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1. Auflage 2020

© Verlag Ankh-Hermes bv, Deventer 2003

Aus dem Holländischen von Andrea Fischer

ISBN 978-3-96861-095-5

INHALT

Einführung

Der innere Führer

Eine entscheidende Lebenskrise

So still und blass

1. Der Schock

Die schwierigste Aufgabe im Leben

Ein Gefühl von Unsicherheit

Die spirituelle Suche

Wo bist du?

2. Das kann doch nicht wahr sein…

Eine Filmkamera

Warum?

Fragen und Entscheidungen

Was können die Angehörigen tun?

Unterwegs

3. Die ersten Schritte im dunklen Tunnel

Ein Fremder im Alltag

Bedeutsame Erinnerungen

Zwei gänzlich unterschiedliche Arten von Trauerprozessen

Die ersten Emotionen werden spürbar

Die Kleider unseres geliebten Partners

Was können die Angehörigen in dieser Phase tun?

Auf der Reise

4. Mitten im Tunnel

Depression

Schuldgefühle

Die Suche

Und ewig währet die Liebe

5. All diese Emotionen…

Wut

Das Chaos beginnt sich zu ordnen

(Über-) Empfindlichkeit

Flucht in Drogen

So leer

6. Die dunkle Nacht

Das Wunder des Lichtes

7. Loslassen

Kraft schöpfen und wachsen

Dankbarkeit

Freilassende Liebe

Das Dunkel beginnt sich zu lichten

Du lebst weiter in mir

8. Wieder offen für das Leben

Licht am Ende des Tunnels

Reichtum in der Armut

Das Modell von Kübler-Ross

Der Trauerprozess – ein ganz persönlicher Weg

Ich weiß es nicht

9. Träume während des Trauerprozesses

Ich weiß es

10. Eine bleibende Verbindung

Über den Autor

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Für Dicky

Der Verlust traf mich

Wie ein Blitzschlag.

Von einem Moment

Auf den anderen

Wurde es völlig dunkel.

Du hattest keine Wahl:

Du gingst tastend und suchend

Mitten durch die Schluchten

Von Verzweiflung

Und Ratlosigkeit.

Du verlorst und gewannst:

Denn auf dieser Suche

Wurde die Erkenntnis geboren,

Und auch tieferes Wissen,

Wurde der echte Lebensquell

Erschlossen.

Nun lebst du

Von diesem Reichtum,

Der im Dunkel

Geboren wurde.

Du verlierst und gewinnst

Doch der größte Gewinn

Ist das Wissen, dass die Liebe

Ewig währt.

Denn die Liebe

Stirbt niemals.

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EINFÜHRUNG

Kummer – keiner von uns bleibt davon verschont.

Früher oder später tritt er in unser Leben.

Oft ist Kummer mit dem Verlust eines geliebten Menschen verbunden – mit dem Verlust eines Menschen an den Tod, aber auch an das Leben. Der Kummer, mit dem wir dann zurückbleiben, gehört zu den schwersten Formen von Kummer, die es in diesem Erdenleben gibt. Wir sind mit unseren Lieben so stark verbunden – von Herz zu Herz, bis in die kleinste Faser – dass uns der Abschied von einem nahestehenden Menschen zutiefst trifft und innerlich zerreisst. Wir sterben selbst ein Stück weit mit, sind selbst ‘ein bisschen tot’, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Man kann auch sagen: Unser Herz stirbt ein Stück weit, wenn wir von einem geliebten Menschen Abschied nehmen müssen. Nun ist das Herz der verletzlichste Punkt unseres gesamten Wesens und unserer ganzen Person, und gerade an dieser empfindlichsten Stelle wird der Kummer am stärksten empfunden. Gerade im Herzen schmerzt es besonders, wenn wir von einer Person Abschied nehmen müssen, mit der wir in Liebe verbunden waren.

Kummer – keiner von uns bleibt davon verschont.

Früher oder später tritt er in unser Leben.

