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Über dieses Buch:

Die Connelys scheinen das Glück gepachtet zu haben, von außen wirken sie wie die perfekte Familie – aber hinter der Fassade sieht es ganz anders aus: Ruth und Paul können kaum mehr mit ihrer Tochter Josie reden, ohne dass ein erbitterter Streit ausbricht, worunter auch der kleine Bruder Will leidet. Und dann schlägt an einem schönen Sommertag das Schicksal unerbittlich zu: Bei einem Segelausflug ertrinkt Josie. Von einem Moment auf den anderen ist nichts mehr wie es war … Die Eltern wissen nicht, wie sie den Schmerz ertragen können und verlieren sich im Streit – dabei braucht Will sie jetzt am allermeisten. In dieser dunklen Stunde erkennen die Connelys, dass nur die Hoffnung ihnen Kraft schenken kann – und dass man diese in den unwahrscheinlichsten Momenten findet …

Über die Autorin:

Die britische Schriftstellerin Susan Moody wurde 1940 in Oxford geboren und verbrachte viele Jahre ihres Lebens in Frankreich und den USA. Ihr Werk wurde weltweit in mehreren Sprachen verlegt. Susan Moody, die Stiefmutter der dänischen Kronprinzessin Mary, lebt heute mit ihrem Mann wieder in England.

Susan Moody veröffentlichte bei dotbooks bereits »Bis wir uns wiederfinden«.

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eBook-Neuausgabe März 2020

Copyright © der englischen Originalausgabe 2000 Susan Moody

Die englische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel »Die Farbe der Hoffnung« bei Bantam Press, London.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2000 C. Bertelsmann

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/michaeljung und shutterstock/Sara Winter

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96148-886-5

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Susan Moody

Die Farbe der Hoffnung

Roman

Aus dem Englischen von Regina Rawlinson und Anne Rademacher

dotbooks.

Für Mark Lucas

wen sonst

Kapitel 1

Ihr Leben lang hatte sich Ruth Connelly vor dem Tod durch Ertrinken gefürchtet.

Zum ersten Mal hatte sie diese Angst als Kind verspürt, an einem Nachmittag am Meer, die Füße vom Schaum umspült, eine plötzliche Todesahnung, die kalt und scharf wie die Klinge eines Messers durch sie hindurchgefahren war. Sie umklammerte die Hände ihrer Eltern, während das Wasser vor und zurück schwappte, bedrohlich und böse, tückisch glitzernd in der Sonne, wie mit diamantenen Fingern lockend.

Sie wollte weglaufen, sich in Sicherheit bringen, aber ihre Eltern zogen sie vorwärts. Nur noch ein paar Schritte, du brauchst keine Angst zu haben, es tut nicht weh. Ruth riss an ihren Händen, doch sie hielten sie fest und gingen immer weiter. Das ist das Meer, das Meer, sagten sie mit heller, fröhlicher Stimme. Komm, Schatz, das Meer. Kieselsteine rollten unter ihren Füßen weg. Glitschig. Kalt. Der Boden gab nach. Sie stolperte und fiel. Mommy! Daddy! Sie standen über ihr und lachten. Als sie wieder aufstehen wollte, wurde sie von einer Welle umgerissen, so grün wie Glas. Daddy! Sie schrie noch einmal seinen Namen, da hatte die See sie schon fast ertränkt. Würgend und nach Luft schnappend suchte sie im grünen Wasser Halt, doch es schlüpfte ihr durch die Finger. Sie erinnerte sich bis heute daran und wie ihr das Salz in den Augen und in der Kehle gebrannt hatte. Sie würde nie vergessen, wie absolut ihre Panik gewesen war. Mit einem Schlag war sie ein ganzes Stück erwachsener geworden, denn mit einem Mal erfüllte sie ein Wissen, für das sie eigentlich noch viel zu jung war.

Tod. Auslöschung. Ein großes Nichts.

Du warst nur eine Sekunde unter Wasser, tröstete sie ihr Vater, groß und jovial, als er sie schwungvoll hochhob und auf den Arm nahm. Ist ja wieder gut, Spatz. Es war doch nur eine Sekunde.

Eine Sekunde, die ein Leben lang andauern sollte.

Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich vor dem Tod durch Ertrinken gefürchtet. Ihr ganzes Leben lang hatte sie geglaubt, dieser Tod würde ihr eigener sein.

Von Caleb’s Point, wo sich das Grundstück als flache Landspitze ins Meer schob, blickte sie auf die Stelle hinunter, wo sich damals die Szene abgespielt hatte, die sie bis heute nicht vergessen konnte. Hinter den abgebrochenen Felsblöcken lag der schmale Streifen Strand, kein Sand, sondern im Laufe der Jahrhunderte auf Erbsengröße abgeschliffene Kieselsteinchen. Ein Strand, mehr nicht. Nichts, wovor man sich fürchten müsste. Aber sie hatte noch immer Angst vor dem Meer, auch so viele Jahre danach. Instinktiv spürte sie, dass es sie vernichten würde, wenn es könnte. Trotzdem liebte sie diesen Ort. Es war so friedlich hier, mit dem Plätschern der Wellen, der honigfarbenen Luft und dem wogenden Gras, in dem die Blüten von Habichtskraut und Gänseblümchen leuchteten. Wie oft war sie in ihrer Kindheit und Jugend hier gewesen. Und sie kam noch immer, als Erwachsene, als Mutter und Ehefrau.

Unterhalb von Caleb’s Point war das Wasser mit den Bojen der Hummerfangkörbe gesprenkelt. Auf beiden Seiten erstreckten sich bewaldete Landzungen bis zum Horizont, die Bäume reichten bis zum Uferstreifen hinunter, der mit Felsen übersät war, unter der Wucht der Winterfluten zerschmettert und zernarbt. Hier und da wurde das Grün des Waldes durch die Schieferdächer der Ferienhäuser aufgelockert. Weiter draußen, in der offenen Fahrrinne, ragte wie ein Schildkrötenpanzer Bertlemy’s Isle aus dem Wasser, ein graues, kahles Inselchen, auf dessen höchster Stelle ein paar Fichten wuchsen. Morgen wollten sie zu viert hinübersegeln, um dort Wills Geburtstag zu feiern. Sie runzelte die Stirn. Einen Grund zum Feiern hatten sie wahrlich bitter nötig.

