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Über das Buch

Wie von selbst erscheinen die Sätze auf Finns Handy: »Du musst Jakob retten! Er wird sich umbringen.« Es ist Finns verstorbener Lehrer, der über die App Mindhack mit ihm kommuniziert. Denn in Mindhack existiert jeder als virtuelles Klon, gespeist aus Spuren, die man im Netz hinterlässt. Doch was in einem Fall ein Leben rettet, hat unberechenbare Folgen. Skrupellose Mächte möchten das System für sich nutzen – und greifen zu haarsträubenden Mitteln. Finn und Jakob versuchen, Mindhack zu stoppen. Können sie schneller, unberechenbarer und unsichtbarer sein als ihre Gegner?

Ein packender Thriller über eine gar nicht unwahrscheinliche Zukunft

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I never sleep cause sleep is the cousin of death

There is no tomorrow brother

I’m trapped in a cycle of yesterdays

Why do I always forget what I’m about to say?

Kids, LEONIDEN

Inhalt

Prolog

TEIL 1 November

Kapitel 1

Kapitel 2

TEIL 2 Mai

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Prolog

Tage, an denen etwas besonders Tolles oder furchtbar Schreckliches passiert, beginnen ja meistens ganz normal. So normal, manche sagen auch langweilig, wie die 100 Tage davor begonnen haben. Und so normal, wie wahrscheinlich auch die 100 Tage danach beginnen würden, würde es dieses besonders tolle oder furchtbar schreckliche Ereignis nicht geben. Ein Ereignis, das völlig unerwartet kommt und das alles sein kann, wirklich alles. Das diesen Tag nur so speziell macht, so herausragend speziell, dass wir uns sogar an den normalen Beginn des Tages erinnern können, an Gefühle und Gespräche, die üblicherweise im Wust der vergessenen Emotionen untergehen. Warum das so ist? Vielleicht weil plötzlich alles, auch das Normale, in einem anderen Licht erscheint. Vielleicht auch weil wir als Gegensatz zu dem Speziellen die Normalität brauchen, um das Spezielle einordnen zu können. Oder vielleicht, und das ist das wahrscheinlichste Vielleicht, weil wir uns einfach zur Normalität zurücksehnen, wenn um uns herum das Chaos ausbricht.

TEIL 1

November

1.

TOR BROWSER /// CHAT INT. /// 06/11/20** /// 03:04:26

Room: Castle – III user online

03:04:26 [khal@xxp]

E5 MU55 AUFHÖREN!

03:04:35 [winston84]

wir haben doch noch gar nicht richtig angefangen image

03:04:37 [khal@xxp]

Darum jetzt. Bevor e5 zu 5pät i5t.

03:04:44 [winston84]

schiss?

03:04:50 [khal@xxp]

We lo5t control. Da5 i5t e5.

03:04:53 [winston84]

quatsch / wir sind die ersten / und das bedeutet viel geld für uns

03:04:55 [khal@xxp]

Da5 war nie un5er Ziel!

03:05:00 [winston84]

jetzt schon / zumindest meins / außerdem wären wir ohne ihr geld nie so weit gekommen

03:05:02 [khal@xxp]

Ich werde da5 nicht zula55en!

03:05:05 [winston84]

mimimi / was willst du machen / nachher ist der erste externe test unserer beta-version / wenn der nicht stattfindet werden die ungemütlich

03:05:10 [khal@xxp]

Wir5t schon 5ehen. Auf dich kann ich al5o nicht zählen?

03:05:13 [winston84]

FORGET IT! / das ist das beste was ich je erschaffen habe / mach das doch nicht selbst kaputt / sie hatten echt recht …

03:05:16 [khal@xxp]

Womit?

03:05:20 [winston84]

mit dir!

03:05:23 [khal@xxp]

Wa5 5oll da5 hei55en?

03:05:25 [winston84]

dass sie dir nicht trauen / haben sie noch nie

03:05:27 [khal@xxp]

Weil ich ein Gewi55en habe. Im Gegen5atz zu ihnen. Und zu dir.

03:05:35 [winston84]

einen scheiss hast du / wir verändern die welt und du ziehst den schwanz ein

03:05:40 [khal@xxp]

Weil die5e Veränderung alle5 kaputt macht. WANN HA5T DU ÜBERHAUPT MIT IHNEN GEREDET OHNE MICH?

03:05:42 [winston84]

ich sitze hier in berlin ganz in ihrer nähe falls du das vergessen hast / denen war schon lang klar dass dir nicht zu trauen ist / die wollten dich nur noch im team behalten bis es läuft

03:05:44 [khal@xxp]

Und du wu55te5t davon? Wa5 für ein 5chwein bi5t du?

03:05:45 [obrian@93]

Hey, shut up!!!!

03:05:48 [khal@xxp]

Obrian, was sag5t du dazu? 5toppen? Weitermachen? Wir haben e5 noch in der Hand. Noch!

03:05:50 [winston84]

f*ck, was soll das? / es wird kein stop geben / sieben jahre arbeit umsonst / NEVER

03:05:53 [khal@xxp]

La55 Obrian antworten.

03:05:58 [obrian@93]

Es ist too late. Sie wissen, was sie bekommen. Und geben es nicht mehr auf. Sie haben uns in der Hand. Wenn wir nicht liefern, landen wir im Knast.

03:06:01 [khal@xxp]

Aber kapiert ihr nicht? Wenn e5 läuft, hauen 5ie un5 alle rau5. Und 5ie werden Mind-Hack mi55brauchen. Für ihre Zwecke. Und wir haben keinen Einflu55 mehr, wa5 damit pa55iert.

03:06:05 [winston84]

ich hör mir diesen mist nicht mehr länger an / wenn du aussteigen willst dann steig aus / aber lass uns unsere arbeit machen

03:06:10 [khal@xxp]

Ich werde au55teigen. Aber vorher werde ich e5 5toppen. Da kann5t du Gift drauf nehmen.

03:06:12 [winston84]

f*ck off!

[khal@xxp] hat den Chat verlassen

BERLIN FRIEDRICHSHAIN, 06:58 (MEZ), HOSTEL BE®LIN

Finn wachte vor den anderen auf. Es war noch dunkel draußen. Berliner Herbstregen prasselte gegen das dünne Hostel-Fenster.

Im Flur machten sich die Privatschulidioten aus Liverpool lautstark zur Abreise fertig. Und im Bett unter ihm schnarchte sein bester Freund Jakob, als ginge es in seinem Traum ums Überleben. Vier Stunden Schlaf verbunden mit einem echt fiesen Aufwachen, und trotzdem musste Finn lächeln. Denn für ihn war es der beste Morgen aller Zeiten. Nach dem schönsten Abend seines Lebens. Auf der allercoolsten Klassenfahrt der Welt.

Ob Lea ihm heute Nacht noch geschrieben hatte? Der Gedanke kam plötzlich und ließ ihn nicht mehr los. Ihm war zwar klar, dass sie sich erst vor wenigen Stunden mit einem Kuss verabschiedet hatten – mit einem Kuss! –, und ihm war auch klar, dass sie sich spätestens um acht beim Frühstück wiedersehen würden. Aber trotzdem wollte er sichergehen. Schließlich hatte der gestrige Abend alles verändert.