Es gibt viele Formen von Kummer; neben dem Kummer um den Verlust eines geliebten Menschen kann man auch an Kummer leiden, wenn man den Arbeitsplatz verliert, der einem lieb war und Halt gab. Man hat Sorgen, wenn einen die Gesundheit im Stich lässt und man zum Invaliden wird. Man ist traurig, wenn der Hund stirbt. Kummer entsteht stets durch Verlust − Verlust eines geliebten Menschen, Verlust der Gesundheit, Verlust der Arbeit oder Verlust eines Tieres. „Es gibt so viele Arten von Verlust“, sagt die Dichterin Vasalis. Und sie fährt fort: „Doch von all diesem Kummer verursacht nicht der Schnitt den größten Schmerz, (sie meint damit das Band der Liebe, das durchschnitten wird), sondern das Abgeschnittensein.“ Wenn man im Lauf der Zeit, so verstehe ich ihre Worte, den Schmerz der Entbehrung, des Kummers und des Alleinseins ganz heftig, sozusagen mit allen Fasern des Herzens, spürt, schmerzt dies noch mehr als der Schock selbst, den man bei diesem Verlust erlitten hatte.

Kummer – keiner von uns bleibt davon verschont.

Früher oder später tritt er in unser Leben.

Durch welchen Verlust dieser Kummer auch verursacht wird, wir müssen damit leben, ob wir wollen oder nicht. Allein um zu überleben, müssen wir lernen, damit umzugehen. Wir müssen es durchstehen, durchleben und verarbeiten – Schritt für Schritt. Daher beginnt mit jedem Verlust das harte Brot der so genannten „Trauerarbeit“. Freud benutzte 1915 dieses Wort zum ersten Mal − Trauerarbeit. Mit diesem Ausdruck wollte er sagen, dass man hart daran arbeiten muss, um vom Kummer genesen zu können, um wieder darüber hinaus zu wachsen und nicht auf halbem Wege stecken zu bleiben. Trauerarbeit – das klingt wie ein sachlicher Terminus, doch hinter diesem Wort verbirgt sich eine Welt der Gefühle, des Kummers, der Einsamkeit und des Durchleidens.

In diesem Buch geht es um die Art und Weise, wie wir Schritt für Schritt den Kummer durchleben. Wie gehen die Menschen damit um? Was erleben sie während dieser Zeit? Welche Phasen durchlaufen sie dabei? Natürlich ist jeder Mensch einmalig, und jeder Mensch verarbeitet den Kummer seines Lebens auf seine eigene, einmalige und persönliche Weise. Und doch ist zugleich auch die Rede von einem relativ allgemein gültigen Verlaufsmuster, das immer wieder wie ein roter Faden an der Art und Weise erkennbar ist, wie Menschen auf Kummer reagieren. Daher kann der Einblick in diesen Verlauf, in diesen Prozess, den man durchlebt, wenn einem der Kummer im Griff hat, Mut, Halt und sogar ein wenig Trost spenden. Denn man entdeckt, dass es gar nichts so Exotisches ist – dieses Chaos an Gefühlen, dem man ausgesetzt ist. Man entdeckt, dass man nicht verrückt wird oder ist, sondern dieses verrückt machende Chaos an Gefühlen nun einmal zum Verarbeitungsprozess dazugehört. Man entdeckt, dass es eine Perspektive gibt und es wirklich möglich ist, aus diesem Kummer als ein neuer, gestärkter Mensch hervorzugehen. Man entdeckt, dass man viele Brüder und Schwestern hat, die den gleichen Prozess selbst schon durchlebt haben. Daher kann der Einblick in den ungefähren Verlauf des Trauerprozesses, den man als Mensch durchlebt, wenn man gezwungen ist, von einem geliebten Menschen Abschied zu nehmen, Trost und Mut spenden.

Niemand kann einem anderen Menschen seinen Kummer abnehmen. Wir können einander auch nicht vor diesem Kummer bewahren. Wir können einander jedoch durch diesen Kummer hindurch begleiten. Wir können uns gegenseitig Mut zusprechen und einander stützen. Eine Art der Ermutigung kann darin bestehen, einander Einblick zu schenken in das, was denn eigentlich mit einem Menschen geschieht, der einen tiefen Kummer erleidet. So ist dieses Buch als Begleiter gedacht, der Menschen während ihres Trauerprozesses Einsichten und Mut vermittelt.

