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Die Autoren

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Prof. Dr. med. Marc Walter, Arzt für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, ist Chefarzt und stv. Direktor der Klinik für Erwachsene, Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel.

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Dr. med. Oliver Bilke-Hentsch, MBA, LL.M., Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie FMH, ist Chefarzt des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes, Luzerner Psychiatrie.

Marc Walter Oliver Bilke-Hentsch

Narzissmus

Grundlagen – Formen – Interventionen

Verlag W. Kohlhammer

 

 

Für Beata

Für Susanne

 

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034214-9

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-034215-6

epub:    ISBN 978-3-17-034216-3

mobi:    ISBN 978-3-17-034217-0

Geleitwort

von Gerhard Dammann

 

Narzisstische Phänomene bis hin zu den schweren Persönlichkeitsstörungen sind ein prägendes Element der modernen Gesellschaften und wurden schon als die »Leitneurosen unserer Zeit« bezeichnet. Es gibt Hinweise aus der soziologischen Forschung, dass zumindest mildere narzisstische Phänomene zuzunehmen scheinen.

Auch wenn psychiatrische Klassifikationssysteme die konzeptuell immer schwierigen und auch gelegentlich umstrittenen Persönlichkeitsstörungen gerade neu ordnen (ICD-11), so sind es doch die klinischen Phänomene beim einzelnen Patienten ebenso wie die unterschwelligen subklinischen Verhaltensweisen, die über zwischenmenschliche Kontakte Zufriedenheit und Wohlbefinden erheblich beeinflussen können.

Klinik und Forschung der letzten 50 Jahre haben einen großen Beitrag zum Verständnis der narzisstischen Störungsbilder erbracht, wenn auch die metapsychologische Einordung der narzisstischen Regulation bis heute keinem einheitlichen Modell folgt. Marc Walter und Oliver Bilke-Hentsch fassen diesen Forschungsstand systematisch zusammen und geben einen gleichzeitig gut zu lesenden, kliniknahen und pragmatischen, aber auch breit angelegten Überblick mit einem besonderen Fokus auf der psychodynamischen Theoriebildung. Sie verbinden diesen klinischen Blick mit Beobachtungen über gesellschaftliche Entwicklungen und entwicklungspsychologische und genderorientierte Sichtweisen. Es wird in diesem Buch besonders deutlich, dass Narzissmus kein rein männliches Phänomen ist, sondern sich in vielfältigen Weisen auch bei Kindern, älteren Menschen und unterschiedlich über die Geschlechter verteilt zeigt.

Ein wichtiges Anliegen ist den beiden Autoren, auf dem Boden der Theoriebildung die in den letzten Jahrzehnten entwickelten Interventions- und Therapiemethoden und deren empirische Ergebnisse darzustellen.

Es ist erfreulich zu sehen, welche unterschiedlichen Ansätze sich entwickelt haben, um den jeweiligen Erscheinungsformen und Schweregraden der narzisstischen Störungen bis hin zur schwersten Persönlichkeitspathologie heute therapeutisch gerecht zu werden.

Münsterlingen, im Januar 2020

Gerhard Dammann

Geleitwort

von Franz Resch

 

Neben der Frage »Wer bin ich eigentlich?« rückt die Frage »Was bin ich wert?« immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Leben wir in einem Zeitalter zunehmender Verunsicherungen des Selbst? Selbstwert und Selbstachtung stehen auf dem Prüfstand, Selbstbestätigungen werden gesucht. Mediale Welten bieten ein vermeintlich großes Echo, erreichen aber den Kern der eigenen Zweifel nicht. Den Selbstbespiegelungen kommt eine wachsende Bedeutung zu. Der Präsentation des eigenen Tuns wird mehr Augenmerk geschenkt als der Qualität dieses Tuns selbst. Woher kommt das?

Es klingt fatal: In einer Welt, in der jeder das Eigene zeigen und darstellen will, gibt es niemanden mehr, der zuhört und zusieht. Es fehlt das validierende Element. Es fehlt das Echo, die notwendige tiefgehende Spiegelung durch Andere. Wir scheinen also – wie die Autoren dieses Buches bescheinigen – alle ein bisschen narzisstisch zu sein. Wo aber beginnt in diesem breiten Spektrum der Bedeutungen eines schillernden Begriffs das Pathologische? Wird nicht mit der zunehmenden Integration des Begriffs in die Umgangssprache dessen diagnostische Bedeutung verwässert? Wird der Begriff obsolet?

Um solchen Abnützungstendenzen vorzubeugen, ist es wichtig, klare Definitionen vorzunehmen und die narzisstischen Störungen von dem allgemeinen gesellschaftlichen Trend zunehmender Selbstverliebtheit und Kränkbarkeit deutlich abzuheben. Das ist die Zielsetzung dieses Buches.

