Moses und der kalte Engel

Die regennassen Straßen waren wie ausgestorben, und auf dem schwarzen Wasser der Außenalster spiegelten sich die wenigen Lichter, die zu dieser späten Stunde noch brannten. Eigentlich mochte sie diese Zeit kurz vor Tagesanbruch, wenn es noch dunkel und in der Stadt so ruhig war, als käme sie tatsächlich für einen Moment zur Besinnung. Aber jetzt empfand sie diese stille Leere als ein unheilvolles Omen. Sie biss sich auf die Unterlippe. Bitte, lass es einen Irrtum sein! Einen Fehlalarm, irgendeine dumme Verwechselung! Sie wischte mit dem Handschuh die Regentropfen von ihrem Helmvisier, ließ den Motor ihrer Yamaha aufheulen und jagte weiter durch die Nacht. Sie flog geradezu über die Hohenfelder Brücke, und als sie in den Schwanenwik Richtung Krankenhaus einbog, wäre sie in der lang gezogenen Kurve auf dem nassen Asphalt beinahe weggerutscht. Es gelang ihr gerade noch, die schlingernde Maschine wieder unter Kontrolle zu bekommen. Mit klopfendem Herzen raste sie weiter die Sechslingspforte entlang. Sie bremste scharf und bog in die Barcastraße. Endlich hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie zwängte sich mit dem Motorrad an der geschlossenen Parkplatzschranke vorbei und stellte es hastig ab. Während sie auf den Eingang des Krankenhauses zurannte, riss sie sich den Helm vom Kopf.

»Wo ist die Notaufnahme?«

Die Schwester hinter dem Empfangstresen zuckte zusammen. Um vier Uhr morgens an einem Wochentag ging es selbst in der St.-Georg-Klinik, Hamburgs am häufigsten angefahrenem Notfallkrankenhaus, eher gemächlich zu. Umso erstaunter war sie, als plötzlich eine völlig durchnässte junge Frau in Lederjacke und mit Motorradhelm in der Hand vor ihr stand.

Katja verdrehte ungeduldig die Augen. Sie riss sich die Handschuhe von den Fingern und fischte ihren Dienstausweis aus den Tiefen ihrer Lederjacke.

»Die Notaufnahme? Bitte! Wie komme ich dahin?«

Die Schwester schielte ungläubig auf den Ausweis. Dass die aufgelöste junge Frau Kommissarin war, schien sie nur noch mehr zu verwirren.

Schließlich hatte sie sich gefangen. Sie deutete auf einen Durchgang: »Zur Zentralen Notaufnahme geht es da entlang. Einfach immer den Schildern nach. ZNA. Aber vielleicht sagen Sie mir erst einmal, worum es geht? Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«

»Danke«, sagte Katja. »Nicht nötig. Ich komm allein zurecht!«

Sie fuhr herum und rannte in die angezeigte Richtung, wobei ihre nassen Springerstiefel auf dem polierten Boden ein schmatzendes Geräusch verursachten. Sie folgte den Hinweisschildern, überquerte einen Innenhof, und als sie das dahinterliegende Gebäude betrat, hatte sie die nach amerikanischem Emergency Room-Vorbild gestaltete Notaufnahme endlich gefunden.

»Hey, nicht so stürmisch!«, rief der Pfleger hinter der orangefarbenen Theke, als Katja an ihm vorbeirennen wollte. »Wo wollen Sie hin?«

»Ich …« Sie blieb stehen und suchte erneut nach ihrem Dienstausweis. In diesem Moment hörte sie eine bekannte Stimme.

»Alles in Ordnung!« Oberkommissar Leitner winkte ihnen aus dem Wartebereich zu. »Die gehört zu mir.«

Der Pfleger musterte Katja. Schließlich gab er mit einem desinteressierten Nicken den Weg frei.

Katja eilte zu ihrem Kollegen in den Wartebereich.

»Wie ernst ist es?«, bestürmte sie Leitner. »Jetzt sag schon! Schwebt er in Lebensgefahr?«

Leitner hob abwehrend die Hände. »Ich weiß es nicht. Sie operieren noch. Angeblich hat er viel Blut verloren.« Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Hier sagt einem ja keiner was.«

Katjas Miene verdüsterte sich. »Das kann doch nicht sein! Schließlich ist er einer von uns.«

»Ich denke, das spielt hier keine Rolle.« Leitners Blick wanderte durch den mit Fotodrucken aufgehübschten Wartebereich. Wenigstens gab es im Moment keine weiteren Notfälle, und sie waren allein. Er sah seine Kollegin an: »Wie konnte das überhaupt passieren? Ich dachte, ihr seid gestern Abend zusammen unterwegs gewesen.«

»Das waren wir auch«, erwiderte Katja zerknirscht. »Aber dann wollte er unbedingt alleine da hin. Keine Ahnung, warum. Du weißt ja, wie er manchmal ist.«

Vor genau dieser Frage hatte Katja sich gefürchtet. Seitdem Leitner sie mit seinem Anruf aus dem Schlaf gerissen hatte, quälte sie sich mit Vorwürfen. Es war ganz allein ihr Fehler gewesen. Sicher, sie war schrecklich müde gewesen, und er hatte darauf bestanden, dass sie sich ausschläft. Dennoch hätte sie ihn niemals allein gehen lassen dürfen. Sie hätte darauf bestehen müssen, ihn zu begleiten. Sie hätte es verhindern können.

Wenn Moses heute Nacht starb, war es allein ihre Schuld.

1.

Die Lichter der Einsatzfahrzeuge tauchten das Kopfsteinpflaster der Friedrichstraße in ein flackerndes Blau. Streifenwagen blockierten die Fahrbahn, und der Gehweg vor dem leer stehenden Haus war weiträumig abgesperrt. Das Aufgebot an Uniformen war selbst für St. Pauli spektakulär, und so hatten sich bereits etliche Nachtschwärmer aus den umliegenden Kneipen, Bars und Sexclubs eingefunden, die mit gezückten Handys das Absperrband belagerten. Moses warf einen Blick in den Rückspiegel und überprüfte den Sitz seiner Krawatte. Danach stieg er aus dem Wagen und zwängte sich durch die Menge der Schaulustigen. Als er unter dem rot-weißen Absperrband hindurchschlüpfte, baute sich ein junger Streifenpolizist vor ihm auf. Er wirkte verfroren und ein wenig überfordert.

»Halt!«, herrschte er Moses an. »Wo wollen Sie hin? Zurück hinter die Absperrung!«

Dass man ihm den Polizisten nicht abnahm, passierte ihm ständig, und er konnte nicht behaupten, dass er sich daran gewöhnte. Es nervte gewaltig. Als er in seinen Mantel greifen wollte, um sich auszuweisen, ging ein weiterer Polizist dazwischen. Er war deutlich älter und die vier blauen Sterne auf den Schulterklappen wiesen ihn als Polizeihauptmeister aus. Offenbar handelte es sich um den Einsatzleiter.

»Alles in Ordnung!«, beschied er dem jungen Beamten. »Der Herr Kommissar ist nicht zum Vergnügen hier. Kümmern Sie sich wieder um die Leute!«

Der junge Beamte musterte den vor ihm stehenden elegant gekleideten schwarzen Kriminalkommissar ungläubig von Kopf bis Fuß. Schließlich blies er sich in die kalten Hände und kehrte auf seine Position zurück.

