden. Die Polizei wird sie in die Mangel nehmen und irgendwann gesteht sie. Weiß doch jeder: Den perfekten Mord gibt es nur, wenn es keine Leiche gibt. Wenn ich jemanden verschwinden lassen wollte, dann würde ich mit einem Boot rausfahren und ihn auf dem offenen Meer über Bord schubsen. Oder ihn in Salzsäure auflösen. Da bleiben nur die Zähne übrig. Oder ich würde es so deichseln, dass es wie ein Unfall aussieht: beim Reinigen der Regenrinne von der Leiter gefallen. Oder einen Stromschlag bekommen. Und auf jeden Fall würde ich mir ein falsches Alibi verschaffen. Und dann würde ich …«

»Matilda!«, unterbricht mich Frau Zeigler und stöhnt genervt: »Du tust es schon wieder.«

»Was denn?«, frage ich und gebe mich ganz ahnungslos.

»Mir ein Ohr abquatschen!«, sagt sie und bedenkt mich mit einem vorwurfsvollen Blick. »Herrgott, Kind! Ich möchte doch nur in Ruhe gucken, wie eine Frau ihren Mann um die Ecke bringt. Du redest schon wieder wie ein Wasserfall! Kannst du nicht wenigstens versuchen, dich mal ein bisschen zu bremsen?«

»’tschuldigung«, murmele ich kleinlaut, lasse mich tief in die Sofapolster rutschen und schaue fortan schweigend zu, wie die Kakao-Mörderin ihren Gatten entsorgt.

Wäre Frau Zeigler die Einzige, die sich darüber beschwert, dass ich zu viel rede, würde ich nichts darum geben. Sie redet selbst ganz gerne und kann sich stundenlang über Raimund, ihren Ehemann, auslassen. Darüber, dass er es alleine nicht mal hinkriegt, sich ein Rührei zu machen oder früh genug neues Klopapier zu kaufen. »Mein Raimund ist ohne mich nicht überlebensfähig«, stöhnt sie bei diesen Gelegenheiten. Ganz unrecht hat sie nicht. Während Frau Zeigler bei uns wohnt, ist ihr Mann zu Hause allein. Und ruft mindestens fünfmal am Tag an, um zu fragen, wo er denn dieses oder jenes findet. Oder wie die Spülmaschine eigentlich funktioniert. Oder um seiner Frau zu beichten, dass er die Küche unter Wasser gesetzt hat. Frau Zeigler sieht dann immer aus, als würde sie in einer Episode von Mörderische Ehefrauen mitspielen. »Im Dielenschrank«, knurrt sie ins Telefon. Oder: »Automatik-Programm einstellen.« Oder: »Herrgott, Raimund!«

Aber ich gerate schon wieder ins Plappern. Wenn auch nur in Gedanken. Ich kann einfach nichts dagegen machen: Wenn ich einen Gedanken im Kopf habe, dann kommt plötzlich noch ein zweiter von irgendwoher geschossen. Und dann ein dritter und dann noch einer und noch einer … Bis in meinem Gehirn eine regelrechte Lawine aus Gedanken ins Rutschen kommt. Und wenn die Gedankenlawine erst mal talwärts rauscht, öffnet sich mein Mund ganz automatisch und teilt der Umwelt meine Gedanken mit. Und zwar in rasantem Sprechtempo.

Nicht nur Frau Zeigler denkt, dass ich zu viel rede. Meine Mitschüler finden mich mitunter auch anstrengend. Und Großtante Wally hat bei ihrem letzten Besuch Herzrasen und ein Fiepen im Ohr bekommen, nachdem ich ihr zwei Stunden lang meine Gedanken zum Thema Sarg oder Urne? vorgetragen hatte. Aber es ist, wie es ist: Länger als fünf Minuten zu schweigen, ist für mich ein Ding der Unmöglichkeit. Nach drei Minuten kriege ich Atemnot. Und nach viereinhalb fühlt sich mein Kopf an wie ein Ballon, kurz vorm Platzen. Dann muss es einfach raus!