Doch darüber hinaus wurde dieses Buch auch für all die Menschen geschrieben, die etwas von dem erspüren und begreifen wollen, was in einem anderen Menschen vor sich geht, der sich auf dem Weg durch einen Kummer befindet; denn nahezu immer begegnen wir Menschen, die vor noch nicht allzu langer Zeit einen geliebten Menschen verloren haben. Wie reagiere ich dann? Was kann ich sagen, was sollte ich besser nicht sagen? Was könnte ich eventuell für den anderen tun? Der Einblick in den Trauerprozess kann uns helfen, den Nächsten besser zu verstehen und, falls möglich, diesem eine Stütze zu sein. Das ist in unserer heutigen Zeit auch bitter nötig. Denn das Tabu „Tod“ mag heute vielleicht durchbrochen sein, das Tabu „Kummer“ hingegen existiert heute noch in voller Lebensgröße. Ein Beispiel für dieses Tabu mag dies verdeutlichen. Oft wird, ohne nachzudenken, angenommen, dass Menschen etwa zwei Jahre nach dem Verlust eines geliebten Menschen langsam darüber hinweggekommen sind. Man nimmt an, dass diese Menschen dann dem Leben wieder offen gegenüberstehen und im Laufe dieser zwei Jahre gelernt haben, den geliebten Menschen loszulassen. So reagieren dann viele gegenüber jemandem, der etwa vor zwei Jahren einen geliebten Menschen verloren hat. „Na, jetzt bist du ja sicher darüber hinweg, oder?“, fragen sie dann freundlich. Doch jeder, der einen geliebten Menschen verloren hat, weiß, dass sehr oft erst nach etwa zwei Jahren das Gefühl von Verlorenheit, Einsamkeit und Kummer stärker als zuvor auftritt. Es scheint ganz so, als benötige unsere Seele etwa zwei Jahre, um sich zu vergewissern, dass es wirklich wahr ist – der andere kommt niemals wieder zurück. Es scheint auch, als ob wir zwei Jahre brauchen, um die Tiefe des Kummers fühlen zu dürfen oder zu können. Zwei Jahre nach dem Verlust eines geliebten Menschen – allgemein gesprochen, in jeder individuellen Situation mag der Fall etwas anders gelagert sein; beim einen verläuft dieser Prozess schneller als beim anderen – befinden sich Schmerz und Kummer auf dem Höhepunkt. Wenn dann das Umfeld einem mit den Worten begegnet: „Na, jetzt bist du ja sicher darüber hinweg, oder?“, fühlt sich derjenige, der so angesprochen wird, so unglaublich allein, weil so ein Ausspruch deutlich macht, dass der andere überhaupt nicht versteht, was er oder sie gerade durchlebt. Einblick in den Trauerprozess kann den Angehörigen also helfen, mit mehr Einfühlungsvermögen und Verständnis zu reagieren und dem anderen eine Stütze zu sein.

Wir leben heute eindeutig in einer Zeit der Schnelllebigkeit, in der alles „schnell-schnell“ gehen muss. Diese Tendenz ist gegenläufig zur Geschwindigkeit des Trauerprozesses; denn ein Trauerprozess erfordert Zeit – viel Zeit. Und dabei hat dieser Prozess seine eigene Dynamik, sein eigenes Tempo. Ein Tempo, das man nicht beschleunigen kann, selbst wenn man dies möchte. Das bedeutet, dass Menschen, die einen Trauerprozess durchmachen, eine Zeit lang nicht optimal leistungsfähig, „nicht ganz bei der Sache sind“ und, wirtschaftlich betrachtet, eine Zeit lang keine optimalen Arbeitnehmer abgeben. Das ist in unserer Zeit beinahe so etwas wie eine Todsünde. Respekt vor der großen Lebensaufgabe, den tiefen Kummer zu verarbeiten, den der Verlust eines geliebten Menschen nun einmal verursacht, kann dazu beitragen, dass wir als Gemeinschaft jemandem auch den erforderlichen Raum und die Zeit dazu schenken, um diese Lebensaufgabe so gut wie möglich zu meistern. Dann liegt der Nachdruck auf dem, was der andere benötigt, und nicht auf dem wirtschaftlichen Nutzen, den jemand für die Gemeinschaft darstellt.