»Danke«, sagte Moses an den bulligen Polizeihauptmeister gewandt. Er glaubte, sich an das breite Gesicht mit der Boxernase zu erinnern. »Sind Sie der Verantwortliche hier?«

»Der bin ich.« Der Beamte schob sich seine Mütze in den Nacken. Als er ansetzte, um fortzufahren, wurde er von den Zurufen der Schaulustigen hinter dem Absperrband unterbrochen.

»Ist der Scheißkerl tot?«, rief ein Mann mit Handykamera vor dem Gesicht. Er war sichtlich betrunken.

»Ja, wir wollen wissen, was los ist«, mischte sich eine aufgedonnerte Mittfünfzigerin empört ein. »Wir haben ein Recht darauf! Wir arbeiten hier!«

»Ja, und was ist mit der Bombe?«, rief ein anderer.

»Was denn für eine Bombe?«, fragte sein Nebenmann besorgt.

Unter den Umstehenden erhob sich zustimmendes Gemurre.

Der Einsatzleiter fuhr genervt herum. »Ich sagte Ihnen doch: Es besteht keinerlei Gefahr! Für niemanden von Ihnen! Also seien Sie bitte vernünftig und gehen Sie weiter.« Dann wandte er sich wieder Moses zu. »Verrückte Welt«, sagte er kopfschüttelnd. »Mittlerweile denken alle sofort an einen Terroranschlag.«

»Bei dem Aufgebot wundert mich das nicht«, entgegnete Moses. Er deutete auf die vielen Einsatzfahrzeuge und uniformierten Beamten. »War das wirklich nötig?«

Der Polizist reagierte erstaunt. »Sie wissen nicht, warum Sie hier sind?«

»Nein«, gestand Moses. Im Präsidium hatte man ihm lediglich die Adresse genannt.

»Nun, in diesem Fall machen Sie sich am besten selbst ein Bild«, entschied der Einsatzleiter. Er drückte Moses eine Taschenlampe in die Hand. »Die werden Sie da drin brauchen. Viel Vergnügen!«

Dann trat er zur Seite und deutete auf den dunklen Hauseingang. Moses folgte seinem Blick, und sofort beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Das Haus musste seinem Zustand nach zu urteilen schon seit geraumer Zeit leer stehen. Die Fenster im Erdgeschoss waren mit Sperrholzplatten vernagelt, die Wände und der Eingang mit Graffiti übersät. Auch in den oberen Etagen waren die meisten Fenster verrammelt. Er versuchte sich sein Frösteln nicht anmerken zu lassen. Es kam ihm so vor, als würden die blinden Fensterhöhlen auf ihn herabstarren. Inmitten der bewohnten Gebäude rechts und links wirkte das Haus wie ein Fremdkörper, von dem etwas Böses ausging. Er nahm die Stablampe in seine linke Hand und stieg die wenigen Eingangsstufen hoch. Als er die schwere, mit wilden Tags besprühte Haustür aufdrückte, hörte er, wie ihm der Einsatzleiter nachrief: »Übrigens! Ihre hübsche Kollegin ist schon oben.«

Moses ersparte sich eine Antwort. Stattdessen schob er sich durch die Tür und stieg über die fleckige Matratze hinweg, die den Eingang versperrte. Das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge huschte über die Wände des Treppenhauses, und durch die offene Tür in seinem Rücken konnte er hören, wie die Streifenbeamten die Schaulustigen erneut zum Weitergehen aufforderten. Er schaltete die Taschenlampe an und ließ den Lichtkegel über die mit Obszönitäten und revolutionären Parolen vollgekritzelten Wände wandern. Überall lag Müll, und obwohl es im Treppenhaus wie Hechtsuppe zog, roch es nach Schimmel und Verwesung. Moses hielt instinktiv die Luft an und stieg über die Flaschen und Pizzakartons hinweg, um zur Treppe zu gelangen. Als er seinen Fuß auf die erste Stufe setzte, zögerte er. Etliche Sprossen des kunstvoll gedrechselten Holzgeländers waren herausgebrochen, vermutlich das Werk von Jugendlichen im Testosteronrausch, und auch was davon noch übrig war, weckte nicht gerade sein Vertrauen.

»Man muss immer am Rand bleiben. Dann geht es.«

Moses legte den Kopf in den Nacken und kniff die Augen zusammen. Drei Stockwerke über ihm blitzte eine Taschenlampe auf und blendete ihn.

»Sieht schlimmer aus, als es ist!«, rief Helwig zu ihm hinab.

Moses hielt die Hand schützend gegen den blendenden Lichtkegel und stieß einen Stoßseufzer aus. Wie seine Kollegin es schaffte, stets als Erste vor Ort zu sein, war ihm ein Rätsel. Vorsichtig stieg er im Schein der Taschenlampe die knarrende Treppe hinauf. Als er unter dem Dach ankam, leuchtete Helwig ihm ins Gesicht.

Sie klang überrascht. »Ich dachte, Sie sind in Flensburg. Auf dieser Tagung.«

»Das war ich – jetzt leuchten Sie mir nicht die ganze Zeit in die Augen!«

»Sorry.« Helwig senkte ihre Taschenlampe. »In dieser Bruchbude gibt es leider kein Licht.«

»Ist die Spurensicherung schon unterwegs?«, erkundigte sich Moses, während er sich die Augen rieb.

»Müsste jeden Moment auf der Bildfläche erscheinen. Ebenso wie Kollege Leitner.«

»Gut. Dann lassen Sie mich mal sehen, was wir haben.«

»Sie wissen es noch nicht?«

Obwohl Moses ihr Gesicht im Schatten der Lampen kaum erkennen konnte, spürte er, wie Helwig ebenso erstaunt reagierte wie zuvor der Einsatzleiter. Was ihn allmählich ärgerte. Was sollte diese Geheimnistuerei?

»Warum klären Sie mich nicht einfach auf?«, sagte er genervt. »Also, weswegen sind wir hier?«

Helwig deutete mit dem Strahl ihrer Taschenlampe auf eine niedrige Tür. Sie stand offen und führte offenbar auf den Dachboden.

»Da drin«, sagte sie tonlos. »Ist ’ne echt hässliche Sache.«

Moses fragte sich unwillkürlich, was seine junge Kommissarin wohl unter »hässlich« verstand. Schließlich konnte er sich nicht daran erinnern, im Zuge seiner Arbeit jemals etwas anderes zu Gesicht bekommen zu haben. Der Tod, mit dem er es zu tun hatte, war immer hässlich.

Er betrat den Dachboden und blickte sich mit der Taschenlampe in der Hand um. Trotz der Dunkelheit war zu erkennen, dass der Speicher leer geräumt war. Auf dem Estrich standen Regenpfützen, und das Dachgebälk war, soweit er im Schein der Lampe erkennen konnte, bis in den Giebel hinauf mit Spinnweben überzogen. Durch die Dachziegel pfiff der kalte Winterwind, und dort, wo er hinleuchtete, tanzten im Lichtstrahl Staubkörner und winzige Federn. Die Größe des Dachbodens überraschte Moses. Er ging um den massiven, gemauerten Kamin herum, der sich in der Mitte des Raums erhob. Plötzlich blieb er stehen. Seine Lampe hatte zwei nackte Füße gestreift. Sie befanden sich eine Handbreit über dem Boden. Langsam ließ er den Lichtstrahl nach oben wandern.

