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Über dieses Buch:

Diese Frau ist ein regelrechter Wirbelwind … Die patente Josephine Hasemann will nur eins: Ihr Gatte Gerd und ihre erwachsene Tochter Julia sollen es schön haben - und zwar immer und überall! Damit ist Frau Hasemann vollauf beschäftigt, und sie hat es lange genossen, dies als Sinn ihres Lebens zu feiern. Doch nun meldet sich plötzlich eine kleine freche Stimme in ihrem Hinterkopf: Soll das wirklich alles gewesen sein? Während Josephines Gedanken beginnen, wie wildgeworden Tango zu tanzen, passieren drei Dinge, die das Leben der Hasemanns durcheinanderwirbeln … und die Adoption eines kleinen Schweinchens namens Happy ist noch das Harmloseste!

Über die Autorin:

Silke Schütze, geboren 1961, lebt in Hamburg. Nach ihrem Studium der Philologie arbeitete sie unter anderem als Pressesprecherin, Chefredakteurin und Produzentin. Silke Schütze hat zahlreiche Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht und hält Schreiben für die zweitschönste Sache der Welt. 2008 wurde sie vom RBB und dem Literaturhaus Berlin mit dem renommierten Walter-Serner-Preis ausgezeichnet.

Silke Schütze veröffentlichte bei dotbooks bereits die Romanbiographie »Die Sängerin von Berlin« sowie für alle Leserinnen und Leser mit Herz für feinen Humor die Familie-Hasemann-Abenteuer »Frau Hasemann feiert ein Fest«, »Herr Hasemann auf Wolke 7« und »Die Hasemanns auf großer Fahrt« und das vorliegende eBook »Frau Hasemann findet das Glück«.

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Originalausgabe April 2020

Copyright © der Originalausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Michelle Landau

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/area381, Lucie Lang, Aura Yoshi, Maya Kruchankova

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-95520-802-8

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Silke Schütze

Frau Hasemann findet das Glück

Roman

dotbooks.

KAPITEL 1
Happy

Im Stall war es warm und schummrig. Die Ferkel fiepten leise, einige schliefen, während andere über sie stiegen und sich nach vorne drückten. Alle wollten näher zu der Muttersau, die in der engen Box schnaufend auf der Seite lag. Das kleinste Ferkel hatte es endlich geschafft, sich bis an eine Zitze vorzudrängeln, und fühlte die warme Milch in sein Schnäuzchen sprudeln.

Plötzlich grelles Licht, menschliche Stimmen, raues Gelächter. Das Ferkelchen verschluckte sich. Die schlafenden Tiere schreckten auf, alle purzelten übereinander, blinzelten verdutzt und verschreckt in die Helligkeit. Menschenhände griffen nach ihnen, packten zu, wo immer es möglich war. Am Bauch, am Rücken, an den Ohren. Das Kleinste wurde am linken Beinchen erwischt und in die Höhe gehoben. In der Luft war es viel kühler als in der Box bei den anderen. Das Ferkel zitterte vor Aufregung und Kälte und versuchte, sich dem Griff zu entwinden. Seine Bewegungen machten es den menschlichen Händen schwer, das kleine Wesen festzuhalten, und gezischte Flüche mischten sich unter das aufgeregte Fiepen der Ferkel. Doch es kam noch schlimmer: Das Ferkelchen wurde undicht - und ein warmer Strahl sprühte dem fluchenden Menschen im hohen Bogen entgegen.

»Jetzt pinkelt mich dieses kleine Mistvieh auch noch an!« Die Hand, die das Schweinchen gehalten hatte, pfefferte es nun in den Laderaum eines Kastenwagens. Hier waren noch mehr Ferkel, viel mehr. Kleine, aber auch größere. Auf jeden Fall größer als unser Ferkelchen, das jetzt rutschend und strampelnd auf runde Rücken und Köpfe plumpste, abglitt und jammernd zu Boden fiel.