Auch diesmal halten meine guten Vorsätze nur, bis die mörderische Frau Kümmerling in Handschellen abgeführt wird – dann sprudelt es unkontrolliert aus mir heraus: »Kein Wunder, dass sie geschnappt wurde! Wie kann man nur so schlampig arbeiten? Die Plastikplane kauft man doch nicht beim Baumarkt um die Ecke. Sondern irgendwo, wo einen keiner kennt. Und man trägt eine Perücke. Oder wenigstens eine Sonnenbrille. Und natürlich bezahlt man in bar. Und vor allem fragt man den Verkäufer nicht, ob die Plane auch groß genug ist, um einen Mann darin einzuwickeln! Und außerdem: Die ganze Sache mit der Plastikplane kann man sich sparen, wenn man die Geschichte direkt vor Ort erledigt. Frau Kümmerling hätte ihren Mann zu einem Urlaub ans Meer einladen können. Und einen romantischen Bootsausflug mit ihm machen sollen. Dann gibt sie ihm in einem günstigen Moment eins über den Schädel – und er verschwindet für immer in den Tiefen der wogenden See. Anschließend hätte sie die trauernde Witwe spielen und jedermann erzählen können, dass ihr Norbert bei einem tragischen Unfall über Bord gegangen ist. Und dann hätte sie das gesamte Erbe …«

»Ma-til-da!« Frau Zeigler macht eine überdeutliche Klappe-zu- Geste. Dann deutet sie zum Weihnachtsbaum, vor dem Doktor Herkenrath gerade aus einem Schläfchen erwacht. »Jemand muss mit dem Hund raus!«

Sie sagt immer Hund und nie Doktor Herkenrath. Weil sie findet, dass das kein Name für einen Hund ist.

Doktor Herkenrath ist unser Cockerspaniel. Er hat rotbraunes Fell, niedliche Hängeohren und panische Angst vor Eichhörnchen. Wir haben ihn aus dem Tierheim geholt, als ich sieben war. Er hat mich sofort an meinen Kinderarzt erinnert: Beide haben den gleichen traurigen und etwas schielenden Blick. So kam Doktor Herkenrath zu seinem Namen. Und zu einem Doktortitel. Als wahrscheinlich einziger Cockerspaniel weltweit.

»Jemand muss mit dem Hund raus«, wiederholt Frau Zeigler und sieht mich dabei auf eine Weise an, die keinerlei Zweifel aufkommen lässt, wer mit Jemand gemeint ist.

»Komm, Doktor Herkenrath«, sage ich und stehe vom Sofa auf. »Frau Zeigler möchte, dass wir eine halbe Stunde durch die Kälte irren, damit sie die zweite Folge von Mörderische Ehefrauen ungestört sehen kann.«

Er trottet mir in die Diele hinterher, wo ich mich in eine dicke Jacke einpacke, dabei einen kurzen Blick in den Garderobenspiegel werfe und nach Weihnachtspickeln Ausschau halte. Ich habe mich in den vergangenen Tagen durch Berge von Weihnachtssüßigkeiten gefuttert. Eigentlich müssten die Pickel nur so sprießen. Aber bisher habe ich Glück. Abgesehen von einem kleineren Exemplar auf meiner Stirn herrscht Ruhe an der Pickelfront.

»Du bist ganz deine Mutter«, erzählt mir Frau Zeigler bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Was die grünen Augen und roten Haare angeht, hat sie sicher recht. Aber was das ausgeprägte Grübchen auf meinem Kinn betrifft – das geht unverkennbar auf Papas Konto.

Ich ziehe eine Bommelmütze auf, verstaue mein Smartphone in der Jackentasche, rufe: »Wir sind dann mal eben zum Erfrieren draußen« und will gerade die Haustür öffnen – als Frau Zeigler aus dem Wohnzimmer brüllt: »Kind! Komm! Schnell! Die bringen was über den schüchternen Detektiv.«

»Rory Shy?«, entfährt es mir aufgeregt und ich mache auf dem Absatz kehrt und haste mit schnellen Schritten ins Wohnzimmer. Doktor Herkenrath guckt mir verdattert hinterher.

