Inhalt

Einleitung

Kapitel Eins: Der Weg nach Princeton

Kapitel Zwei: Quantenfolgerungen

Kapitel Drei: Der Beobachter und das Beobachtete

Kapitel Vier: Der Weltlehrer

Kapitel Fünf: Urteilsloses Gewahrsein

Kapitel Sechs: Drei Tagebücher

Kapitel Sieben: Im Spiegel von Beziehungen

Kapitel Acht: Ojai

Kapitel Neun: Das Wesen der Intelligenz

Kapitel Zehn: Ganzheit und Fragmentierung

Kapitel Elf: Bohms Vorbehalte

Kapitel Zwölf: Das Ende der Zeit I

Kapitel Dreizehn: Das Ende der Zeit II

Kapitel Vierzehn: Das Ende der Zeit III

Kapitel Fünfzehn: Das Ende der Zeit IV

Kapitel Sechzehn: Konfrontation

Kapitel Siebzehn: Denken als System

Kapitel Achtzehn:Physik und Metaphysik

Kapitel Neunzehn: Die Quelle der Offenbarung

Kapitel Zwanzig: Folgerungen und Reflexionen

Anhang 1: Moody und Bohm im Dialog überKrishnamurti und sein Werk

Anhang 2: Moody und Bohm über die Zeit

Anhang 3: Physik und die Naturgesetze

Danksagung

Biographische Quellen

Bibliographie

Photos

Foto: Mark Edwards, © Krishnamurti Foundation Trust

 

 

 

David Edmund Moody

Physik und

Freiheit

Ein außergewöhnlicher Gedankenaustausch

zwischen David Bohm und J. Krishnamurti

 

 

Übersetzung aus dem Englischen von

Petra Michel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der englischen Originalausgabe:

An Uncommon Collaboration

David Bohm and J. Krishnamurti

© 2016 David Edmund Moody

 

Deutsche eBook Ausgabe:

1. Auflage 2020

© Crotona Verlag GmbH & Co. KG

Kammer 11 | D-83123 Amerang

www.crotona.de

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen, fotomechanische

Wiedergabe, Tonträger jeder Art und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

 

Übersetzung aus dem Englischen: Petra Michel

Umschlaggestaltung: Annette Wagner

 

Umschlagphoto von Mark Edwards. Copyright Krishnamurti Foundation Trust.

Der Autor bedankt sich bei der Krishnamurti Foundation of America und dem

Krishnamurti Foundation Trust, England für die Unterstützung bei der Auswahl und Reproduktion der Fotos.

Die folgenden Zitaten dieses Buches wurden mit Erlaubnis wiedergegeben.

Zahlreiche Zitate [pp. 18-397; 5000 Worte] aus THE ENDING OF TIME by J. KRISHNAMURTI and DR. DAVID BOHM. Copyright (c) 1985 by Krishnamurti Foundation Trust Limited. Reprinted by permission of HarperCollins Publishers.

Zitate der Seiten pp. 516-17, 518-19, 521, 523, 525-6, 534-5 [864 Worte] aus THE AWAKENING OF INTELLIGENCE by J. KRISHNAMURTI. Copyright (c) 1974 by Krishnamurti Foundation Trust Ltd. Reprinted by permission of HarperCollins Publishers.

Zitate der Seiten pp. 9, 17, 32, 46, 104, 107, 115, 134, 140 [906 Worte] aus THE FIRST AND LAST FREEDOM by J. KRISHNAMURTI. Copyright 1954 by Krishnamurti Writings, Inc., renewed (c) 1982 by J. Krishnamurti. Reprinted by permission of HarperCollins Publishers.

 

Die Erlaubnis für die Verwendung von Zitaten von J. Krishnamurti und anderer Werke, deren Copyright bei dem Krishnamurti Foundation Trust Ltd. liegen, wurde unter der Voraussetzung gegeben, dass eine solche Erlaubnis keine Anerkennung der in diesem Buch ausgedrückten Gedanken beinhaltet.

 

ISBN 978-3-86191-138-8

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Marilyn

 

 

 

Einleitung

 

In einer Welt, die von vielfältigen Problemen − Umweltproblemen, politischen, religiösen, sozialen, ethischen und persönlichen Problemen − sowie von tiefsitzenden Konflikten verzehrt wird, die sich in weit verbreiteter Gewalt niederschlagen, muss man sich die Frage stellen, ob all diese Probleme und Konflikte unterschiedliche Ursachen aufweisen, die kaum miteinander zu tun haben, oder ob sie alle einen gemeinsamen Ursprung besitzen. Unsere Politiker bemühen sich ganz offensichtlich nur scheibchenweise um Einzellösungen, ohne die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die einzig sinnvolle und dauerhafte Antwort darin besteht einzusehen, dass unsere Probleme alle auf eine gemeinsame Ursache zurückgehen. Ein solcher Ansatz könnte eine Tür für einen neuen Ansatz öffnen, der durchaus als revolutionär bezeichnet werden kann.

 

Der psychologische Philosoph J. Krishnamurti (1895-1986) sah die Gesellschaft und die zwischenmenschlichen Beziehungen auf genau diese Art und Weise. Obgleich er keinen akademischen Hintergrund besaß und nur eine minimale Schulbildung vorweisen konnte, war er im Laufe seines Lebens trotzdem in der Lage, eine unabhängige und tiefgreifende Ansicht des alltäglichen Bewusstseins zu artikulieren und seine strukturellen Eigenschaften zu beleuchten, die zu Täuschungen, Konflikten und Störungen sowohl im individuellen als auch im kollektiven Bereich führen. Mit seinem Bestreben hat er Millionen von Leben berührt und sich in Dialogen, von denen viele aufgezeichnet wurden, mit hunderten von Individuen ausgetauscht, die seine Beobachtungen als tief beeindruckend und äußerst wichtig einschätzten. Von all seinen Gesprächspartnern war wohl kaum jemand so bedeutsam wie der theoretische Quantenphysiker David Bohm.

 

Unter den bedeutenden Innovatoren der Geistesgeschichte ist Zusammenarbeit eher die Ausnahme als die Norm. Kopernikus, da Vinci, Galileo, Newton, Shakespeare, Mozart, Einstein, denen wir wohl allen ein gewisses Genie zuschreiben, waren Individuen, die neue Wege beschritten, ohne einen Wegbegleiter an ihrer Seite zu haben. Doch es gibt auch ein paar Gegenbeispiele, wie Watson und Crick, Russell und Whitehead, Freud, Jung (zumindest zeitweise), Rogers und Hammerstein. Diese Ausnahmen sind jedoch gerade wegen ihrer Seltenheit bemerkenswert.

Innerhalb dieser kleinen Gruppe von Genies sind J. Krishnamurti und David Bohm vielleicht die außergewöhnlichsten. Watson und Crick waren beide Biologen, Russel und Whitehead Philosophen, Freud und Jung Psychiater. Im Gegensatz dazu war David Bohm ein herausragender Wissenschaftler, ein Physiker, während Krishnamurti eine Mischung aus Philosoph und Psychologe mit spirituellem oder metaphysischem Hintergrund war. Wie haben diese zwei Männer zueinander gefunden? Was hatten sie gemeinsam? Worüber sprachen sie?