Jemand warf die Tür zu, und der Laster fuhr an. Die Tiere fielen und stolperten übereinander. Das kleine Ferkelchen wurde von den anderen fast erdrückt. Es war eng und stickig. Nur durch eine kleine geöffnete Luke auf halber Höhe in der Seitenwand drangen etwas Luft und ein wenig Licht ins Innere. Das Ferkelchen kämpfte sich auf die Beine und drängte sich zwischen die Größeren. Es hob den Kopf, wie magisch angezogen von der Öffnung über ihm. Es krabbelte auf die Schultern, Rücken und Köpfe der anderen, immer näher heran an die Luke. Als es sie erreicht hatte, stemmte es sich mit letzten Kräften noch einmal hoch. Tatsächlich gelang es ihm, ein Füßchen auf das schmale Sims der Luke zu stellen. Es pausierte kurz, um Atem zu schöpfen. Vielleicht würde es ihm gelingen, die Luke weiter zu öffnen und hinauszugelangen. Hinaus zu Licht und Luft. Vielleicht in die Freiheit.

KAPITEL 2
Die gelbe Tonne

Nichts an diesem Frühsommermorgen im norddeutschen Dorf Kiekeby, anderthalb Autostunden von Hamburg entfernt, wies darauf hin, dass sich das Leben von Familie Hasemann bald dramatisch ändern würde. Nichts.

Vielleicht hätte Frau Hasemann auffallen können, dass ihr Ehemann Gerd ausnahmsweise einmal selbst daran gedacht hatte, die gelbe Tonne für die Müllabfuhr auf die Straße zu stellen. Herr Hasemann hätte im Gegenzug die ungewöhnliche Schweigsamkeit seiner Frau ansprechen können. Aber an diesem Morgen waren alle Beteiligten offensichtlich zu sehr in eigene Gedanken versunken. Wer hätte aber auch ahnen können, dass gerade dieser Morgen, der sich in seinem routinierten Ablauf so gar nicht von den anderen Morgen unterschied, in ein Drama führen würde, das das Leben der Hasemanns auf einen Schlag und für lange Zeit komplett ändern würde?

Normalerweise beobachtete Frau Hasemann montags ihren Göttergatten unauffällig, aber sehr aufmerksam bei den Vorbereitungen zum Aufbruch ins Büro. Während sie selbstvergessen mit dem Schaum ihres Milchkaffees beschäftigt schien, verfolgte sie tatsächlich mit Adleraugen, ob Gerd sich heute endlich einmal erinnern würde, die gelbe Tonne vor das Haus zu schieben. Üblicherweise tat Gerd das nämlich nicht. Zwischen Schnürsenkel binden und Abschiedskuss fragte Frau Hasemann dann scheinheilig: »Du denkst daran, dass heute Montag ist, oder?« Sie hätte auch schlicht sagen können: »Vergiss bitte nicht, die gelbe Tonne auf die Straße zu stellen«, oder: »Stell bitte die gelbe Tonne auf die Straße.« Aber Frau Hasemann war eine Meisterin der feinen Zwischentöne und wollte ihrem Ehemann stets auf Augenhöhe begegnen. Dass Gerd - im Gegensatz zu Frau Hasemann - nicht den gesamten Montagmorgen an die gelbe Tonne dachte, war beiden klar, doch Frau Hasemann sah ihre mittlerweile über 20 Jahre währende Ehe als echte Partnerschaft zwischen zwei gleichberechtigten, verantwortungsvollen Menschen. Und dass Herr Hasemann seiner Frau in Sachen Haushaltslogistik und Familienmanagement nicht das Wasser reichen konnte, stand auf einem Blatt, das Frau Hasemann nur in Notzeiten hervorkramte.