»Da!«, sagt Frau Zeigler und zeigt wild gestikulierend auf den Fernseher. »Es geht um das verschwundene Mädchen!«

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Der schüchterne Detektiv

Am unteren Rand des Bildschirms ist ein Text-Laufband eingeblendet: Achtung! Es folgt eine Sondersendung aus aktuellem Anlass: Detektiv Rory Shy spürt vermisste Millionärstochter auf! Janine Pelzer wohlbehalten zu Eltern zurückgekehrt. Sondersendung: Detektiv Rory Shy …

»Wow! Das gibt’s doch nicht. Er hat es schon wieder geschafft!«, sage ich ehrfürchtig staunend und schäle mich aus der Jacke. Ohne den Blick vom Fernseher zu wenden, lasse ich mich aufs Sofa fallen und warte ungeduldig auf den Beginn der Sondersendung. Das Verschwinden von Janine Pelzer war in den vergangenen zwei Wochen das Top-Thema in sämtlichen Nachrichten. Und nun hat Rory Shy sie aufgespürt. Keine achtundvierzig Stunden, nachdem er in den Fall eingestiegen ist. Rory hat es echt drauf!

Ich stehe nicht nur auf mörderische Ehefrauen, ich bin verrückt nach Kriminal- und Detektivgeschichten aller Art. Wer’s nicht glaubt, muss sich nur mal meine diesjährigen Weihnachtsgeschenke ansehen: drei Detektivromane, ein Poster von Benedict Cumberbatch als Sherlock, ein Detektiv-Brettspiel namens Mordsspaß und ein Fingerabdruck-Set, das Papa und Mama auf einer Seite für Amateur-Detektive bestellt haben. (Ich hatte es am ersten Weihnachtstag schon im Einsatz. Mein Verdacht, dass sich Frau Zeigler gelegentlich ein Gläschen Gin aus der Hausbar gönnt, hat sich bestätigt.) Außerdem habe ich alle 56 Sherlock-Holmes-Kurzgeschichten als Hörbuch geschenkt bekommen. Wobei: Sherlock Holmes ist toll, aber leider nur eine Romanfigur. Viel spannender als die ausgedachten Detektivgeschichten finde ich echte Fälle und echte Detektive.

Rory Shy ist echt! Er lebt sogar in meiner Stadt. Seit er vor vier Jahren den Fall um die mysteriöse Karaoke-Verschwörung aufgeklärt hat, kennt ihn jedes Kind. Und das war nur der Anfang seiner atemberaubenden Detektiv-Karriere. Seither hat er jeden Fall gelöst, den er übernommen hat. Darunter so vertrackte Angelegenheiten wie das Rätsel um die drei Zwillinge. Oder den aufsehenerregenden Fall der sprechenden Salamander, der die Stadt monatelang in Atem gehalten hat. Ganz zu schweigen von dem Geheimnis um die tödlichen Schneekugeln …

Rory Shy ist der Popstar unter den Detektiven. Im Internet gibt es unzählige Gruppen, Blogs und Foren, die sich mit ihm beschäftigen. Rory knackt auch die scheinbar unlösbaren Fälle und ist da erfolgreich, wo die Polizei nicht weiterkommt. Und alle Welt fragt sich, wie er das eigentlich macht …

Die Sondersendung beginnt mit einem Moderator, der die Zuschauer auf den neuesten Stand bringt: »Vor zwei Wochen verschwand die vierzehnjährige Janine Pelzer, einzige Tochter des Unternehmer-Ehepaares Pelzer, spurlos. Es wurde befürchtet, dass sie Opfer einer Entführung wurde. Die Ermittlungen der Polizei blieben erfolglos, sodass die verzweifelten Eltern den berühmten Detektiv Rory Shy einschalteten. Und wieder einmal ist es ihm gelungen, einen Fall innerhalb kürzester Zeit zu lösen und das Mädchen zu finden. Janine Pelzer ist heute wohlbehalten zu ihren Eltern zurückgekehrt.«

Im Anschluss werden Aufnahmen der Familie Pelzer gezeigt: die Eltern, bei denen Freudentränen über die Rückkehr ihrer Tochter fließen. Und Janine, die bockig guckt.

»Nein, nein«, sagt Frau Pelzer auf die Frage eines Reporters. »Janine ist nicht entführt worden. Unser kleiner Schatz war nur trotzig und hatte sich in einem unserer Ferienhäuser versteckt. Weil wir ihr kein zweites Pony kaufen wollten.«

»Aber darüber können wir ja jetzt noch mal reden«, ergänzt Herr Pelzer und streicht seiner Tochter liebevoll über den Kopf. Zum ersten Mal guckt sie nicht bockig, sondern lächelt triumphierend.