 

Über zwei Jahrzehnte hinweg wurden 144 Gespräche zwischen Krishnamurti und Bohm aufgezeichnet, wobei zahlreiche davon auch als Video vorliegen. Vierunddreißig davon wurden für die Öffentlichkeit transkribiert und editiert und erschienen in einer Reihe von Büchern, wie beispielsweise: Weisheit und Wissenschaft, Vom Werden zum Sein oder Fragen und Antworten.

Krishnamurtis Philosophie ist persönlich und direkt. Es handelt sich dabei keineswegs um abstrakte obskure Theorien oder gar New Age Phantastereien. Er behandelt alltägliche Themen wie Angst, Einsamkeit, Liebe, Tod, Leid, Freude und Selbsteinschätzung. Gleichzeitig sind seine Ansichten jedoch auch subtil und bisweilen nur schwer fassbar. Er achtete sehr auf die jeweilige Rolle von Denken, Fühlen, Sehnsucht, Intelligenz und Erkenntnis sowie auf die Möglichkeit einer Bewusstseinstransformation. Er betonte stets, dass er in keiner Weise eine Autoritätsperson sei und seine Philosophie nur dahingehend bedeutsam sein könne, wenn sie echte Selbsterkenntnis anregen würde.

 

Bohm wird heute als einer der führenden Physiker des 20. Jahrhunderts angesehen. Seine Verbindungen mit Oppenheimer und Einstein sind an sich schon interessant, aber bei Weitem bedeutsamer waren seine Beiträge zu den Grundlagen der Quantenmechanik. Diese waren bisweilen so radikal, dass er als Außenseiter in seinem Bereich angesehen wurde, und seine Beiträge erst Jahrzehnte später umfassender gewürdigt wurden. Sein Zusammenstoß mit dem Komitee für unamerikanische Umtriebe1 des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten von Amerika sollte sich als schicksalshaft für sein Leben und seine Karriere erweisen und erweitert seine beeindruckende persönliche Geschichte noch um eine andere Dimension.

Zweifellos schätzte Bohm die Philosophie Krishnamurtis im Hinblick auf seine eigene Selbsterkenntnis. Dies trug zu einem wirklich menschlichen und rührenden Element in ihrer Zusammenarbeit bei. Die biographischen Informationen in den ersten Kapiteln dieses Buches sollten unter diesem Hintergrund verstanden werden. Die außergewöhnlichen politischen und beruflichen Ereignisse, die die ersten Jahrzehnte von Bohms Werdegang dominierten, haben ihn sicherlich darauf vorbereitet, Krishnamurtis Wirken zu schätzen und sich damit zu beschäftigen. Der Erfolg oder Misserfolg seines Mitwirkens an dieser Philosophie schaffte den Unterton für den folgenden Text.

 

Ich konnte mich glücklich schätzen, von 1975 bis 1992 sowohl mit Krishnamurti (bis zu seinem Tod 1986) als auch mit David Bohm eng zusammenarbeiten zu dürfen. Dies geschah im Zusammenhang mit der Oak Grove School, die in Ojai in Kalifornien von Krishnamurti gegründet wurde und bei der ich als Lehrer, pädagogischer Koordinator und Schulleiter arbeitete. Über die persönliche Ebene hinaus war meine Zusammenarbeit mit den beiden Männern speziell auf pädagogische und psychologische Themen ausgerichtet. Dies half mir wahrscheinlich, die Tiefe und Bedeutung des über zwanzig Jahre langen Austausches der beiden in Fülle und Umfang wirklich schätzen zu können.

 

Es mag noch viele Jahre in Anspruch nehmen, bevor die Zusammenarbeit zwischen Krishnamurti und David Bohm vollkommen entschlüsselt und eingeordnet werden kann. Ihr Dialog war so umfassend und tiefgründig, dass er sich kaum in einem einzelnen Buch festhalten lässt. Das Ziel des vorliegenden Buches ist es daher nicht, eine abschließende oder endgültige Charakterisierung ihrer Arbeit anzubieten, sondern diese einem größeren Publikum näherzubringen. Jeder der beiden Männer war unglaublich interessant und ungewöhnlich – und die Geschichte ihrer Zusammenarbeit war es noch mehr. Die Geschichte ihrer Beziehung ist zeitlos.

 

 

1 House Un-American Activities Committee.

Kapitel Eins

Der Weg nach Princeton

 

Die Ereignisse, die David Bohm mit J. Krishnamurti in Kontakt brachten, erscheinen auf den ersten Blick verschlungen, aber im Nachhinein erkennt man, dass es sich weniger um Umwege handelte, sondern um die kürzeste Verbindung von zwei sehr weit voneinander entfernten Ausgangspunkten.

Die Umstände von Bohms Kindheit waren nicht gerade förderlich für die Entwicklung eines wissenschaftlichen Genies. Er wurde 1918 in Wilkes-Barre, Pennsylvania, geboren, einer Stadt, deren Haupteinkommen vom Kohleabbau kam. Bohms Vater Samuel immigrierte als Teenager aus Ungarn in die USA. Er mietete sich ein Zimmer bei einem Gebrauchtmöbelverkäufer, der Samuel dabei half, selbst ein Geschäft für gebrauchte Möbel aufzubauen, und gab ihm dazu noch seine Tochter Frieda als Frau. Samuel, Frieda, David und ein jüngerer Bruder lebten in einer Wohnung über dem Laden.

Samuel Bohm war nicht begeistert von Davids sich schon früh entwickelndem Interesse an den Wissenschaften und Science Fiction. Er hätte es vorgezogen, wenn seine Söhne in das Möbelgeschäft eingestiegen wären. Doch Davids Leidenschaft für exotische andere Welten und die vierte Dimension sowie auch seine praxisnahen Interessen, wie die Konstruktion von Radios aus Drähten und Kristallen, die er sich auf dem Schrottplatz besorgte, ließen sich nicht verleugnen. Als er dann die High School besuchte, wurde sein frühreifer Intellekt unübersehbar. Sein Mathematiklehrer, der dieses Fach fünfzig Jahre lang lehrte, bezeichnete ihn als einzigartig. Er stellte seine Schüler einmal vor eine Aufgabe, von der er fürchtete, dass keiner von ihnen diese würde lösen können, doch Bohm fand sogar drei Lösungen, von denen eine so außergewöhnlich war, dass er diese seinem Lehrer erst einmal erklären musste. Weitere frühe Anzeichen seines sich entwickelnden Intellekts waren einige Erfindungen, die er als Teenager machte und sogar zu vermarkten versuchte. Unter anderem entwickelte er eine tropffreie Karaffe, die durch eine schmale Manschette am Rand die Oberflächenspannung der Flüssigkeit beim Ausgießen brechen und das Tropfen verhindern sollte sowie einen neuartigen Kolbenmotor und eine Modifizierung der Struktur von Flugzeugflügeln.