Es hätte ihr also zu denken geben können, dass Herr Hasemann, nachdem er seine braunen Büroschuhe angezogen hatte, resolut zur Tat schritt und vor dem Abschiedskuss mit großer Selbstverständlichkeit die gelbe Tonne auf den Bürgersteig neben das Gartentor zerrte. Doch Frau Hasemann war unaufmerksam.

Anders als Herr Hasemann, dem die nachdenkliche Stimmung, mit der seine ihm angetraute Josefine durch diesen Morgen navigierte, auffiel und ihn irritierte. Sonst immer gut gelaunt und mit einer beneidenswerten Fröhlichkeit ausgestattet, hatte Frau Hasemann heute äußerst wortkarg in ihren Milchkaffee gestarrt. Hatte Gerd vielleicht etwas vergessen oder falsch gemacht? Aber der Hochzeitstag lag noch gar nicht lange zurück, Geburtstage und Urlaubsplanungen standen nicht an. Auch Tochter Julia hatte gerade gestern erst aus Hamburg angerufen, wo sie in einem kleinen Schneideratelier arbeitete. Mutter und Tochter hatten ein für beide offensichtlich hoch befriedigendes, nicht enden wollendes Telefonat über den Unterschied zwischen frischen und tiefgefrorenen Himbeeren geführt. Also konnte die Schweigsamkeit seiner Frau nichts mit ihrer einzigen Tochter zu tun haben. Was auch immer der Grund sein mochte, befand Gerd Hasemann, es war sicher eine gute Idee, die Laune von »Hasenpieps«, wie er seine Frau zärtlich nannte, aufzuhellen.

Bei diesem Gedanken fiel ihm ein, dass am Montag die gelbe Tonne geleert wurde. Perfekt! Hasenpieps würde sich sicher freuen, wenn er ganz ohne Aufforderung daran dachte, die Tonne auf die Straße zu schieben. Ein kleiner Liebesdienst, der auch anderen verborgenen Ehemann-Zwecken dienen könnte. Denn wie jeder Ehemann hatte Herr Hasemann stets ein paar geheime Pläne, die, sobald von ihm öffentlich gemacht, seine Frau mit Vernunft und Logik zu torpedieren versuchte. Besonders, wenn sie gereizt war oder er ihr Anlass zu Ärger gegeben hatte.

So war es beispielsweise auch seinem Traum von einem großen Trampolin im Garten ergangen, den er ihr unlängst offenbart hatte. »So ein Kinderkram!«, hatte Frau Hasemann gefaucht. »Das kannst du dann mit deinen zukünftigen Enkeln machen!« Und damit war das Thema ad acta gelegt - zumindest bis irgendwann wieder kleine Kinder im Haus waren. Was auf sich warten lassen würde, denn Tochter Julia hatte keinerlei Pläne, Mutter zu werden.

Im Nachhinein sah Herr Hasemann ein, dass er seiner Frau das Projekt Trampolin zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt präsentiert hatte. Frau Hasemann war nämlich mit ihrer Idee für den Kurs »Kochen wie in Frankreich - Mit den Hasemanns in den Süden« von den Landfrauen abgelehnt worden. Stattdessen sollte an dem Tag ein Ausflug in das Biosphärenreservat Niedersächsisches Wattenmeer angeboten werden.

»Die haben etwas gegen mich«, hatte Frau Hasemann geschluchzt und ihre Teilnahme an dem Ausflug verweigert. »Denk doch nur an unsere schönen Fotos aus Fréjus, von der Côte d’Azur, von diesem wunderbaren Bergsee Lac de Saint-Cassien - wir hätten im Gemeindesaal den Beamer nutzen können. Dieses Blau des Himmels und des Meeres … Wir hätten Dorade gegessen, Ratatouille gekocht, einen kühlen Rosé geschlürft, französische Chansons gehört - ah, la France! Da wäre mal ein mediterraner Wind durch unser Dorf geweht … Stattdessen stapfen jetzt alle mit den Gummistiefeln, die sie immer tragen, durch matschiges Watt, und im Bus riecht es nachher nach feuchtem Fleece«, hatte sie sich empört.