Jetzt verstand er, was Helwig gemeint hatte.

Man hatte das Opfer nackt und mit ausgebreiteten Armen an einem der Dachbalken aufgehängt. Das schulterlange flachsblonde Haar des jungen Mannes fiel ihm ins Gesicht, und wären da nicht die unzähligen kleinen Schnitte und Quetschungen gewesen, mit denen sein muskulöser Körper übersät war, hätte man an einen aufgehängten Engel denken können.

»Ich sagte ja, dass es hässlich ist.« Helwig trat mit ihrer Lampe neben ihn. »Ich finde, so wie er da hängt, sieht es fast wie eine Kreuzigung aus. Irgendwie religiös.«

Moses sagte nicht, dass er im ersten Moment die gleiche Assoziation gehabt hatte. Mit der Lampe in der Hand trat er einen Schritt näher. Es gab keinen Zweifel, dass der Unbekannte gefoltert worden war. Da sein Kopf vornüber auf der Brust ruhte, musste Moses leicht in die Knie gehen, um das Gesicht hinter den herabfallenden Haaren besser zu sehen. Es glich einer Fratze aus grenzenlosem Entsetzen und unvorstellbaren Qualen. Am Hals konnte er ein dünnes Würgemal erkennen, das seiner Vermutung nach von einem Strick oder Draht herrührte. Das Alter des jungen Mannes schätzte er auf höchstens Ende zwanzig, auch wenn dies bei den herrschenden Lichtverhältnissen und dem Zustand der Leiche nicht eindeutig zu sagen war. Als er sich gerade wieder erheben wollte, stutzte er. Zwischen den blutleeren Lippen des Toten ragte etwas heraus. Es war klein und spitz.

Moses richtete sich auf.

»Haben Sie Handschuhe dabei?«, fragte er Helwig.

Sie reichte Moses ein Paar. »Was haben Sie vor?«

»Egal«, erwiderte Moses, während er die Handschuhe überstreifte. Dann hob er den Kopf der Leiche vorsichtig mit zwei Fingern an.

»Das wird der SpuSi aber nicht gefallen«, meinte Helwig.

Sie verstummte, denn als der Kopf des Toten angehoben wurde und sich der Mund öffnete, fiel etwas auf den Boden. Im Schein ihrer Taschenlampen starrten Moses und Helwig ungläubig auf das seltsame Etwas zu ihren Füßen. In diesem Moment polterte Janssen, der Leiter des KTU-Teams, auf den Dachboden. Er steckte in einem weißen Overall mit Kapuze und schleppte einen Spurensicherungskoffer.

»Mann, endlich haben wir euch gefunden«, schimpfte er, während er die Kommissare mit seiner Taschenlampe nacheinander anleuchtete. »Die Kollegen draußen auf der Straße meinten, ihr seid irgendwo im Haus. Ihr hättet euch ruhig bemerkbar machen können. Abgesehen davon: Wann merkt ihr euch endlich, dass wir die Ersten vor Ort sind! Wie sollen wir sonst unsere Arbeit machen?«

Als er seine Lampe schwenkte und die grausam zugerichtete Leiche an dem Dachbalken entdeckte, sog er scharf die Luft ein.

»Au, Schiet! Das sieht diesmal aber übel aus.«

Er wollte näher treten, doch dann hielt er inne. Er richtete seine Lampe auf den Boden.

»Was ist denn das da?«, fragte er verwundert. »Das da vor euren Füßen?«

Moses und Helwig erwiderten nichts. Stattdessen tauschten sie besorgte Blicke.

2.

»Ein Hühnerfuß?!«

Oberkommissarin Elvers hielt den Plastikbeutel mit dem abgetrennten Fuß ungläubig gegen das Fenster des Besprechungszimmers. Er war gelblich weiß und besaß vier Glieder mit Krallen.

»Und den hatte er wirklich im Mund?«

»Exakt«, ächzte Helwig. Sie sah müde aus. »Offenbar besitzt der Mörder einen ziemlich eigenwilligen Humor.«

Elvers legte den eingetüteten Hühnerfuß zurück auf den Konferenztisch und schob ihn mit spitzen Fingern weiter. Leitner betrachtete ihn eingehend, rührte ihn aber nicht an.

»Das erinnert mich an meine Kindheit auf dem Bauernhof«, meinte er und griff nach der Tasse mit seinem Morgenkaffee. »An das Schreien der Viecher. Sie haben es immer gewusst, wenn sie geschlachtet wurden. Vor allem die Schweine.«

»Deine Viecher sind wenigstens schnell gestorben. Ganz im Gegensatz zu dem armen Kerl da.« Helwig nickte in Richtung der Fotos, die zwischen ihnen auf dem Tisch lagen. Sie zeigten den nackten, am Dachbalken aufgehängten Leichnam samt seinen Verletzungen. Ein Bild zeigte das Gesicht des toten jungen Mannes in Großaufnahme.

»Zu so etwas ist nur ein echter Psychopath fähig«, meinte Helwig. »Seht euch nur die vielen unterschiedlichen Wunden an. Der Typ ist krank und gefährlich. Ein durchgeknallter Sadist!«

»Und was ist mit dem Hühnerfuß im Mund?«, fragte Leitner. »Machen Sadisten auch so etwas?«

Er nippte mit spitzen Lippen an seinem Kaffee.

»Vielleicht ist er ja auf einem Bauernhof aufgewachsen«, gab Helwig über den Tisch zurück.

Als Leitner ansetzte, um die Spitze seinerseits zu kontern, gebot Moses dem Geplänkel Einhalt, indem er die Hand hob.

»Das reicht!«, sagte er. »Wir sollten uns nicht in Mutmaßungen verlieren. Solange wir keinen abschließenden Bericht aus der Gerichtsmedizin haben, kennen wir nicht einmal die genaue Todesursache oder den Todeszeitpunkt. Also lassen wir die Kirche vorerst im Dorf.«

Weiter kam er nicht, denn Viteri platzte mit einem Computerausdruck in das Besprechungszimmer.

»Bingo«, rief er. »Wir haben ihn! Die Fingerabdrücke des Toten waren im System.«

Rund um den Tisch breitete sich Schweigen aus. Alle sahen ihn erwartungsvoll an.

»Was habt ihr?«, fragte Viteri irritiert. »Warum glotzt ihr so? Hab ich etwas im Gesicht kleben?«

Moses seufzte. »Sagen Sie uns einfach, was Sie gefunden haben.«

»Äh, ja. Natürlich.« Viteri versetzte seiner schwarzen Hornbrille einen Stups und sah auf das Blatt in seiner Hand. »Also, der Tote, der aus dem leeren Haus, heißt Jan Mattis. 28 Jahre. Geboren und aufgewachsen in Lübeck. Mittlere Reife, danach abgebrochene Mechanikerlehre. Zuletzt war er in der Kastanienallee gemeldet.«

»Das ist ja nur drei Gehminuten vom Tatort entfernt!«, warf Elvers ein.

»Genau. Aber es kommt noch besser!« Viteri holte tief Luft: »Laut seiner Akte ist Mattis, äh, war Mattis wegen Drogenbesitz vorbestraft.«

Er reichte den Computerausdruck an Moses weiter, der ihn überflog.