Davids Mutter Frieda litt an depressiven Anfällen, und ihre Beziehung mit Samuel war schwierig. Wenn dieser von der Arbeit nach Hause kam, kritisierte und beschimpfte er sie, und die Spannungen in der Familie wurden immer greifbarer. Sie verwöhnte David, war aber auch ständig um seine Gesundheit besorgt, eine Angewohnheit, die David offensichtlich von ihr annahm und sein Leben lang nicht mehr los wurde. Er war schüchtern, auch ein wenig linkisch und sportlich nicht sehr gut, so dass er auch kein Interesse daran hatte, sich mit anderen Jungen sportlich zu messen. Er mochte jedoch lange Spaziergänge in den Wäldern um Wilkes-Barre, die er entweder allein oder mit Freunden unternahm. Auf einem dieser Spaziergänge kam er an einen Bach, der sich nur mit Hilfe von ein paar Steinen überqueren ließ, die aus dem Wasser herausragten. Bohm überlegte sich vorher, wie er seine Füße richtig auf welchen Stein setzen sollte. Als er dann jedoch erst einmal losgelaufen war, merkte er, dass er einfach weiterspringen musste und sein Plan ihm nicht viel nutzte. Dieses Erlebnis nahm eine Einsicht hinsichtlich der Natur einer fließenden Bewegung vorweg, über die er später noch oft sprechen sollte.

1929, als Bohm elf Jahre alt war, wurde Wilkes-Barre hart von der Großen Depression getroffen, und David sah sich so bereits in jungen Jahren mit wirtschaftlicher Not konfrontiert. Obgleich seine eigene Familie keine finanzielle Not litt, war dies für viele andere um ihn herum nicht der Fall. Bohm begann, progressive Zeitschriften zu lesen und entwickelte politische Ansichten, die links von der Mitte anzusiedeln waren. Er diskutierte oft bis spät in die Nacht hinein mit dem Vater einer seiner Freunde über Politik, und seine Erfahrungen mit den Schwächen des Kapitalismus sollten später einen wichtigen Einfluss auf seine Karriere haben.

Als er dann zur Universität ging, muss es eine Erleichterung für ihn gewesen sein, dem engen intellektuellen Horizont von Wilkes-Barre zu entkommen. Trotz einiger früher Anzeichen seines Genies, zeichnete sich seine Kindheit weniger durch herausragende Errungenschaften als durch seine Fähigkeit aus, in einem Umfeld zu wachsen und zu gedeihen, das keinesfalls ideal für intellektuelles Wachstum war. Es sollte noch einige Jahre dauern, bis er eine intellektuelle Atmosphäre fand, die tatsächlich dazu geeignet war, seine Fähigkeiten anzuregen, wobei sein Umzug von Wilkes-Barre zum Pennsylvania State College bereits ein großer Schritt in diese Richtung war. Die Universität war nicht unbedingt für die Qualität ihres Physikstudiums bekannt, sondern eher für ihre eher praxisnahen Studiengänge, wie Ingenieurswissenschaften und Landwirtschaft. Da die Regeln für das Studium jedoch relativ locker gehandhabt wurden, war Bohm in der Lage, ein paar unabhängige Vorlesungen mit anderen Professoren zu belegen. Beispielsweise arbeitete er sich in seinem ersten Studienjahr, gemeinsam mit ein paar anderen Studenten, durch ein weiterführendes Lehrbuch hindurch, das die komplette Mathematik umfasste, die für das Studium der theoretischen Physik erforderlich war. In einer Physik-Vorlesung bemerkte Bohm einen Fehler in der Logik eines weithin akzeptierten Beweises über radioaktive Strahlung. Sein Professor stellte daraufhin Bohms Überlegungen in seiner Vorlesung vor und präsentierte eine von ihm entwickelte verbesserte Lösung.

Bohm gefiel auch die Gegend um die Universität, wo lange Spaziergänge in den Wäldern zu seinem täglichen Alltag gehörten. Er machte sich nur wenig aus Freundinnen oder den üblichen Freizeitaktivitäten, sondern dachte auf seinen Spaziergängen über physikalische Problemstellungen nach, und seine sich entwickelnden Einsichten und aufblühende Kreativität gaben ihm Kraft. Am Ende seines Grundstudiums wurde es Bohm klar, dass er ein weiterführendes Physik-Studium anstreben wollte. Seine finanziellen Mittel waren jedoch so begrenzt, dass er dies nicht ohne finanzielle Unterstützung erreichen konnte. Der mathematische Fachbereich an der Pennsylvania State University bot eine Prüfung an, die dem Studenten ein attraktives Stipendium versprach, der am besten abschnitt. Die Prüfung bestand aus fünf Problemen, die so anspruchsvoll waren, dass die meisten Studenten nur ein oder zwei davon in der angegebenen Zeit lösen konnten. Bohm beantwortete vier der fünf Probleme korrekt und skizzierte einen Lösungsansatz für das fünfte, bevor die Zeit ablief.

Die sechshundert Dollar für den Gewinn befähigten ihn, sich am California Institute of Technology (Caltech) einzuschreiben. Er hoffte, dort Gleichgesinnte zu finden, die ebenso wie er den Reiz wissenschaftlicher Erkenntnis zu schätzen wussten. Die Realität war jedoch nicht so wie erhofft. Doch trotzdem wurde Caltech, ähnlich wie der kleine Bach, den er in seiner Kindheit übersprungen hatte, zu einem wesentlichen Sprungbrett auf seinem Lebensweg. Caltech selbst war eher das Gegenteil von dem, was er brauchte, um sein ganz eigenes Genie zu entfalten. Er blühte in einer kooperativen Atmosphäre auf, in der er tiefgründig in aller Ruhe und mit nur minimalen äußeren Vorschriften und Beschränkungen mit ein paar Freunden wissenschaftlichen Problemen nachgehen konnte. Caltech hatte eine herausragende Reputation, war jedoch extrem wettbewerbsorientiert, sehr auf Prüfungen fixiert und verfolgte einen mechanistischen, problem-orientierten physikalischen Ansatz. Obgleich er sich dort in gewisser Hinsicht hervortat – er scheint der einzige Student gewesen zu sein, der jedes Problem eines Einführungskurses über Elektrizität und Magnetismus bearbeitete – wurde es jedoch bald klar, dass Bohm in diesem Umfeld nicht würde wachsen können. Das Klima war heiß und trocken und eignete sich nicht für die langen täglichen Spaziergänge, die er brauchte, um sein intellektuelles Feuer am Brennen zu halten. Nur die Wanderungen auf dem circa zwanzig Kilometer entfernten und 1.700 Meter hohen Mt. Wilson brachten ihm Erleichterung.