»Was glauben Sie?«, frage ich Frau Zeigler. »Wie stehen meine Chancen, dass Papa und Mama mir ein Pony kaufen, wenn ich zwei Wochen abhaue?«

»Eher schlecht«, brummt Frau Zeigler humorlos. »Das würde ich mir aus dem Kopf schlagen.«

Janine Pelzers Mutter blickt direkt in die Kamera und schnieft gerührt: »Dass wir unsere Tochter heute wieder in unsere Arme schließen dürfen, ist einzig das Verdienst eines Mannes: Rory Shy! Tausend Dank, Rory! Sie sind der großartigste Detektiv der Welt! Wir schulden Ihnen so unendlich viel!«

»Ja. Das tun wir«, knurrt Herr Pelzer und blickt mit gerunzelter Stirn auf ein Blatt Papier, bei dem es sich um Rorys Rechnung handeln dürfte.

Dann beginnt der wirklich interessante Teil der Sendung, denn der Moderator erklärt: »Heute Nachmittag hat meine Kollegin Kati Keuken mit Rory Shy ein Interview zu diesem Fall geführt. Das heißt, sie hat es, äh, versucht. Sehen Sie gleich ihren Bericht. Nach ein paar kurzen Werbespots.«

»Ein Interview mit Rory?«, kichere ich, während die Werbung über den Bildschirm flimmert. »Da kann man ja nur viel Glück wünschen.«

Schon so einige Reporter haben versucht, ein Interview mit Rory Shy zu führen. Wirklich gelungen ist es bisher keinem. Selbst Kati Keuken nicht, obwohl die forsche blonde Fernsehjournalistin zu denen gehört, die dem Detektiv immer besonders penetrant auf die Pelle rücken. Auch wenn Internet und Fernsehen ihn zu einer Berühmtheit gemacht haben – Rory selbst ist es fürchterlich unangenehm, im Mittelpunkt zu stehen. Er meidet Reporter und Fernsehkameras, wann immer es geht. Weil er nämlich nicht nur ein außergewöhnlich erfolgreicher Detektiv, sondern auch extrem scheu und zurückhaltend ist. Nicht umsonst wird er im Fernsehen und der Presse nur Der schüchterne Detektiv genannt.

Eigentlich ist Rory für den Detektiv-Beruf völlig ungeeignet: Es ist ihm unangenehm, Zeugen zu befragen, er ist zu schüchtern, um mit Informanten zu sprechen, und viel zu höflich, um Verdächtige mit Fragen nach einem Alibi zu belästigen. Alle Welt fragt sich, wie er es unter diesen Voraussetzungen schafft, einen Fall aufzuklären.

Die Geschichten über Rorys extreme Schüchternheit sind legendär. Wie er im Fall der Blauen Auster im Hafenviertel von fünf Schlägern bedroht wurde, aber zu schüchtern war, um Verstärkung anzufordern. Weil es Wochenende war und er niemandem lästig fallen wollte. Als er bei seinen Ermittlungen im Fall der Kichernden Madonna angeschossen wurde, hat er sich zu einer Arztpraxis geschleppt, war aber zu schüchtern, die anderen Patienten darum zu bitten, ihn vorzulassen. Stattdessen hat er mit einer Schusswunde im Arm höflich gewartet, bis er an der Reihe war – und ist dann bewusstlos vom Stuhl gerutscht. Im Internet macht das Gerücht die Runde, dass Rory so schüchtern ist, dass er jedes Mal, bevor er sein Badezimmer betritt, anklopft und fragt, ob er reinkommen kann. Obwohl er alleine wohnt.

Wahrscheinlich ist das mit dem Badezimmer nur ein Witz. Schwer zu sagen. Ich bin nicht gerade eine Spezialistin in Sachen Schüchternheit. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mal entfernt, wie sich das anfühlt.

»Na endlich«, murmelt Frau Zeigler, als die Werbung vorüber ist, und krallt sich noch eine Praline aus der Schachtel.