Warum Gerd zu diesem Zeitpunkt geglaubt hatte, dass seine Idee, ein großes Trampolin anzuschaffen, sie von ihrem Gram über die Absage der Landfrauen ablenken würde, vermochte er später nicht mehr zu sagen. Aber es war ja nun ohnehin gleichgültig. Trampolin adieu! Herr Hasemann zog aus diesem missglückten Vorstoß einmal mehr die Lehre, dass Ort und Stunde stimmen mussten, wollte er eigene Pläne und Träume im Einklang mit seiner Gattin verwirklichen.

Neben einem großen Trampolin im Garten und einer verborgenen Sehnsucht nach lateinamerikanischen Discotänzen gehörten aber auch handfestere Dinge zu den heimlichen Vorhaben von Gerd Hasemann. So plante er seit Längerem, die Regenrinne des Hauses zu reinigen, doch jeder seiner Vorstöße war bislang von Hasenpieps pulverisiert worden. Sie wollte, dass er eine Firma engagierte, die darauf spezialisiert war. »Weißt du, wie gefährlich das werden kann?«, hatte sie eindringlich gesagt. »Die meisten tödlichen Unfälle geschehen im Haushalt.« Gefolgt wurde diese Information stets von einem verständnisvollen »Wenn du es nun unbedingt allein machen möchtest, bitte wenigstens Rainer um Hilfe.«

Gerd Hasemann fühlte sich in seiner Ehre gekränkt. Er war ein ganzer Mann. Er würde doch wegen so einer Lappalie nicht seinen Freund und Nachbarn um Hilfe bitten! Außerdem war Rainer derzeit gar nicht in Kiekeby, sondern mit seiner Frau Heike zu ihrem Sohn Ronny nach Baden-Baden gefahren, um dem Jungen bei der Einrichtung seiner ersten Wohnung zu helfen.

Herr Hasemann, der jeden Morgen beim Blick aus dem Badezimmerfenster Zeuge der rasanten Vermoosung der Regenrinne wurde, sah sich trotz Frau Hasemanns Widerspruch bereits furchtlos auf dem Dachfirst balancieren. Dass man zur Reinigung der Regenrinne gar nicht bis zum Dachfirst hinaufmusste, störte seine Tagträume in keiner Weise. Der geheime Plan von Herrn Hasemann war es, bei der nächsten sich ergebenden Gelegenheit höchstpersönlich und ratzfatz die vertrackte Regenrinne zu reinigen und sich danach von Hasenpieps als Helden des Alltags beklatschen zu lassen. Er liebte es, wenn seine Frau ihre Nase zu einem niedlichen, erstaunten Kräuseln verzog und ihn bewundernd anlächelte.

Neben der allgemeinen Aufheiterung seiner Gattin hatte Herr Hasemann an diesem Morgen also auch das Projekt »Regenrinne« im Hinterkopf, als er die gelbe Tonne vor das Haus schob. Sein jahrelanges Ehetraining hatte ihn aufmerksam für Zwischentöne gemacht. Wie schnell konnte aus einer kritischen Bemerkung über seine Vergesslichkeit hinsichtlich der gelben Tonne eine Predigt über seine Nachlässigkeiten im Haushalt und sein verantwortungsloses Wesen werden. Ein Schlenker zur Regenrinne würde folgen und das Ganze in einem als gemeinsamer Beschluss getarnten Verbot gipfeln, sich der Regenrinne überhaupt zu nähern. »Wenigstens sind wir uns einig, dass du die Finger von der Regenrinne lässt«, würde Frau Hasemann vielleicht sagen und ihm zunicken. Wenn er sich dann trotzdem an eine Rinnensäuberung machte, verstieß er damit gegen eine von Frau Hasemann als »gemeinsam« eingestufte Entscheidung. Und das bedeutete in jedem Fall, dass der Haussegen schief hängen würde.