Währenddessen schlug Elvers ihre Beine übereinander und runzelte die Stirn. »Wenn es um Drogen geht, haben wir es unter Umständen mit einem Racheakt innerhalb der Szene zu tun. Vielleicht eine ausländische Gang. Diese Verstümmelungen, das sieht mir nicht nach einem üblichen Streit unter Kleindealern aus.«

»Da könnte etwas dran sein«, pflichtete ihr Helwig bei. »Diese Brutalität könnte auf süd- oder mittelamerikanische Drogenkartelle hinweisen.«

»Na, das sind ja tolle Aussichten«, stöhnte Leitner. »Dann gibt es in der Lüneburger Heide demnächst Massengräber wie in Mexiko. Schönen Dank auch!«

Er verschränkte demonstrativ die Arme, wobei er die Muskeln unter seinem viel zu knappen T-Shirt spielen ließ. Moses fragte sich, ob sein junger Kollege auch an diesem frühen Morgen bereits im Fitnessstudio trainiert und seine Testosterontanks aufgefüllt hatte. Zuzutrauen war es ihm. Er reichte den Computerausdruck an Elvers weiter, die neben ihm am Kopfende des Tisches saß.

»Wir sind nicht in Lateinamerika«, sagte er. »Das ist mir alles zu viel Klischee. Aber ich gebe Ihnen recht: Der Täter wollte mit seinem Vorgehen vielleicht ein Exempel statuieren.«

»Dann könnte der Hühnerfuß in seinem Mund also eine Art Botschaft sein«, folgerte Helwig. »An wen auch immer.«

Moses stimmte ihr zu. »Oder es ging um Informationen. Ich frage mich, ob der Mörder sein Opfer aus reinem Sadismus gefoltert hat …«

»... oder weil sein Opfer etwas wusste, was es nicht verraten wollte«, ergänzte Helwig. »Womit wir wieder bei den Drogenkartellen wären. Vielleicht gibt es auf St. Pauli ja tatsächlich einen neuen Bandenkrieg, von dem wir noch nichts mitbekommen haben.«

»Wundern würde es mich nicht.« Leitner streckte sich. »Bei den riesigen Kokainmengen, die sie mittlerweile regelmäßig im Hafen sicherstellen.«

»Ob das zutrifft, werden wir sehen«, bremste Moses erneut. »Konzentrieren wir uns auf das, was wir bislang wissen.«

Und das ist so gut wie nichts, musste sich Moses eingestehen. Die forensische Untersuchung des Tatorts war zwar noch nicht abgeschlossen, aber der erste Bericht der Kollegen war enttäuschend. Bislang gab es keinerlei verwertbare Hinweise auf den Täter.

»Was ist eigentlich mit den Kippen?«, warf Helwig in die Runde. »Einige der Verletzungen sehen doch eindeutig nach Verbrennungen von Zigaretten aus.« Bevor jemand nachfragen konnte, weshalb sie sich so gut auskannte, fügte sie eilig hinzu: »Das wäre doch ein Ansatz! Wenn wir eine Speichelprobe hätten, kämen wir weiter.«

Moses schüttelte den Kopf. »Sie müssten im vorläufigen Bericht selbst gelesen haben, dass es am Tatort bislang keine konkreten Spuren gibt. Oder zu viele, je nachdem, wie man es nimmt. Es gibt nichts, was sich eindeutig dem Täter zuordnen lässt. Schließlich wird das Haus sowohl von Jugendlichen als auch von Obdachlosen als Unterschlupf genutzt.«

»Wäre auch zu einfach gewesen«, brummte Helwig.

Moses lehnte sich zurück und blickte in die Runde. Die Nacht steckte ihm in den Knochen, und er sehnte sich nach einem richtigen Kaffee und nicht nach dem bitteren, lauwarmen Gebräu aus der Gemeinschaftsmaschine, das Leitner vor seinen Augen trank. Ihm fiel ein, dass in seiner Schreibtischschublade noch ein Rest der jamaikanischen Kaffeebohnen sein musste, die er über das Internet direkt vom Erzeuger, einer kleinen Farm in den Blue Mountains, bezog. Während der Jagd auf einen Serienmörder, den die Presse den »Puppenmacher« getauft hatte, hatte er den Kaffee kennen und schätzen gelernt.

»Eins verstehe ich nicht«, meldete sich Viteri zu Wort. »Das muss doch jemand mitbekommen haben. Diese Folter, meine ich. Die Schreie muss doch jemand gehört haben.«

»Der junge Mann konnte vermutlich gar nicht schreien«, gab Moses zu bedenken. »Es würde mich nicht wundern, wenn im Labor noch Reste von Klebeband oder einem Knebel gefunden würden.«

»Trotzdem«, sprang Leitner seinem jüngeren Kollegen bei. »Er hat recht: Der Täter muss ewig gebraucht haben, um seinem Opfer all diese Verletzungen zuzufügen. So wie ich das mitbekommen habe, sind die drei Jugendlichen, die die Leiche gefunden haben, nicht die Einzigen, die in dieser Bruchbude ein und aus gehen.«

»Stimmt, das ist nicht gerade der perfekte Ort für eine stundenlange Hinrichtung«, sagte Elvers. »Der Mörder muss wirklich Nerven haben.«

»Das bereitet mir ebenfalls Kopfzerbrechen«, gestand Moses. »So nervenstark agiert kein Amateur. Umso wichtiger ist es, dass wir die Zeit nutzen und loslegen. Sie nehmen sich bitte noch einmal die Datenbanken vor«, sagte er an Viteri gewandt. »Auch international. Suchen Sie nach Fällen, die Ähnlichkeiten mit dem unseren aufweisen.«

»Sie meinen den Hühnerfuß?« Viteri nahm seine Brille ab, putzte sie an seinem Pullover und setzte sie wieder auf.

»Den auch«, sagte Moses. »Ansonsten will ich alle zugänglichen Informationen über den jungen Mann. Vielleicht gibt es doch noch irgendwo nähere Angehörige. Außerdem will ich alles über die Eigentümer der Hausruine.« Dann sah er Elvers an. »Und Sie reden bitte mit den Kollegen von der Drogenfahndung. Vielleicht war Mattis ja ihr Informant, und es bahnt sich tatsächlich ein Drogenkrieg an.«

Elvers nickte.

»Und was mache ich?« Leitner reckte sich und gähnte demonstrativ.

»Sie fahren in die Friedrichstraße und hören sich in der Nachbarschaft um. Klingeln Sie an den Haustüren Vielleicht gibt es ja jemanden, der in der letzten Zeit eine Beobachtung gemacht hat.«

»Allein?!«

»Nein, nehmen Sie ein paar Streifenbeamte mit. Außerdem sollten Sie noch einmal mit den Jugendlichen reden, die den Toten gemeldet haben. Und wir«, sagte Moses an Helwig gerichtet, »sehen uns die Wohnung des jungen Mannes an.«

Er ließ den Blick von einem Kommissar zum anderen wandern. »Irgendwelche Fragen?«

Als er keine Reaktion erhielt, löste er die Besprechung auf. »Also gut, gehen wir an die Arbeit!«, sagte er, während er damit begann, die Berichte und Fotos auf dem Tisch zusammenzusuchen. Stühle wurden gerückt, und die Kommissare verließen einer nach dem anderen den Raum. Allein Helwig blieb sitzen.

»Worauf warten Sie?«, fragte Moses verwundert.

Helwig schwieg und spielte mit einem Stift, schließlich hob sie den Kopf und sah ihm in die Augen.