Narzisstische Probleme mit Krankheitscharakter entwickeln sich über die Lebensspanne. Sie zeigen sich in prodromalen Symptomen und durchlaufen verschiedene Zwischenstufen bis zur Ausprägung eines Vollbildes. Eine entwicklungspsychopathologische Sichtweise ist also angezeigt. Risikofaktoren, Vulnerabilitäten und situative Rahmenbedingungen sind zu beachten. Hat sich im Übergang zum jungen Erwachsenenalter einmal das Vollbild einer narzisstischen Persönlichkeit ausgebildet, bleibt aber die Entwicklung nicht stehen. Berufliche Anerkennungen, Konkurrenz und der materielle Erwerb von Besitz können private Problemstellungen in den Hintergrund treten lassen, bis diese sich als parasitäre oder autoritäre Ausgestaltungen von Liebesbeziehungen stabilisieren oder zu Trennungen führen. Eine neue Herausforderung stellt der Alterungsprozess dar. Erfolg und Misserfolg stehen auf der Kippe.

Dieses Buch leistet einen wertvollen Beitrag zur gängigen Diskussion. Neben erhellenden Definitionen des Narzissmusbegriffs und einer Einbettung in historische Kontexte werden die narzisstischen Störungen klar abgegrenzt und in den Kanon der Persönlichkeitsstörungen gestellt. Gesellschaftliche Relevanz und Epidemiologie der Störungen werden hervorgehoben. Nicht nur die Beschreibung klinischer Störungsbilder ist relevant, besonders hervorzuheben ist die Beschreibung des Narzissmus über unterschiedliche Lebensphasen vom Kindesalter bis ins Senium. Auch der Therapie wird ein eigenes Kapitel gewidmet.

Ein Buch, das sich im Strom medial vermittelter Empörungen und Kränkbarkeiten, in einem Nihilismus der gesellschaftlichen Abkühlung und inmitten der Warnrufen vor einer narzisstischen Epidemie durch Klarheit, Stringenz und Wissenschaftlichkeit wohltuend behaupten wird.

Heidelberg, im Januar 2020

Franz Resch

Inhalt

 

 

  1. Geleitwort
  2. von Gerhard Dammann
  3. Geleitwort
  4. von Franz Resch
  5. Vorwort
  6. 1 Einleitung
  7. 2 Der Narzissmus-Begriff
  8. 2.1 Narzissmus-Definitionen
  9. 2.2 Der klassische Narzissmus-Begriff
  10. 2.2.1 Freud
  11. 2.2.2 Kohut
  12. 2.2.3 Kernberg
  13. 2.3 Wandel des Narzissmus-Begriffes
  14. 2.3.1 Die narzisstische Persönlichkeitsstörung
  15. 2.3.2 Die antisoziale Persönlichkeitsstörung
  16. 2.4 Die Sage von Narziss
  17. 2.5 Medialer Narzissmus
  18. 3 Gesellschaftliche Relevanz des Narzissmus
  19. 3.1 Privatleben und Familie
  20. 3.2 Öffentliches Leben und Politik
  21. 3.3 Besitz und Materielles
  22. 3.4 Prosozialer Narzissmus
  23. 3.5 Antisozialer Narzissmus
  24. 3.6 Transkulturelle Aspekte
  25. 4 Ätiologie des Narzissmus
  26. 4.1 Persönlichkeitsstörungen
  27. 4.1.1 Genetik
  28. 4.1.2 Bindungsstörungen
  29. 4.1.3 Mentalisierungsstörungen
  30. 4.1.4 Traumatisierungen
  31. 4.2 Narzisstische Störungen
  32. 5 Epidemiologie des Narzissmus
  33. 5.1 Persönlichkeitsstörungen
  34. 5.2 Die narzisstische Persönlichkeitsstörung
  35. 5.3 Die antisoziale Persönlichkeitsstörung
  36. 6 Klinische Phänomene des Narzissmus
  37. 6.1 Psychopathologie
  38. 6.1.1 Problemstellungen
  39. 6.1.2 Narzisstische Kernsymptomatik
  40. 6.2 Diagnostik
  41. 6.2.1 Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen nach DSM-5
  42. 6.2.2 Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen im DSM-5, Sektion III
  43. 6.2.3 Persönlichkeitsstörung und Narzissmus im ICD-11
  44. 6.2.4 Testpsychologie bei narzisstischen Störungen
  45. 6.3 Komorbidität
  46. 6.3.1 Andere psychische Störungen
  47. 6.3.2 Andere Persönlichkeitsstörungen
  48. 7 Narzissmus über die Lebensphasen
  49. 7.1 Narzissmus in der Kindheit
  50. 7.1.1 Mädchen
  51. 7.1.2 Jungen
  52. 7.2 Jugendphase
  53. 7.2.1 Mädchen
  54. 7.2.2 Jungen
  55. 7.3 Junges Erwachsenenalter/Emerging Adulthood
  56. 7.3.1 Junge Frauen
  57. 7.3.2 Junge Männer
  58. 7.4 Reifephase (25–40 Jahre)
  59. 7.4.1 Frauen
  60. 7.4.2 Männer
  61. 7.5 Generativität (40–60 Jahre)
  62. 7.5.1 Frauen
  63. 7.5.2 Männer
  64. 7.6 Beginnende Altersphase (60–70 Jahre)
  65. 7.6.1 Frauen
  66. 7.6.2 Männer
  67. 7.7 Hohes und höheres Alter (ab 70 Jahren)
  68. 8 Therapie des Narzissmus
  69. 8.1 Psychotherapie der Persönlichkeitsstörungen
  70. 8.1.1 Allgemeine Behandlungsprinzipien
  71. 8.1.2 Therapiemethoden
  72. 8.1.3 Empirische Evidenz
  73. 8.2 Pharmakotherapie bei Persönlichkeitsstörungen
  74. 8.3 Besonderheiten in der Therapie narzisstischer Störungen
  75. 8.3.1 Indikationsprüfung
  76. 8.3.2 Interventionsplanung
  77. 8.3.3 Interventionsmethoden
  78. 8.3.4 Stolpersteine und Fallstricke
  79. 8.3.5 Therapieende
  80. 9 Ausblick
  81. Literatur
  82. Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