Nein, Herr Hasemann musste derartige Situationen vermeiden und Hasenpieps auf jeden Fall bei guter Laune halten, um seinen Masterplan nicht zu gefährden. Begeistert von seiner strategischen Weitsicht, betrachtete er die gelbe Tonne fast liebevoll.

Wenig später nahm er die geblümte Frühstücksdose entgegen, die seine Frau ihm reichte, drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen und setzte sich schwungvoll in den Wagen.

Mein Hasenpieps wirkt noch immer etwas melancholisch, dachte Gerd Hasemann und winkte noch einmal aus dem Fenster. Aber vielleicht kam ihm das auch nur so vor, weil sie in ihrem rosa Morgenmantel und den puscheligen Hausschuhen an den Füßen so hilfebedürftig aussah und weil der Rückspiegel sie besonders klein erscheinen ließ.

***

Frau Hasemann winkte ihrem Mann nach und schleppte sich dann zurück in die Küche. Sie hatte das Gefühl, als trüge sie nicht ihre pinkfarbenen Plüschpantoletten, sondern kiloschwere Wanderschuhe. Sie ließ sich auf den Küchenstuhl fallen und blickte trübsinnig auf den Frühstückstisch. Der Tag lag grau und trist vor ihr. Dabei schien die Sonne, und weiße Wölkchen sprenkelten das Babyblau des Himmels. Frau Hasemann sah nichts davon. Sie steckte in einem dunklen Tunnel. Sie wurde nirgendwo gebraucht, niemand wartete auf sie. Ob sie die Spülmaschine jetzt oder heute Abend belud - wen kümmerte es?

In Gedanken ging sie noch einmal den Morgen durch, der wie ein gut geöltes Uhrwerk abgelaufen war. Das Frühstück vorbereiten, die Milch aufschäumen. Für Gerd die Frühstücksdose mit unterschiedlichen Brotscheiben und frischen Obst- und Gemüseschnitzen füllen. Der Abschied, ein durchchoreografiertes Ritual aus ineinandergreifenden Gesten. Gerds Kuss, ihre Umarmung. Die Übergabe der Frühstücksdose, sein Winken aus dem Autofenster. Früher hatte sie dabei häufig einen Wiener Walzer quasi als Hintergrundmusik im Kopf gehabt, mit dem sie dann beschwingt in den Tag gewirbelt war.

Heute Morgen hatte sich jedoch aus unerfindlichen Gründen der alte Titel »Hass« von DÖF als Ohrwurm bei ihr eingenistet: »So grässlich hässlich«, zischte Frau Hasemann und sah sich und Gerd jeden Tag einander wie einstudiert zuwinken. Jeden Tag, und es dauerte noch so lange, bis Gerd in Rente ging.

Frau Hasemann seufzte. Wenn wenigstens Heike da wäre! Dann könnten sie sich am frühen Abend auf einen kleinen Sekt treffen und noch einmal genüsslich die fiesen Weiber bei den Landfrauen durchhecheln. Spätestens beim zweiten Glas kicherte Heike immer: »Wie meine Oma schon sagte: ›Lass uns noch ein wenig über die anderen klatschen, sie gedenken unser auch.‹« Ein schlechtes Gewissen würde Frau Hasemann deswegen erst später bekommen.

Bisher war Josefine Hasemann eine Stütze der Landfrauen gewesen. Sie nahm aktiv und engagiert an jeder Versammlung teil, an jeder Lesung, an jedem Erdbeerfest, stand stundenlang an Verkaufsständen und backte Kuchen für Feste und Tombolas. Sie hatte über die Jahre mehrfach das Angebot bekommen, Teil der Verbandsleitung zu werden, hatte jedoch immer abgelehnt. »Ich bin kein Büromensch«, war ihre Antwort gewesen. Als der Vorstand ihren Kochkurs-Vorschlag abgelehnt hatte, hatte sie diese Entscheidung das erste Mal bereut. Büros waren offenbar die Orte, in denen folgenschwere Entscheidungen - schlammiges niedersächsisches Wattenmeer gegen federleichte französische Lebensart - getroffen wurden.