Jemand, der sichtlich unter dem Verlust eines geliebten Verstorbenen leidet, ist auch eine gewisse „Bedrohung“ für die Umgebung. Durch seinen deutlichen Kummer erinnert der andere immer wieder an den Tod und an die unwiderrufliche Weise, auf welche dieser unvermittelt in das Leben treten kann. Darüber hinaus wissen wir nicht so genau, was wir zu jemandem, der Kummer hat, eigentlich sagen könnten. Daher meiden wir den anderen lieber ein wenig. Oft berichten Personen, die einen geliebten Mitmenschen verloren haben, wie alle möglichen Bekannten im Supermarkt sich in den ersten Monaten nach diesem Verlust so verhielten, als ob sie ihn oder sie nicht sehen würden. Sie „tauchen“ in einen anderen Gang ab oder beginnen scheinbar interessiert allerhand Artikel zu begutachten, um eine Begegnung zu vermeiden. So groß ist offensichtlich die Angst vor dem Tod, so ohnmächtig fühlen sich viele in der Nähe einer Person, die tiefen Kummer hat! Der Einblick in den Trauerprozess kann dazu beitragen, dass wir diese Angst überwinden und dadurch zu einer echten Stütze und Hilfe für den anderen werden. Wir müssen lernen, den anderen nicht länger als Bedrohung zu betrachten, sondern einfach als jemanden, der uns etwas beibringen kann, wie nämlich ein Mensch durch das Dunkel im Leben gehen kann und es schafft, als ein anderer, neuer Mensch daraus hervorzugehen. Die Angst soll dann dem Respekt und der Ehrfurcht weichen. Wir müssen ja jemandem, der Kummer hat, nichts sagen. Wir sollten „nur“ unser Herz öffnen und lauschen.

DER INNERE FÜHRER

Jahrelang durfte ich als Pfarrer Menschen begleiten, die einen geliebten Menschen an den Tod verloren hatten. Dabei ist mir etwas ganz Besonderes aufgefallen, das mich tief berührt hat. Zu Beginn dachte ich, dass ich als Seelsorger allerhand Ratschläge geben und allerlei tiefsinnige Dinge vorschlagen müsse, so dass der Mensch, der in einem tiefen Kummer steckte, wieder einen Schritt nach vorne machen könnte. Doch ich entdeckte sehr schnell, dass der andere ganz bestimmt nicht vor mir saß, um auf meine Ratschläge zu warten, geschweige denn darauf, meine Stummheit und mein Schweigen zu ertragen. Als ich dann lernte, genauer wahrzunehmen, was eigentlich mit solchen Menschen im Inneren geschah, kam ich mehr und mehr zu der Überzeugung, dass in jedem Menschen eine tiefe geistige Kraft verborgen liegt, die als eine Art innerer Führer handelt. Meist waren sich die Menschen dieser Kraft oder dieser Führung selbst gar nicht bewusst; und doch waren es ihre eigenen Impulse, ihre eigenen spontanen Eingebungen, ihre Träume und ihre eigenen Aussagen, in welchen diese innere Führung fühlbar und sichtbar wurde. So erkannte ich mehr und mehr, dass ich als Pfarrer ‘nur’ dazu diente, diesem inneren Begleiter mit Ehrfurcht auf die Spur zu kommen; dass ich diesen Menschen ihren inneren Führer ins Bewusstsein rufen und ihnen helfen durfte, seinen Anweisungen zu folgen. In diesem Begleiter finden wir den besten Führer, der denkbar ist, um diese Menschen Schritt für Schritt durch den schweren Trauerprozess auf eine ganz individuelle, eine ganz persönliche und einzigartige Weise hindurch zu geleiten.

Dies alles hat mich gelehrt, wie sehr wir Menschen geführt werden, und dass es ‘nur’ darum geht, uns dieser Führung bewusst zu werden und ihren Anweisungen zu folgen. Ich weiß zu gut, dass das, was ich jetzt sage, nicht beweisbar ist. Dazu ist das Werk dieses inneren Führers auch zu subtil, zu tief im Inneren, als dass wir es zuordnen könnten. Doch wer in Mitgefühl, Liebe und stiller Andacht Menschen zuhört, die Kummer durchleiden, wird diesem inneren Führer auf die Spur kommen – und wird, genauso wie ich, einen Eindruck von der wundervollen Hilfe bekommen, die wir Menschen gerade in der dunklen Zeit unseres Lebens aus der geistigen Welt erhalten.