Der Begriff Narzissmus ist allgegenwärtig. Jede und jeder weiß auf Anhieb dazu etwas zu sagen. Meistens beziehen sich spontane Äußerungen zu diesem Thema auf Internetplattformen, soziale Medien oder Fernsehberichte, in denen das grandiose körperliche und seelische Selbst eigentlich Normalsterblicher für alle sichtbar zur Schau gestellt wird. Man fragt sich, ist das noch »normaler Narzissmus«? Gleichzeitig gibt es in der klinischen Psychiatrie und Psychotherapie und ihren internationalen Klassifikationssystemen die etablierte Diagnose der narzisstischen Persönlichkeitsstörung sowie die schwere narzisstische Psychopathologie, wie beispielsweise im Rahmen einer Dissozialität.

Theoretische Grundlagen zu diesen Störungen sind von Sigmund Freud bis Otto Kernberg ausgearbeitet und detailliert beschrieben worden. Weniger bekannt sind die neueren empirischen Befunde zum pathologischen Narzissmus, sowie die mittlerweile etablierten spezifischen Therapieansätze bei narzisstischen Störungen, die in den letzten Jahren vermehrt evaluiert und publiziert wurden.

In diesem Buch zeichnen wir die Phänomene des Narzissmus von ihren normalen Ausdrucksformen bis hin zur schweren narzisstischen Psychopathologie nach und zeigen spezifische Interventionsmöglichkeiten bei narzisstischen Störungen auf. Dabei fokussieren wir insbesondere auf den beachtlichen Wandel, dem der Narzissmus unterworfen war und ist. Dieser Wandel beinhaltet die Veränderung der klinischen Diagnostik und Klassifikation von ihren ersten theoretischen Beschreibungen bis zu den modernen empirischen Forschungsbefunden. Der Wandel betrifft aber auch die narzisstischen Phänomene in der Gesellschaft und in der individuellen Entwicklung über die Lebensspanne sowie die Veränderung der Interventionen und Therapien. Dem Buch vorangestellt ist ein ausführliches zusammenfassendes Einleitungskapitel, am Ende findet der wissenschaftlich interessierte Leser1 umfangreiche Sekundärliteratur.

Basel und Luzern, im Februar 2020 Marc Walter und Oliver Bilke-Hentsch

1     Der besseren Lesbarkeit wegen haben sich die Autoren entschlossen, das generische Maskulinum zu verwenden. Hier wie im Folgenden sind stets alle Geschlechter eingeschlossen und angesprochen.

 

 

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Einleitung

 

 

Warum dieses Buch über »Narzissmus«?

Narzissmus ist aktueller denn je in der Wissenschaft, in der Umgangssprache und in den Medien. Es gibt schon viele ausgezeichnete Bücher über Narzissmus, dennoch bleiben viele Fragezeichen für behandelnde Psychiater und Psychotherapeuten bestehen.

Das Konzept vom pathologischen Narzissmus scheint den meisten Klinikern nicht immer klar zu sein. Was beinhaltet eine narzisstische Störung, welche Ausprägungen kann diese haben, und wo ist der Übergang vom gesunden zum pathologischen Narzissmus zu verorten? Beschreiben die diagnostischen Kriterien der aktuellen Klassifikationssysteme das klinische Phänomen ausreichend gut, so dass auf dieser Grundlage die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung valide gestellt werden kann? Kliniker und Wissenschaftler betonen zunächst gleichermaßen die Schwierigkeit, den normalen Narzissmus vom pathologischen Narzissmus abzugrenzen und die narzisstischen Störungen diagnostizieren zu können. Um narzisstische Störungen klarer fassen zu können, braucht es Theorie und Empirie der Narzissmus-Forschung.