Sie hatte die Landfrauen inzwischen auf Facebook geblockt. Sollten die doch machen, was sie wollten! Trotzdem war die Sache ein schwerer Schlag. Was blieb ihr denn ohne die Landfrauen noch, jetzt, wo Julia aus dem Haus und Heike häufig in Baden-Baden war?

Frau Hasemann löffelte trotzig Zucker in ihren kalten Kaffee. Sollte sie doch ruhig rund und mopsig werden - wen interessierte das noch? Gerd mochte ihre Rundungen. »Je mehr, desto besser«, murmelte er immer, aber Frau Hasemann hatte den Verdacht, dass er schon lange nicht mehr richtig hinsah. Sie selbst sah sehr wohl noch genau hin, was ihn anging. Und was ihr nicht gefiel, … liebte sie trotzdem. Ob Gerd wohl auch ein »Trotzdem-Liebender« war? Schließlich trug sie wirklich einen kleinen Rettungsring um die Hüften. Vielleicht war es gut, wenn Gerd nicht mehr so genau hinschaute. War das nicht ohnehin normal nach so vielen Ehejahren?

»Woher soll ich das wissen?«, fragte Frau Hasemann sich selbst laut und tauchte den Löffel ungeniert auch in das Glas mit der Erdbeermarmelade. »Ich bin ja zum ersten Mal so lange verheiratet.«

Mal abgesehen von den Landfrauen und deren vielen unterschiedlichen Aktivitäten, hatte sie kaum so etwas wie ein soziales Leben. Kaum etwas, für das es sich lohnen würde, den schicken Trachtenjanker anzuziehen, den sie im vergangenen Jahr mit ihrer Tochter Julia in Hamburg gekauft hatte. Ach, Julia! Die war auch nicht mehr auf ihre Mutter angewiesen. Das Gespräch am vergangenen Abend hatte es deutlich gezeigt: Ihre Tochter machte vieles grundsätzlich anders und schätzte zum Beispiel die von Frau Hasemann kategorisch abgelehnte Tiefkühlkost als adäquaten Ersatz für frische Produkte. Sie mixte sich und ihrem Freund Emmi jeden Morgen ein seltsames Getränk mit frischem Ingwer, Zitrone, Apfel, Banane und Gemüse wie Gurke, Spinat oder Brokkoli. Letzteres gerne auch »TK«. Frau Hasemann hatte sich den Mund fusselig geredet, aber Julia hatte nur gelacht. »Mami, bei uns muss es schnell gehen, und TK habe ich einfach immer im Haus.«

»Schmusi« nannte Julia das, was sie morgens aus ihrem Mixer goss. Jedenfalls hatte Frau Hasemann das erst so verstanden. Noch immer überzog eine feine Verlegenheitsröte ihr Gesicht, wenn sie daran dachte, dass sie das englische Wort »Smoothie« nicht gekannt hatte. Dabei hatte sie in der Schule durchaus Englisch gelernt, aber solche Wörter hatte es damals noch nicht gegeben. Und solche Getränke auch nicht. Frau Hasemann bezweifelte ernsthaft, dass das ausreichende Kraftnahrung für Julias Freund Emmi war. Emmi, Abkürzung von Emerald, war nämlich Tänzer bei einem Hamburger Musical und sprang fast jeden Abend schweißtreibend über die Bühne.