Finn fuhr sich durch seine verstrubbelten Haare und überlegte kurz, ob er sein Handy, das neben der Zimmertür an einer Steckdose baumelte, auch erreichen könnte, ohne das warme Bett zu verlassen. Doch er verwarf den Gedanken sofort wieder. Mit wenig Rücksicht auf Jakob, Gregor und Tarek, die im Stockbett gegenüber schliefen, machte er einen lauten Satz auf den kalten Linoleumboden, hechtete zur Tür, stöpselte sein Handy ab, kletterte das quietschende Bett hoch und lag in weniger als sieben Sekunden wieder unter seiner Decke. Nur Jakob schien das Wackeln der abgenutzten Stahlrohre bemerkt zu haben. Er wälzte sich auf die andere Seite, um nach einem kurzen Atemaussetzer in doppelter Lautstärke einfach weiterzuschnarchen.

Finn machte sein Handy an. Und war sofort enttäuscht. Lea hatte ihm natürlich nicht geschrieben. Dafür seine Mutter vor ein paar Minuten, was er nur ungern als Ersatz gelten ließ. Seit er vor drei Tagen hier in Berlin angekommen war, hatte er von ihr so viele Nachrichten und Fotos erhalten wie sein ganzes Leben vorher nicht.

›Pass auf dich auf!‹ ›Wie geht’s dir? Was macht ihr?‹ ›Finger weg vom Alkohol.‹ ›Bleib anständig.‹ Echt nervig. Und trotzdem musste er grinsen, als das aktuelle Foto geladen war: Seine Mutter fröhlich in die Kamera winkend, neben ihr ihr Freund Marc und dessen Sohn Paul, die von dem erzwungenen Frühstücks-Selfie sichtbar wenig begeistert waren.

06:53

Happy Birthday, Kleiner. Alles Liebe zum 16. Geburtstag. Auch von Marc und Paul. Vermissen dich! Mama

Seine neue Familie seit vier Monaten, wobei das Wort Mitbewohner besser zuträfe. Zwar kannte er Marc schon, seit seine Mutter aus der Affäre vor über einem Jahr eine Beziehung gemacht hatte, von Marcs 18-jährigem Sohn Paul wusste Finn aber nichts. Bis der kurz nach Marc ebenfalls bei ihnen eingezogen war. Seither lebten sie beide als Fremde unter einem Dach. Alle Versuche ihrer Eltern, Brüder aus ihnen zu machen, waren bis jetzt gescheitert. Und daran würde wohl auch die n-te Lüge in ›Vermissen dich‹ nichts ändern.

Um seiner Mutter ein gutes Gefühl zu geben, schickte Finn ein allgemeingültiges Herz-Emoji zurück, legte das Handy zur Seite und rief sich mit geschlossenen Augen noch mal den Kuss mit Lea in Erinnerung. Den Kuss, der seinen 16. Geburtstag zu etwas ganz Besonderem machte. Den Kuss, der unvergesslicher war, als er es sich jemals erträumt hatte. Und er hatte viel davon geträumt und er konnte es auch weiterhin nicht abstellen. Wie es wohl wäre, wenn Lea jetzt neben ihm liegen würde? Wenn sie den ganzen Tag gemeinsam hier im Bett verbringen könnten? Es wäre wunderschön, weil Lea schön war. Und lustig. Und anders als die anderen. Und ein unglaublich sexy Muttermal unter ihrem linken Auge hatte. Das er, weil er sich gestern nicht getraut hatte, heute gerne berühren würde.

Ein lautes Grunzgeräusch von Jakob holte Finn in die Realität des muffigen Vierbettzimmers zurück. Ohne zu zielen, schleuderte er sein Kissen einen Stock tiefer, um seinen besten Freund zum Schweigen zu bringen. Doch der perfekte Treffer verfehlte seine Wirkung. Denn Jakob schreckte völlig panisch hoch und knallte mit dem Kopf an die Unterseite des Stockbetts. »Fuck, Mann, was war das?«

Finn musste sich ein Lachen verkneifen, als er zu Jakob nach unten linste, der sich verschlafen seine Stirn massierte.

»Warst du das, Pisser? Ich mach dich fertig, echt!«

»Sorry, Bro. Aber dein Geschnarche macht mich wahnsinnig.« Finn streckte Jakob seine Hand zum entschuldigenden Einschlagen nach unten, aber der schleuderte nur das Kissen dagegen.

»Ich hab ’ne Gehirnerschütterung, verdammt. Und voll den Kater. Der Wodka von Tarek gestern Abend war scheiße. Wusste ich schon beim ersten Schluck.«

Wie aufs Stichwort meldete sich Tarek vom gegenüberliegenden Bett zu Wort: »Hey, ihr Schwachköpfe, könnt ihr mal eure Fresse halten? Es ist mitten in der Nacht.«

»Selber Fresse, Yilmaz. Wegen dir geht’s mir voll beschissen.« Jakob schleuderte Finns Kissen in Richtung Tarek, verfehlte ihn aber um Längen. Tarek zeigte Jakob als Antwort nur seinen Mittelfinger und verschwand anschließend wieder vollständig unter seiner Decke.

»Und mein Kissen, Mann?«

»Hol’s dir selber.« Während Jakob, kaum dass er das letzte Wort ausgesprochen hatte, schon wieder zu schnarchen begann, kletterte Finn erneut aus seinem Bett. Doch statt sich noch mal hinzulegen, setzte er sich nachdenklich auf Jakobs Bettkante.

Der lugte durch einen millimeterbreiten Spalt seiner zugeschwollenen Augen und reagierte genervt: »Alter, was denn noch? Wir können doch sicher noch ’ne Stunde pennen, oder?«

»Ja, ist erst kurz nach sieben.«

»Und? Was? Sag jetzt nicht, du willst dich neben mich legen. Kannste vergessen.«

»Bin ja nicht lebensmüde.« Finn musste über den verknautschten Jakob lachen, weil er, egal wo sie die letzten sechs Jahre irgendwann mal gemeinsam aufgewacht waren – unterwegs mit ihrem Hockeyteam oder beim jeweils anderen zu Hause nach einer durchgezockten Nacht – immer gleich schlecht gelaunt war. Sogar in der Schule hatten ihn die Lehrer in Ruhe gelassen, wenn er sein Gesicht bis zur großen Pause hinter seinen blonden Locken versteckt hielt.

Doch darauf konnte Finn gerade keine Rücksicht nehmen. Ihn trieb eine Frage um, die er unbedingt loswerden musste: »Meinst du, Lea fand den Kuss heute Nacht auch gut? Also so gut wie ich?«

Unverständlich vor sich hin maulend wälzte Jakob sich erst zur Wand, um sich nur wenige Sekunden später genervt aufzusetzen. »Darum hältst du mich vom Pennen ab? Fuck, Mann, seit über ’nem halben Jahr höre ich nur Lea, Lea, Lea … Jetzt hast du ihr endlich die Zunge in den Hals gesteckt und jetzt ist das Thema immer noch nicht beendet. Wenn du dich nicht wie der letzte Spast angestellt hast, wird sie es schon gut gefunden haben.« Mit der Faust knautschte Jakob sein Kissen zurecht und legte sich wieder hin. Für ihn war die Unterhaltung beendet. Für Finn nicht.