In seinem dritten Semester ergab sich für ihn eine intellektuelle Erlösung in Form eines der führenden amerikanischen Physiker, J. Robert Oppenheimer. Dieser war Professor an der physikalischen Fakultät der University of California, Berkeley und hielt bisweilen Vorlesungen bei Caltech. Ein Freund von Bohm ermunterte ihn, Oppenheimer zu treffen, und die beiden verstanden sich sofort. Oppenheimer veranlasste den Wechsel von Bohm an die Universität in Berkeley und vermittelte ihm auch eine Assistenzstelle. So zog Bohm 1941 von Pasadena nach Berkeley. Dort fand er ein Umfeld vor, das wesentlich mehr im Einklang mit seiner Weiterentwicklung stand.

Am Physik-Lehrstuhl unterrichtete nicht nur Oppenheimer, sondern auch ein anderer weltbekannter Physiker, Ernest Lawrence. Zu der Zeit war die Entschlüsselung der Struktur des Atoms eines der Hauptanliegen in der Physik. Dies wurde mit Hilfe von sogenannten Teilchenbeschleunigern erforscht, die ein Atom oder Proton auf ein anderes schossen. Lawrence hatte die entscheidende Einsicht, dass ein Beschleuniger, der die Teilchen im Kreis beschleunigte, diese auf wesentlich höhere Geschwindigkeiten beschleunigen konnte, wofür er den Nobelpreis erhielt. Er nannte diesen Beschleuniger ein „Zyklotron“, was mit seinen immer größer werdenden Generationen von Beschleunigern die Basis für den Erfolg seines Labors an der University of California in Berkeley war.

Der blonde, blauäugige Lawrence, der aus dem mittleren Westen der USA stammte, war umgänglich und sympathisch. Er und Oppenheimer waren etwa zur gleichen Zeit nach Berkeley gekommen, und die beiden wurden schnell gute Freunde. Lawrence war der experimentelle Innovator und Oppenheimer der Theoretiker. Oppenheimer hatte an den Universitäten in Harvard und Cambridge studiert und seinen Doktor im Alter von dreiundzwanzig Jahren gemacht. Seine intellektuellen Fähigkeiten beschränkten sich nicht nur auf die Physik, sondern schlossen auch italienische Dichtung, östliche Philosophie sowie gute Weine ein. Die Feste in seinem Haus in Berkeley waren für seine Freunde und Studenten erinnerungswürdige Ereignisse, die nicht selten mit Oppenheimers Lieblingsstreichquartett von Beethoven ausklangen. Er servierte oftmals ein scharfes indonesisches Gericht, Nasi Goreng, das Lawrence in „nasty gory“2 umbenannte.

Bohm fand sowohl die intellektuelle Atmosphäre wie auch die Umgebung von Berkeley äußerst anregend. Das kühlere Klima und die leicht zugänglichen Waldwege entsprachen seinem Wesen, und das von Oppenheimer bewirkte kulturelle Milieu war stimulierend. Bohm verehrte ihn fast wie eine Vaterfigur, obgleich er nur vierzehn Jahre älter war als er selbst. Richard Feynman, mit dem Bohm sich zu der Zeit anfreundete und der später ebenfalls den Nobelpreis erhielt, war auch einer von Oppenheimers Doktoranden. Im Gegensatz zu Caltech fand Bohm in Berkeley endlich den fruchtbaren Boden, auf dem sein Interesse an der theoretischen Physik gedeihen konnte.

Das Forschungsprojekt, das Bohm von Oppenheimer zugewiesen wurde, bezog sich auf die Auswirkungen eines Zusammenstoßes von einem Proton mit Deuterium, das aufgrund eines zusätzlichen Neutrons eine schwerere Form des Wasserstoffatoms ist. Bohm bearbeitete das Problem mit der ihm eigenen Sorgfalt. Er hatte seine Forschungen zu dem Thema 1943 fertiggestellt, doch bevor er die Arbeit einreichen konnte, wurde ein hochrangiger Regierungsbeamter auf seine Arbeiten aufmerksam und erkannte eine potenzielle militärische Anwendung. Da sich die USA auf einen Krieg vorbereiteten und Bohm nicht die notwendige Unbedenklichkeitsbescheinigung besaß, wurden seine Forschungen von den staatlichen Stellen beschlagnahmt und man verbot ihm, seine Doktorarbeit zu veröffentlichen. Oppenheimer musste ihm daher seinen Doktor ausschließlich aufgrund seiner persönlichen Empfehlungen verleihen.

Bereits 1939 waren den führenden Physikern überall auf der Welt die grundlegenden Prinzipien einer Atombombe bekannt. Drei davon, Leo Szilard, Eugene Wigner und Edward Teller baten Albert Einstein, der zu der Zeit in den USA ansässig war, einen Brief an Präsident Roosevelt zu schreiben, um ihn auf diese Tatsache hinzuweisen. Innerhalb von ein paar Monaten wurde das geheime Manhattan Projekt ins Leben gerufen, um eine solche Bombe zu entwickeln. Obgleich dieses Projekt formell dem Militär unterstand, waren nur die führenden Wissenschaftler des Landes in der Lage, die Forschungen durchzuführen. Oppenheimer wurde berufen, die wissenschaftlichen Forschungen zu leiten. Aus diesem Grund war er auch monatelang nicht in Berkeley, sondern in Los Alamos, New Mexico, wo die Arbeiten zum Manhattan Projekt durchgeführt wurden.

In seiner Abwesenheit hatte Oppenheimer seinen Doktoranden Josef Weinberg beauftragt, seine Vorlesungen in Quantenphysik zu halten, was auch die detaillierten Geschehnisse im Inneren des Atoms umfasste. Weinberg war jedoch, auch aufgrund seines Gesundheitszustandes, überlastet, so dass Bohm die Vorlesung übernahm. Dies erwies sich als glücklicher Umstand, da es Bohm die Möglichkeit eröffnete, die Grundlagen der Quantenmechanik intensiver zu studieren. Weinberg und Bohm waren gute Freunde und diskutierten oft nächtelang über die Bedeutung der Quantenphysik. Die damit verbundenen Prinzipien waren äußerst fremdartig für die klassische, Newtonsche Physik und ließen beliebig großen Spielraum für Diskussionen und alternative Interpretationen. Doch ihre Unterhaltungen waren keinesfalls auf die Physik beschränkt und umfassten auch ihre beidseitige Faszination mit politischen Themen.

In den Dreißigerjahren war eine gewisse Sympathie mit einer Marxistischen Ideologie in den intellektuellen Zirkeln der Vereinigten Staaten keine Seltenheit. Die Schrecken des kommunistischen Experiments in der Sowjetunion waren noch nicht deutlich geworden. Die Wirtschaftskrise der Großen Depression hatte die Schwächen des Kapitalistischen Systems verdeutlicht, und viele Menschen sahen in dem sozialistischen Ideal einen Weg aus den persönlichen und ökonomischen Problemen. Oppenheimer selbst war ein Beispiel für diese Einstellung. Er betätigte sich in einigen quasi-kommunistischen Organisationen und hatte viele Freunde und Bekannte, die Mitglieder der Kommunistischen Partei waren. Einige von Oppenheimers Doktoranden schlossen sich ebenfalls diesen Ideen an, Weinberg, Bohm, Rossi Lomanitz und Bernard Peters eingeschlossen. Lomanitz organisierte eine Vereinigung der Angestellten des Radiation Labors und Bohm nahm an ein paar Treffen der ortsansässigen Kommunistischen Partei teil. Die Studenten waren von dem Ideal einer freien, klassenlosen Gesellschaft erfüllt, in der sich jeder Einzelne zu seinem oder ihrem vollen Potenzial entwickeln konnte.