Der Wind drückte das trockene Gras auf der Landspitze nieder. Die Blätter des Habichtskrauts zerkratzten ihr die Oberschenkel, als sie sich auf die Erde setzte. Hinter ihr erhob sich ein Granitblock mit einer vom Regen ausgewaschenen Vertiefung in der Mitte, wo Rentierflechten und Torfmoos, Bärentrauben, Astern und blaue Schwertlilien Wurzeln geschlagen hatten. Ruth lehnte sich dagegen, schloss die Augen und drehte ihr Gesicht in die Sonne. Lächelnd dachte sie daran, dass Josie als kleines Mädchen geglaubt hatte, der Fels sei ein Elfengarten. Sie seufzte. Es war so friedlich hier oben. Kein Streit. Keine Zankereien. Keine Spannung. Ameisen krabbelten über ihre Füße. Vielleicht sollte sie sich von einem Schreiner aus dem Ort eine Bank bauen lassen, dann hätte sie es noch bequemer. Jedes Mal wenn sie aus der Stadt ans Meer fuhren, überlegte sie, ob sie nicht vorschlagen sollte, für immer herzuziehen. Schließlich hatte Paul ganz in der Nähe die Teilzeitstelle als Gastdozent in Bowdoin, und es wäre sicher einfacher für ihn, das Buch, an dem er arbeitete, hier zu Ende zu schreiben als in der Wohnung in Boston, so geräumig sie auch war. Die Kinder wären von ihrer Idee natürlich begeistert gewesen. Was sie zögern ließ, waren ihre eigenen Bedürfnisse. Sicher würde sie in einer Anwaltskanzlei in Portland oder Bar Harbor eine Stelle finden können, aber sie hatte viel zu lange und viel zu hart gearbeitet, um noch einmal auf der untersten Sprosse der Karriereleiter anzufangen.

Sie starrte auf die walförmigen Buckel des Mount Desert Island, die sich am Horizont abzeichneten. Auf dem Wasser leuchteten weiß die dreieckigen Segel der Boote, die aus dem kleinen Yachtclub in Hartsfield kamen und auf das offene Meer zuhielten. Eines davon gehörte den Kindern, auch wenn sie es aus dieser Entfernung unmöglich erkennen konnte. Aber vielleicht sahen die Kinder sie. Hoch oben auf ihrer Landspitze kam sie sich fast wie eine junge Seemannswitwe vor, die die tosende See nach ihrem ertrunkenen, nie wiederkehrenden Liebsten absuchte. Sie winkte, obwohl ihr nicht danach zumute war. Es konnte nicht schaden. Und sie lächelte.

Ein Stück hinter ihr, etwas weiter die Böschung hinauf, begann der Nadelwald. Fichten, Pech- und Weymouthskiefern, Balsam- und Schierlingstannen. In der heißen, harzgetränkten Luft erinnerte sie sich daran, wie unkompliziert die Sommertage gewesen waren, als sie nur Mutter und nicht auch Anwältin war. Picknicks unter den Bäumen, Versteck spielen im Wald, schwimmen im Teich. All die unschuldigen Beschäftigungen, mit denen sie sich als Kind an diesem lieben, vertrauten Ort mit ihren Eltern selbst die Zeit vertrieben hatte.

Wo waren diese Tage nur geblieben, die Geborgenheit, die Unbeschwertheit? Die Zeit war wie im Flug vergangen und hatte die hellen Stimmen ihrer Kinder, ihre bedingungslose Liebe und ihr grenzenloses Vertrauen mitgenommen. Wie oft hatten sie hier gepicknickt, wie viel Spaß hatten sie miteinander gehabt. Sie erinnerte sich gut daran. Die weichen Nadeln der Bäume unter den Füßen. Der Geschmack von Krebsfleischfrikadellen und frisch gebackenem Vollkornbrot, Schokoladenkeksen und Karottensticks. Damals war sie glücklich gewesen. Und sie hatte ihr Glück bewusst ausgekostet. Die Kinder waren ihre ganze Welt. Will mit den Sommersprossen auf der Nase und der wilden Tolle über der Stirn, Josie mit ihren Zöpfen und dem lachenden Gesicht, so hübsch anzusehen in ihren löchrigen Shorts und dem Ringelhemd. Manchmal war ihre Liebe so stark, dass sie sie plötzlich an sich drückte und murmelte: »Ich hab euch lieb. Ich hab euch so lieb.« Dabei atmete sie den nussigen Duft ihrer Haare, während sie kreischten und zappelten und sagten, dass sie sie auch lieb hätten, sie würden sie immer lieb haben, sie sei ihre Mommy, sie solle nicht so fest drücken, sie tue ihnen weh.

Will hatte sich seitdem nicht sehr verändert, aber Josie war in letzter Zeit sehr verschlossen und unzugänglich. Ruth wusste, dass man daran nichts ändern konnte. Als Mutter musste sie sich damit abfinden, dass ihre Tochter allmählich erwachsen wurde. Trotzdem konnte sie Josies Feindseligkeit schlecht ertragen.

Sie stand auf und klopfte ihre Shorts ab. Höchste Zeit, in die reale Welt zurückzukehren. Sie nahm den Weg durch den Wald, vorbei an dem Stein, von dem Josie einmal heruntergefallen war, als sie Räuberhauptmann gespielt hatte. Die Platzwunde über der Augenbraue, die sie dabei davontrug, hatte mit sechs Stichen genäht werden müssen. Sie balancierte über den Baumstamm, der wie eine Brücke über einer leichten Senke lag. Der Baum war eines Winters umgestürzt, als sie selbst noch ein Kind gewesen war, und als sie Jahre später zugesehen hatte, wie ihre eigenen Kinder ängstlich kreischend darüber hinwegbalancierten, musste sie immer daran denken, wie riesig er ihr damals vorgekommen war, wie tief der Abgrund, über den er sich spannte. Der Weg schlängelte sich durch Moos und Farn, Blaubeeren und wilden Ingwer, hinaus in die Sonne, wieder hinein in den Schatten und über am Boden liegende Birkenschösslinge hinweg. Auf halber Strecke den Berg hinunter gabelte sich der Pfad; die eine Abzweigung führte tiefer in den Wald hinein, die andere fiel steil zum Haus hinab, führte am Preiselbeersumpf und am Süßwasserteich vorbei und endete schließlich an der hinteren Veranda.

Ihre Eltern hatten das Haus und das weitläufige Grundstück als Hochzeitsgeschenk auf sie überschreiben lassen. Sie wollten ihren Ruhestand genießen und waren, um den Wintern in Neuengland zu entfliehen, ins sonnige Florida übergesiedelt. Es gab kaum eine Stelle, die keine kostbaren Erinnerungen barg, an ihre eigene Kindheit, an die ihrer Kinder und an die anderen Menschen, die hier im Lauf der Jahre gewohnt hatten und deren Geschichten wie Legenden von Generation zu Generation weitergegeben wurden.

»War das nicht da drüben, wo der Wind Großmutter auf der Hochzeit den Hut vom Kopf in den Teich geweht hat, Mommy?«

»Da hinten ist Ururgroßmutter im Sumpf stecken geblieben.«

»Und da vorn ist Großonkel Reuben vom Pferd gefallen, weil er betrunken war.«

Sie hörte noch die aufgeregten Fragen ihrer Kinder, hörte wie ein Echo dahinter ihre eigene Kinderstimme und die Stimmen all der Kinder, die vor ihr kamen. Irgendwann würden auch die Kinder von Josie und William gespannt den alten Geschichten lauschen, um sie eines Tages ihrerseits weiterzugeben.