»Ich weiß halt echt nicht, ob wir jetzt zusammen sind. Mann, sie ist ein Jahr älter, sie hat da sicher ganz andere Vorstellungen und so.«

Jakob verdrehte seine geschlossenen Augen, was Finn merkwürdigerweise sehen konnte. »Woher soll ich das wissen? Ihr habt geknutscht. Ich war nicht dabei. Hättest sie halt mal gefragt.«

»Wann denn? Wir haben geknutscht. Und dann sind wir ins Bett. Also jeder in seins.«

»Selber schuld.«

»Blödmann.« Finn blieb grübelnd sitzen. »Ist ja auch voll peinlich, nachher zu ihr zu gehen und zu fragen: ›Hey, sind wir jetzt zusammen, oder was?‹ Macht doch kein Mensch.«

»Nee, macht wirklich kein Mensch. Musst dich eben überraschen lassen. Und cool bleiben. C O O L.«

»Könnte ihr ja auch texten.«

»Nein!«

»Warum nicht?«

»Hat sie dir geschrieben?«

»Nee.«

»Siehste. C O O L bleiben. Und jetzt Abflug nach oben. Ey, du nervst echt.«

Obwohl Finn wusste, dass Jakob recht hatte und er sich einfach überraschen lassen musste, was später passieren würde, grinste er gut gelaunt vor sich hin. Denn nichts machte ihm mehr Spaß, als Jakob auf 180 zu bringen.

»Echt ey, ich kann nicht mehr schlafen. Bin voll hibbelig. Muss die ganze Zeit dran denken, wie es nachher sein wird, wenn wir uns wiedersehen. Vielleicht darf ich mich ja doch kurz zu dir …«

Pfeilschnell schoss Jakobs Hand unter der Decke vor – direkt in Finns Schritt. »Finn, du bist mein bester Freund. Und wenn du willst, dass das so bleibt und dein Geburtstag nicht zum schlimmsten Tag deines Lebens wird, dann halt endlich die Fresse. Oder ich drück zu und du kannst zur Not noch die beste Freundin von Lea werden.«

Lachend schlug Finn Jakobs Hand weg und machte sich, nachdem er seinen ganzen Kram zusammengesucht hatte, leise auf den Weg in die Gemeinschaftsduschen. An Schlaf war wirklich nicht mehr zu denken, weil er, das musste er vor sich dann doch zugeben, wirklich extrem nervös war. So nervös sogar, dass er auf dem Flur ungebremst in seinen Klassenlehrer Herrn Merks reinrannte, der mit schnellem Schritt um die Ecke bog.

»Mann, pass doch auf.«

Aus der Aktentasche, die Merks bei sich trug, flatterten unzählige Papiere auf den Flurboden, die wie Bauzeichnungsskizzen aussahen.

»Sorry.« Finn griff erst nach seinem runtergefallenen Duschgel und half dann seinem Lehrer, die Blätter wieder einzusammeln. »Sie sind ja ganz schön früh auf. Was machen Sie denn damit?«

Doch statt auf den Small-Talk-Versuch einzugehen, riss Merks ihm die Papiere regelrecht aus der Hand. »Gib her und verzieh dich. Ich muss los.«

Finn machte einen Schritt zur Seite, schaute dem davoneilenden Lehrer aber irritiert hinterher. Was war denn das? Noch nie hatte sein Klassenlehrer ihn so doof angemotzt. Normalerweise war Merks, der seit drei Jahren an ihrer Schule Mathe, Deutsch und Sport unterrichtete, ziemlich entspannt, beliebt und manchmal sogar lustig. So lustig 30-Jährige eben sein können. Doch seit sie in Berlin angekommen waren, wirkte er wie ausgewechselt. Und sah vor allem so extrem übernächtigt aus, dass schon das Gerücht die Runde machte, er würde jede Nacht heimlich ins Berghain gehen. Und sich dabei irgendwelche Sachen einschmeißen.

Aber schon als die Tür zu den Duschen hinter Finn zufiel, hatte er die merkwürdige Begegnung vergessen. Es gab für ihn Wichtigeres zu durchdenken. In einer Stunde würde er Lea wiedersehen. Und damit war er vielleicht oder hoffentlich am Ziel seines Traums, der vor acht Monaten begonnen hatte. Weil er wegen einer harmlosen Schulhof-Prügelei dazu verdonnert worden war, als Beleuchter bei der Theater-AG mitzumachen. In der Lea, die Neue in seiner Klasse, die Julia in einer ›Romeo und Julia‹-Aufführung spielte. Und er sich hinter seinem Scheinwerfer auf der Stelle in sie verliebt hatte.

MIND-HACK /// TEST EXT.1 /// 06/11/20** /// 07:22:45

Vorsichtig irrt er im schummrigen Licht durch eine baufällige Fabrikhalle. Er vermutet sie im Berliner Südosten, wo es wegen schlampiger Bauplanung noch einige dieser sogenannten Lost Places gibt. Vergessen von der Gesellschaft, aber nicht vergessen von dem, was er gern den Abschaum der Gesellschaft nennt: Penner, Junkies, Jugendliche ohne Perspektive, Kriminelle und illegale Flüchtlinge. Ein Auffangbecken für Idioten, das er, wäre er bei den Kollegen der Polizei, täglich trockenlegen würde. Und ausgerechnet hier soll er auf seine Tochter treffen? Dieser Gedanke macht ihm fast noch mehr zu schaffen als die dröhnenden Techno-Sounds, die seine Ohren zum Pfeifen bringen.

Schritt für Schritt geht er voran, vorbei an gammligen Sofas, die so wahllos rumstehen, als wären sie in die riesige Montagehalle gewürfelt worden. Auf einigen von ihnen sitzen Personen, Subjekte, die er angeekelt beobachtet. Manche reden miteinander, manche knutschen im Takt der Bässe, manche starren einsam und wie unter Drogen nur vor sich hin. Typisch. Seine Tochter ist zum Glück nicht dabei. Das kann auch nicht sein. Das darf nicht sein. Warum hat ihn dieses verdammte Programm hierhergeschickt? Es muss ein Fehler sein. Oder diese dämlichen Programmierer erlauben sich einen Spaß mit ihm? Nein, er ist der Auftraggeber, es muss ein Fehler sein.

Doch trotz dieses offensichtlichen Bugs findet er es spannend, in diese Welt abzutauchen, die eigentlich nicht existiert. Die in diesem Augenblick nur für ihn da ist. Und den Anfang von etwas darstellt, was er noch nicht so richtig greifen kann. Genauso wenig wie er die Macht einschätzen kann, die er mit diesem Programm in Händen hält.

Zwei Mädchen klettern aus einer Kellerluke und gehen eng umschlungen auf ihn zu. Er macht einen Schritt zur Seite, stolpert, muss sich fangen. Haben die beiden ihn angerempelt? Hat er ihre Ellenbogen gespürt? Und hat er diese Kurzrasierte nicht schon mal bei ihnen zu Hause gesehen? Plötzlich ist sein sicheres Büro weit entfernt. Die neue Welt umschlingt ihn, zieht ihn rein, macht ihn nervös. Weil sie realer ist, als er es sich all die Monate ausgemalt hat.