»Glauben Sie, der arme Kerl hat lange gelitten?«, fragte sie ungewohnt zaghaft.

»Der vorläufige Bericht schätzt die Zeit bis zum endgültigen Eintritt des Todes auf etwa zwei Stunden. Eher kürzer.«

»Schöner Trost.« Helwig verzog das Gesicht. »Wenn Sie mich fragen, ist der Täter nicht nur ein brutaler Sadist. Der Typ muss völlig verrückt sein, wenn er das auch noch mitten in der Stadt durchzieht. Als würde er es darauf anlegen, erwischt zu werden.«

Genau das war der Punkt, dachte Moses. Etwas, das ihn – von dem seltsamen Hühnerfuß einmal abgesehen – mehr verwirrte und beunruhigte als alles andere. Weshalb hatte der Mörder ausgerechnet diesen Ort für seine Tat gewählt? Er musste gewusst haben, dass die Jugendlichen des Viertels, Drogensüchtige und Obdachlose in dem leer stehenden Haus ein und aus gingen. Er hätte jederzeit überrascht werden können. Warum war der Täter dieses Risiko eingegangen? Und wenn der langsame Tod des jungen Mannes eine offene Warnung darstellen sollte – an wen war diese Drohung dann gerichtet?

3.

Helwig räusperte sich und deutete an den quietschenden Scheibenwischern vorbei auf die Straße. Seit sie im Präsidium in den Wagen gestiegen waren, hatte sie keinen Laut mehr von sich gegeben.

»Da vorne«, knurrte sie. »Das muss es sein.«

Moses verbarg seine Erleichterung, denn das Schweigen seiner sonst so kommunikativen Kollegin hatte ihm bereits Sorgen bereitet. Er nahm den Fuß vom Gaspedal und beugte sich über das Lenkrad, um einen besseren Blick auf das mehrstöckige Wohnhaus werfen zu können. Er wusste nicht, was er von der Kiezadresse Kastanienallee erwartet hatte. Jedenfalls kein frisch renoviertes Gründerzeit-Haus mit einer strahlend weißen Fassade. Helwig schien seine Gedanken zu erraten.

»Nicht übel für einen Kleindealer«, staunte sie. »Offenbar liefen die Geschäfte richtig gut.«

»Noch wissen wir nicht, ob er auch mit Drogen gehandelt hat«, gab Moses zu bedenken.

Er parkte den Wagen auf der gegenüberliegenden Seite unter den Bäumen. Es waren tatsächlich Kastanien. Auch wenn die Bäume zu dieser Jahreszeit noch keine Blätter trugen und nicht gerade von imposanter Größe waren, verliehen sie der Kiezstraße doch etwas beinahe Beschauliches. Dass jenseits des Häuserblocks Nacht für Nacht das Partyleben über die Reeperbahn wogte und nur ein Stück weiter die Straße runter jegliche Behaglichkeit im grellen Neongekreische der Bierstuben und Sexclubs ertrank, ließ sich hier nur erahnen. Ebenso wie der Umstand, dass nur wenige Gehminuten von hier ein junger Mann grausam ermordet worden war.

»Bingo! Er wohnte tatsächlich hier.« Helwig deutete auf das polierte Klingelschild. »Klingeln wir uns rein?«

»Ich denke, das wird nicht nötig sein«, sagte Moses, denn in diesem Moment öffnete sich die Haustür. Eine junge schwarze Frau kam mit einer leeren Einkaufstasche aus dem Haus. Sie hatte es offenbar eilig, denn sie bemerkte die Kommissare erst im letzten Moment. Sie zuckte zurück und riss erschrocken die Augen auf. Dann drückte sie sich mit eingezogenem Kopf hastig an ihnen vorbei.

»Mit der stimmt was nicht«, sagte Helwig, während sie der jungen Frau nachsahen, die in Richtung Friedrichstraße davoneilte. »Ich wette, die ist illegal hier. Deshalb rennt sie davon.«

»Sie kann nicht wissen, wer wir sind«, gab Moses zu bedenken, woraufhin Helwig nur trocken lachte.

»Wenn Sie illegal hier leben würden, könnten Sie auch jeden Beamten auf hundert Meter Entfernung riechen. Das garantiere ich Ihnen!«

»Vielleicht haben Sie recht«, räumte Moses ein. »Aber im Moment interessiert uns etwas anderes. Also gehen wir.«

Er hatte die zufallende Tür mit einer Hand aufgehalten, jetzt schob er sie wieder auf. Im Treppenhaus setzte sich der äußere Eindruck des Hauses fort. Alles war blitzsauber, es roch förmlich nach neu. Mattis’ Wohnung mussten sie nicht lange suchen. Sie befand sich gleich im ersten Stockwerk.

Helwig drückte auf den in die Wand eingelassenen Klingelknopf. Als niemand öffnete, klopfte sie energisch gegen die Wohnungstür.

»Hallo? Jemand zu Hause? Hier ist die Polizei!«

Moses und Helwig warteten erneut, aber wieder rührte sich nichts. Stattdessen hörten sie hinter sich eine Stimme.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Sie drehten sich um. In der Tür der Nachbarwohnung stand ein älterer schmächtiger Mann mit schütterem Haar. Er trug einen gestreiften Bademantel und hatte plüschige Pantoffeln an den Füßen.

»Das können Sie tatsächlich«, sagte Moses kurz entschlossen. »Gibt es in diesem Haus so etwas wie einen Hausmeister?«

»Der bin ich«, antwortete der Mann misstrauisch. »Nebenbei. Und nur, wenn was ist.«

»Umso besser!« Moses wies sich aus. »Kriminalpolizei. Wir benötigen einen Schlüssel für diese Wohnung.«

»Aber …«

»Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit«, mischte sich Helwig ungeduldig ein. »Haben Sie einen Zweitschlüssel oder nicht?«

Der Mann blickte sie erschrocken an. »Ja. Doch. Natürlich«, stotterte er.

Er drehte sich um, schlurfte in seine Wohnung, und kurz darauf kehrte er mit einem Schlüssel zurück.

»Der passt überall«, sagte er schulterzuckend und schloss die Wohnungstür auf.

»Vielen Dank«, sagte Moses. »Sie haben uns sehr geholfen.«

»Aber, dürfen Sie überhaupt …?«

»Danke für Ihre Mithilfe«, wiederholte Helwig mit Nachdruck. Sie setzte ein Gesicht auf, das keinen Widerspruch duldete.

Der Mann warf Moses einen verunsicherten Blick zu. Er zögerte, doch am Ende verschwand er leise schimpfend in seiner Wohnung und knallte die Tür zu.

»Sie hätten ruhig etwas freundlicher sein können«, meinte Moses.

»Ach was!«, winkte Helwig ab. »Der wäre uns doch aus Neugier immer weiter auf den Pelz gerückt. Ich kenne diese Typen: Rentner mit Kohle und jeder Menge Langeweile.«

Moses konnte dem nicht viel entgegensetzen. Also sah er sich in der Wohnung um. Er staunte nicht schlecht. Vier großzügige Zimmer auf geschätzten hundertzwanzig Quadratmetern. Dielenparkett, Designerküche und ein schickes Bad inklusive. Im Innenhof gab es sogar einen nachträglich angebauten Stahlbalkon samt Feuerleiter. Eines war jedoch ungewöhnlich. Die Zimmer wirkten fast kahl, an den Wänden hingen keinerlei Bilder, und die wenigen Möbel waren augenscheinlich neu.