Als sie unter den Bäumen hervortrat, stand sie vor dem Haus. Das Carter-Haus – ihr Haus. Weiß gestrichenes Holz, umlaufende Veranda, mit Schindeln gedeckte Dächer und Türmchen. Es war vor über hundertfünfzig Jahren von Ruths Ururgroßvater gebaut worden, dem Seefahrer Josiah Carter, der mehr als dreißig Jahre die Chinaroute befahren hatte, bevor er seinen letzten Landgang antrat. Er hatte sich vom Schiffsjungen zum Eigner eines eigenen Klippers emporgearbeitet und dabei ein beachtliches Vermögen angehäuft, das er wohl nicht zuletzt auch der Seeräuberei verdankte. Er war ein berüchtigter Frauenheld und legendärer Säufer, der angeblich so lange trank, bis er halb besinnungslos an Deck seines Schiffes herumtorkelte und alle möglichen Wunderdinge sah: erfrorene Dämonen in der Takelage, Engel in den Segeln, Seejungfrauen auf den schäumenden Wogen und Neptun selbst, der aus den Tiefen des Meeres heraufstieg. Dann kam der Tag, da Gott persönlich und in Gestalt eines Albatros aus den Wolken zu ihm sprach: »Josiah, Josiah, warum hast du mich verlassen?« Er forderte ihn auf, dem Dämon Alkohol und dem liederlichen Lebenswandel abzuschwören. Josiah fügte sich in das Unvermeidliche, denn gegen Gott hätte wohl selbst ein Mann wie er den Kürzeren gezogen. Er beendete seine letzte Fahrt und setzte sich zur Ruhe.

Als gewiefter Geschäftsmann hatte er nach und nach einige Felder und ein ausgedehntes Waldstück oberhalb der kleinen Ansammlung von Läden und Häusern erworben, aus denen das Dorf Sweetharbor bestand. Dort baute er nun sein Haus, ließ die Räume mit Zedernholz täfeln und stellte sie mit seinen zahlreichen Reisetrophäen voll. Nachdem er sich mit einer tugendhaften Frau vermählt hatte, verbrachte er den Rest seines Lebens damit, einer angstvollen, aber dankbaren Gemeinde Höllenfeuer und Verdammnis zu predigen. Von weither kamen die Menschen mit Leiterwagen und Kutschen herbeigeströmt, um ihm mit wohligem Schauder zu lauschen, wenn er ihnen in den düstersten Farben schilderte, welches Leben sie nach dem Tode erwartete, wenn sie nicht Buße täten. Paul meinte, Josiah müsse auf seine Zuhörer eine ähnliche Wirkung gehabt haben wie ein Horrorfilm.

Auf der Landseite des Anwesens gab es keine anderen bewohnten Gebäude, da Josiah als alter Misanthrop alle Grundstücke in Sichtweite aufgekauft hatte, um durch den Anblick oder Lärm seiner Nachbarn nicht gestört zu werden. Die nachfolgenden Generationen hatten sich liebevoll um die Erhaltung des Hauses gekümmert, wenn auch mit den Jahren einiges modernisiert worden war. Ruths Großvater, Jeremiah Carter, ließ einen Stromanschluss legen. Mangeln und Waschkessel wurden durch Waschmaschinen und Trockner ersetzt. Die Rohrleitungen waren schon mehrere Male erneuert worden, genau wie die Senkgrube. Ihr Vater Jonathan Carter ließ eine Zentralheizung einbauen, die beiden seitlichen Veranden verglasen und einen kleinen Garten mit exotischen Sträuchern anlegen. Doch im Wesentlichen war das Haus unverändert geblieben. Wäre der alte Josiah von seiner letzten Ruhestätte unter dem weißen Marmorkreuz auf dem Friedhof in Hartsfield wieder auferstanden, hätte er sein Heim fast genauso vorgefunden, wie er es verlassen hatte: nach Zedernholz duftend und voll gestopft mit den Kuriositäten, die er aus fernen Ländern mitgebracht hatte.

Kapitel 2

»Ich komme morgen nicht mit«, sagte Josie.

»Und ob du mitkommst«, erwiderte Ruth.

»Ich habe was Besseres vor, als auf ein blödsinniges Kleinkinderpicknick zu gehen. Nein, danke.«

»Ich bin kein Kleinkind«, sagte Will.

»Wer sagt das?«

»Was hast du denn Besseres vor?«, fragte Ruth.

Josie funkelte sie kampflustig an. »Ich wollte die Coombs besuchen.«

»Und wer sind die Coombs?«

»Du kennst sie bestimmt nicht, Mom. Das sind bloß Einheimische, keine reichen Sommergäste. An die brauchst du dich nicht ranzuwanzen, das lohnt nicht.«

Josies verächtlicher Ton war unerträglich. »Du kommst mit«, sagte Ruth knapp.

»Wozu denn?« Josie hatte gemalt, Gesicht und Finger waren mit blauer Ölfarbe verschmiert. Wenn sie sich bewegte, verströmte ihre Kleidung einen schwachen Terpentingeruch. »Außerdem will ich sowieso nicht mehr segeln.«

»Was soll denn das heißen?«

»Ich interessiere mich nicht mehr dafür. Segeln ist sinnlos.«

»Aber du bist doch immer gern gesegelt, schon als kleines Kind.«

»Tja, und nun bin ich erwachsen, Mom, falls du es noch nicht mitgekriegt hast.«

»Ich möchte aber, dass du mitkommst«, sagte Ruth. Angesichts der demonstrativen Entschlossenheit ihrer Tochter fühlte sie sich hilflos. »Ohne dich wäre es nicht dasselbe.« Als Josie nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Außerdem hat dein Bruder Geburtstag.«

»Na und?«

»Und er wünscht sich, dass wir noch einmal eine Segeltour machen, bevor wir in die Stadt zurückfahren.« Ruth begann den Kuchen mit der Schokoladencreme einzustreichen, die Will am Nachmittag fast ohne ihre Hilfe zubereitet hatte. »Das wünschen wir uns alle.«

»Aber ich nicht. Wenn es nach mir ginge, bräuchte ich bis an mein Lebensende keinen Fuß mehr auf ein Boot zu setzen.«

»Das ist doch Unsinn, Josie. Du bist ja erst gestern noch gesegelt. Ich hab dich gesehen.«

»Nur weil Will mich gezwungen hat.«

»Wenn du nicht mitkommst, verdirbst du Will den ganzen Tag.«

»Genau, und ich bin das Geburtstagskind, und du musst alles machen, was ich will.«

»Du spinnst doch, Will. Sag bloß, du hast Lust, dir den ganzen Nachmittag anzuhören, wie sich Mom und Dad anschreien? Ich jedenfalls nicht, das kannst du mir glauben.«

»Vielen Dank, Josephine.«

Will, der ewige Friedensstifter, lächelte, sodass seine Zahnspange aufblitzte. »Ich würde mich wirklich freuen, wenn du mitkommst, Jo-Jo. Aber wenn du nicht willst, musst du nicht.«

»Nenn mich nicht Jo-Jo.«

»Dann eben Josie.«

Will war immer so ausgeglichen, so vernünftig. Genau wie sein Vater früher, dachte Ruth. Sie gab ihm einen Klaps auf die Hand, als er von der Schokoladencreme naschen wollte.

»Ohne mich«, sagte Josie.