Er dreht seinen Kopf, um den quälenden Bässen zu entkommen, doch die große VR-Brille sitzt gnadenlos fest. Dafür sieht er in seinen Augenwinkeln eine Bewegung aufblitzen, der er zu folgen versucht. So langsam, wie es ihm [winston84] erklärt hat, aber schnell genug, um den dunklen Pferdeschwanz seiner Tochter in dem Kellerabgang verschwinden zu sehen. War sie es wirklich? Bitte nicht. Er muss es rausfinden und folgt der virtuellen Person langsam die Treppe nach unten, während sich das dunkle Kellergewölbe um ihn herum neu aufbaut.

Unsicher hangelt er sich in der unteren Etage durch die bedrohlich wirkende Finsternis. Nur alte Leuchtröhren erhellen ihm flackernd den Weg zu einer verrosteten Metalltür in der gegenüberliegenden Wand. Sie steht einen Spalt auf. Dort muss Toni verschwunden sein. Wenn sie es war.

Zunächst horcht er vor der schweren Tür. Er hört Stimmen, kann aber kein Wort verstehen. Dann zwängt er sich rein. Und im selben Augenblick beginnt sein Herz zu rasen.

»Antonia!«

Seine Tochter oder das, was das Programm als seine Tochter berechnet hat, setzt die Sprühdose ab, mit der sie gerade noch Farbe auf eine Wand des vollgestellten Kellerraums aufgetragen hat, und dreht sich teilnahmslos zu ihm um. Er weiß, dass er cool bleiben muss, dass alles andere keinen Sinn hat. Doch Toni tatsächlich hier zu sehen, macht ihn nervös.

»Was verdammt noch mal soll das?«

Toni streckt einen Arm aus, aber nicht zu ihm. Und erst jetzt merkt er, dass sie nicht allein sind. Auf einer Matratze in der Ecke sitzt ein dunkelhaariger Typ, der Tonis Aufforderung folgt, aufsteht und ihre Hand ergreift.

»Wer ist das?«

Ihm ist es egal, dass seine Stimme schärfer wird. Er will eine Erklärung für das alles. Doch Toni und der Typ drehen sich zur Wand und starren das Graffiti an.

»Antonia!« Sie dreht sich wieder zu ihm um und er erinnert sich daran, dass er sie mit ihrem Vornamen ansprechen muss.

»Antonia, wer ist das?«

»Das ist mein Freund Navid.«

Ihre emotionslose Stimme jagt ihm einen Schrecken ein. Es ist seine Tochter. Und doch auch wieder nicht.

»Antonia, hast du sie noch alle? Das ist ein Illegaler, der sich hier vermutlich versteckt und irgendwelche kriminellen Sachen macht. Der kann nicht dein Freund sein.«

»Navid ist mein Freund. Er ist nicht kriminell. Er versteckt sich wegen mir, weil er wegen mir hierbleiben will, obwohl er nicht hierbleiben darf. Wir lieben uns.«

»Liebe, du hast doch gar keine Ahnung, was Liebe …« Am liebsten würde er sie von diesem Kerl wegziehen und sie mit nach Hause nehmen. Aber ihm ist klar, dass das nicht funktionieren würde. Es ist nicht real, es ist nicht … »Warum bist du überhaupt … Du darfst nicht hier sein.« Aufgebracht wedelt er mit seinem Arm durch den virtuellen Raum vor sich und merkt, dass er die direkte Ansprache wieder vergessen hat. »Antonia, dieses ganze Gelände ist ein gefährlicher Ort mit gefährlichen Menschen.«

»Es ist mein Zuhause. Hier bin ich glücklich und frei. Hier lebt mein Freund. Hier leben meine Freunde. Sie machen, dass ich mich wohlfühle.«

»Freunde? Hast du sie noch alle?« Er versucht sich zu beruhigen. »Toni, du hast ein schönes Zuhause. Bei uns! Dort fühlst du dich wohl. Erinnerst du dich? Unser Haus in Charlottenburg, der Pool im Garten, Mama und ich …«

»Überall ist es besser als bei euch.« Toni legt ihrem Freund den Arm um die Hüfte. »Hier interessieren sich die Menschen für mich. Hier kann ich das machen, was ich wirklich will. Sein, wer ich wirklich bin.«

Er holt tief Luft. »Antonia, rede nicht so einen Blödsinn. Weiß deine Mutter von dem da?«

»Nein. Weil ich nicht wollte, dass sie es dir sagt.«

Trotz der Wut auf seine Tochter beschleicht ihn eine gewisse Genugtuung, dass die Milliardeninvestitionen in dieses Programm richtig waren. Geheimnisse auf privaten oder politischen Ebenen wird es bald nicht mehr geben. Zumindest nicht mehr vor ihm.

»Und, Antonia, wie soll das jetzt deiner Meinung nach weitergehen?«

»Wir werden heiraten.«

Er glaubt, sich verhört zu haben. »Toni, was?«

»Wir werden heiraten.«

»Nur über meine Leiche.«

TOR BROWSER /// CHAT EXT. /// 06/11/20** /// 07:32:10

Room: LAB2 – II user online

07:32:10 [winston84]

alles klar? / puls 192 / bisschen viel

07:33:09 [@Hektor]

Kurze Pause. Melde mich!

07:33:13 [winston84]

gut / müssen noch was besprechen

07:33:58 [winston84]

und hey / ihre tochter für den test der beta-version zu nutzen war ihre idee

[@Hektor] hat den Chat verlassen.

BERLIN FRIEDRICHSHAIN, 08:08 (MEZ), HOSTEL BE®LIN

Finn war einer der Ersten im Frühstückssaal. Er inspizierte die obligatorischen Schüsseln mit Dosenfrüchten, Müsli und Joghurt und blieb angeekelt vor einer Schale mit grauem Porridge stehen, den die Engländer übrig gelassen hatten. Ohne groß darüber nachzudenken, entschied er sich für eine kleine Portion Schoko-Müsli und wusste gleichzeitig, dass er eh keinen Biss runterkriegen würde. Zumindest nicht, bis er die Sache mit Lea klären konnte. Aber von der war noch weit und breit nichts zu sehen.

»Pass auf, sie kommt.«

Finn fuhr erschrocken über Jakobs plötzliches Auftauchen herum. Und schaute nervös zur Tür, durch die aber nur ihre Chemielehrerin Frau Sommer und ein paar andere Schüler aus ihrer Klasse spaziert kamen.