»Sieht so aus, als sei er gerade erst eingezogen«, stellte Helwig nüchtern fest. »Offenbar hat unser kleiner Dealer vor Kurzem im Lotto gewonnen.«

»Das glauben Sie doch nicht ernsthaft, oder?«

»Natürlich nicht! Hier ist definitiv was faul. Haben Sie den Koffer gesehen?«

»Den auf dem Bett im Schlafzimmer?« Moses hatte ihn bei ihrem ersten Rundgang durch die Wohnung bemerkt.

»Vielleicht ist er gepackt, und Mattis wollte abhauen. Ich werfe mal einen Blick rein.«

»Tun Sie das! Ich sehe mich in der Zwischenzeit etwas weiter um.«

Während sich Helwig ins Schlafzimmer verzog, ging Moses noch einmal ins Bad. Etwas hatte ihn stutzig gemacht. In dem Moment, in dem er vor das Waschbecken trat, wusste er, was ihm auf den ersten Blick entgangen war. Als er daraufhin den Spiegelschrank öffnete, hörte er Helwig aus dem Schlafzimmer rufen.

»Hey, kommen Sie mal her! Das müssen Sie sich unbedingt ansehen.«

Moses schloss das Schränkchen und begab sich nach nebenan ins Schlafzimmer. Helwig hatte den Koffer auf dem Bett geöffnet. Jetzt hielt sie mit spitzen Fingern einen schwarzen Spitzen-BH in die Höhe.

»Also wenn Sie mich fragen, ist dieser Mattis entweder eine Transe, oder er wohnt nicht allein hier.«

Moses warf einen Blick in den gepackten Koffer. Es handelte sich ausschließlich um Frauenkleidung. »Ich denke, der junge Mann hatte eine Freundin oder Mitbewohnerin. Im Bad stehen zwei Zahnbürsten und im Schrank sind jede Menge Kosmetika.«

Helwig ließ den BH zurück in den Koffer fallen. »Dann sollten wir uns schleunigst mit dieser Freundin unterhalten. Vielleicht weiß sie, mit wem Mattis eine Rechnung offen hatte.«

»Der Meinung bin ich auch. Ich hoffe nur, dass sie in der Zwischenzeit nicht untergetaucht ist.«

»Weil sie bereits weiß, was mit ihrem Lover geschehen ist?«

»Denkbar wäre es.«

»Aber warum sind ihre Klamotten dann noch hier?« Helwig zeigte auf den offenen Koffer, der vor ihnen auf dem Doppelbett lag.

»Gute Frage. Am besten, wir lassen die Wohnung beobachten.«

»Und was ist mit der Spurensicherung?« Helwig ließ ihren Blick durch das helle Schlafzimmer wandern.

»Die halten wir noch ein wenig zurück«, entschied Moses nach kurzem Überlegen. »Wenn Mattis’ unbekannte Mitbewohnerin zurückkommt und es hier von Polizei wimmelt, verschwindet sie womöglich auf Nimmerwiedersehen.«

Sein Blick blieb an dem sündhaft teuren Flachbildschirm hängen, der an der Wand gegenüber vom Bett hing und beinahe Kinoformat hatte. Für ihn stand mittlerweile außer Frage, dass der vorbestrafte Kleindealer in etwas Größeres verwickelt gewesen sein musste. Vielleicht hatte er tatsächlich Kontakt zur organisierten Kriminalität gehabt. Vielleicht war er sogar selbst Mitglied. Jedenfalls hatte er das Geld für diese Wohnung ganz sicher nicht auf legale Weise erworben. Das sagte ihm allein sein Gefühl.

Moses spürte, wie sein Handy in der Manteltasche vibrierte. Auf dem Display stand Julianes Nummer.

»Bin gleich wieder da!«, rief er Helwig zu.

Dann ging er in den Flur, um das Gespräch ungestört entgegenzunehmen.

»Guten Morgen.«

»Hallo«, hörte er Juliane sagen. »Wie war deine Tagung in Flensburg? Ich dachte, sie wäre gestern Nachmittag zu Ende gewesen.«

Der vorwurfsvolle Unterton war nicht zu überhören.

»Das war sie auch«, räumte Moses ein. »Aber ich habe den Zug verpasst. Außerdem habe ich einen neuen Fall.«

Juliane sog hörbar Luft ein. »Dann bist du vom Bahnhof aus ins Präsidium gefahren? Obwohl du gestern frei hattest?«

»Na ja, nicht direkt«, sagte Moses. »Ich hatte mein Diensthandy dabei, und da habe ich eben mitbekommen, was los ist.«

»Und da konntest du natürlich nicht widerstehen.« Juliane stöhnte. »Du bist wirklich unverbesserlich! Ich habe den ganzen Abend auf dich gewartet.«

Moses schwieg. Was sollte er auch sagen? Wie sollte er Juliane erklären, dass er Angst vor dieser einen sogenannten »letzten Nacht« gehabt hatte. Angst davor, den unvermeidlichen Abschied auch noch zu zelebrieren. Irgendetwas in seinem Inneren hatte sich geradezu panisch gegen die Vorstellung gewehrt. Am Ende hatte er es nicht einmal fertiggebracht, sie nach seiner Rückkehr anzurufen. Stattdessen hatte er sich zur Verwunderung seiner diensthabenden Kollegen darum gerissen, den neuen Fall übernehmen zu können.

Moses konnte spüren, dass Juliane ihre Enttäuschung und Verunsicherung am anderen Ende der Leitung zu verbergen versuchte.

»Ich hoffe, du hast wenigstens nicht vergessen, dass ich nachher zum Flughafen muss«, sagte sie.

»Wie könnte ich?«, sagte Moses schnell. »Bist du denn schon fertig?«

»Ich sitze seit gestern Abend auf gepackten Koffern. Aber wenn du beschäftigt bist, kann ich mir auch ein Taxi nehmen.«

»Nein, nein!«, entschied Moses. »Selbstverständlich bringe ich dich hin. Schließlich werden wir uns monatelang nicht sehen. Ich bin spätestens um zwölf bei dir.«

Moses legte auf und sah auf seine Schweizer Armbanduhr, ein Geschenk seines verstorbenen Adoptivvaters. Er war im Dienst, und er hatte einen neuen Fall. Eigentlich durfte er es sich gar nicht erlauben, nach Fuhlsbüttel rauszufahren. Missmutig kehrte er in das Schlafzimmer zurück, wo sich Helwig in der Zwischenzeit keinen Zentimeter von der Stelle gerührt hatte. Es war offensichtlich, dass sie die Ohren gespitzt und gelauscht hatte.

»Und?«, fragte sie mit gespieltem Desinteresse. »Gibt’s Probleme?«

»Nicht der Rede wert«, winkte Moses ab. »Alles in Ordnung.«

Wenn er gedacht hatte, die Sache wäre damit erledigt, so hatte er sich getäuscht. Helwig ließ nicht locker.