»Ach, jetzt stell dich nicht so an«, sagte Will. »Es wird bestimmt toll. Außerdem ist es das letzte Mal, dass wir mit dem Boot rausfahren können.«

»Mann, was bist du doch für ein Baby.«

»Bin ich nicht.«

»Bist du doch.« Josie rümpfte die Nase. »Du mit deiner blöden Zahnspange.«

Ruth wurde wütend. Wenn es um seine Spange ging, war Will sehr empfindlich. Sie selbst verstand bei dem Thema ebenfalls keinen Spaß, schließlich hatte das Ding ein kleines Vermögen gekostet. »Das reicht, junge Dame«, sagte sie scharf. Josie hatte den Bogen überspannt. Sie versuchte wirklich Verständnis dafür aufzubringen, dass ihre Tochter in einem schwierigen Alter war, in dem die Hormone verrückt spielten, doch auch ihre Geduld hatte Grenzen. »Du kommst mit zu Wills Picknick – und du wirst dich anständig benehmen.«

»Ich bin fast siebzehn, warum behandelst du mich immer noch wie ein Kind?«

»Warum führst du dich immer noch wie ein Kind auf?«

»Aber wieso müssen wir vorher noch auf dieses Gruftifest bei den Trotmans?«

»Das habe ich dir doch schon erklärt.«

»Aber warum?«

»Weil es wichtig ist. Weil Ted Trotman möchte, dass ich komme.«

»Seit wann müssen wir Ted Trotman denn alle in den Hintern kriechen?«

»Eine solche Ausdrucksweise dulde ich nicht in diesem Haus. Ted hat mir sehr viele Klienten vermittelt.« Ruth hätte Josie am liebsten eine Ohrfeige gegeben. »Außerdem hat er jemanden eingeladen, der mich kennenlernen möchte.«

»Wieder so einen reichen Sack wie er selber?«

»Bitte, sprich nicht so über meine Bekannten«, sagte Ruth. »Dieser Mann könnte ein sehr wichtiger Kontakt sein. Er kommt mit seiner Frau extra aus Brunswick, um sich mit mir zu treffen. Ich kann es mir nicht leisten, ihn zu versetzen.«

»Du kannst die Arschkriecherei wohl echt nicht lassen.« Wütend warf Ruth das Messer in die Schüssel und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich warne dich, Josephine. So lasse ich nicht mit mir reden.«

»Na gut, dann eben die Kontaktknüpferei.« Josephine lenkte nur widerwillig ein. »Dich an solche Typen ranzuwanzen, damit sie dir Aufträge zuschanzen. Wetten, dass er fett ist? Wetten, dass er eklige weiße Shorts trägt?«

»Und eine Baseballmütze«, fügte Will hinzu. »Mit dem Schirm nach hinten.«

»Ich habe keine Ahnung, was er sich auf den Kopf setzt«, sagte Ruth leichthin. »Ich weiß nur, dass ich mich dort mit ihm treffen muss.«

»Ich dachte, wir wären im Urlaub.«

»Die Zeit bleibt nicht einfach stehen, nur weil wir am Meer sind«, sagte Ruth.

»Wieso müssen wir eigentlich immer bei deinen Sachen mitmachen, aber du nie bei unseren? Wir müssen mit auf deine blöde Party, aber du konntest im letzten Schuljahr noch nicht mal zu der Kunstausstellung an unserer Schule kommen, wo immerhin drei von meinen Bildern ausgestellt waren, aber das ist dir ja egal. Genau wie Wills letztes Spiel, das du auch verpasst hast, und an Weihnachten bist du noch nicht mal …«

»Ich habe euch erklärt, warum ich nicht kommen konnte, Josephine. Ich habe eine verantwortungsvolle Stellung, ich kann mir nicht einfach freinehmen, wenn ich Lust dazu habe.«

»Dad kann es doch auch.«

»Euer Dad wird auch nicht so gefordert wie ich.«

»Er ist bloß nicht so versessen darauf, Geld zu scheffeln.« Wieder musste Ruth das Messer weglegen. »Du weißt genauso gut wie ich, warum ich so hart arbeite. Ich möchte nur, dass ihr beide es einmal.«

»Bitte nicht, Mom«, sagte Josephine laut. »Komm uns jetzt nicht mit der alten Leier, dass du nur unseretwegen so viel schuftest.«

»Warum nicht? Es ist die Wahrheit.« Ruth schoss die Zornesröte ins Gesicht. Sie strich sich die Haare aus der Stirn. Es war die Wahrheit.

»Aber wir wollen kein dickes Bankkonto. Uns wäre es lieber, du würdest öfter zu Hause bleiben, damit wir wenigstens ab und zu mal mit dir reden können.«

»Mom?« Will wechselte das Thema. »Warum können wir nicht immer hier wohnen?«

»Weil wir in der Stadt wohnen.«

»Aber eigentlich sind wir doch Einheimische. Schließlich war Großvater jahrelang der einzige Arzt in der Gegend. Du und Dad, ihr seid die ersten Carters …«

»Dad ist kein Carter, Gott sei Dank«, raunzte Josie.

»… die ersten, die nicht das ganze Jahr hier wohnen.«

»Erstens hat euer Großvater zwar als Arzt hier gearbeitet, aber wir sind schon nach Boston gezogen, als ich noch ein kleines Kind war. Danach haben wir nur noch die Sommerferien hier verbracht, deshalb zählen wir nicht als Einheimische, vor allem auch, weil euer Dad aus Kalifornien stammt. Und zweitens konnten euer Vater und ich es uns nicht aussuchen, wo wir leben wollten. Hier gab es keine Arbeit.«

»Ihr hättet bestimmt etwas gefunden, wenn ihr nur gewollt hättet«, sagte Josie.

»Ihr könnt froh sein, dass wir nicht nach Little Rock oder Kansas City gezogen sind.«

»Oder Oshkosh«, warf Will ein.

»Ach, wie witzig«, sagte Josie höhnisch. »Außerdem dachte ich, das wäre der Sinn dieses Urlaubs, dass ihr die Arbeit mal für ein paar Wochen vergessen könnt. Dass ihr euch für eure Kinder mal richtig Zeit nehmt.«

Niemand konnte so verächtlich sein wie Josie. »Ich dachte, das täten wir«, antwortete Ruth so freundlich wie möglich.

»Aber du hältst es doch nicht einen Tag ohne dein Büro aus. Sonst hättest du deine Computer und Modems nicht mit hergeschleppt. Man könnte meinen, die Arbeit ist dir wichtiger als wir.«

»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Ruth.

»Und jetzt sollen wir uns langweilen, während du dich an einen fetten Sack ran schleimst, nur weil es gut fürs Geschäft ist. Obwohl du und Dad immer davon redet, dass ihr aussteigen wollt.«

»Dein Vater redet davon. Ich kann mich nicht erinnern, mich zu diesem Thema schon einmal ausführlicher geäußert zu haben.«

»Wir wissen doch alle, warum. Weil du lieber in deinem miefigen Büro in Boston hockst«, sagte Josie. »Kannst du den Job nicht wenigstens mal für einen Tag vergessen? Es ist schließlich Wills Geburtstag.«

»Den du nicht mit uns feiern wolltest«, sagte Ruth. »Vielleicht überlege ich es mir noch.« Josie schnitt ihrem Bruder eine Grimasse.