Schon der Begriff Narzissmus wird nicht einheitlich verwendet. Umgangssprachlich wird Narzissmus häufig mit Selbstverliebtheit gleichgesetzt. Dabei ist eine gewisse Eigenliebe nicht nur normal, sondern wünschenswert. Ein gesunder Narzissmus ist wahrscheinlich notwendig für ein gesundes Selbstwertgefühl (Kohut 1968). Trotzdem ist der Begriff »narzisstisch« umgangssprachlich mehrheitlich negativ besetzt und wird in der Regel für unliebsame Menschen verwendet. Betrachten wir die Tatsache, dass wir vermutlich alle etwas narzisstisch sind, ist der Ausdruck gegenüber anderen ggf. sogar heuchlerisch. Er verweist mehr auf die eigenen narzisstischen Persönlichkeitsanteile, wenn beispielsweise Erfolge anderen nicht gegönnt werden und diese Personen als narzisstisch bezeichnet werden (Gabbard 2010).

Auf die Medien bezogen scheint eine noch größere Konfusion beim Thema Narzissmus zu herrschen. Hier sind alle mehr oder weniger narzisstisch – ein Präsident genauso wie ein Massenmörder, wie kann das sein?

Diese Fragen sind vertieft anzugehen. Nur wenn Begriff und Phänomenologie des Narzissmus ausreichend klar sind, können narzisstische Störungen diagnostiziert und entsprechende Therapien entwickelt und erfolgreich durchgeführt werden.

Wie hat sich die psychiatrische Klassifikation narzisstischer Störungen entwickelt?

Die relativ neue Entwicklung von einem allgegenwärtigen Narzissmus schien so nicht absehbar zu sein. Anfangs des neuen Jahrtausends sollte die »narzisstische Persönlichkeitsstörung« (DSM-IV) zunächst nicht mehr als Persönlichkeitsstörung in das Klassifikationssystem DSM-5 der American Psychiatric Association (APA) aufgenommen werden. Zu wenig war in den vergangenen Jahren zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung geforscht worden (Widiger et al. 2006). Offensichtlich gab es zu dieser Zeit wenig Interesse an der wissenschaftlichen Untersuchung zur Diagnostik und Behandlung der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Nachdem die »narzisstische Neurose« (Battegay 1977) als Begriff aus der Psychiatrie verschwunden war, spiegelte diese unklare Situation zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung das Problem des Narzissmus-Konzeptes wider. Das Phänomen Narzissmus erwies sich als komplex, empirisch schwer zugänglich, mit fließendem Übergang vom gesunden zum pathologischen Narzissmus.

Allein der Entscheid der American Psychiatric Association, die narzisstische Persönlichkeitsstörung im DSM-5 doch zu berücksichtigen und (vorerst) das kategoriale Klassifikationssystem der Persönlichkeitsstörungen zu erhalten, führte wieder zu einer intensiveren Form der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Narzissmus und den narzisstischen Störungen (APA 2013).

In der ICD-11 der WHO verschwindet der Begriff »Narzissmus« mit dem Wegfall des kategorialen Systems zugunsten eines dimensionalen Modells der Persönlichkeitsstörung. Es gibt in der ICD-11 nur noch eine Persönlichkeitsstörung unterschiedlichen Schweregrades. Die Schwere der Persönlichkeitsstörung wird anhand der Funktionsbeeinträchtigung und der Selbst- und Fremdgefährdung eingeschätzt und durch verschiedene Persönlichkeitsdomänen ergänzt. Die entsprechenden (narzisstischen) Domänen »negative Affektivität« und »Dissozialität« werden voraussichtlich einerseits eine Aufwertung der vulnerablen narzisstischen Symptomatik (Selbstwertprobleme) zur Folge haben und anderseits den Fokus wie bisher auch auf die grandiose und mehr antisoziale Seite (Empathiemangel) des pathologischen Narzissmus legen.

Wann ist eine Person »narzisstisch« und ab wann wird dies zu einem psychischen Problem?

Wir scheinen also alle ein bisschen narzisstisch zu sein. Wir haben es mit einem Begriff zu tun, der von einem normalen Narzissmus bis zu einem pathologischen Narzissmus reicht, aber wo ist diese Grenze genau anzusiedeln?

Eine naheliegende Vermutung wäre, dass den »Narzissmus« das gleiche fachliche Schicksal ereilen wird wie die »Hysterie«. Spezifische Psychopathologie geht im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung in ein mehr oder weniger negativ gefärbtes aber noch toleriertes Normalverhalten in der Allgemeinbevölkerung über. Der Begriff wird dann im Laufe der Zeit unverständlicher und ungenauer, bis schließlich einzelne wichtige charakterisierende Merkmale nur noch umgangssprachlich verwendet werden. »Hysterisch« heißt (primär bei Frauen) vielleicht emotional und dramatisierend, »narzisstisch« bedeutet (primär bei Männern) wohl selbstverliebt und egoistisch.

Narzissmus sollte deshalb zuerst klar definiert werden und als Begriff von der pathologischen Form des Narzissmus – der narzisstischen Persönlichkeitsstörung abgegrenzt werden.