»Monatelang?« Sie machte ein erstauntes Gesicht. »Das hört sich ja dramatisch an. Macht Ihre Freundin etwa Urlaub am Nordpol? Oder muss sie eine Haftstrafe absitzen?«

»Nichts dergleichen«, grummelte Moses widerwillig. »Sie fliegt nach Papua-Neuguinea.«

Jetzt schossen Helwigs Augenbrauen in die Höhe. »Im Ernst? Das ist am Arsch der Welt. Was macht man denn da? Monatelang?«

»Sprachen erforschen.«

»Sprachen erforschen?« Helwig schüttelte ungläubig den Kopf. »Verrückt. Ich habe mal gelesen, dass es dort vielleicht noch Kannibalen gibt. Stand in so einem Wissenschaftsmagazin. Also, ich würde mich ja nicht gerne mit denen unterhalten …«

»Lassen wir das!«, sagte Moses strenger als beabsichtigt. Verärgert streifte er sich die mitgebrachten Latexhandschuhe über. »Sehen wir lieber nach, ob wir Fotos oder irgendwelche Dokumente finden. In der Wohnung hier muss es schließlich etwas geben, das uns weiterbringt.«

Helwig rührte sich nicht vom Fleck. Sie sah Moses an, als versuche sie seine Gedanken zu ergründen. Schließlich stieß sie einen leisen Seufzer aus und folgte seinem Beispiel. Sie zog ebenfalls Handschuhe an, dann begannen sie gemeinsam damit, die Wohnung zu durchsuchen. Zu finden gab es nicht viel. Im Kühlschrank herrschte, von einem einsamen Bio-Joghurt abgesehen, gähnende Leere, und im Schlafzimmerschrank hing außer einem kurzen Kleid, das offenbar nicht mehr in den Koffer gepasst hatte, nur noch Kleidung, die dem ermordeten jungen Mann gehört haben musste. Persönliche Dinge gab es so gut wie nicht, ebenso wenig wie Fotos. Dafür entdeckten sie in einem Nebenraum einen unausgepackten Karton mit Dokumenten. Darunter befanden sich ein drei Monate alter Mietvertrag sowie alte Bescheide vom Jugendamt.

»Allem Anschein nach ist Mattis in einem Lübecker Jugendheim aufgewachsen«, stellte Moses fest, nachdem er einen Blick auf das Papier in seiner Hand geworfen hatte.

Helwig sah sich in dem spärlich möblierten Zimmer um. »Ich glaube, hier gibt es nicht viel zu holen. Weder Drogen noch Waffen. Wenn Sie mich fragen, sieht das hier nicht nach Gangmitglied aus. Zumindest nicht auf den ersten Blick.«

»Was haben Sie erwartet?«, fragte Moses amüsiert. »Maschinenpistolen und eine Badewanne voll Koks? Soweit wir bislang wissen, war Jan Mattis lediglich ein junger Mann, der das Pech hatte, mit den Hosentaschen voller Cannabis erwischt zu werden.«

Helwig zuckte mit den Schultern. »Man hat schon Pferde kotzen sehen. Übrigens, ist Ihnen schon aufgefallen, dass hier etwas fehlt?«

Moses nickte. »Der Computer. Bei einem jungen Kerl wie Mattis sollte man einen vermuten.«

Weder war ein Laptop zu finden noch ein PC, nicht einmal ein Ladekabel für ein Handy. Es gab auch keinen weiteren Hinweis auf die Besitzerin des gepackten Koffers. Jetzt würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als sich auf die Lauer zu legen und zu hoffen, dass die Unbekannte ihr Gepäck möglichst bald abholte. Er warf einen nervösen Blick auf seine Uhr.

»Müssen Sie schon los?«, fragte Helwig.

Moses sah sie verdutzt an.

»Ich dachte, Sie haben Ihrer Freundin versprochen, sie zum Flughafen zu bringen«, sagte Helwig mit einem unergründlichen Lächeln. »Sie wartet sicher.«

Moses war die demonstrative Anteilnahme seiner jungen Kollegin nicht geheuer. Und nicht nur, weil jegliche Sentimentalität zu ihr passte wie ein Blümchenhalsband zu einem Pitbull. Da war vor allem dieser Blick, der ihm gar nicht behagte. Er erinnerte ihn daran, dass er schon einmal beinahe zu weit gegangen war, weil er seine Gefühle für einen Moment nicht unter Kontrolle gehabt hatte.

»Wenn Sie wollen, übernehme ich das hier«, erlöste ihn Helwig. »Ich unterhalte mich währenddessen mal mit den Nachbarn.« Sie zwinkerte verschwörerisch. »Keine Sorge! Von mir erfährt niemand etwas.«

Moses befand sich in einer Zwickmühle. Er war im Dienst und er hatte einen brutalen Mörder zu jagen. Zudem trieb ihm allein der Gedanke, dass sich Helwig in sein Privatleben einmischte und ihn »deckte«, Schweißperlen auf die Stirn. Auf der anderen Seite hatte er Juliane versprochen, sie zum Flughafen zu bringen. Obendrein wollte er sie wenigstens noch einmal sehen. Unbedingt. Wenn er wieder davonlief, würde er seine Feigheit ewig bereuen.

»Also gut«, sagte er. »Kümmern Sie sich bitte um alles Weitere. Ich bin in zwei Stunden zurück. Wir treffen uns im Präsidium, dann können Sie mir Bericht erstatten.«

»Geht klar.«

»Und noch etwas!«

»Ja?«

Moses räusperte sich. »Sie brauchen den Kollegen keinen Bären aufzubinden. Es reicht, wenn Sie einfach gar nichts sagen. Also bitte keine Lügenmärchen!«

Dann zog er die Handschuhe aus und verließ die Wohnung. Helwigs verschwörerisches Grinsen verfolgte ihn noch bis auf die Straße hinaus.

4.

Kaum hatte Moses die Wohnungstür hinter sich zugezogen, stieß Katja einen tiefen Seufzer aus. Obwohl sie nun schon seit fast einem Jahr zusammenarbeiteten und sie ihm verdankte, dass sie überhaupt im Morddezernat arbeiten durfte, wurde sie nicht schlau aus ihm. Dabei war sie sonst gut darin, hinter die Fassade zu blicken und Leute einzuschätzen. Wenn man, so wie sie, im Ohlsdorfer Affenfelsen aufgewachsen war, gehörte diese Fähigkeit von Kindesbeinen an zum Einmaleins des Überlebens. Aber ihr Chef war ihr nach wie vor ein Rätsel. Manchmal benahm er sich ihr gegenüber wie ein arroganter Schnösel, dann kam er ihr wieder wie ein großes, verunsichertes Kind vor, das vor der Welt auf der Flucht war, ohne es zugeben zu wollen. Und da war noch diese geheimnisvolle Aura, die ihn umgab und ihn in ihren Augen so unverschämt anziehend machte. Oder war es nur sein durchtrainierter Körper?

Helwig griff nach ihrem Diensthandy und schalt sich selbst eine unverbesserliche Närrin. Sie war nicht Polizistin geworden, um sich in ihren Chef zu verlieben. Sie war Polizistin geworden, um die Dreckskerle dieser Welt zur Rechenschaft zu ziehen. Das hatte sie sich jedes Mal geschworen, wenn sie wieder einmal Prügel bezogen hatte. Sie schüttelte sich, dann sah sie sich unschlüssig in der Wohnung um. Schließlich kehrte sie, ohne zu wissen, warum, ins Schlafzimmer zurück, wo der Koffer mit der Frauenwäsche offen auf dem Bett lag. Sie nahm einen Tanga heraus und fragte sich, wem er wohl gehören mochte. Der Stofffetzen war aus rotem, mit Spitze besetztem Satin und nicht einmal groß genug, um als Feigenblatt durchzugehen. Sie würde nie verstehen, warum Männer auf solch einen lächerlichen Firlefanz standen. Und noch weniger verstand sie, warum Frauen sich freiwillig zum Püppchen degradierten.