Frau Hasemann äugte deprimiert auf den leeren Brotkorb und tupfte mit dem Zeigefinger die Krumen auf. Was sollte sie heute tun? Natürlich behielt sie ihren Haushalt mithilfe einer ordentlichen Wochenübersicht im Griff, aber auch die half heute nicht. Denn der Montag war immer ihr Puffer nach den Wochenenden gewesen, die häufig mit Familienaktivitäten, Grillfesten oder Übernachtungsgästen gefüllt waren. Da hatte es Gästezimmer gegeben, die sie aufräumen musste. Speisereste waren einzufrieren. Bettwäsche zu waschen. Aber heute? NICHTS! Die Badezimmer waren erst am Mittwoch dran, Einkaufen am Freitag … Die Woche dehnte sich vor ihr aus wie die Wüste Gobi. Sie könnte sich auf das Sofa vor den Fernseher legen, Naturdokus gucken und sich dazu mit der Fünf-Liter-Vanille-Eis-Packung zu Tode futtern. Oder allein, ohne Heike, die letzte Flasche Sekt leeren. Interessierte doch eh niemanden, wenn sie schon um elf Uhr als Schnapsleiche auf der Hollywoodschaukel dahindämmerte.

Frau Hasemann seufzte herzzerreißend. Ihr Leben war komplett sinnlos. Einen Moment lang dachte sie daran, sich einfach auf den Küchenfußboden zu legen und das Atmen einzustellen. Oder beim Baden den Föhn in die Badewanne … nein, das war doch zu grausam. Und außerdem wäre sie in der Wanne nackt. Wer aber zog sich schon zum Selbstmord einen Badeanzug an? Andererseits: Das müsste doch auch mit einem Quirl in der Küche funktionieren … Aber wo war eigentlich der Quirl? Sie hatte ihn am Sonntag schon gesucht und nicht gefunden. Hatte Julia ihn bei ihrem letzten Besuch mitgenommen? Ach, Julia! Frau Hasemanns Gedanken fuhren Karussell. Also doch lieber auf den Fußboden legen und das Atmen einstellen?

Im Haus war es totenstill. Auch auf der Straße war nichts mehr zu hören. Alle waren wohl zur Arbeit gefahren. Der Briefträger würde erst mittags kommen. Wenn er überhaupt kam.

Da klingelte das Telefon. Hatte Gerd etwas vergessen? War Julia etwas geschehen? Frau Hasemanns Familieninstinkte brachen sich in Sekundenschnelle Bahn. Sie sprang auf und riss das Telefon von der Station.

»Hasemann!«

Es war weder Julia noch Gerd. Stattdessen tönte eine Frau Hasemann mittlerweile vertraute Stimme mit deutlich englischem Akzent durch den Hörer. »Hello, hello, Miss Häsemähn!« Die Stimme lachte kehlig und fuhr fort: »My sweet Jo, my lovely Josefine!«

Frau Hasemann spitzte die Ohren. Wenn sich die unverkennbare Stimme von Emmis Vater Bob meldete, war immer mit einer Überraschung zu rechnen. Und ihre deprimierte Seele lechzte nach Überraschungen. In welche Katastrophe der britische Hallodri wohl diesmal verwickelt war?

»Bob! Wie schön, dich zu hören,« sagte Frau Hasemann aufrichtig erfreut. »Was gibt es denn?«

Bob klang zerknirscht. »Ich hätte mich viel früher melden sollen, aber du weißt ja, das Leben! Es rasselt einem immer in die schönste Planung.«

Frau Hasemann musste grinsen. Typisch Bob. Allein das Wort »Planung« klang aus seinem Mund lustig. Bob war das Gegenteil von einem Plan. Verständnisvoll fragte sie: »Um was geht es denn?«

»Unsere Band spielt heute zum Frühschoppen bei dir in der Nähe. Und ich würde mich super freuen, wenn du kommst. Aber wahrscheinlich ist es jetzt zu spät, und du hast schon etwas vor. Na, klar hast du schon was vor. War auch nur so eine Idee, aber du könntest die neue Band mal hören.« Er sprach das Wort nicht Englisch als »Bänd« aus, sondern Band! - mit einem klaren a und der Anmutung eines Ausrufezeichens in der Stimme. Was Frau Hasemann besonders britisch fand, weil sie einmal ein TV-Interview mit den Beatles gesehen hatte und von Paul McCartneys Liverpool-Akzent so angetan gewesen war.