»Deshalb wollen wir uns ja bei den Trotmans auch so schnell wie möglich wieder verabschieden, damit wir nach Hause fahren, uns den Picknickkorb schnappen und zu Bertlemy’s Isle segeln können.« Ruth wollte ihrer Tochter die Hand an die Wange legen, doch Josie wich zurück. »Schatz, du darfst nicht immer so grimmig schauen. Wenn du nicht aufpasst, bekommst du Falten auf der Stirn.«

»Das ist mir doch egal.«

»Das denkst du jetzt, aber in zehn Jahren? Was meinst du, was dein Mann dazu sagen wird?«

»Mein Mann?« Josie stieß das Wort voller Abscheu hervor.

»Er wird sagen: ›Hat deine Mutter dich nie ermahnt, nicht immer so ein grimmiges Gesicht zu machen?‹ Ich kann bloß hoffen, dass du ihm dann die Wahrheit sagen wirst.« Ruth seufzte innerlich. Von Freunden, die selbst Töchter hatten, war sie schon öfter gewarnt worden, dass die Verwandlung vom netten Mädchen zur unausstehlichen Kratzbürste über Nacht passieren konnte und dass man sich dann auf das Schlimmste gefasst machen musste. Trotz dieser Vorwarnung fiel es Ruth nicht leicht, damit umzugehen. Vor allem, weil sie noch bis vor kurzem gehofft hatte, Josie würde den pubertären Gefühlsaufruhr einigermaßen unbeschadet überstehen.

»Ich werde nie heiraten«, verkündete Josie.

»Gute Entscheidung«, sagte Will.

»Was soll das heißen?«

»Wer würde dich schon nehmen? Höchstens ein Blinder. Oder ein Verrückter. Oder ein Typ, der blind und verrückt ist.« Will grinste. Mit seinem widerspenstigen Haarwirbel und den abstehenden Ohren erinnerte er Ruth an eines dieser typischen Hollywood-Filmkinder. »Alle anderen müsste Dad erst bestechen.«

Früher hätte Ruth vielleicht scherzhaft angemerkt, dass dafür noch nicht einmal Bill Gates reich genug war, aber jetzt hielt sie sich lieber zurück. Josie würde es als persönliche Beleidigung auffassen und nur noch gereizter werden. »Herzlichen Dank, Blödmann«, sagte Josie. Sie schob das Kinn vor. »Außerdem weißt du genau, dass Dad zu viel trinkt, wenn wir zu den Trotmans gehen.«

»’türlich«, sagte Will.

»Das heißt natürlich, William. Und was erlaubt ihr euch eigentlich, so über eure Eltern zu reden?«

»Aber es stimmt doch, oder nicht?«, knurrte Josie. »Und wenn er zu viel getrunken hat, sollten wir eigentlich nicht mehr segeln. Das ist zu riskant.«

»Wenn wir noch mit dem Boot rausfahren wollen, wird euer Vater selbstverständlich nicht zu viel trinken«, sagte Ruth. »Außerdem verstehe ich nicht, warum du so viel Getue um den Besuch bei den Trotmans macht. Deine Freundinnen kommen doch auch.« Sie strich das Messer am Schüsselrand ab. »Früher bist du immer gern auf die Partys gegangen, Josie.«

»Da wusste ich auch noch nicht, was für ein Mörder Ted Trotman ist.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Die Unternehmen, bei denen er im Vorstand sitzt, vergiften mit ihren Schadstoffen die ganze Umwelt. Aber das ist dir natürlich egal.«

Ruth musterte ihre Tochter besorgt. Unter der Sonnenbräune war Josies Gesicht schmal geworden, und sie hatte Schatten unter den Augen. Gab es für ihre Aufsässigkeit noch einen anderen Grund als nur ihr Alter? Um Himmels willen, sie experimentierte doch wohl nicht etwa mit Drogen herum? Oder mit Jungen? Es war nicht leicht, in der heutigen Zeit erwachsen zu werden. Lass mich dir helfen, wollte Ruth sagen. Erzähl mir davon. Ich bin doch deine Mutter.

Aber sie fragte nur: »Hast du Probleme?«

»Du meinst, abgesehen davon, dass dieses Land im Chaos versinkt? Vom Rest der Erde ganz zu schweigen.«

»Du kommst mir so nervös vor.« Gestern war Josie dermaßen unausstehlich gewesen, dass Ruth ihr schließlich angedroht hatte, sie in ein Internat für verhaltensauffällige Kinder zu stecken, wie sie in letzter Zeit überall aus dem Boden schossen. Obwohl sie es als Witz gemeint hatte, fand sie die Idee manchmal reizvoll.

»Bin ich aber nicht.«

»Sie hat recht, Jo-Jo«, sagte Will. Er steckte einen Finger in die Cremereste, die am Rand der Schüssel klebten, und leckte ihn ab.

»Wer hat dich denn nach deiner Meinung gefragt, du Idiot?«

»Du benimmst dich, als ob mit dir was nicht stimmt.«

»Halt die Klappe, du kleiner Affe.«

»Fehlt dir wirklich nichts?«, fragte Ruth.

»Das hab ich doch schon gesagt.« Josie wanderte unruhig in der Küche auf und ab. Auf ihren sonnenverbrannten Armen schimmerte noch das Salz vom letzten Segeltörn mit ihrem Bruder. Weiß sie eigentlich, wie hinreißend sie aussieht? dachte Ruth. Es gab ihr einen Stich ins Herz. Und wo war ich, als sie sich vom Mädchen in eine junge Frau verwandelt hat?

»Mom?« Josie riss eine Schublade auf, starrte kurz hinein und knallte sie wieder zu.

»Ja?«

»Findest du, dass der Zweck die Mittel heiligt?«

»Wie bitte?« Die Frage kam für Ruth völlig überraschend. Eben noch Geschmolle und Feindseligkeit, nun eine philosophische Diskussion.

»Nehmen wir mal an, jemand hat gute Absichten, aber er kann sie nur mit Gewalt durchsetzen. Wäre das gerechtfertigt?«

»Es würde ganz auf den Zweck ankommen. Und auf die Mittel natürlich auch. Doch meiner Meinung nach gibt es für Gewalt fast nie eine Rechtfertigung.«

»Aber denk doch mal an Hitler. Was wäre, wenn man es geschafft hätte, ihn umzubringen?«

»Hätte es am Verlauf des Krieges wirklich etwas geändert, wenn das Attentat vom 20. Juli gelungen wäre? Ich glaube kaum. Es wäre nur ein anderes Ungeheuer in seine Fußstapfen getreten.«

»Noch ein Beispiel«, sagte Josie und kratzte an einem Farbklecks an ihrem Arm. »Man steigt groß ins Drogengeschäft ein, um eine Suppenküche für Obdachlose zu finanzieren.«

»Ist das nicht ein Widerspruch in sich?«

»Dann glaubst du nicht, dass das Wohl vieler über dem Wohl Einzelner stehen sollte?«

»Theoretisch ist das eine durchaus vertretbare Position, aber in der Praxis funktioniert es nie.«

»Natürlich nicht. Die Reichen finden immer einen Weg, die Armen nicht hochkommen zu lassen.«

»Was soll das plötzlich, Josie? Ist das irgendein Mist, den du in deiner Rettet-das-Universum-Gruppe aufgeschnappt hast?«

»Typisch, dass du dich über etwas lustig machst, wovon du keine Ahnung hast«, sagte Josie herablassend. »Wir haben wenigstens noch Ideale, was man nicht von allen Anwesenden hier behaupten kann.« Sie riss die Schublade auf und knallte sie wieder zu.