Jakob lachte blöd vor sich hin: »Spaaaß.«

»Sehr lustig.«

»Find ich auch. Du hattest gerade voll den verstrahlten Blick drauf. Außerdem hatte ich noch was gut für dein Gelaber heute Nacht.«

Bevor Finn darauf reagieren konnte, stellte sich ihre Lehrerin gezwungen lächelnd neben sie ans Buffet. »Na, Jungs, freut ihr euch schon aufs Brandenburger Tor und die Besichtigung des Reichstags?«

Während Finn freundlich nickte, dabei aber ständig nur die Tür im Auge behielt, schnappte Jakob sich die Porridge-Schale, hielt sie sich vors Gesicht und machte ein paar widerliche Würgegeräusche. Nur, um der Lehrerin danach den grauen Inhalt zu präsentieren. »Und wie, Frau Sommer, und wie!«

Finn musste sich das Lachen verkneifen. Vor allem als er in das entgeisterte Gesicht ihrer Lehrerin schaute, die ganz offensichtlich einen neuen Beweis dafür hatte, warum aus Jakob nie was werden würde. »Jakob, du warst noch nie lustig und du wirst auch nie lustig sein. Das ist dein großes Problem.« Augenrollend drehte sie sich weg und fügte im Gehen noch hinzu: »Seid bitte nachher pünktlich. Herr Merks hat noch einen Termin, der kommt direkt zum Brandenburger Tor. Ich bin heute Morgen allein für euch Knalltüten verantwortlich.«

»Knalltüten sagt kein Mensch mehr, Frau Sommer.«

»Na ja, du weißt immerhin, was ich meine.«

Finn und Jakob schlugen sich im Rücken der Lehrerin ab. Wegen solcher Sachen, das wusste Finn, war Jakob sein bester Freund. Er kannte wirklich niemanden, der bekloppter im Kopf war.

»Okay, der war gut.«

»Logo war der gut. War ja auch von mir. Die hat keine Ahnung, was lustig … Lea kommt.«

Finn stöhnte auf und weigerte sich, erneut auf Jakobs Witz reinzufallen. Auch Jakobs hektisches Blinzeln mit den Augen versuchte Finn zu ignorieren. Stattdessen schob er sich übertrieben cool einen Löffel Müsli in den Mund und deutete auf einen Tisch, wo sie sich hätten setzen können. »Du hältst mich echt für total bescheuert, Alter? Statt mich zu verarschen, verrätst du mir jetzt, was ich gleich zu Lea sagen soll.«

»Äh, wie wär’s mit der Wahrheit?«

»Dass ich verknallt in sie bin?«

»Zum Beispiel.«

»Und was, wenn sie’s nicht ist?

»Ich bin’s aber.«

Finn erkannte Leas Stimme und keine Millisekunde später schoss ihm das Blut unkontrolliert in den Kopf. Er presste die Augen zusammen, blieb einfach mit dem Rücken zu ihr stehen und ließ alle Möglichkeiten, die er nun hatte, an sich vorüberziehen: Abhauen. So tun, als wäre nichts gewesen. Einfach nur im Boden versinken. Warum musste er den wichtigsten Moment seines Lebens so verkacken? Hilfe suchend linste er aus einem seiner zusammengekniffenen Augen. Doch Jakob schüttelte nur den Kopf, packte ihn an den Schultern und drehte ihn zu Lea um. Da rechnete er mit allem, aber Lea lächelte ihn nur an. Und hielt in der Hand einen Berliner mit einer brennenden Kerze drauf. »Happy Birthday, Finn. Musste den erst noch besorgen. Die heißen hier Pfannkuchen und nicht Kreppel. Und Berliner schon gar nicht. Dafür bin ich bis zur East Side Gallery gelaufen.«

Finn hatte das Gefühl, als wäre die rote Farbe seines Kopfes nur dazu da, allen anderen zu signalisieren, dass er unter Wortfindungsstörungen litt. Mehr als »Wow« brachte er nämlich nicht zustande.

»Ich glaube, das soll ›Danke‹ heißen. Der Kleine ist manchmal etwas schüchtern.«

»Hatte ich gestern gar nicht den Eindruck«, lachte Lea.

»Okay«, Jakob hielt sich die Ohren zu, »zu viel Information. Ich geh mal frühstücken.«

Finn schaute ihm hinterher. Und hoffte, dass sich seine Gesichtsfarbe in wenigen Sekunden wieder normalisieren würde. Vergeblich.

»Hey, du musst die Kerze ausblasen und dir was wünschen.« Lea strahlte ihn erwartungsvoll an.

Finn konzentrierte sich auf ihre Augen, doch sein Blick wurde magisch von ihrem Muttermal angezogen. Ihm wurde schwindlig – vor Glück. Schnell blies er die Kerze aus. »Ich glaube, mein Wunsch ist gerade schon in Erfüllung gegangen.«

»Dann kannst du ihn mir ja auch verraten.«

»Ähm, ja, also, nein … Ich meine: Hast du das gerade ernst gemeint?«

»Was?«

»Also, na ja, dass du in mich verliebt bist.« Finn war sein Stammeln furchtbar peinlich. Was war nur los mit ihm? Unauffällig schaute er über Leas Schulter, wo Tarek und Gregor so taten, als würden sie sich gleich abknutschen. Penner.

»Meinst du, ich hab heute Nacht nur mit dir rumgemacht, weil du Geburtstag hast? Klar hab ich das ernst gemeint. Du?«

»Auf jeden Fall, ich … Ich glaube, ich hab noch nie was so ernst gemeint.«

Verlegen grinsend hielt Finn den Atem an. Und wahrscheinlich wäre nichts mehr weiter passiert, hätte ihn Jakob nicht aus dieser Situation gerettet – mit der peinlichsten Aktion, die er sich nur ausdenken konnte. Finn sah ihn schon aus den Augenwinkeln auf einen Stuhl steigen und ahnte Schlimmes. Doch bevor er reagieren konnte, hörte er Jakobs lautstarken Befehl: »Küssen, küssen, küssen.«

Und obwohl die Schüler aus Finns Klasse nicht immer dieselbe Meinung hatten, bei einer Sache konnten sie sich seit jeher schnell auf einen Nenner einigen: peinliche Situationen bis aufs Äußerste auskosten. Vorwiegend wenn es um Lehrer ging, aber auch bei Mitschülern kannten sie keine Gnade. Und so stimmten alle nach und nach in den Küssen-Chor ein.

Entschuldigend schaute Finn Lea an. »So war das echt nicht gedacht«, flüsterte er. »Wenn du willst, hauen wir ab oder ich hau Jakob eine in die Fresse. Oder beides. Also andersrum.«

Leas Antwort war nur ein belustigtes Zwinkern mit ihrem Muttermal-Auge. Doch für Finn war das Antwort genug. Er machte einen letzten Schritt auf sie zu, spürte ihre Nähe und sein Herzklopfen, vergewisserte sich noch mal nervös, dass das auch wirklich okay war, und küsste sie unter dem Gejohle seiner Mitschüler zum ersten Mal ganz offiziell. Dabei wusste er auf der Stelle, dass er sich an diesen Moment sein ganzes Leben erinnern würde.

TOR BROWSER /// CHAT EXT. /// 06/11/20** /// 08:10:43

Room: Lab3 – II user online

08:10:43 [@Hektor]

Es ist unglaublich.

08:10:54 [winston84]

ist es / haben nie was anderes behauptet

08:11:09 [@Hektor]

Wie viel Zeit braucht ihr noch?

08:11:13 [winston84]

wir einen monat / ihr kommt aber mit dem ausbau der infrastruktur nicht schnell genug voran / bin gerade in der mh-zentrale / wenn wir jetzt starten würden wären die server in fünf tagen völlig überlastet

08:11:32 [@Hektor]

Ja, verdammt. Habt ihr ’ne Ahnung, wie schwierig es war, fast ’ne Milliarde von unserem mickrigen Budget abzuknapsen? Und eine ganze Flughafenbaustelle lahmzulegen, nur damit darunter eine Speicherstadt für Mind-Hack entstehen kann?