Oppenheimer hätte es vorgezogen, wenn Bohm mit ihm in Los Alamos zusammengearbeitet hätte, aber seine diesbezügliche Anfrage wurde abgelehnt, da Bohm Angehörige in Osteuropa hatte. Der wirkliche Grund für die Ablehnung war wahrscheinlich politischer Natur, obgleich weder Oppenheimer noch Bohm zu der Zeit Kenntnis davon hatten. Also wurde Bohm dem Radiation Labor zugewiesen, wo er Plasmaphysik erforschte, wobei Plasma einen vierten Materiezustand darstellt (neben dem festen, flüssigen und gasförmigen Zustand), der bei sehr hohen Temperaturen auftritt, wenn dem Atomkern alle Elektronen fehlen. Im Zusammenhang mit diesem Projekt steuert Bohm seinen ersten Beitrag zu den Grundlagen der theoretischen Physik bei. Seine Untersuchungen des Plasmaverhaltens zeigten, dass freie Elektronen die Tendenz haben, als Kollektiv zu agieren, so als stünden sie in einer Art Kommunikation miteinander. Seine Beschreibung dieses Verhaltens wird Bohmsche Diffusion genannt und noch heute in jedem Lehrbuch über Plasmaphysik behandelt.

Selbst als er diese Forschungsarbeiten ausführte, arbeitete Bohm weiter an seinem Verständnis der Quantenphysik. Die Quantenwelt beschäftigt sich mit Ereignissen im Land der Elektronen, in dem eine Realität vorherrscht, die Alice-im-Wunderland-ähnlich anmutet und weit von den Erfahrungen des alltäglichen Lebens entfernt ist. Unter anderem ergibt sich mit der konventionellen Physik, dass ein Elektron auf seiner Umlaufbahn um den Atomkern schnell seine Energie verbrauchen und sich dann vom Atom lösen sollte, was natürlich nicht den Beobachtungen entspricht. Bohm schaffte es, die dazugehörige Mathematik derart abzuändern, dass die Integrität des Atoms erhalten bleibt. Er schrieb eine Veröffentlichung darüber, die jedoch weder bei Oppenheimer noch bei Wolfgang Pauli, zwei Verfechtern der eher orthodoxen Interpretation, auf Zustimmung stieß. Zukünftige Ereignisse bekräftigten jedoch die Originalität und Genauigkeit von Bohms Vorschlag, und heute ist die „Renormalisierung“ des Elektronenverhaltens eine Standardanwendung in der Quantenmechanik.

Eine Zusammenfassung von Bohms Veröffentlichung landete auf dem Schreibtisch von John Wheeler, der zu der Zeit an der Universität in Princeton lehrte. Der Einstein-Schüler erkannte die Tiefe von Bohms Einsichten und bot ihm eine Stelle als Assistenzprofessor an. Die Universität in Princeton arbeitete eng mit dem Institute for Advanced Study (IAS) zusammen, wo zahlreiche führende Wissenschaftler, Albert Einstein eingeschlossen, beschäftigt waren. Als Oppenheimer nach dem Zweiten Weltkrieg dort zum Direktor berufen wurde, entschloss sich Bohm, Wheelers Angebot anzunehmen. Im Herbst 1947 wechselte er daher nach Princeton und fand dort eine intellektuelle Atmosphäre vor, die in gewisser Weise noch bereichernder für ihn war als die in Berkeley.

Nichts in diesen frühen Jahren deutete eine Neigung oder gar eine Vorbereitung auf eine Verbindung mit Krishnamurti an, außer vielleicht sein glasklarer Intellekt und seine Entschlossenheit, jedes Problem und jede Fragestellung, die ihn gerade beschäftigten, bis zum Ende zu verfolgen. Die Erfahrungen, die nicht seinen Glauben an die Wissenschaften, sondern die Wissenschaftler erschüttern sollten, lagen noch in der Zukunft.

 

 

2 Nasty gory lässt sich frei als „furchtbar blutrünstig“ übersetzen, was wohl auf die extreme Schärfe des Gerichtes anspielen sollte. (Anm. d. Ü.)

Kapitel Zwei

Quantenfolgerungen

 

Bohms anfängliche Eindrücke von Princeton waren gemischt. Die Universität befand sich in einem Industriegebiet, das seine Liebe für lange Spaziergänge in der Natur nicht gerade förderte. Einige der anderen Professoren standen seinen Arbeiten eher gleichgültig gegenüber. Er hatte jedoch zwei oder drei gute Doktoranden, mit denen er Fragestellungen der Quantenmechanik und Supraleitfähigkeit erforschte.

Während seines zweiten Jahres in Princeton mietete sich Bohm ein Zimmer bei Erich und Lily Kahler, wo sich auch sein gesellschaftliches Leben gestaltete. Die Kahlers waren von Deutschland immigriert und hatten einen großen Freundes- und Bekanntenkreis mit Persönlichkeiten wie Thomas Mann, Jakob Bronowski und Albert Einstein. Hinzukam, dass Lillys Tochter Hannah Loewy, eine lebhafte junge Frau, Bohm sehr mochte, und so waren sie ein, zwei Mal ein Paar. Sie dachten sogar über eine Heirat nach, aber letztlich entschied Hanna, dass sie für diesen Schritt nicht kompatibel genug waren. Einstein kam öfters am Abend zu den Kahlers, um auf seiner Geige zu spielen. Vielleicht festigten Bohm und Einstein während dieser Zeit ihre Bekanntschaft. Hannah Loewy bemerkte später, dass Einstein Bohm als seinen „intellektuellen Sohn“ bezeichnet habe.

 

Bohm befand sich jetzt in einem sozialen und beruflichen Umfeld, das mit seinen Fähigkeiten und Neigungen im Einklang stand. Alles sprach für eine lange und erfolgreiche Karriere in Princeton, die ihn darüber hinaus bekannt machen würde. Doch dann erhielt er am 3. April 1949 eine Vorladung vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe.

Die Ereignisse, die zu dieser Vorladung führten, lagen mehrere Jahre zurück. Eines der größten Probleme bei der Entwicklung der Atombombe war die Frage, wie sich eine besondere Form von Uran aus der natürlich vorkommenden Form extrahieren ließ. Man sagte, dass selbst ein so kleines Land wie die Schweiz die Welt regieren könnte, besäße es ein Zimmer voll von diesem Material. Der führende amerikanische Physiker, der an diesem Thema arbeitete, war Oppenheimers Kollege aus Berkeley, Ernest Lawrence. Lawrence war einer der stärksten Fürsprecher von Oppenheimers Mitarbeit am Manhattan Projekt gewesen.