Ich lernte mit der Zeit, dass ich ganz und gar auf diese Kraft vertrauen konnte − es ist genau diese Kraft, die die Menschen Schritt für Schritt durch das Dunkel hindurch geleitet, ihnen hilft, sich ihren Schmerz und ihren Kummer bewusst zu machen, ihn zu durchleben und loszulassen. Es ist diese Kraft, die den Hinterbliebenen erst die Einsicht schenkt, dass die Liebe unsterblich ist und wir auf ewig in Liebe miteinander verbunden bleiben, auch wenn wir zwischenzeitlich durch den Tod voneinander getrennt werden. Das Bedeutsame für mich war dabei, Menschen in ihrer tiefsten Trauer zur Seite stehen zu können, ohne etwas zu sollen oder zu müssen; denn die Hilfe kam nicht von mir, sondern von jener inneren Geisteskraft, über die jeder von uns verfügt, auch wenn wir uns dieser oft nicht oder kaum bewusst sind.

EINE ENTSCHEIDENDE LEBENSKRISE

Die Art und Weise, wie wir mit unserem Kummer umgehen und ihn verarbeiten, ist von entscheidender Bedeutung für unser ganzes weiteres Leben. Wenn wir diesen Kummer nicht richtig verarbeiten, kann er uns zynisch machen, verbittert und hart. Dieser Zynismus entspringt allerlei Gefühlen von Wut und Zorn (auf Gott, auf das Leben oder auf den geliebten Menschen, der uns durch ihren oder seinen Tod im Stich gelassen hat), die wir uns selbst nicht zugestanden und in einen verborgenen Winkel unserer Seele verdrängt haben. Denn es ist durchaus schwer, dieses irrationale Wutgefühl auf den Verstorbenen zuzulassen, der uns im Stich gelassen hat. Der Verstorbene kann doch nichts dafür? Er oder sie tat das doch nicht mit Absicht? Unser logisches Denken verdrängt also das irrationale Gefühl von Wut in seinen verborgensten Winkel. Doch was verdrängt wird, arbeitet in unserer Seele durchaus weiter und tritt auf Umwegen wieder an die Oberfläche, und zwar oft in Form eines gewissen Zynismus gegenüber unserem engsten Umkreis. Mit diesem Zynismus reagieren wir beispielsweise auch auf allerhand Berichte in der Zeitung oder im Fernsehen. Dies ist das geheime Ventil für unsere Wutgefühle, die wir uns nicht bewusst machen können oder wollen.

Verbittert werden wir, wenn wir bei der Frage nach dem „Warum“ steckenbleiben. Warum muss der andere (so früh, so jung) sterben? Diese Verbitterung entsteht, wenn wir nicht durch die Tiefe des Kummers hindurch in der Stille zu einer anderen Form von Antwort, einer höheren Form von Einsicht erwachen, wenn wir nicht durch das Dunkel hindurch zu einem „Darum“ erwachen wollen. Diese Antwort kann wirklich nur im tiefsten Dunkel unserer Verzweiflung in uns aufblühen. Im tiefsten Dunkel wird das Licht geboren. Wenn wir uns selbst diese Gefühle der Verzweiflung nicht zugestehen, weil sie zu heftig und zu schwer erträglich sind, wenn wir diese Gefühle verdrängen und uns beispielsweise in unsere Arbeit stürzen, um nur ja nichts fühlen zu müssen, dann können sie eine gewisse Verbitterung in uns hervorrufen.

Zehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes hatte ich ein Gespräch mit ihr. Während dieses Gesprächs sagte sie unter anderem Folgendes: „Ich begreife nicht, warum mein Mann so jung sterben musste. Ich finde das nicht fair. Wenn ich irgendwo hingehe, sehe ich immer nur Menschen, die noch zusammen sind, während ich überall allein hingehen muss. Ich finde es nicht fair, dass ich meinen Mann so jung verlieren musste, während andere so viel länger zusammen bleiben dürfen.“ Diese Frau hatte den Schmerz und den Kummer verdrängt und nicht wirklich durchlebt. Daher war sie verbittert geworden.

Wenn wir im Trauerprozess stecken bleiben, kann nicht nur ein gewisser Zynismus in uns aufkommen oder eine gewisse Verbitterung, sondern auch eine gewisse Härte oder Gefühllosigkeit entstehen. Wenn jemand seine Verzweiflung, seinen Kummer und seine Einsamkeit nicht wirklich gefühlsmäßig zu durchleben wagt, sondern alles verdrängt, kann er auch kein Gefühl von Freude und Dankbarkeit mehr erfahren. Doch wer weder Freude noch Kummer empfinden kann, der wird selbst hart und gefühllos.