Sie warf das Höschen zurück in den Koffer und ließ ihren Blick durch das Zimmer wandern. Der weiß lackierte Kleiderschrank war eindeutig ein Designerstück und ein geschmackvolles noch dazu, wie sie neidvoll zugeben musste. Abgesehen davon, dass er nicht in ihre kleine Zweizimmerwohnung passen würde, würde sie sich ein solches Möbelstück von ihrem Gehalt niemals leisten können. Umso mehr fühlte sie sich in ihrer Überzeugung gestärkt, dass der junge Mann, der hier gewohnt hatte und jetzt in Eppendorf in einem Kühlfach der Gerichtsmedizin lag, in etwas Größeres verwickelt gewesen sein musste. Und das konnten in ihren Augen nur Drogen sein. Auch wenn laut dem ersten Obduktionsbericht nur eine geringe Menge Marihuana im Blut des Toten nachgewiesen werden konnte – es passte einfach zu gut. Vielleicht war er einfach nur clever genug, selbst die Finger von dem Teufelszeug zu lassen. Drogen und Geschäft vertrugen sich nicht miteinander.

Plötzlich horchte Helwig auf. Was war das für ein Geräusch? Sie lauschte, aber als sie nichts mehr hörte, entspannte sie sich wieder. Vermutlich trieb sich der Nachbar im Hausflur herum, weil er es vor Neugier nicht mehr aushielt. Eine gute Gelegenheit, sich den Mann einmal vorzuknöpfen, dachte sie grimmig. Helwig verließ das Schlafzimmer und trat auf den Flur hinaus. Zu ihrer Überraschung stand die Wohnungstür offen, obwohl sie sicher war, dass Moses sie hinter sich zugezogen hatte. Sie fuhr herum, während ihre rechte Hand reflexartig unter die Lederjacke glitt, wo sie ihre Dienstwaffe trug Die Tür zum Bad stand ebenfalls einen Spaltbreit offen, obwohl sie hätte schwören können, dass auch sie zuvor geschlossen gewesen war. Also zog sie ihre Dienstwaffe aus dem Schulterholster und holte tief Luft. Als sie sich genügend für eine böse Überraschung gewappnet fühlte, verpasste sie der Tür einen Fußtritt, sodass sie aufflog. Gleichzeitig sprang sie mit vorgehaltener Waffe in das Badezimmer und schrie: »Halt, Polizei!«

Das schwarze Etwas kam aus dem Nichts auf sie zugeflogen und traf sie mitten im Gesicht. Helwig stolperte rückwärts, dann knallte sie mit dem Hinterkopf gegen den Türrahmen, und die Waffe fiel ihr aus der Hand. Mit einem Stöhnen sackte sie zu Boden, ihr Kopf schien zu explodieren. Alles drehte sich und verschwamm vor ihren Augen. Als sie einen Schatten wahrnahm, der über sie hinwegstieg, packte sie zu. Es war ein Hosenbein. Obwohl sie das Gefühl hatte, als würde jemand unaufhörlich mit einem Knüppel auf ihren Schädel eindreschen, ließ sie nicht los. Wenn sie als ehemalige Kickboxerin nicht gelernt hätte, einiges einzustecken, hätte sie in diesem Moment sicher das Bewusstsein verloren. So aber krallte sie ihre Finger in den Hosenstoff. Sie war wild entschlossen, das Bein auf keinen Fall loszulassen.

5.

Moses staunte nicht schlecht. »Das willst du alles mitschleppen? Im Ernst?«

Juliane kniete auf dem Boden vor einer geöffneten Aluminiumkiste. Sie hatte ihre Haare hochgesteckt und trug khakifarbene Tropenkleidung, was Moses irgendwie störte. Mit dem Finger auf der Checkliste ging sie den Inhalt ihres Expeditionskoffers durch:

»Medikamente – ja; Verbandszeug – ja; Laptop, Akkus und Solarladegeräte – ja; GPS-Empfänger – ja; Fotoapparat – ja; Speichermedien mit wissenschaftlicher Literatur – ebenfalls ja. Pistole –«

»Pistole?« Moses war alarmiert. »Wozu brauchst du eine Waffe? Ich dachte, das ist eine Forschungsreise, und du hasst Waffen!«

»Es ist nur eine Signalpistole«, lachte Juliane gut gelaunt. Sie war bereits im Reisefieber. »Sören hat mich gebeten, eine zu besorgen. Nur für den Notfall. Also mach dir keine Sorgen.«

Sören! Wie oft hatte er in den letzten Wochen und Monaten den Namen gehört. Sören Eriksen war der Leiter der Expedition und Ethnologie-Professor an der Universität Kopenhagen. Er hatte den Mann nie persönlich kennengelernt, da die Forschungsreise ein Projekt verschiedener europäischer Universitäten war und die Vorbereitungstreffen meist in Dänemark oder den Niederlanden stattgefunden hatten. Moses nahm an, dass der Mann eine Art Indiana Jones der Völkerkunde war. Jedenfalls schwärmte Juliane geradezu von ihm, obwohl das ansonsten nicht ihre Art war.

Moses warf einen ungeduldigen Blick auf seine Uhr. »Wir müssen uns langsam beeilen! Sonst verpasst du noch deinen Flieger.«

»Bin schon fertig!«

Juliane klappte den Deckel der Expeditionskiste zu und schloss sie sorgfältig ab. Nachdem sie sich den Schlüssel an einer dünnen Lederschnur um den Hals gehängt hatte, erhob sie sich und strahlte ihn an: »Von mir aus können wir!«

Moses war genervt. Konnte sie es denn gar nicht erwarten, von ihm fortzukommen? Er deutete auf die große Aluminiumkiste.

»Ich weiß nicht, ob ich dieses Ungetüm überhaupt in den Wagen kriege«, murrte er verdrossen.

Juliane verdrehte die Augen. »Das wird schon gehen. Du bist immer so schrecklich pessimistisch!«

»Vielleicht liegt das an meinen Beruf«, brummte Moses.

Er ging in die Knie und packte die Kiste mit beiden Händen. Sie war verflucht schwer.

»Soll ich dir helfen?«, fragte Juliane.

»Nein, nein, das schaffe ich schon«, presste Moses zwischen den Zähnen hervor.

»Aber pass auf deinen Rücken auf«, ermahnte ihn Juliane augenzwinkernd.

Wie er diese Kommentare hasste! Während Juliane mit ihrem riesigen Rucksack voranlief, schaffte Moses es irgendwie, die unhandliche Kiste durch das Treppenhaus auf die Straße und anschließend in den Wagen zu bugsieren. Schwer atmend wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Er kam sich wie ein Möbelpacker vor. Abgesehen davon verstieß er gerade gegen die Dienstvorschrift. Es war strikt untersagt, den Dienstwagen für private Zwecke zu benutzen. Und das galt erst recht während der Dienstzeit. Für jemanden wie ihn, der unter Kollegen als Prinzipienreiter verschrien war – ein Ruf, auf den er durchaus stolz war –, kam das Verstoßen gegen die Dienstvorschrift einer harten Prüfung gleich. Schlecht gelaunt setzte sich Moses hinter das Steuer. Da sich auf der A7