08:11:37 [winston84]

wo ihr die zentrale baut war nicht unsere idee

08:11:38 [@Hektor]

Ich weiß. Kümmert ihr euch um eure Themen, ich mach hier an ein paar Stellen Druck. Und noch mal: Es muss geheim bleiben! Hier wissen nur ganz wenige Leute davon. Wenn das rauskommt, sind wir erledigt. Und ihr auch!

08:11:41 [winston84]

von mir erfährt niemand was / vorausgesetzt ihr zahlt pünktlich

08:11:46 [@Hektor]

Habe ich euch schon mal enttäuscht? Was gab es noch zu besprechen?

08:11:55 [winston84]

ein kleines problem / khal will es stoppen

08:11:56 [@Hektor]

Was? Wie?

08:11:58 [winston84]

keine ahnung

08:12:18 [@Hektor]

Der weiß schon, dass das nicht mehr seine Entscheidung ist?

08:12:22 [winston84]

ja / ist ihm aber wohl egal

08:12:26 [@Hektor]

Kannst du ihn auf halten?

08:12:37 [winston84]

werde es versuchen / bis jetzt nichts gefunden wo er mh angreifen kann

08:12:41 [@Hektor]

Will er mehr Geld?

08:12:56 [winston84]

glaub ich nicht

08:13:02 [@Hektor]

Geht er an die Öffentlichkeit?

08:13:10 [winston84]

kann ich mir nicht vorstellen

08:13:12 [@Hektor]

Verdammt. Moment.

08:19:26 [@Hektor]

Wir kümmern uns!

08:19:37 [winston84]

wie???

[@Hektor] hat den Chat verlassen

BERLIN MITTE, 13:41 (MEZ), BRANDENBURGER TOR

»Ich bin mir sicher, dass der sich irgendwas einschmeißt.«

»Quatsch.«

»Jetzt schau dir den doch mal an. Rote Augen, ständig am Schwitzen, voll unkonzentriert … Ich sag dir, der kifft nicht nur, der macht was anderes.«

»Und du bist der Fachmann dafür, oder was?«

Finn platzte mit Lea in eine Diskussion zwischen Jakob, Tarek und Gregor, die an einem Currywurst-Stand vor dem Brandenburger Tor übertrieben hauptstädtisch auf die restliche Klasse und ihre Lehrer warteten.

»Dafür muss man kein Fachmann sein.« Jakob wandte sich von Gregor ab und hielt Finn grinsend seine Hand zum High-Five hin: »Na, wie geht’s dem neuen Traumpaar?«

»Alles cool.« Finn schlug ein und unterdrückte den dringenden Impuls, seine Begeisterung herauszuschreien. Denn dass er Lea, die fast auf den Tag genau ein Jahr älter war, jetzt wirklich seine Freundin nennen konnte, kam ihm noch immer völlig absurd vor. Aber es war wirklich so. Während die anderen den Vormittag mit Shoppen verbracht hatten, waren sie gemeinsam an der Spree spazieren gewesen, hatten am Ufer in der Sonne gesessen, nachdem der Regen endlich aufgehört hatte, und dabei über alles Mögliche geredet. Über den peinlichen Morgen zum Beispiel und die verrückten Berliner, die ihnen in einer Tour über den Weg gelaufen kamen. Dabei hatten sie sich die ganze Zeit berührt und einen Plan geschmiedet, wie sie die kommende Nacht gemeinsam würden verbringen können. Finn platzte fast vor Vorfreude.

»Redet ihr vom Merks?« Lea mischte sich in die Diskussion der Jungs ein. »Der nimmt keine Drogen.«

»Und was macht dich da so sicher?«

Lea schwieg schulterzuckend und Finn fiel die Begegnung vom Morgen wieder ein. »Komisch verhält der sich schon. Der hat heute früh das Hostel verlassen und mich voll doof angemacht. So war der früher nie.«

Gregor nickte zustimmend. »Ich sag euch, der war das vorher. Die Spastis glauben mir nicht, aber als wir vorher in so ’nem Skater-Shop am Hackeschen Markt waren, hab ich den Merks draußen auf der Straße mit zwei Typen gesehen. Der hat die voll angebrüllt. Vielleicht irgendwelche Dealer?«

»Und wo waren die, als wir nach draußen gekommen sind? Da war niemand.« Tarek schüttelte den Kopf. »Kann ich mir echt nicht vorstellen, nicht der Merks. Der ist mal voll ausgeflippt, als er mich mit Tom beim Kiffen im Schulklo erwischt hat. Der und Drogen ist ’ne total strange Vorstellung.«

»Mann, warum glaubt mir denn niemand?«

Finn zeigte Gregor belustigt den Vogel. »Vielleicht hast du gestern ein bisschen zu viel getrunken. Und siehst jetzt Sachen, die es gar nicht gibt. Kann das sein?«

»Ganz im Gegenteil, ich hab eher zu wenig getrunken. Dann hätte ich nämlich diesen Vollpfosten nicht gehört, der schon morgens um sechs bei uns im Zimmer ›Lea, Lea‹ rumgeplärrt hat. Ich weiß, was ich gesehen habe.«

Lea drückte belustigt Finns Hand und deutete Richtung Brandenburger Tor: »Guckt mal, die treffen sich alle da drüben. Sollen wir auch rübergehen? Die Sommer ist auch da. Und da hinten kommt der Merks. Vielleicht hat er ja Pillen für alle dabei, damit die Führungen lustiger werden.«

»Sehr witzig, Lea. Verarschen kann ich mich selber. Ihr werdet schon noch sehen …«

Während die anderen drei sich blödelnd zum Treffpunkt aufmachten, hielt Finn Lea kurz zurück: »Ey, ich wollte dir nur schnell noch sagen …« Ohne weiterzusprechen, zog er sie an sich und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss. »Egal was passiert und ob was passiert, ich freu mich auf heute Nacht oder auf morgen Nacht oder auf egal wann.«

»Mein Gott, kommt ihr mal? Ist ja nicht auszuhalten mit euch.« Jakob stand auf halber Strecke zu den anderen und wartete übertrieben genervt auf sie.

»Bist ja nur neidisch.« Finn lachte über Jakob, als er Lea mit sich zog. Und verstand darum nicht, was sie ihm noch zuflüsterte. Er drehte sich zu ihr um und wollte nachfragen, als seine Augenwinkel von einem grellen Licht geblendet wurden und seine Beine völlig abrupt den Halt verloren. Bevor er etwas dagegen tun konnte, riss ihn etwas in die Luft, trennte ihn von Lea und schleuderte ihn zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Mit der rechten Schulter schlug er ungebremst auf dem Kopfsteinpflaster auf und erst in diesem Moment hörte er den ohrenbetäubenden Knall einer Explosion. Der Schmerz hingegen kam direkt. Er versuchte seine Augen zu öffnen, zu verstehen, wo er war, was gerade passiert war, doch innerhalb von wenigen Sekunden hatte er vollkommen die Orientierung verloren. Er hörte Geräusche, die er noch nie zuvor gehört hatte. Ein Geruch umhüllte ihn, den er noch nie zuvor wahrgenommen hatte. Er versuchte sich aufzurichten und erkannte plötzlich, dass die Geräusche Schreie waren. Schreie von Menschen, die kaum noch menschlich klangen. Alles verschwamm und er hatte das Gefühl, als würden tausend Füße über ihn hinwegtrampeln. Dunkelheit hüllte ihn ein. Schlafen. Wie aus dem Nichts sah er plötzlich seinen Stiefbruder Paul vor sich, der ihn besorgt, aber lautlos anbrüllte. Paul und besorgt? Um ihn? Irgendwas stimmte hier nicht. Warum verdammt fiel ihm das Einschlafen so schwer? Weil da wieder dieser Schrei war, lauter als alles andere. Ein ununterbrochener, schriller Schrei ganz in seiner Nähe.