Doch es geht auch anders – und glücklicherweise geschieht dies auch ganz oft. Es kann sein, dass man aufgrund einer Lebenskrise ein ganz anderer, ein ganz neuer Mensch wird. Wer entdeckt, dass er oder sie in der Lage war, die tiefste Einsamkeit zu durchleben, ohne daran endgültig zugrunde gegangen zu sein, entwickelt ein neues Selbstvertrauen. Wer im tiefsten Dunkel eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Todes und des Lebens gefunden hat, kommt als ganz anderer Mensch aus dieser Lebenskrise wieder ans Tageslicht, als ein Mensch mit eigenen Antworten und Einsichten, die wirkliche Antworten und Einsichten sind, die niemand ihm jemals wieder wegnehmen kann.

Oft entdecken Menschen in jenem tiefsten Dunkel etwas ganz Besonderes. Sie entdecken, dass sie, wenn sie am Ende ihrer geistigen Kräfte angelangt sind, auf wundersame und unbegreifliche Weise aufgefangen und getragen werden. Ich kann es nicht anders umschreiben als mit folgenden Worten: Viele Menschen machen die Erfahrung, dass gerade in ihrem Kummer andere, größere, geistige Kräfte fühl- und spürbar werden, die ihnen zu Hilfe eilen und in aller Stille Führung bieten. Jeder, der dies erfahren darf, erwacht aus dieser Lebenskrise als ein anderer, als ein neuer Mensch. Dieses Wissen, dass wir Menschen dabei niemals allein sind, sondern dass wir, wenn wir fallen, stets aufgefangen werden – all dies wurzelt nie in der Gegenwart, sondern in der Zeit, die zuvor aus der geistigen Welt als gut und richtig dafür bestimmt wurde. Diese Einsicht, dieser innere Reichtum, sind der größte Gewinn, den ein Mensch aus dem Dunkel des Lebens erwerben kann, und der ihn für immer zu einem Menschen macht, der es wagt, seinem weiteren Lebensweg mit neu erworbenem Vertrauen, mit neuer Ehrfurcht und neuer Dankbarkeit entgegenzutreten.

Die Art und Weise, wie wir den Trauerprozess durchlaufen, ist also entscheidend für unsere weitere Zukunft auf Erden und dafür, dass ein Mensch aufrecht aus dieser Lebenskrise heraus wieder ans Licht tritt. Auch aus diesem Grund ist es so wichtig, dem Trauerprozess alle Aufmerksamkeit zu schenken.

Das Hauptaugenmerk dieses Buches liegt auf der Art und Weise, wie wir den Verlust eines geliebten Menschen durchleben und verarbeiten können. Doch im Prinzip kann jeder, der auf die eine oder andere Weise einen Verlust durchlebt, sich in dieser Beschreibung wiedererkennen; denn der Trauerprozess, den wir, bei welchem Verlust auch immer, durchleben, weist immer ein und dasselbe Grundmuster auf. Möge dieses Buch allen Leserinnen und Lesern, die einen Verlust erlitten haben, Trost und Ermutigung sein; möge es allen, die in ihrem Umfeld mit einer Person zu tun haben, die mit einem Verlust konfrontiert ist, neue Einsichten schenken.

SO STILL UND BLASS

So still und blass liegst du da,

Ich kann es noch nicht fassen.

Ich hör‘ noch deine Stimme,

Ich seh‘ das stille Lächeln

Mit dem du schweigend zu mir blickst.

So still und blass liegst du da,

Ich kann es noch nicht fassen.

Ich seh‘ es wohl, doch immer noch

Denk’ ich, dass du gleich

Die Augen wieder öffnest

Und zu mir herüberlachst,

Als wär’s ein schlechter Scherz.

So still und blass liegst du da,

Ich kann es nicht begreifen.

Wo bist du hingegangen?

Besteht denn Aussicht,

Dass deine Augen sich wieder öffnen werden,

Dort, an der letzten Schranke,

Wo die grenzenlose Welt beginnt?

So still und blass liegst du da,