Zunächst sieht man eine Gruppe von Journalisten, die sich gegenseitig dabei filmen, wie sie im Schneegestöber vor Rorys Detektivbüro rumlungern. Auf der Sailenzer Straße 11. Die Adresse ist unter Rory-Fans so populär wie die Baker Street 221 b unter Sherlock-Holmes-Lesern. Dann kommt Bewegung in die Angelegenheit: Ein Taxi fährt vor, Rory steigt aus, schließt behutsam die Autotür – und registriert erst in diesem Moment die wartende Reportermenge. Ein panisches Flackern tritt in seine Augen. Kurz sieht es aus, als würde er überlegen, wieder in das Taxi zu springen. Aber das fährt bereits davon. Rory blickt bedröppelt auf die Reifenspuren im Schnee und schluckt.

Für einen erfolgreichen Detektiv ist er noch ziemlich jung. Gerade einmal Mitte zwanzig. Rory ist eine große, schlaksige, immer korrekt gekleidete Erscheinung. Man kennt ihn nur in tadellos sitzendem Anzug und mit blank polierten, spitzen Schuhen. Natürlich hat er bei der momentan herrschenden Eiseskälte einen Mantel über den Anzug gezogen und trägt Schal und Handschuhe.

»Hach, sieht er nicht gut aus? So ein gepflegter und höflicher junger Mann«, schwärmt Frau Zeigler und pult sich ein Nussstückchen aus den Zähnen.

Gespannt rutsche ich zur Sofakante vor und frage mich, ob diesmal tatsächlich einem Journalisten das Kunststück gelingt, dem Detektiv mehr als ein paar schüchtern gestammelte Worte zu entlocken.

Während er mit zögerlichen Schritten auf die Reporter zugeht, setzen sich Schneeflocken in Rorys Haare. Er streicht sich mit verlegener Geste eine Locke aus der Stirn und richtet den Blick zu Boden. Der schüchterne Detektiv ist dauerblass (außer wenn er vor Verlegenheit rot anläuft) und wirkt immer so, als wäre er mittelschwer erkältet. Als Kati Keuken vorspringt und ihm ihr Mikrofon entgegenreckt, sieht er aus, als hätte ihn zusätzlich ein schlimmer Magen-Darm-Virus erwischt. Dennoch bemüht er sich um ein höfliches Lächeln.

»Rory, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Erfolg im Fall Janine Pelzer«, kreischt die Journalistin. »Wie fühlen Sie sich, nachdem die Familie Pelzer wieder glücklich vereint ist?«

»Ähm, äh … gut«, haucht Rory ins Mikrofon und läuft dunkelrot an. »Vielen Dank der Nachfrage. Sehr nett von Ihnen. Dürfte ich jetzt vielleicht …« Er deutet auf seine Haustür.

»Rory, verraten Sie uns, wie Sie auf die Spur des vermissten Mädchens gekommen sind!«

»Ach, das war … da gehört auch immer etwas Glück dazu«, wispert Rory und betrachtet mit hoch konzentriertem Blick seine Schuhspitzen. »Ich möchte Ihnen wirklich keine Umstände machen, aber wenn ich jetzt dann doch mal …«

Er schafft es, sich durch den Reporterpulk zur Haustür zu schlängeln und aufzuschließen. Der Detektiv ist schon fast im Haus, als ihm Kati Keuken mit ihrem spitzen Stiefelabsatz auf den rechten Fuß steigt und ins Mikro brüllt: »Rory, Sie sprechen nie darüber, mit welcher geheimnisvollen Methode es Ihnen gelingt, all diese spektakulären Fälle zu lösen. Wollen Sie dieses Geheimnis nicht endlich lüften? Heute? Exklusiv für unsere Zuschauer?«

Rory guckt wie ein aufgeschrecktes Erdmännchen und murmelt: »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber … Ihr Absatz bohrt sich gerade in meinen Fuß. Würde es Ihnen sehr viel ausmachen, einen kleinen Schritt zurück … Danke. Ich müsste jetzt wirklich ganz dringend rein. Sonst … Sie verstehen …« Er huscht durch den Türspalt ins Haus und schließt die Tür.