Die narzisstische Persönlichkeitsstörung war seit Freud und der frühen Psychoanalyse und vor allem seit der Konzeption von Kohut und von Kernberg ein fester Bestandteil der Psychiatrie und Psychotherapie und eine etablierte Diagnose als Persönlichkeitsstörung in den psychiatrischen kategorialen Klassifikationssystemen (DSM-5, ICD-10).

Aber wo beginnt die narzisstische Störung, die anhand strukturierter Interviews valide zu diagnostizieren und durch moderne Psychotherapieverfahren zu behandeln ist?

Auch wenn die empirische Wissenschaft überschaubare Ergebnisse zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung hervorgebracht hat, ist das Wissen seit Freud vor allem mit Kernberg in den letzten Jahrzehnten stark angewachsen. Es gibt eine gut fundierte und mehrfach replizierte Theorie zur Ätiologie und Psychopathologie der narzisstischen Störungen.

Durch Traumatisierungen (Kohut) und narzisstischen Missbrauch der Eltern bei entsprechender Konstitution (Kernberg) wird das Kind im Verlauf der Entwicklung kein stabiles Selbstwertgefühl aufbauen können. Das Besondere an der Entwicklung ist der psychoanalytischen Theorie zufolge, dass aus dieser Not heraus und durch Aggressionen der Wert der eigenen Person geschützt und gesichert wird. Dies geht auf Kosten der Beziehungen zu anderen Menschen, die ausgegrenzt und bildlich gesprochen zerstört werden. Kontrolle und die Unabhängigkeit von anderen sichert das fragile narzisstische Gleichgewicht. Je mehr das Kind in seinem Erleben beeinträchtigt ist, desto stärker sind diese Schutzmechanismen am Werk.

Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass Unsicherheiten und Ängste sowie unsichere Beziehungen zu anderen Menschen eine leichte narzisstische Beeinträchtigung bedeuten, und dass ein Mangel an prosozialer Empathie und antisoziales Verhalten im Allgemeinen eine stärkere Abschottung von anderen Menschen fördern und dies mit einer schweren narzisstischen Beeinträchtigung einhergeht. Damit wird auch verständlich, warum die antisoziale Persönlichkeitsstörung narzisstisch schwerer beeinträchtigt ist als die narzisstische Persönlichkeitsstörung im engeren Sinne – beide aber zu den narzisstischen Störungen gezählt werden.

Die narzisstische Persönlichkeitsstörung im engeren Sinne wird aktuellen empirischen Studien zufolge hauptsächlich in zwei Idealtypen aufgeteilt – in einen vulnerabel narzisstischen Typus und in einen grandios narzisstischen Typus. Während der vulnerable Typus zunächst gar nicht als narzisstische Persönlichkeitsstörung in Erscheinung tritt, und andere Merkmale wie Unsicherheiten und Ängstlichkeit im zwischenmenschlichen Kontakt im Vordergrund stehen, oder auch die psychiatrische Komorbidität, wie beispielsweise die einer Depression oder die einer Computerspielsucht, ist der grandiose Typus derjenige, der alle psychopathologischen Merkmale einer narzisstischen Störung auf den ersten Blick erfüllt und deshalb in der Regel auch diagnostiziert werden kann. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung ist allgemein durch ein Muster von Großartigkeit, durch ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Bewunderung durch andere Menschen und durch einen Mangel an Einfühlungsvermögen gekennzeichnet. Diesen Merkmalen liegt das zentrale Problem des Selbstwertes zugrunde, das als Kind angelegt in der Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter als narzisstische Persönlichkeitsstörung zum Ausdruck kommt.

Die antisoziale Persönlichkeitsstörung wird auch zu den narzisstischen Störungen gezählt. Allerdings wird die Selbstwertproblematik hier nicht vordergründig zu entdecken sein. Auffällig ist bei den betroffenen Personen ein antisoziales Verhalten, in dem sie lügen und betrügen und kein Mitgefühl für andere Menschen aufbringen können. Je schwerer die Störung ausgeprägt ist, desto stärker sind der Mangel an Empathie und die Beziehungsstörung ausgeprägt. Häufig werden sie kriminell. Die Antisozialität steht zwar im Vordergrund und ist deshalb wegweisend für das Störungsbild der antisozialen Persönlichkeitsstörung – eine schwere narzisstische Störung ist aber die Grundlage. Es kann daher ein narzisstisches Kontinuum angenommen werden, das von einem normalen Narzissmus über die narzisstische Persönlichkeitsstörung im engeren Sinne bis zur schweren antisozialen Persönlichkeitsstörung reicht. Die schwere antisoziale Persönlichkeit wird von einigen Autoren (Hare, Sevecke) auch als psychopathische Persönlichkeit bezeichnet. Das charakteristische Muster des pathologischen Narzissmus – von Großartigkeit und dem Bedürfnis nach ständiger Bewunderung – wird von der narzisstisch akzentuierten Persönlichkeit bis zur antisozialen Persönlichkeitsstörung immer deutlicher ausgeprägt. Zudem nehmen offene Aggressivität, antisoziales Verhalten und Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, von der narzisstischen Persönlichkeitsstörung bis zur antisozialen Persönlichkeitsstörung, auch weiter zu. Aus diesem Grund ist der Mangel an prosozialer Empathie gegenüber anderen Menschen neben dem antisozialen Verhalten ein deutliches Kriterium, um die Schwere der jeweiligen narzisstischen Psychopathologie einschätzen zu können.