Er spürte jemanden neben sich, jemanden, der ihm seine Augen aufdrückte. Und dann sah er sie. Er sah Lea, wie sie ein paar Meter von ihm entfernt am Boden kniete. Ihr Gesicht war verzerrt, ihre Kleidung zerrissen. Und aus ihrem Inneren kam dieser fürchterliche Schrei, der alles andere übertönte. Er musste zu ihr, musste ihr helfen. Er stemmte sich hoch. Jemand hielt ihn zurück, er schlug um sich. Er brüllte ihren Namen, doch aus seiner Kehle kam nur Gurgeln. Er nahm den Geschmack von Blut wahr und Lea schrie einfach weiter. Sie schrie etwas an, etwas, das vor ihr lag, als könnte es dadurch verschwinden. Und dann sah er, was es war. Vor ihr lag ein abgerissener Arm. Der Arm von Tarek. Finn wurde schwarz vor Augen.

TOR BROWSER /// CHAT INT. /// 06/11/20** /// 23:17:48

Room: Castle – II user online

23:17:48 [obrian@93]

What have you done?

23:18:35 [winston84]

ich hab gar nichts gemacht

23:18:38 [obrian@93]

DU WEISST, WAS ICH MEINE! Fuuuuuck!!!

23:19:01 [winston84]

er wollte uns stoppen / er hat sie damit rausgefordert

23:19:13 [obrian@93]

That’s no reason. Neun unschuldige Menschen! SIEBEN KIDS! What the hell …

23:19:52 [winston84]

was kann ich dafür? der point of no return war überschritten / das wusste khal auch

23:20:18 [obrian@93]

He was right. He was so fucking right. Es sind Mörder.

[obrian@93] hat den Chat verlassen

2.

BERLIN SCHÖNEWEIDE, 15:22 (MEZ), ALTE METALLFABRIK

Toni nahm ihre Atemmaske ab, ging einige Schritte zurück und verzog verärgert das Gesicht. Das Bild, das sie probeweise an die Kellerwand gesprüht hatte, gefiel ihr überhaupt nicht. Die Proportionen der explodierenden Weltkugel waren komplett falsch, und bedrohlich sah das ganze Szenario auch nicht aus. Eher lächerlich.

»Verdammt.« Wütend schnappte sie sich die Dose mit der schwarzen Farbe und versuchte kurz entschlossen, ihren Misserfolg zu vernichten. Scheitern konnte sie sich noch nie verzeihen, weil ihre Eltern es auch nicht taten. Vor allem ihr Vater nicht, für den nur Perfektion zählte.

»Hey, was soll das?« Navid kam fassungslos durch die verrostete Metalltür gerannt und riss Toni die Sprühdose aus der Hand. »Bist du verrückt? Was hast du mit meinem Bild gemacht?«

Toni achtete gar nicht auf ihren Freund, sondern schnappte sich direkt eine andere Farbe.

»Übermalt. Und das hier mache ich jetzt auch wieder weg.«

»Nein, Mann, hör auf.« Navid stellte sich energisch vor sie und hielt sie an der Hand fest. »Warum übermalst du das Bild, das du mir geschenkt hast? Ich fand das schön.«

Toni riss sich von ihm los. »Es hatte keine Aussage. Es war nur bunt.«

»Ja, und? Diese Schmiererei hier hättest du auch draußen auf ’ne Wand sprühen können. Hier gibt’s ungefähr 30 000 Quadratmeter davon, falls du das vergessen hast.«

Tonis Ärger auf ihren Misserfolg verflüchtigte sich rasend schnell, weil sie genau wusste, dass Navid recht hatte. Irgendwo auf dem Gelände dieser verlassenen Metallfabrik hätte sie einen leeren Platz gefunden. Aber die Wand hier war von der Struktur einfach perfekt. »Sorry, ja, ich hätte dich fragen sollen. Okay? Wenn du willst, sprüh ich dir das bunte Piece wieder an die Wand. Das krieg ich hin. Du merkst gar keinen Unterschied.«

»Ja, das will ich.« Navid starrte sie noch einen Augenblick ziemlich gereizt an. »Aber nicht jetzt. Ich hatte beim letzten Mal drei Tage Kopfweh, weil es in meiner Wohnung roch wie in einer Lackfabrik. Also genau so wie jetzt.«

Toni verdrehte die Augen. »Stell dich nicht so an. Wenn wir unten die beiden Türen und vorn die Luke nach oben aufmachen, zieht das alles ganz schnell ab. Und sag hier nicht Wohnung zu. Das ist ein«, sie suchte schnell nach einer bösen Revanche dafür, dass Navid ihr neues Bild als Schmiererei bezeichnet hatte, »das ist ein muffiges Kellerloch.«

Navids dunkle Augen wurden noch schwärzer. »Willst du Streit, oder was? Das IST eine Wohnung. Meine Wohnung. Hier ist ein Bett, da ist ein Schreibtisch, meine Küche und nebenan sind Duschen und Toiletten, die meistens funktionieren. Und ich kann abschließen, keiner von den anderen kommt hier rein. Und ich lebe in Berlin. In deiner Nähe. Eine gemütlichere Wohnung gibt es gar nicht.«

Toni folgte Navids Zeigefinger durch den vollgestellten Kellerraum. Das Bett in der Ecke war eine dünne, aber relativ neue Matratze. Der Schreibtisch ein verrosteter Kühlschrank, auf dem sich neben einer Tischlampe alte Medizinbücher stapelten. Die Küche bestand aus dem ausgemusterten Wasserkocher ihrer Eltern, zwei Tassen und Kaffeepulver. Der ganze Rest waren willkürliche Straßenfundstücke, die Navid im letzten Jahr angesammelt hatte. Und obwohl es hier unten nie hell, meistens kalt und manchmal auch feucht war, wusste Toni, was er mit gemütlich meinte. Ihr bedrohliches Kunstwerk an der Wand unterstützte diesen Eindruck jedoch nicht.