»Aufschlussreich wie immer«, seufzt Frau Zeigler und lutscht die nächste Praline. »Ich fürchte, aus dem Mann wird nie einer was rauskriegen. Schüchterner als ein Konfirmand am Palmsonntag.« Dann lenkt sie meine Aufmerksamkeit auf Doktor Herkenrath, der reichlich nervös zwischen Diele und Wohnzimmer hin und her rennt. »Es muss noch immer jemand mit dem Hund raus. Und zwar dringend!«

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Schnee und Puderzucker

Doktor Herkenrath und ich drehen jeden Abend die gleiche Runde: wenn wir aus dem Haus kommen rechts, die baumbestandene Kastanienallee runter bis zur Lindemannstraße, anschließend ein kleines Stück durch den Florapark, die Tesslerstraße entlang bis zum Boringer Platz und dann links am Café Puderzucker vorbei in die Heldengasse, die einen zurück auf die Kastanienallee führt. Während ich durch den Schnee über die Lindemannstraße stapfe, beobachte ich, wie daunengroße Flocken im Schein der Straßenlaternen zur Erde trudeln und sich lautlos auf Häuserdächer, Baumkronen, Gartenhecken und geparkte Autos legen.

Doktor Herkenrath findet Schnee unheimlich. Er bemüht sich, so wenig wie möglich in Kontakt mit der weißen Pracht zu kommen, und bewegt sich mit einem völlig beknackt aussehenden, hasenartigen Hoppeln über die Schneedecke. Aus der Ferne könnte man ihn mit einem verschreckten Wildkaninchen verwechseln. Doktor Herkenrath hat nicht nur Angst vor Schnee. Er hat Angst vor so ziemlich allem: im Frühjahr vor Marienkäfern, im Sommer vor Schmetterlingen und im Herbst vor fallenden Blättern. Ich würde gerne was anderes behaupten, aber – Doktor Herkenrath ist ein ausgemachter Feigling. Als Hüter von Haus und Hof ist er eine Fehlbesetzung. Letzten Sommer musste ihn die Feuerwehr aus einem Erdloch befreien, in das er auf der Flucht vor zwei rabiaten Eichhörnchen geraten war.

Mein Atem segelt mir in kleinen Wolken voraus. Kaum ein Mensch ist bei diesen Eisestemperaturen unterwegs. Während ich Doktor Herkenrath dabei zusehe, wie er versucht, den Schneeflocken auszuweichen, kreisen meine Gedanken um den Fernsehbericht von vorhin. Um Rory Shy. Und seine geheimnisvollen Fälle. Darum, wie aufregend es sein muss, in einem echten Kriminalfall zu ermitteln. Manchmal stelle ich mir vor, in unserer Nachbarschaft würde ein Verbrechen stattfinden. Es muss ja nicht gleich ein vergifteter Ehemann sein. Für den Anfang würden es auch ein Einbruch oder Diebstahl tun. Und dann würde ich auf eigene Faust ermitteln. Und wäre der Polizei immer eine Nasenlänge voraus. So wie Rory Shy und die Detektive in meinen Büchern.

Um ein guter Detektiv oder eine gute Detektivin zu werden, braucht man vor allem eines: Neugier. Davon habe ich reichlich. Ich rede nicht nur viel und schnell, sondern bin auch neugieriger als der Heilige St. Naseweis persönlich. Eine Kombination, die Großtante Wally mal als nervtötend bezeichnet hat. Was mich nicht weiter juckt. Ich finde ihre Kombination aus selbstmitleidigem Gejammer und rechthaberischem Geschwätz auch nervtötend. Aber ich schweife schon wieder ab … Worauf ich eigentlich hinauswollte, ist: Was nutzt einem alle Neugier und aller detektivische Ehrgeiz, wenn es kein Verbrechen gibt?

In der Schule habe ich gelernt, dass unser Stadtviertel eine gutbürgerliche Wohngegend ist. Was bedeutet, dass eine Menge ansehnlicher Häuser auf großen Grundstücken rumstehen. Und dass man nicht besonders ängstlich sein muss, wenn man abends mit dem Hund rausgeht. Hier geschieht nur selten was Aufregendes. Noch nie hat eine Gattin ihren Mann vergiftet. (Es sei denn, sie war so gerissen, dass niemand Verdacht geschöpft hat.) Und auch sonst passiert nie was Kriminelles. Mal abgesehen von der Geschichte vor zwei Jahren, als jemand versucht hat, bei Familie Feller auf der Lindemannstraße einzubrechen. Als die Polizei eintraf, stellte sich allerdings raus, dass der vermeintliche Einbrecher nur ein Nachbar der Fellers war, der auf seinem Kegelabend ein paar Schnäpschen zu viel getrunken und sich in der Haustür vertan hatte. Und dann gab es noch die Sache mit Frau von Hakkefress, die drei Häuser unter uns wohnt und mal die Polizei gerufen hat, weil sie glaubte, man hätte ihren silberfarbenen Porsche geklaut. Bis ihr einfiel, dass er zur Inspektion in der Werkstatt war. Wenn man ein halbes Dutzend Sportwagen besitzt, kann man schon mal den Überblick verlieren.