Wie zeigt sich ein pathologischer Narzissmus in der Gesellschaft?

Obwohl schon bei den Sumeren (3. Jahrtausend v. Chr.) und in sokratischen Dialogen (Sokrates 469–399 v. Chr.) über die Eitelkeit der Jugend oder deren moralischen Verfall gesprochen und teilweise lamentiert wurde, mehren sich in den letzten 20 Jahren die empirischen sozialpsychologischen Befunde, dass Kränkbarkeit, Irritabilität und ein stärkerer Selbstbezug zunehmen (Twenge und Campbell 2010, Twenge 2017). Während diese Phänomene für manche Autoren (Lukianoff und Haidt 2018) als Verweichlichung der anglo-amerikanisch geprägten Gesellschaften (»Coddling of the American Society«) gelten, sind nach Ansicht der selben Autoren stärker kollektive oder kooperativ-organisierte Gesellschaften (Skandinavien, Australien, Schweiz, viele asiatische Länder) vor einem überzogenen gesellschaftlichen Narzissmus geschützt.

Entscheidend bei der Gesamtüberlegung ist der Unterschied zwischen pathologischen und destruktiven Verhaltensweisen Einzelner, die am einen Ende des narzisstischen Spektrums auftauchen und gesamtgesellschaftlichen Basisprozessen. Eine erhöhte Selbstbezogenheit, Selbstverliebtheit und Individuumsorientierung wurde und wird in diesem Kontext stark durch die Medien vermittelt. Die permanente Selbstbewertung durch »likes und dislikes« in bestimmten sozialen Medien, die teilweise bereits in frühester Kindheit und Jugend beginnen, tragen sicherlich einen Teil dazu bei, dass der eigene Selbstwert stark durch die (unmittelbare und direkte) Rückmeldung anderer mitdefiniert wird.

Diese Phänomene wurden naturgemäß durch die früheren Autoren wie Kohut oder Kernberg, die sich stärker auf familiäre und dyadische Prozesse konzentrierten, nicht entsprechend konzeptualisiert und integriert. Insbesondere im Jugendalter dürften die unmittelbar responsiven Rückkopplungsschleifen der sozialen Medien aber eine Bedeutung haben.

Ob diese medialen Phänomene allerdings kausal einen Großteil der narzisstischen Problematik erklären, bleibt offen, auch wenn von der deutschen Gesellschaft bereits als einer »kränkbaren Gesellschaft« gesprochen wird (Strohschein 2015). Hiermit ist aber auch das Phänomen der permanenten leichten Empörung über angebliche gesellschaftliche Missstände und eine Erregungskultur gemeint, die unter psychodynamischem Aspekt vielleicht eher den hysterischen Zuständen zuzuordnen sind als einem Narzissmus.

Ein erziehungs- und familiäres Rückmeldungsverhalten, das Kindern dauernd regelhaft und bei kleinsten »Leistungen« hochgradige direkte positive Rückmeldung und damit Belohnung liefert, dürfte sicherlich das ihrige dazu beitragen, eine grundsätzliche Überbewertung der eigenen Leistungen und des eigenen Selbstwertgefühls vorzubereiten.

Es sind dann Kindergarten, Schule und weiterführende Ausbildungseinrichtungen sowie Sportvereine und andere Institutionen, die dem heranreifenden Kind und Jugendlichen und seinem Selbstwertgefühl realistisch-kritische und heutzutage sicher auch wertschätzende Rückmeldungen geben sollten. Bleibt das Kind und der Jugendliche in einer »Filterblase« von ungerechtfertigten nur positiven Rückmeldungen für Trivialleistungen, so wird es manchmal ganz am Ende einer Schulausbildung nötig, die notwendige Realität einzublenden. Dass dieser Zeitpunkt zu spät im Lebenslauf sein kann, betont der Beitrag eines amerikanischen College-Direktors, der den jungen Berufs-, Ausbildungs- und Studieneinsteigern einen kritischen Spiegel vorhält (»Ihr seid nichts Besonderes«, McCullough 2014).

Aus Sicht der Autoren dieses Buches über Narzissmus gestalten gesellschaftliche und mediale Rahmenbedingungen im Kontext der familiären Erziehung sowie der individuellen genetischen Disposition ein komplexes Wechselspiel, das einerseits eine erhöhte Kränkbarkeit und einzelne narzisstische Persönlichkeitszüge, andererseits aber auch einen schweren pathologischen Narzissmus mit Antisozialität hervorbringen kann.