Als sie zum dritten Mal daran zog, fragte Ruth: »Suchst du etwas Bestimmtes?«

»Nein.«

»Wenn du nicht weißt, was du machen sollst, könntest du für mich in den Keller gehen, die Waschmaschine ausräumen und die Sachen in den Trockner tun.«

Auf dieses Stichwort schien Josie nur gewartet zu haben.

Sie drehte sich um, lehnte sich gegen den Herd und stemmte die Hände darauf. »Mein Gott, wie ich uns hasse«, sagte sie. Sie strich sich die langen Haare aus dem Gesicht, und dabei blitzten die Ohrstecker mit den Türkisen auf, die fast die gleiche Farbe hatten wie ihre Augen.

»Was meinst du damit?«

»Ich hasse die Art, wie wir leben.«

Ruth ließ den Kopf hängen. Bitte, nicht noch eine Debatte über Regenwälder, Thunfischfang und Tierversuche, für die Josie ihre Mutter persönlich verantwortlich zu machen schien. »Dürfte ich fragen, was dir daran nicht passt?«

»Alles. Weißt du eigentlich, was solche Leute wie du der Umwelt antun?«

»Leute wie ich, hm?«

»Ja. Denk doch nur mal an den widerlichen Schaum in den Flüssen und Teichen. Der kommt daher, dass Leute wie du zu viel Waschmittel verwenden. Wetten, du hast noch nie einen Gedanken daran verschwendet, dass die ganzen Phosphate die wasserführenden Gesteinsschichten schädigen?«

Wasserführende Gesteinsschichten? Woher hatte Josie bloß solche Ausdrücke? Von den Umweltspinnern aus dieser Gruppe, in die sie im letzten Herbst eingetreten war? Wie nannten sie sich noch gleich: Reine Erde? Ruth seufzte. Sie dachte an Rob Farlow, den netten Harvard Studenten, der nun schon seit Monaten vergeblich versuchte, sich mit Josie zu verabreden. Warum konnte sie nicht mit ihm ausgehen? »Ehrlich gesagt, habe ich mir das noch nicht sehr oft überlegt.«

»Siehst du!«, sagte Josie.

»Und wie sollen wir unsere Kleidung sauber halten, wenn Waschmaschinen heutzutage verpönt sind?«

»Man kann seltener waschen. Man kann mit der Hand waschen.«

»Josie, wenn du deine Wäsche unten am Bach zwischen zwei Steinen platt klopfen möchtest, bitte schön. Ich werde auch weiterhin moderne Geräte benutzen, weil ich nicht die Zeit habe, darauf zu verzichten.«

»Du hast doch nie Zeit. Warum können wir die Wäsche nicht wenigstens zum Trocknen auf die Leine hängen, wie es die Leute hier machen? Die Hechts zum Beispiel. Oder die Cottons.«

Ruth verzog das Gesicht.

»Du bist ja so gemein«, schrie Josie.

»Was soll denn das nun wieder heißen?«

»Nur weil Mrs Cotton ein bisschen zurückgeblieben ist, heißt das noch lange nicht, dass sie ein schlechterer Mensch ist. Im Gegenteil, sie ist ein besserer Mensch als viele andere.« Sie funkelte Ruth wütend an.

»Habe ich das etwa gesagt? Habe ich etwas Derartiges von mir gegeben?«

»Das war gar nicht nötig«, sagte Josie schmollend. Sie merkte, dass sie mit ihrem Angriff möglicherweise etwas voreilig gewesen war. »Auf jeden Fall ist die Sonne ein natürliches Bleichmittel, wusstest du das? Wenn jeder seine Wäsche draußen auf der Leine trocknen würde, bekämen die Chlorindustrie und Leute wie dein Freund Ted Trotman das schnell zu spüren.«

»Das ist eine großartige Idee, Josie. Und was machen wir im Winter?«

»Chlor ist krebserregend«, fuhr Josie unbeirrt fort. »Vor allem bei Frauen. Darüber solltest du dir mal Gedanken machen. Heute kriegt jeder dritte Krebs, wusstest du das? Und alles nur wegen der Toxine und Dioxine, die Ted Trotman herstellt. Das ließe sich alles verhindern, wenn wir endlich anfangen würden, uns nach Alternativen umzusehen. Die Wäsche im Freien zu trocknen ist nur eine Methode von vielen. Außerdem ist es viel natürlicher.«

»Wie ich schon sagte, du darfst die Sachen gern nach draußen hängen. Im Keller müssten irgendwo noch Wäscheklammern sein. Oder möchtest du dir vielleicht lieber welche schnitzen, um die Umwelt zu schützen?«, fügte Ruth hinzu.

»O ja, toll«, sagte Will, um die Stimmung aufzulockern.

»Du könntest damit von Tür zu Tür gehen. Wie die Typen, die uns immer Zwiebeln verkaufen wollen. Josie, die Zigeunerin.«

»Halt die Klappe!«, schrie Josie mit zornigem Gesicht. Sie führte sich auf wie im Kindergarten, nicht wie eine fast Siebzehnjährige.

»Halt doch selber die Klappe.«

»Jetzt seid endlich still, alle beide.«

Josie klemmte sich eine Strähne hinter das Ohr und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es ist so unnatürlich, wie wir leben. Das Leben der Leute hier ist viel ehrlicher und realer. Sie leben im Einklang mit der Natur, von dem, was ihnen das Land und das Meer bieten. Nicht so wie wir. Wir interessieren uns nur für Geld.«

Plötzlich hatte Ruth eine Vision. Sie sah Josie an der Universität, wie sie für ein politisches Amt kandidierte, wie sie die anderen Studenten für ein zum Scheitern verurteiltes Projekt um sich scharte und mit ihrer Begeisterung ansteckte. Genau wie Paul früher. Genau wie sie selbst. Mit beiden Beinen im Leben stehend, voller Ideale. Bereit, für jeden in den Kampf zu ziehen, der nicht selbst für sich eintreten konnte. Sie wünschte, sie hätte Josies Fragen nicht so leichthin abgetan. Sie wünschte, sie hätte sich nicht über ihre Ökogruppe lustig gemacht. »Sagtest du, ihr Leben ist realer?«

»Ja.«

»Ich hoffe, du weißt, dass es mehr als eine Realität gibt.«

»Das merkst du schon noch, wenn du erst erwachsen bist«, zitierte Will seine Großmutter.

»Halt den Mund«, sagte Josie. Sie sah ihre Mutter finster an. »Und da wäre noch etwas«, begann sie.

»Ich will es nicht hören«, sagte Ruth. Großer Gott, was wollte Josie ihr denn noch alles an den Kopf werfen? »Siehst du, was ich meine?«, sagte ihre Tochter. »Du redest nie mit mir. Nie. Jedenfalls nicht über die wirklich wichtigen Dinge.«

»Ach, Josie.« Ruth schüttelte den Kopf. »Das stimmt doch gar nicht. Nun sag schon, was du auf dem Herzen hast.«

»Das weißt du doch genau.« Josie tippte mit farbverschmierten Fingern an ihre Ohrstecker. »Ich will nicht mehr in die Schule gehen.«

»Wer will das nicht?«, sagte Will.