Wo nichts Kriminelles passiert, muss man sich als Amateur-Detektivin eben anderweitig betätigen. Dass es keine Verbrechen gibt, bedeutet ja nicht, dass es keine Geheimnisse gibt …

Mit langsamen Schritten folge ich Doktor Herkenrath, als er über die Tesslerstraße hoppelt, und nehme dabei die Umgebung ins Visier. Geheimnisse gibt es überall. Auch in einer gutbürgerlichen Wohngegend. Und ich habe schon so einige gelüftet. Natürlich kann ich dabei nicht so vorgehen, wie es Detektive in Filmen und Romanen tun. Ich verschaffe mir keinen unbefugten Zugang zu Häusern von Verdächtigen, ich durchwühle keine fremden Schränke, lese keine Post anderer Leute und hacke mich auch in niemandes Computer. So was gehört sich einfach nicht, außer es geht um was wirklich Kriminelles. Einmal habe ich jemanden drei Tage lang beschattet (oder observiert, wie das in Detektiv-Fachsprache heißt). Allerdings immer nur bis halb sieben, weil ich um sieben zu Hause sein musste. Da kam natürlich nicht viel bei rum. Meistens braucht es aber gar kein Observieren oder Hacken. Man muss einfach nur Augen und Ohren offen halten, seine Umgebung aufmerksam beobachten, alle Informationen zusammentragen und die richtigen Schlüsse ziehen.

Ich kann es ja mal an einem Beispiel verdeutlichen. Passende Beispiele finden sich immer. Mal sehen …

Während Doktor Herkenrath einen Laternenpfahl beschnuppert, scanne ich das Umfeld, bis mein Blick an einem Haus hängen bleibt, das nicht so hell und weihnachtlich beleuchtet ist wie die anderen. Aus einem Fenster im ersten Stock dringt gedimmtes Licht durch einen schmalen Vorhangspalt. Im Vorgarten ist ein schneebedeckter Motorroller etwas versteckt hinter einem Busch geparkt. Sieh mal einer an! Da haben wir doch schon ein Beispiel. Ich muss nur das, was ich über das Haus weiß, mit dem kombinieren, was ich über den Motorroller weiß. Und wenn man dann noch das gedimmte Licht in Betracht zieht und die Tatsache, dass es keine Reifenspuren des Rollers im Schnee gibt, kann man nur zu einem Schluss kommen: an meiner Schule gibt es ein heimliches Liebespaar! Woher weiß ich das? Ganz einfach! In dem Haus wohnt Frau Buschmann, meine Deutsch-Lehrerin. Der Motorroller gehört Herrn Kadoglu, dem Bio-Lehrer, der erst seit diesem Schuljahr an unserer Schule unterrichtet. Und dass es keine Reifenspuren im Schnee gibt, heißt, dass der Roller schon in Frau Buschmanns Vorgarten geparkt wurde, bevor es zu schneien begann. Also vor mindestens zwei Tagen. Herr Kadoglu ist nicht nur mal eben schnell auf einen Kaffee unter Kollegen vorbeigekommen. Sondern hat bei Frau Buschmann übernachtet. Und mir kann keiner erzählen, dass sie gemeinsam Arbeiten korrigieren. Bei dem schummerigen Licht kann doch kein Mensch lesen. Wer hätte das gedacht? In der Schule tun die beiden immer so, als hätten sie nicht groß was miteinander zu tun.

So schnell kommt man Geheimnissen auf die Spur.