Wie entsteht eine narzisstische Störung und wie häufig tritt diese auf?

Zur Ätiologie der narzisstischen Störungen gibt es wenig empirische Literatur. Es ist anzunehmen, dass, wie auch bei den anderen Persönlichkeitsstörungen, eine narzisstische Störung weniger durch Genetik als vielmehr durch pathologische Umwelteinflüsse i. S. der Epigenetik entstehen, die auf eine bestimmte angeborene Konstitution der Person treffen. Traumatisierungen und daraus entstehende Bindungs- und Mentalisierungsstörungen haben wahrscheinlich den größten Anteil an der Entwicklung einer narzisstischen Störung. Vermutlich hat die antisoziale Persönlichkeitsstörung mit ca. 40 % die größte genetisch erklärbare Varianz von allen Persönlichkeitsstörungen. Neurobiologische Befunde zeigen vor allem für die antisoziale und psychopathische Persönlichkeitsstörung eine eingeschränkte emotionale Reagibilität und Defizite im Hirnvolumen, die früh in der Entwicklung nachweisbar sind und die antisoziale Psychopathologie teilweise erklären können.

Die Angaben zu Epidemiologie der narzisstischen Störungen schwanken stark, je nachdem welche Stichprobe untersucht worden ist. In der Allgemeinbevölkerung scheint die narzisstische Persönlichkeitsstörung in 1 % bis 6 %, die antisoziale Persönlichkeitsstörung in 1 % bis 3 % der Menschen aufzutreten. Männer sind von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung fast doppelt so häufig, von einer antisozialen Persönlichkeitsstörung drei- bis fünfmal häufiger betroffen als Frauen, was auch an Diagnose-Gepflogenheiten liegen kann. Mit zunehmendem Alter scheinen beide Persönlichkeitsstörungen teilweise zu remittieren. Für die antisoziale Persönlichkeitsstörung ist dieser Befund gut abgesichert.

Wie ist eine narzisstische Störung festzustellen und zu diagnostizieren?

Die klinischen Phänomene des Narzissmus sind vielfältig, teilweise theoretisch komplex und nicht immer einfach zu verstehen. Es gibt durchaus Probleme, bestimmte narzisstische Phänomene festzustellen. In den letzten Jahren wurden in der Literatur verschiedene narzisstische Typen beschrieben. Besonders betont wurde dabei, dass neben einem grandiosen Typus auch ein vulnerabler narzisstischer Typus von klinischer Relevanz ist. Leider fokussieren die diagnostischen Kriterien (ICD-10, DSM-5) nur auf den grandios narzisstischen Typus, so dass viele Personen mit narzisstischen Störungen nicht erkannt werden und deshalb auch nicht adäquat behandelt werden können.

Neben den beschriebenen häufigen ängstlich-depressiven Symptomen imponiert der vulnerable Typus als schüchtern, selbstunsicher und introvertiert und entspricht damit so gar nicht der allgemeinen Vorstellung von einer narzisstischen Psychopathologie. Dabei scheint dieser narzisstische Typus besonders häufig in klinischen Settings aufzutreten. Allein die phänomenologische Unterscheidung in die beiden narzisstischen Typen reicht vermutlich nicht aus, um eine geeignete Verdachtsdiagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung zu stellen.

Die Grundlagen narzisstischer Psychopathologie sind immer Probleme im Selbstwert und in der Selbstregulation. Im introvertierten Modus drückt sich diese Schwierigkeit in der Selbstregulation eher als vulnerabel narzisstisch aus, im extrovertierten Modus eher als grandios narzisstisch. Dem teilweise »brüchigen« Selbstwert liegt aber immer ein grandioses Selbst zugrunde (offen oder verdeckt grandios), so dass die Person ständige Bewunderung zur Stabilisierung dieses grandiosen Selbst benötigt.

Wird das grandiose Selbst bedroht, durch Kritik oder Ablehnung, entsteht das typische uns bekannte Kränkungserleben der narzisstischen Patienten. Dieses Kränkungserleben zeigt die narzisstische Selbstregulationsstörung, die meist erst in kritischen Situationen zum Tragen kommt. Durch die Beschädigung des grandiosen Selbst entstehen Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht, die an frühere Traumatisierungen erinnern, aber meist unbewusst bleiben. Als Reaktion entsteht entweder Ärger und Wut verbunden mit Rachegefühlen gegenüber dem Verursacher, oder eher Scham und Angst, die mit Entwertungen und Rückzug assoziiert sein können. Die auslösenden Kränkungen können akut oder auch chronisch auftreten, wenn sie immer wieder genährt werden.