Selbst in der Zeit vor Pearl Harbor und dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den 2. Weltkrieg hatte das FBI damit begonnen, Oppenheimers mögliche subversive Aktivitäten zu untersuchen. Das FBI hatte einige Hinweise diesbezüglich. Oppenheimers Bruder, dessen frühere Verlobte und seine Frau Kitty waren alle Mitglieder der Kommunistischen Partei gewesen; Kitty war lose mit Steve Nelson befreundet, dem Repräsentanten der Partei für die Gegend um San Francisco; und Oppenheimer selbst war bekannt für seine Beteiligung oder Sympathien für eine Anzahl progressiver Anliegen. Die Untersuchungen wurden dringlicher, als Oppenheimer zum leitenden Wissenschaftler des Manhattan Projekts werden sollte. Deswegen beschäftigte sich nicht nur das FBI sondern auch die Sicherheitsabteilung der US-Armee mit den Aktivitäten und Verbindungen Oppenheimers. Sein Telefon wurde abgehört, seine Post abgefangen und man verfolgte ihn des Öfteren. Er wurde auch mehrmals von Nachrichtenoffizieren der Armee und vom FBI verhört. Seine Unbedenklichkeitsbescheinigung wurde mehr als nur ein Mal hinausgezögert. Letztlich konnte seine Mitarbeit im Manhattan Projekt nur dadurch sichergestellt werden, dass er das Vertrauen von Leslie Groves gewann, dem Armeeoffizier, dem das Projekt unterstand und der glaubte, dass Oppenheimer der einzige Wissenschaftler sei, der die Deutschen im Wettlauf um die Entwicklung der Bombe schlagen könne.

 

Infolge der Bedenken gegen Oppenheimer vonseiten des Sicherheitsapparates kamen auch seine wichtigsten Doktoranden unter Verdacht. Joseph Weinberg, Rossi Lomanitz, Max Freidman und David Bohm wurden alle in unterschiedlichem Ausmaß überwacht. Besonders kam dabei ein Besuch Weinbergs zu tragen, der angeblich Steve Nelson im April 1943 zu Hause besucht hatte. FBI-Agenten hatten Nelsons Wohnung verwanzt, und der an diesem Abend verantwortliche Agent berichtete, dass Weinberg Nelson etwas über das Manhattan Projekt erzählt habe. Sechs Jahre später entschied das Komitee für unamerikanische Aktivitäten diesbezüglich einem möglichen Landesverrat nachzugehen, obgleich das FBI und der militärische Geheimdienst lange zuvor entschieden hatten, dass keine brauchbaren Informationen weitergegeben worden waren. Das Komitee rief alle Personen, die in dieser Sache irgendwie Klarheit schaffen konnten, als Zeugen auf. Das Komitee scheute keine Mühe, die Angelegenheit zu dramatisieren, indem man auf einen mysteriösen „Wissenschaftler X“ Bezug nahm, der verdächtigt wurde, atomare Geheimnisse an die Sowjetunion weitergegeben zu haben.

Das Manhattan Projekt stand im Fokus von Tausenden von Wissenschaftlern an mehreren Standorten, bevor es in Hiroshima und Nagasaki zu einem dramatischen Ende kam. In den direkt folgenden Monaten nach dem Krieg hegten viele dieser Wissenschaftler Zweifel an dem Projekt, an dem sie mitgearbeitet hatten. Das zerstörerische Potenzial der Bombe war eindeutig demonstriert worden, und es stellte sich nun die Frage, was die Zukunft bringen würde. Viele der Atomwissenschaftler bevorzugten eine Zukunft, in der nicht vorgegaukelt wurde, dass die Bombe „geheim“ war, da alle grundsätzlichen Prinzipien, die für ihre Herstellung notwendig waren, bereits Allgemeinwissen darstellten. Diese Wissenschaftler argumentierten daher, dass die Zukunft der Bombe in der Hand einer Art internationalen Gremiums oder Organisation liegen sollte, die sich um die Weitergabe von atomarem Wissen und Expertise kümmern sollte.

Eine derartige Einstellung war weder in den Hallen des amerikanischen Kongresses noch beim Militär gern gesehen. Die politische und militärische Führung meinten, dass die Vereinigten Staaten die Kontrolle über die Bombe soweit wie möglich behalten sollten. Die Spannung zwischen den Wissenschaftlern und den Regierungseinrichtungen nahm die Form einer Debatte über die neu geschaffene Atomenergie Kommission (AEC) an, die der Kongress geschaffen hatte, um jegliche Verwendung von Atomenergie innerhalb der Vereinigten Staaten zu verwalten und zu leiten. Die Wissenschaftler verlangten, dass die Behörde unter ziviler Kontrolle bleiben sollte. Letztlich setzten sie sich durch, obgleich das Militär erhebliche Zugeständnisse dahingehend erhielt, weiterhin eine Kontrollfunktion über die AEC beizubehalten. Dennoch meinten einige Politiker, dass die Loyalität der Atomwissenschaftler zu wünschen übrig ließe.

 

In diesem Zusammenhang muss das Interesse des Komitees des Repräsentantenhauses für unamerikanische Aktivitäten an einer atomaren Spionage an der Universität von Kalifornien in Berkeley gesehen werden. Das Komitee war 1945 direkt nach dem Krieg ins Leben gerufen worden. Während der neunundsiebzigsten Sitzung des Amerikanischen Kongresses (1947-1948) hielt das Komitee nur an zwölf Tagen Anhörungen ab und kam praktisch zu keinem Ergebnis. Während des achtzigsten Kongresses (1947-1948) war das Komitee aktiver und hielt an insgesamt zweiundsechzig Tagen Anhörungen ab. Sein Hauptaugenmerk lag dabei auf der angeblichen kommunistischen Einflussnahme in Hollywood und die Zeugen waren unter anderem viele bekannte Schriftsteller und Regisseure. Dieses Hauptanliegen brachte dem Komitee den nachhaltigen Ruf ein, zu übertreiben, einzuschüchtern und politisch zu verfolgen. Doch erst in der einundachtzigsten Sitzung des Kongresses (1949-1950) erreichte das Komitee den Höhepunkt seiner Tätigkeiten. In diesen zwei Jahren hielt das Komitee an einhundertacht Tagen Anhörungen ab, und die Aufzeichnungen der Zeugenaussagen umfassen mehr als dreitausend Seiten. Die Untersuchung einer möglichen Spionage an der Universität in Berkeley war eines der vielen Themen, die das Komitee in diesen Sitzungen beschäftigte.