Ruth seufzte laut. »Das Thema hatten wir doch schon, Josie. Ich habe dir oft genug gesagt, was ich von dieser lächerlichen Idee halte. Ich habe wirklich keine Lust, darüber noch länger zu diskutieren.« Ruth sah auf die Uhr. »Los, Kinder. Es wird Zeit, dass wir …«

»Es ist mir ernst damit, Mom.« Josie erhob die Stimme. »Ich will nicht mehr in die Schule, sondern auf die Kunstakademie gehen.« Sie klang fast bittend. »Ich wollte schon immer Malerin werden, schon als kleines Kind.«

»Sie ist echt gut«, warf Will ein.

Ruth atmete tief durch. »Und ich sage dir zum hundertsten Mal, dass du dir keine Vorstellung davon machst, wie schwierig es ist, sich als Maler über Wasser zu halten.«

»Geld ist nicht alles im Leben. Eine Arbeit muss auch befriedigend sein.« Josie drückte den Rücken durch. »Und wenn du dich wenigstens ein bisschen dafür interessieren würdest, was ich mache, wenn du dir meine Arbeiten überhaupt mal angesehen hättest, wüsstest du, dass ich es schaffen kann.«

»Ich erlaube dir auf gar keinen Fall, die Schule abzubrechen.« Ruths Ton wurde ebenfalls schärfer. »Ende der Debatte.«

»Wozu braucht denn ein Künstler einen High-School-Abschluss?«

»Was meinst du, wo ich heute stehen würde, wenn mich meine Eltern jedes Mal von der Schule genommen hätten, wenn mir danach zumute war?«

»Hier geht es um mein Leben und nicht um deines«, sagte Josie wütend. »Ich brauche kein Studium, ich brauche keine Zeugnisse. Ich will Malerin werden, sonst nichts.«

»Was du aus deinem Leben machst, wenn du zu Hause ausgezogen bist, ist deine Sache«, antwortete Ruth eisig. »Aber solange ich für dich verantwortlich bin, Josephine, lautet die Antwort nein.«

»Du kannst mich mal!«, schrie Josie. Sie trat nach einem Stuhl und stürmte hinaus.

Ruth konnte es nicht mehr ertragen, ständig in die Defensive gedrängt zu werden. Im Büro wurde sie von niemandem kritisiert, kein Mensch zweifelte ihre Entscheidungen an. Woher nahm sich die Jugend eigentlich das Recht, ständig alles in Frage zu stellen?

»Bald kommt Dad nach Hause«, sagte Will. Er versuchte sich mit der klebrigen Zunge einen Rest Schokoladencreme vom Kinn zu lecken. »Dann fahren wir mit der ›Lucky Duck‹ raus – willst du mitkommen?«

»Ich muss noch ein paar Unterlagen durchsehen, bevor ich mich morgen mit diesem Mann treffe«, antwortete Ruth.

»Okay.«

»Ich muss mich vorbereiten. Sonst würde ich bestimmt mitkommen«, sagte Ruth hilflos.

»Ist schon in Ordnung. Ich wollte dich wenigstens gefragt haben.«

Nach einer weiteren unschönen Diskussion über die naturverbundene Lebensweise der Einheimischen im Gegensatz zur Dekadenz der Sommergäste sprang Josie am Abend wütend von der Wohnzimmercouch auf. »Ihr seid ja so selbstgefällig«, verkündete sie. »Ihr glaubt, alles zu wissen. Ihr und eure reichen, materialistischen Freunde.«

»Reich? Wer ist reich?«, fragte Paul, ohne von der Buchbeilage der New York Times hochzublicken.

»Ted Trotman zum Beispiel. Moms Busenfreund. Die Hälfte der Unternehmen, die zu seinem Konzern gehören, sind berüchtigte Umweltverschmutzer. Außerdem ist er an der Holzindustrie im Amazonasbecken beteiligt, die Tag für Tag riesige Flächen Regenwald zerstört.«

»Wahrscheinlich weiß er davon gar nichts.«

»Und ob er es weiß. Das weiß doch jedes Kind. Und jetzt hat er sich an seinem Haus auch noch diese hässliche Sonnenterrasse anbauen lassen. Aus honduranischem Mahagoni, das muss man sich mal vorstellen. Dafür müsste man ihn ins Gefängnis stecken. Wer so reich ist wie er, der hat auch Verantwortung anderen gegenüber.«

»Sonst hast du nichts an unseren Freunden auszusetzen?«, fragte Paul. »Dass sie reich sind, kein Verantwortungsgefühl haben und gern ihr Grundstück verschönern? Oder hast du noch mehr auf Lager?«

»Das ist nicht witzig, Dad.«

»Was stört dich denn noch?«

»Zum Beispiel, dass ihr euch nie über etwas Interessantes unterhaltet. Immer labert ihr bloß über Filme, Urlaube und Kochrezepte. Aber nie über wirklich wichtige Themen.«

»Lass es gut sein, Josie.«

»Ich wette, du könntest nicht mehr als drei einheimische Familien aufzählen. Für euch sind sie doch bloß Kuriositäten, wie Ausstellungsstücke in einem Museum.«

»Würdest du mir mal verraten, Josephine, was dir das Recht gibt, dich zum Richter über deine Eltern aufzuschwingen? Wie würde es dir gefallen, wenn deine Mutter und ich so an dir herumnörgeln würden? Und warum spielst du uns eigentlich immer gegen die Leute hier aus?«

»Weil sie nicht, wo sie gehen und stehen, den Planeten zerstören. Weil sie nicht bloß rumsitzen und Seminararbeiten korrigieren. Sie leben von ihrer eigenen Hände Arbeit. Von ihren Fertigkeiten.«

»Und mit welchen Fertigkeiten würdest du dir deinen Lebensunterhalt verdienen, wenn du irgendwann von zu Hause wegläufst, um unter realen Menschen zu leben, wie du es uns schon als kleines Kind angedroht hast, Josephine?«, stichelte Paul.

»Ich könnte meine Bilder verkaufen.«

»Ach, ja?« Paul zog die Augenbrauen hoch.

»Und wenn das nicht ginge, könnte ich … könnte ich auf den Hummerbooten aushelfen.«

»Klar, die brauchen ja auch dauernd neue Leute«, sagte Will spöttisch.

Josie wurde rot. »Wenigstens würde ich nicht in einer beschissenen Bank arbeiten oder Aktien verkaufen. Oder die Umwelt verpesten. Oder mit einem Scheißbulldozer den Regenwald niederwalzen.«

»Nimm dich ein bisschen zusammen, Josephine.«

»Dad hat früher so schöne Schüsseln und Kästchen aus Holz gebaut«, warf Will ein. »Die waren echt klasse, Dad.«

»Das hat er doch schon seit Jahren nicht mehr gemacht. Außerdem musste er nicht davon leben. Es war bloß ein blödes Hobby.«

»So blöd war es auch wieder nicht«, sagte Ruth. »Er war wirklich gut.«

»Und ich kann wirklich gut malen.«

»Nicht schon wieder dieses Thema«, sagte Ruth scharf. »Welches Thema?«, fragte Paul.