Wird allein das Verhalten betrachtet, das wir unabhängig von bedrohlichen Kränkungssituationen beobachten können, so sind folgende psychopathologische Symptome als besonders bedeutsam für die Klinik des pathologischen Narzissmus zu nennen und für beide narzisstischen Typen als charakteristisch anzunehmen: Eine hohe Anspruchshaltung, die durch das grandiose Selbst bedingt ist, mit dem ständigen Bedürfnis nach Bewunderung, ein großer Widerstand in Beziehungen, der durch die Antizipation von Kritik und Ablehnung verstehbar wird, und eine große Aggressivität mit Entwertung anderer Menschen, die auch durch leichtere Formen von Kränkungen entstehen kann.

Der charakteristische Mangel an Empathie ist bei narzisstischen Störungen durchgehend vorhanden, lässt sich nicht primär durch die situative Selbstregulationsstörung erklären und ist deshalb auch als ein trait-Merkmal zu verstehen. Ist die mangelnde Empathie stark ausgeprägt, zeigt sich nicht selten durchgehend ein antisoziales Verhalten, und wir sprechen bald von einer antisozialen Persönlichkeitsstörung im engeren Sinn. Der Empathiemangel zeigt sich besonders deutlich in der Beziehungsgestaltung der betroffenen Personen. Dadurch, dass Personen mit narzisstischen Störungen kein Interesse für die Gefühle von anderen Menschen haben, bleiben ihre Beziehungen oft oberflächlich. Die Beziehungen werden häufig auch ausgebeutet, ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer, und aufgegeben, wenn sie nicht mehr nützlich sind.

Obwohl bei beiden narzisstischen Typen (grandios und vulnerable narzisstischer Typus) eine Selbstregulationsstörung mit unterschiedlichen Reaktionsmustern als state-Psychopathologie zugrunde liegen, zeigt sich die häufig auftretende trait-Psychopathologie bei beiden Typen: Eine hohe Anspruchshaltung (grandioses Selbst) und ein Empathiemangel mit Ausnutzung und Entwertung anderer Menschen.

Die narzisstische Persönlichkeitsstörung (DSM-IV, DSM-5) kann wie alle Persönlichkeitsstörungen am besten mit einem strukturierten Interview diagnostiziert werden (z. B. mittels SKID-II oder SCID-5-PD). Die DSM-5-Kriterien bilden die Grundlage für eine mögliche Diagnose, die durch das anschließende Interview bestätigt werden kann. Psychologische Testverfahren zum Narzissmus (z. B. PNI) können ergänzend eingesetzt werden, um die narzisstischen Phänomene (z. B. vulnerabel narzisstisch oder grandios narzisstisch) noch besser abbilden zu können. Die Testverfahren sind als self-reports verfügbar und können das klinische Bild vervollständigen oder in wissenschaftlichen Studien eingesetzt werden. Zur Diagnostik einer Persönlichkeitsstörung im kategorialen System DSM-5 sind sie allein nicht geeignet.

Neue Entwicklungen zeigen, dass es einen Trend weg vom kategorialen System und hin zu einem dimensionalen Modell der Persönlichkeitsstörungen gibt. Sowohl im alternativen Modell im DSM-5 (Sektion III) als auch in der ICD-11 wird eine Persönlichkeitsstörung nach der sozialen Funktionsbeeinträchtigung in Schweregrade eingeteilt, zusätzlich wird Identität und Empathie (DSM-5) oder das selbst- und fremdgefährdende Verhalten (ICD-11) beurteilt. Zudem werden Merkmalsdomänen bewertet, in denen der Begriff »narzisstisch« nicht mehr auftaucht. Dafür wird in den Domänen zum einen die vulnerable narzisstische Psychopathologie betont (geringes Selbstwertgefühl, ängstlich-depressive Symptomatik), die als »negative Affektivität« bezeichnet wird, und zum anderen ist die antisoziale narzisstische Psychopathologie des narzisstischen Kontinuums (Empathiemangel, aggressives und manipulatives Verhalten), hin zur antisozialen Persönlichkeitsstörung, weiter berücksichtigt, die als »Dissozialität« (ICD-11) beschrieben ist. Natürlich bleibt, auch wenn der Begriff »narzisstisch« aus der ICD-11 verschwindet, eine narzisstische Problematik grundsätzlich bestehen.

Wie verändert sich die narzisstische Problematik über die Lebensspanne?

Das Konzept des »narzisstischen Säuglings« – so interessant es auch klingen mag – dürfte nicht unbedingt die Basis einer weiteren narzisstischen Entwicklung sein, sondern stellt eine vorübergehende Entwicklungsphase dar. Das Gleiche gilt für Phasen der Kränkbarkeit und der Irritabilität beispielsweise in der Präpubertät rund um das zehnte Lebensjahr, es zeigt sich in der Frühpubertät vom 13. bis 14. Lebensjahr als häufiges Phänomen. Auch vorübergehende Phasen der Kränkbarkeit bei beruflichen Misserfolgen, mangelnden Aufstiegsmöglichkeiten oder dem Verlust von Ansehen und sozialer Rückmeldung am Ende der Berufskarriere sind als vorübergehende Phänomene zwar individuell belastend, aber nicht unbedingt pathologisch.