Nicht, dass jemand was Falsches denkt: Wenn ich ein Geheimnis lüfte, dann behalte ich es natürlich für mich. Wenn Frau Buschmann und Herr Kadoglu ein heimliches Paar sein wollen, dann sollen sie das auch bleiben. Und wenn sich Frau Zeigler ab und zu ein Gläschen Gin aus der Hausbar genehmigt, soll sie das in Dreigottesnamen tun. Sie hat es schließlich nicht einfach mit ihrem unselbstständigen Raimund. Ich würde (außer wenn es um was Kriminelles ginge) nie jemanden verpetzen oder in die Pfanne hauen. Es geht mir nur darum, zu kombinieren. Das Rätsel zu knacken. Um die Neugier und um den Spaß, den ich dabei habe. Es geht darum, eine Detektivin zu sein. Und nicht darum, die Geheimnisse anderer Leute in die Welt zu posaunen.

An der Ecke zum Boringer Platz flattert direkt vor uns eine Amsel aus einem Strauch auf. Doktor Herkenrath macht einen erschrockenen Satz zur Seite, flüchtet sich hinter einen Hydranten und winselt mitleiderregend. Ich brauche geschlagene fünf Minuten, um ihn so weit zu beruhigen, dass wir unsere Runde fortsetzen können.

Das Café Puderzucker ist berühmt für seine Waffeln und Windbeutel mit ganz besonders viel Puderzucker. Aus den Fenstern dringt warmes, orangerotes Licht, die Außenseiten der Scheiben sind mit Eisblumen bedeckt. Gerade als ich auf Höhe des Cafés bin, kommt mir Herr Werkheimer entgegengewatschelt, eine Sporttasche über der Schulter. Herr Werkheimer ist unser direkter Nachbar und so übergewichtig und kurzatmig, dass sich seine Frau ernsthaft um seine Gesundheit sorgt. Weswegen sie ihm Besuche im Café Puderzucker strengstens verboten und stattdessen ein Trainingsprogramm verordnet hat. Seit einem halben Jahr geht er dreimal die Woche ins Fitness-Studio. Das glaubt zumindest seine Frau. Und wundert sich, dass ihr Mann trotzdem zunimmt.

Ich wundere mich nicht. Ich glaube, dass Herr Werkheimer auch ein Geheimnis hat und noch kein einziges Mal im Fitness-Studio war. Sondern weiterhin das Café Puderzucker aufsucht, um Windbeutel zu vertilgen. Dreimal die Woche. Nur dass ich dafür keine Beweise habe. Einhundertprozentig wollte er auch diesmal wieder ins Café, aber nachdem ich ihn gesehen habe, muss er gezwungenermaßen so tun, als wäre er ganz woanders hin unterwegs. Herr Werkheimer lässt das Puderzucker links liegen und kommt schnaufend in meine Richtung getrabt.

Eine günstigere Situation, ihn in die Mangel zu nehmen, gibt es nicht. Auf dem schmalen Bürgersteig kann er nicht an mir vorbei: Rechts ist ein Mäuerchen, links wird der Weg von ein paar zugeschneiten Mülltonnen versperrt. Die Gelegenheit, mein naturgegebenes, besonderes Talent auszuspielen.

Alle großen Roman-Detektive haben besondere Talente, die ihnen helfen, Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Bei Sherlock Holmes ist es sein messerscharfer Verstand. Die freundliche, Tee trinkende Miss Marple ist gewitzt und bauernschlau. Und Hercule Poirot, der berühmte belgische Detektiv, wiegt Bösewichte in falscher Sicherheit, indem er sie dazu bringt, ihn zu unterschätzen. Sie halten ihn für einen eitlen kleinen Mann mit einem lächerlichen Schnurrbart und übersehen dabei, dass er auch ein außerordentlich kluger Kopf ist. Zack! Schon sitzen sie in der Falle. Man könnte sagen, Hercule Poirots besonderes Talent ist die Täuschung.

Nur für den Fall, dass es irgendjemandem noch nicht aufgefallen sein sollte: Mein besonderes Talent ist die wörtliche Rede. In geballter Form. Und ich habe gelernt, dieses Talent für meine Ermittlungen zu nutzen. Herr Werkheimer ist so gut wie geliefert.

»Hallo, Matilda«, begrüßt er mich kurzatmig. »Und? Sind deine Eltern gut in Australien angekommen?«

»Ja. Ich habe schon mit Mama geskypt. Alles gut.«

»Schön, schön«, sagt er, hofft offenbar, damit wäre unser Gespräch beendet, und will seinen Weg fortsetzen, aber ich lege in diesem Moment erst richtig los und texte ihn gnadenlos zu.