»Deine Tochter hat sich in den Kopf gesetzt, die Schule abzubrechen und Künstlerin zu werden.«

»Und ich könnte es schaffen«, sagte Josie. »Wenn ihr es nur erlauben würdet.«

»Nein.« Paul schüttelte den Kopf.

»Lass uns darüber reden, wenn du deinen High-School-Abschluss in der Tasche hast«, sagte Ruth.

»Wie oft muss ich denn noch sagen, dass ich keinen Abschluss brauche?«, entgegnete Josie. »Wenn ihr mich ein bisschen ernst nehmen würdet, wüsstet ihr, dass ich es schaffen kann. Ich brauche bloß ein bisschen Hilfe für den Anfang.«

»Und wenn du es nicht schaffst?«, fragte Ruth.

»Ich schaffe es aber.«

»Dann würdest du ohne High-School-Abschluss auf der Straße stehen, von einem College- oder Universitätsabschluss ganz zu schweigen.«

»Ich brauche keinen verdammten Abschluss«, sagte Josie. »Doch.«

»Deine Mutter hat recht«, sagte Paul.

»Ihr kotzt mich an.« Josie stürmte aus dem Zimmer. Dabei blieb sie mit dem nackten Fuß an einer der beiden chinesischen Bodenvasen hängen, die rechts und links neben der Tür standen. Die Vase kippte gegen die Wand und fiel auf den Parkettboden. Sie zersprang zwar nicht, doch am Hals war ein großes, dreieckiges Stück herausgebrochen.

»Josie!« Ruth war außer sich. Sie hob die Scherbe auf und strich mit dem Finger über die schartige Kante. »Verdammt noch mal! Kannst du nicht besser aufpassen?«

Sie war selbst erstaunt, wie wütend sie war. Schließlich konnte die Vase wieder geklebt werden, wenn sie die Zeit fand, sie zur Reparatur zu bringen. Es war auch nicht allein das immer schlechter werdende Verhältnis zu ihrer Tochter, das sie so verbitterte. Die angeschlagene Vase bedeutete mehr als das: Sie erschien Ruth als ein Symbol für den Riss, der sich in ihrer Familie aufgetan hatte und den sie kaum begriff.

Josie lief weiter, ohne sie einer Antwort zu würdigen. Als Ruth in die Diele kam, war sie schon auf halber Höhe der Treppe. »Josephine!«

Das Mädchen blieb, eine Hand auf dem Geländer, trotzig stehen, ohne sich umzudrehen. »Ja?«

»Du kommst auf der Stelle zurück«, sagte Ruth.

»Wieso?«

»Du weißt, wieso. Du könntest dich wenigstens entschuldigen. Das ist das Mindeste, was ich von dir erwarte.«

»’tschuhuldigung, Mutter«, sagte Josie in provozierendem Singsang.

Ruth sprang schneller die Treppe hinauf, als sie es selbst für möglich gehalten hätte, und packte sie am Arm. »Was erlaubst du dir?«, fuhr sie ihre Tochter an und schüttelte sie. Josie wandte das Gesicht ab. »Wie kannst du es wagen, mir gegenüber einen solchen Ton anzuschlagen? Und das, nachdem du durch deine Achtlosigkeit meine Vase beschädigt hast?« Ein Speicheltröpfchen traf die Wange des Mädchens. Direkt unter dem Haaransatz zeichnete sich die feine Narbe ab, die sie bei dem Sturz vom Felsen davongetragen hatte. Wo war das magere kleine Mädchen mit dem fröhlichen Lachen und dem liebevollen Wesen nur geblieben?

Josie wischte sich das Gesicht ab. »Das ist genau das Problem mit dieser Familie«, sagte sie.

»Was ist das Problem?«

»Die Sachen sind wichtiger als die Menschen.«

»Du redest wieder einmal Unsinn.«

»Ach, ja?«

Ruth starrte sie an. Josies Augen funkelten feindselig. Doch es lag noch etwas anderes darin. Hinter der Aufsässigkeit ihrer Tochter meinte Ruth auch Unsicherheit zu spüren. Vielleicht sogar Angst. Das kam Ruth gerade recht. Unsicherheit war gut. Angst war besser. Sie öffnete den Mund, um ihr gehörig die Meinung zu sagen, besann sich dann aber eines Besseren. Die Kluft zwischen ihnen erschien ihr mit einem Mal unüberwindlich.

Sie ließ ihre Tochter los und drehte sich um. »Es geht mir doch gar nicht so sehr um die Vase«, sagte sie matt. »Obwohl sie mir viel bedeutet, aber nicht nur, weil sie ein besonders schönes Stück ist, sondern weil Ururgroßvater Carter sie aus China mitgebracht hat. Es gibt sie hier schon so lange wie dieses Haus. Siehst du denn nicht, dass du mehr zerbrochen hast als eine Vase? In gewisser Weise hast du das Band zwischen ihm und uns zerrissen.«

»Ich habe mich doch schon entschuldigt, was willst du denn noch von mir?«

Paul kam mit der Zeitung in der Hand aus dem Wohnzimmer. Über den Rand seiner Lesebrille sah er zu ihnen hinauf. »So redet man nicht mit seiner Mutter, Josephine«, sagte er. »Und tu nicht so begriffsstutzig. Verstehst du denn nicht, dass es ihr nicht um die Vase leid tut? Sie ist traurig, weil du gegen den Geist dieses Hauses verstoßen hast.«

»Den Geist des Hauses?«, höhnte Josie.

»Du hast ganz richtig gehört. Und jetzt entschuldigst du dich bei deiner Mutter.«

Es war Josie anzumerken, dass es ihr nicht leicht fiel, klein beizugeben, aber zuletzt rang sie sich doch eine Entschuldigung ab und marschierte in ihr Zimmer.

»Großer Gott«, sagte Paul, der ihr nachsah, »womit haben wir das verdient?«

Ruth war ihm dankbar für seine Unterstützung, auf die sie kaum zu hoffen gewagt hatte. In letzter Zeit fühlte sie sich von ihm viel zu oft allein gelassen. Ihr wurde warm ums Herz. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Danke, Schatz«, sagte sie.

Geistesabwesend tätschelte er ihre Hand, fast so, als sei sie eine seiner Studentinnen.

»Soll ich meinen Beruf aufgeben?«, fragte sie plötzlich. »Wie kommst du denn darauf?«

»Vielleicht ist der Preis höher, als ich geglaubt habe.« Das Wissen, das sie die kostbarsten Phasen im Leben ihrer Kinder nicht zurückholen konnte, schmerzte wie eine alte Wunde. »Vielleicht sollte ich lieber zu Hause bleiben, damit sie etwas von mir haben.«

»Komm zu dir, Ruth. Das würdest du doch gar nicht aushalten.«

Ruth wollte es nicht wahrhaben. »Ich weiß nicht …«

»Die Zeit, als sie dich wirklich gebraucht haben, ist lange vorbei.«

»Schon möglich, aber.«