Im Laufe des Ausschussverfahrens stellte sich heraus, dass der berüchtigte Wissenschaftler X niemand anderes als Joseph Weinberg war, seine Aussage an drei verschiedenen Tagen brachte dem Komitee jedoch wenig Aufschluss. Er bestritt, Steve Nelson jemals getroffen, geschweige denn ihm geheime Informationen übergeben zu haben. Nelson erschien ebenfalls zweimal vor dem Ausschuss, verweigerte jedoch den Eid sowie Mitarbeit in irgendeiner Form. Frank Oppenheimer, Roberts jüngerer Bruder, der zu der Zeit außerordentlicher Professor an der Universität von Wisconsin war, stand ebenfalls auf der Liste. Frank gab zu, dass er vor 1940 zwei Jahre lang Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen sei, weigerte sich jedoch, Namen von Personen zu nennen, die ebenfalls in der Partei mitgearbeitet hatten. In Anbetracht der zu erwartenden Konsequenzen hatte Frank bereits vor seiner Aussage seine Kündigung als Professor angeboten. Am Tag der Anhörung wurde diese von der Universität angenommen.

Aufgrund seiner gewerkschaftlichen Aktivitäten innerhalb des Radiation Labors in Berkeley hatte Rossi Lomanitz 1943 die Zurückstellung für seine Einberufung sowie seine leitende Position in Los Alamos verloren. Als er 1949 vor den HUAC geladen wurde, war er jedoch bereits wieder Assistenzprofessor an der Fisk Universität in Tennessee. Er machte seine Aussage am 17. April 1949. Als auch er sich weigerte, die Personen zu benennen, die sechs Jahrezuvor mit der Kommunistischen Partei in Zusammenhang gestanden hatte, verlor er seine Professorenstelle am darauffolgenden Tag.

 

David Bohm geriet am 23. April 1949 in diesen Strudel. Ein Foto von ihm auf dem Weg in den Anhörungsraum zeigt ihn mit dem Gesichtsausdruck eines Lammes, das zur Schlachtbank geführt wird. Seine Aussagen vom April und Juni des Jahres umfassen vierzehn der insgesamt dreitausend Seiten der Aufzeichnungen. Die meisten an Bohm gerichteten Fragen rankten sich darum, ob er Personen kannte, die der Kommunistischen Partei nahestanden. Auf Anraten seines rechtlichen Beistands verweigerte Bohm die Antwort auf zahlreiche der gestellten Fragen. Er gab drei Gründe für seine Weigerung an: Den ersten Zusatzartikel der Amerikanischen Verfassung, der Rede- und Versammlungsfreiheit garantiert; den fünften Zusatzartikel, der vor Selbst-Belastung schützt; und das inhärente Recht, keine Fragen zu beantworten, die dazu beitragen könnten, seine persönlichen und beruflichen Chancen „herabzumindern“. Richard M. Nixon, ein frisch gewählter Abgeordneter aus Kalifornien und Mitglied des Komitees, führte aus, dass der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten bereits entschieden hatte, dass die Verfassung Zeugen keinen Schutz vor Fragen biete, die ihre Chancen nur „herabmindern“ würden.

Im September 1950, fünfzehn Monate nach seiner Aussage, war Bohm einer der sechsundfünfzig Zeugen, die der Missachtung des Kongresses angeklagt wurden, da sie sich geweigert hatten, die Fragen des Komitees zu beantworten. Er wurde am 1. Oktober von Bundesbeamten in seinem Büro in Princeton verhaftet, und die Gerichtsverhandlung begann an einem Bundesgericht im folgenden April. Aufgrund einer kurz zuvor beschlossenen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (Blau gegen die Vereinigten Staaten) urteilte der Bundesrichter Alexander Holtzoff, dass sein verfassungsmäßiges Recht auf Vermeidung von Selbstbezichtigung Bohm vor allen Anklagen schütze und ihn in den Augen des Gesetzes entlaste. Bohms Befürchtung, dass seine Aussage ihn jedoch in den Augen seines Arbeitgebers diskriminieren würde, stellte sich als vorausschauend heraus. Direkt nach seiner Verhaftung verbot ihm der Präsident von Princeton (ein strammer Anti-Kommunist), das Universitätsgelände zu betreten, bis sein Fall verhandelt worden war. Im darauffolgenden Jahr intervenierte der Präsident dann bei einer Fakultätsentscheidung und weigerte sich, Bohms Vertrag zu erneuern, obgleich er rechtlich entlastet worden war.

 

Bohm beriet sich mit Einstein, wie er weiter vorgehen sollte. Einstein wollte, dass Bohm mit ihm an dem Institute for Advanced Studies arbeitete, das zwar der Universität angegliedert war, aber nicht von ihr kontrolliert wurde. Oppenheimer jedoch, der zu der Zeit der Direktor des Institutes war, weigerte sich, die Berufung zu befürworten, da ihn dies politisch diskreditieren würde. Wie engstirnig und eigennützig Oppenheimers Entscheidung auch heute erscheinen mag, so hatte er doch gute Gründe, sich um sein eigenes Ansehen zu sorgen, wie es die nachfolgenden Ereignisse bestätigten. Einstein riet Bohm daraufhin, sich um eine Stelle außerhalb der Vereinigten Staaten zu bewerben, da die politische Situation dort allzu vergiftet schien. Er schrieb einen Brief an einen Kollegen an der Universität in Manchester in England und empfahl Bohm nicht nur aufgrund seiner Fähigkeiten als Physiker, sondern ebenso für seine mutiges Auftreten vor dem Komitee für unamerikanische Aktivitäten des Repräsentantenhauses. Leider war sein Vorstoß nicht erfolgreich, und so wandte sich Einstein an die Universität von Sao Paulo in Brasilien und empfahl Bohm wiederum in leuchtenden Farben. Oppenheimer trug ebenfalls ein Empfehlungsschreiben bei, und dieses Mal war das Ergebnis positiv. An einem diesigen Tag im August 1951 verließ David Bohm sein Heimatland und bereitete sich auf ein Leben als Emigrant vor.

Selbst in den Zeiten der politischen Verfolgung beschäftigte sich Bohm intensiv mit den Grundlagen der Quantenmechanik. Als er in Princeton weiterführende Vorlesungen zu diesem Thema hielt, musste er die aktuelle Standardinterpretation der atomaren Ereignisse im Bereich der Elektronen und anderer subatomarer Teilchen, die sogenannte Kopenhagener Interpretation3, lehren. Nach der Kopenhagener Deutung fehlen in der subatomaren Welt gewisse Eigenschaften der normalen Wirklichkeit vollkommen. Unter anderem können wir die tatsächliche materielle Realität der mathematischen Formeln, die das Elektron beschreiben, weder kennen noch verstehen. Die beobachteten Teilchen in diesem Bereich sind so ungeheuer klein, dass sie sich nicht beobachten und verstehen lassen, wie wir es normalerweise gewöhnt sind.

Darüber hinaus gibt es ein grundlegendes Merkmal der Naturwissenschaften, das auf der Quantenebene nicht gilt. In der Regel erklären die Wissenschaften alle Phänomene, indem sie auf das Prinzip der Kausalität Bezug nehmen. Das Wissen oder Verstehen, wie Ereignisse und Sachverhalte ein bestimmtes Ergebnis bedingen, wird in der Regel als das sine qua non wissenschaftlicher Erkenntnis angesehen. Doch entsprechend der Kopenhagener Interpretation können wir niemals wissen, was die Elementarteilchen veranlasst, sich hier- oder dorthin zu bewegen. All das lässt sich nur in Wahrscheinlichkeiten ausdrücken – mit Hilfe von gewissen Formeln lässt sich das Verhalten der Elektronen auf diese Weise sehr genau vorhersagen.