Sie überlegte jetzt laut. »Heute? Hm.« Wie um Zeit zu gewinnen, fragte sie: »Wo spielt ihr denn?«

»Da wird ein historischer Markt in … wait a minute …« Frau Hasemann hörte Papierrascheln. »… in Ankeloh eröffnet. Das ist …«

»… nur eine halbe Stunde mit dem Auto von Kiekeby entfernt!«, vervollständigte Frau Hasemann den Satz.

»Du kennst es?« Seine Stimme klang so begeistert, dass Frau Hasemann gerührt war. »So, you are coming? Das wäre großartig!«, rief Bob jetzt, und dann: »Sweetheart, du bist die Beste.«

Frau Hasemann grinste plötzlich. »Sweetheart« - so viel Englisch verstand sie ohne Probleme. Und außerdem, wer hatte denn mit Bob einmal fast eine Nacht in einem Hamburger Nobelhotel verbracht? Als Bob, damals ein schlanker Bassist mit wüster Haartolle, mit einer Band aus Surrey in der Hansestadt gastiert hatte. Natürlich war er damals wesentlich jünger gewesen, und Josefine noch die »Sweet Jo«.

Als sich Emmis Vater vor einiger Zeit als genau jener Bob entpuppt hatte, war Frau Hasemann das zunächst peinlich gewesen. Aber erstens war damals nichts Ernsthaftes geschehen, und zweitens tat es immer gut, ein wenig angeflirtet zu werden. Auch, wenn das Haar des Herrn mittlerweile schütter geworden war und die Angeflirtete ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen trug.

Auf einmal durchflutete Frau Hasemann Unternehmungslust, und die wilde Hummel in der pflichtbewussten Hausfrau streckte ihre Flügelchen. Bobs BAND beim Frühschoppen in Ankeloh versprach Rock ’n’ Roll und Lebensfreude.

»Natürlich komme ich!« Allerdings wollte sie nicht den Eindruck erwecken, Bobs Anruf würde sie aus ihrem langweiligen Dasein erlösen. Schnell fügte sie hinzu: »Ich muss zwei Termine verschieben, aber das sollte ich hinbekommen. Wann spielt ihr?«

»In zwei Stunden! Es wird bestimmt auch getanzt. Die wollen Rock-’n’-Roll-Musik!«

Zwei Stunden! Da musste Frau Hasemann sich beeilen. Wo waren bloß die neuen Jeans mit dem elastischen Bund? Die Flatterbluse mit dem bunten Blumenmuster hing einsatzbereit im Schrank. Und dazu die roten Cowboystiefel, die sie sich gemeinsam mit Heike für den Line-Dance-Kurs gekauft hatte. Leider hatte der nur zweimal stattgefunden. Der Tanzlehrer, ein melancholischer Texaner, vor Jahren der Liebe wegen in Kiekebys Nachbarort Krasemoor hängen geblieben, war von seiner Frau verlassen worden und nach Austin zurückgegangen, was Frau Hasemann sehr ärgerlich fand. Von den kecken Stiefeln hatte sie sich jedoch nicht trennen wollen, weil … sie so ein Gefühl hatte.

Und das hat mich wieder mal nicht getrogen, sinnierte Frau Hasemann jetzt. »Lebe wild und gefährlich« - eine Postkarte mit diesem Spruch hing bei Julia in Hamburg am Spiegel. Und wer sagt denn, dass das nur für Menschen unter 40 galt? Frau Hasemann spitzte die Lippen. Sie fühlte sich auf einmal wieder sehr wild und gefährlich.

40 Minuten später war sie geduscht und geschminkt, stieg in ihre viel zu selten getragenen roten Stiefel und warf sich in den Trachtenjanker.