»Okay, du hast gewonnen. Es ist ein gemütliches Übergangsloch. Und ich mach dir die Wand wieder so, wie sie war.«

Navid zwinkerte Toni versöhnlich zu und drehte sich zu dem halb übersprühten Bild um. »Was sollte das überhaupt werden?«

»Ach, nichts.«

»Jetzt sag schon.«

»The End.«

»Hä?«

»So heißt es.« Toni hatte keine Lust, länger darüber zu reden. »Ist doch auch egal.«

»Ist es nicht. Es ist meine Wohnzimmerwand, also will ich es auch kapieren.«

Genervt stöhnte Toni auf und setzte zu einer lustlosen Erklärung an. »Das hier ist die Weltkugel vom All aus. Sie ist aber nicht mehr ganz rund, dreht sich wahnsinnig schnell und überall explodiert irgendwas. So wie vorgestern die Bombe am Brandenburger Tor.«

Navid beugte sich näher zur Wand. »Ach, das auf der Weltkugel hier sollen Explosionen sein?«

»Ja, sollen es.« Toni hörte selbst, dass ihre Reaktion ziemlich scharf und furchtbar nach ihrem Vater klang. Ablenkend erklärte sie schnell weiter. »Das Ganze ist ein Game. Es heißt ›World‹, aber es gibt keine Credits mehr, keine Extra-Leben, hier unter der schwarzen Farbe siehst du noch so ein bisschen den roten Überlebensbalken, der fast am Anschlag ist.«

Navid ging ein paar Schritte zurück und ließ das, was von dem Bild übrig war, auf sich wirken. »Hm.« Mehr sagte er dazu nicht, weil er genau wusste, dass sein Schweigen Toni wahnsinnig machen würde. Abrupt wechselte er stattdessen das Thema: »Die ganze Stadt ist übrigens voller Polizei. Überall wird man wegen diesem beschissenen Attentat kontrolliert. Ich geh die nächste Zeit besser nicht so viel raus.«

»Ja, das ist übel. Alles.« Toni stierte weiter auf die Wand. »Mann, jetzt sag schon: Wie findest du’s?«

»Was?«

»Das Bild, Blödmann. Ihr Afghanen seid manchmal echt schwer von Begriff.«

Navid grinste Toni von der Seite an, die das gar nicht bemerkte. »Wenn hier jemand schwer von Begriff ist, dann sicher nicht ich.«

Toni drehte den Kopf zu Navid und erkannte, dass sie von ihm verarscht wurde. Und sofort ärgerte sie sich darüber, dass er genau das immer wieder schaffte. Mit voller Wucht hämmerte sie ihm zur Strafe ihre Faust auf den Oberarm, was seit seinem ersten Tag in ihrer Klasse irgendwie zu ihrer Beziehung gehörte. Damals wurde er einfach neben sie gesetzt, hielt sie wegen ihres Namens und ihrer kürzeren Haare für einen Jungen, versuchte mit ihr einen verschwörerischen Witz über die Brüste ihrer Mitschülerin Janina zu machen und kassierte direkt Prügel. Schmerzvoll erkannte er seinen Fehler, behauptete aber später stolz, dass er natürlich wusste, dass sie ein Mädchen war, dass er sie nur rausfordern wollte und dass die Prügelei der Moment war, in dem sie sich ineinander verliebt hatten.

Toni ließ ihn in dem Glauben und genoss ihre Kampfrituale, weil ihr gefiel, dass sie spätestens nach fünf Minuten außer Atem auf dem Bett lagen. Manchmal knutschend, meistens aber einfach nur lachend. So wie jetzt.

»Das Bild ist düster. Aber cool. Wirklich, die Idee dahinter ist cool. Vielleicht etwas apokalyptisch. Aber cool.«

»Apokalyptisch?« Wie immer wunderte Toni sich über Navids Deutschkenntnisse, die bis vor vier Jahren gar nicht existiert hatten. Am Anfang hatte sie noch über die ganzen Fremdwörter gelacht, doch als sie mit Google irgendwann festgestellt hatte, dass er kein einziges Wort im falschen Zusammenhang verwendete, wandelte sich Belustigung in Bewunderung. Was sie jedoch niemals zugegeben hätte.

»Na ja, also so untergangsstimmungsmäßig.«

»Ich weiß, was apokalyptisch heißt.«

»Dann weißt du ja auch, was ich meine.«

»Es ist also zu düster?«

»Das hab ich nicht gesagt. Aber wenn du fragst: Ich mag Bilder, die nicht ganz so destruktiv sind. Also wenigstens noch einen kleinen Hoffnungsschimmer haben. Das bist doch auch eher du, oder? Wo soll das denn hin?«

»Keine Ahnung. Wollte demnächst mal ein paar Spots auskundschaften. Sobald Berlin sich wieder etwas beruhigt hat.« Toni setzte sich auf. »Diese Bombe bringt echt alles durcheinander. Eigentlich wollte ich heute Abend mit meinen Eltern reden. Wegen dir.«

»Warum?«

»Weil irgendwas passieren muss. Du kannst dich nicht ewig verstecken. Und mein 18. Geburtstag ist erst in einem halben Jahr. Was ist, wenn das mit der Heirat nicht klappt, weil sie dich geschnappt haben?«

»Und was sollen deine Eltern jetzt machen?«

»Mann, keine Ahnung. Mein Vater arbeitet doch bei der Stadt, oder so, auf jeden Fall bei einer Behörde. Vielleicht kann der was drehen, damit du bleiben kannst.«

Navid gab ihr einen Kuss auf die Nase. »Glaubst du daran, dass er mir helfen wird? Uns helfen wird? Kann mir kaum vorstellen, dass ich plötzlich in das Schema des perfekten Schwiegersohns passe.«

Toni rollte sich auf ihn und versuchte sich um eine Antwort zu drücken. »Ist auch egal. Er hat eh keine Zeit, weil er irgendwas mit der Opferhilfe von diesem Anschlag zu tun hat. Keine Ahnung. Irgendein Verwaltungskram. Der sitzt nur noch im Büro.«

Doch so einfach ließ Navid sie nicht vom Haken. »Glaubst du wirklich, dass es gut ist, wenn wir ihn oder deine Mutter einweihen und um Hilfe bitten?«

Toni atmete tief durch. »Nein. Er wird durchdrehen, wenn er erfährt, dass ich mit dir zusammen bin. Mit einem illegalen Ausländer. Meine Mutter auch, weil sie durchdrehen muss, wenn mein Vater durchdreht.«

»Vielleicht sagst du dann besser nichts.«

Toni wusste natürlich, dass Navid recht hatte. »So eine Scheiße. Warum muss das alles so kompliziert sein? Dann also weiter hoffen, dass sie dich nicht schnappen und du durch unsere Hochzeit deine Aufenthaltserlaubnis bekommst?«

Navid rieb sich mit den Händen durchs Gesicht. Toni wusste genau, was gleich kommen würde.

»Ich weiß noch immer nicht, ob das so eine gute Idee ist.«

Sie stützte ihre Arme auf seinem Brustkorb ab. Er protestierte zwar halbherzig, aber das ignorierte sie eigentlich immer. Sie liebte diese Position, weil sie so am besten seine schönen Lippen studieren konnte, die, wären sie nicht von lauter dunklen Bartstoppeln umrahmt, niemals als typisch männlich durchgegangen wären. Außerdem spürte sie meistens früher oder später, dass Navid die Position entgegen seines Protestes auch ziemlich gut fand.

»Hast du ’ne bessere Idee? Das ist unsere einzige. Oder glaubst du, dass du plötzlich wie aus dem Nichts hierbleiben darfst, obwohl man dein Asylverfahren an deinem 18. Geburtstag eingestellt hat?«

»Nein.« Seine Antwort klang zerknirscht. Toni rückte noch ein Stück nach oben und schaute ihm in seine warmen Augen. »Und was ist mit deinem Traum, dein Abi hier zu machen und dann Medizin zu studieren? Das ist doch immer noch das, was du willst, oder?«