1951, im selben Jahr als er seine Anhörung wegen Missachtung des Kongresses hatte, veröffentlichte Bohm ein Lehrbuch, das die Kopenhagener Interpretation der Quantenrealität mit originärer und ungewöhnlicher Klarheit herausarbeitete. Das Buch mit dem Titel Quantum Theory war bestrebt, die Ereignisse im Bereich der Elektronen eher in qualitativen als ausschließlich quantitativen Konzepten zu beschreiben, und alle Formeln auf die zugrunde liegenden experimentellen Beobachtungen zu beziehen, anstatt diese mathematisch einfach als einen Satz von Wahrheiten zu präsentieren. Bohms Lehrbuch ist noch heute ein Standardwerk.

Nach der Publikation versandte Bohm das Buch für eine Rezension an die führenden theoretischen Physiker der Zeit. Einstein meinte, er hätte die Kopenhagener Interpretation nicht besser darstellen können als Bohm, doch er hatte Probleme mit der Interpretation selbst. Insbesondere wandte er sich dagegen, dass das Kausalitätsprinzip für subatomare Teilchen prinzipiell ausgeschlossen sei; und durch Wahrscheinlichkeiten ersetzt wurde. Sein Problem damit fasste er später mit dem bekannten Ausspruch zusammen: „Gott würfelt nicht.“ Daher ermunterte er Bohm, seine Untersuchungen fortzusetzen und die Kopenhagener Deutung infrage zu stellen. Obgleich Einstein selbst nicht in der Lage sein sollte, auf streng genaue Weise zu zeigen, dass die Kopenhagener Deutung nur begrenzt anwendbar oder gar falsch sei, bemerkte er: „Wenn es überhaupt jemanden gibt, der das kann, dann David Bohm.“

 

Vielleicht war es ja Einsteins Ermutigung, die Bohm veranlasste, die der Kopenhagener Deutung zugrunde liegende Logik tatsächlich weiter zu untersuchen. Es gelang ihm, die Standardformeln der Quantenmechanik so umzuschreiben, dass das Kausalitätsprinzip erhalten blieb. Dies war durch die Einführung einer neuen Variable möglich, die zwar analog zum Gravitations- oder elektromagnetischen Feld war, aber auf einer tieferen Ebene der Realität agierte. Eine solche Variable ist technisch ein Quantenpotenzial, das unseren heutigen Messgeräten nicht zugänglich ist, was sich aber in Zukunft durch technologischen Fortschritt durchaus ändern kann. Die Standardinterpretation von Quantenereignissen beinhaltet jedoch, dass aufgrund der mathematischen Formeln dieses Quantenpotenzial niemals bestimmbar sein wird. Durch ein Umschreiben der Formeln, wobei alle vorliegenden Erkenntnisse weiterhin befriedigt waren, konnte Bohm zeigen, dass feinere Messungen, die der heutigen Wissenschaft noch unbekannt sind, durchaus zu einem Ergebnis führen könnten.

Bohms Erkenntnisse waren tiefgründig und revolutionär. Mit der Einführung einer Variablen für das Quantenpotenzial zeigte Bohm, dass dieses als gegeben angenommene Gesetz der Quantenmechanik durchaus nicht als unabdingbar angesehen werden musste. Dabei zweifelte Bohm keinesfalls die gesamte Kopenhagener Interpretation an, sondern nur die grundsätzliche Annahme, dass die zugrunde liegenden Prinzipien unantastbar seien. Wobei das allein schon eine enorme Leistung war.

Bohm war sich durchaus seiner Leistung bewusst. Er erzählte einem Freund, er habe es kaum glauben können, etwas so Grundsätzliches in der innersten Struktur der physischen Realität entdeckt zu haben. Daher hatte Bohm allen Grund anzunehmen, dass es mit seinem Leben und seiner beruflichen Laufbahn aufgrund seiner bahnbrechenden Beiträge in der Physik trotz allem aufwärts gehen würde. Die chaotischen politischen Zustände mochten zwar nicht seinen idealistischen Vorstellungen entsprechen, aber die Zitadelle der Wissenschaft würde doch sicher wie ein Bollwerk gegen Willkür und Vorurteil stehen und eine angemessene und gerechte Anerkennung seiner Arbeit sicherstellen.

Seine revolutionären Einsichten wurden in zwei Veröffentlichungen beschrieben, die in Band 85 der führenden physikalischen Fachzeitschrift Physical Review erschienen. Sie trugen den Titel A Suggested Interpretation oft the Quantum Theory in Terms of Hidden Variables, I and II.4 Obgleich diese Veröffentlichungen noch heute Interesse erregen, war deren Aufnahme durch die führenden Physiker der Zeit nicht das, was sich Bohm erhofft haben mochte, als er zu der Zeit sein erstes Jahr in Brasilien verbrachte.

 

 

3 Benannt nach dem Wohnsitz von Niels Bohr, dem führenden Vertreter und Fürsprecher dieser Sichtweise.

4 Vorschlag einer Interpretation der Quantentheorie mithilfe von Verborgenen Variablen, I und II

Kapitel Drei

Der Beobachter und das Beobachtete

 

Die Reaktion der Physiker-Gemeinschaft auf Bohms Veröffentlichungen war bestenfalls gedämpft. Einer der führenden Verfechter der Kopenhagener Deutung, Wolfgang Pauli, gab zu, dass Bohms Argumente logisch korrekt waren, aber meinte auch, dass Bohms Beitrag so etwas wie ein „Scheck war, der nicht eingelöst werden könne“, da die Existenz verborgener Variablen nicht festgestellt worden war und, wie er betonte, niemals festgestellt werden könnten. Paulis Andeutung, die mit dieser Metapher einherging, dass nämlich der Scheck irgendwie anrüchig oder gefälscht sei, verschlimmerte die Situation nur noch. Der schlimmste Schlag kam jedoch von Oppenheimer: „Jugendliches Abweichlertum“ war seine Bewertung von Bohms Veröffentlichungen. Zudem soll er hinzugefügt haben: „Wir können Bohm nicht widerlegen, also müssen wir uns darauf einigen, ihn nicht zu beachten.“ Ein anderer Physiker sagte: „Wir sagen, dass wir Bohm nicht widerlegen können, aber wir fügen hinzu, dass wir ihm nicht glauben.“

Diese Meinung wird nicht universell geteilt. Der hervorragende Physiker J. S. Bell sagte später über Bohms Veröffentlichungen: „1952 habe ich gesehen, wie das Unmögliche möglich wurde.“ Und seine Meinung, nicht die von Pauli oder Oppenheimer, wird dem Zahn der Zeit widerstehen. Darüber hinaus war nach Aussage des Philosophen Paul Feyerabend Bohr beeindruckt von Bohms Leistungen.