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Bastian Bielendorfer ist Stand-up-Comedian, TV-Host, Podcaster, Diplompsychologe und Lehrerkind. Für den WDR talkt er in „Bielendorfer!“ mit ausgewählten Gästen, auf ProSieben ist er neben Elton als Co-Host der Prime-Time-Live-Show „Alle gegen einen“ zu sehen. Mit seiner Solo-Comedy-Show „Lustig, aber wahr!“ tourt er von München bis Flensburg live.

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Impressum

 

© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.

 

Projektleitung: Angela Gsell

Lektorat: Angela Gsell

Covergestaltung: Nadine Bielendorfer

eBook-Herstellung: Christina Bodner

 

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ISBN 978-3-8338-7757-5

1. Auflage 2020

 

Bildnachweis

Coverabbildung: Stephan Pick

Illustrationen: Oksana Kumer, luplupme, 1stchoice, Li Tzu Chien, Alena Statsevich, balabolka

Syndication: www.seasons.agency

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Für meine Eltern

Manchmal endet die Party in einem brennenden Haus
erst dann, wenn jemand den Feueralarm drückt,
auch wenn vorher schon alle den Geruch von Rauch und
Flammen wahrgenommen haben.

PROLOG. NUHR DER ANFANG

Ich schwitze. Die Scheinwerfer über den leeren Stuhlreihen scheinen Löcher in meinen Pullover zu brennen, und der Gürtel an meiner Hose ist verrutscht, sodass er ungehindert in meinen Hüftspeck schneiden kann.

„Und bitte“, sagt der Redaktionsleiter, neben dem ein älterer Kollegen mit krausem, grauem Haar sitzt, der auf dem Bügel seiner Lesebrille herumkaut wie auf einem Knochen.

„Hallo …“, sage ich mit gepresster Stimme. „Hallo, liebes Publikum …“, versuche ich es erneut. Ich habe keinen Frosch im Hals, sondern ein komplettes norddeutsches Sumpfgebiet.

Ein Stuhl im hinteren Bereich des Saals fällt um. „Bitte Ruhe“, brüllt der mit dem Knochen, der sich als Reiner oder Heiner vorgestellt hat. Der Kameramann zu meiner Linken schaut an der quadratischen Öffnung seines Arbeitsgeräts vorbei und sieht mich genervt an.

Wieder so ein Anfänger kann ich an diesem Blick ablesen und schwitze noch mehr. Der Kameramann hat einen Dreitagebart, seine Augen werden halb von einer Schieberkappe verborgen und aus seinem Mund ragt ein Zahnstocher, der aussieht wie eine kleine Antenne.

Ganz langsam läuft ein Schweißtropfen meine Schläfe hinab und versickert in meinem Kinnbart. Am anderen Ende der schmalen Bühne erkenne ich einen Tisch, auf dem merkwürdigerweise eine Flasche Desinfektionsmittel steht. Ich bin kurz davor, die Flasche anzusetzen, um meinen staubtrockenen Mund zu befeuchten

„Noch mal!“, herrscht mich Heiner oder Reiner an, der Redaktionsleiter schiebt ein halbgares „Bitte“ hinterher.

Ich hasse Kameraproben. Sie sind aber Teil der Show, und jeder Kabarettist oder Komiker, der in einer TV-Sendung zu Gast ist, muss vor seinem Auftritt „trocken“ spielen, also vor ein paar Redakteuren und Technikern. Zum einen, um die Kameraleute verschiedene Positionen für den Auftritt testen zu lassen, zum anderen, um die Dauer und den Inhalt des Auftritts besser einschätzen zu können.

Je nachdem, wie subversiv der oder die Betreffende ist, kann die Redaktion so noch abschleifen oder verhindern, dass etwas über den Sender geht, für das man sich hinterher entschuldigen muss. Immerhin sind öffentlich-rechtliche Sender verpflichtet, jeden Brief und jede E-Mail zu beantworten und jeder Beschwerde nachzugehen, egal, wie abwegig sie auch ist. Bevor also der Posteingang nach einer Ausstrahlung explodiert, weiß die Redaktion gerne vorher, was der Künstler so vorhat.

Ich bin nicht gerade für meine Subversivität bekannt, eher für meine Tendenz, die vorgegebene Zeit zu überziehen. Heiner oder Reiner schaut mehrmals auf die Uhr, während ich mich durch mein Set stottere.

Obwohl mir mein erster TV-Auftritt damals als Kandidat bei „Wer wird Millionär“ einen Buchvertrag und meinen heutigen Job als Autor und Comedian beschert hat, gibt es für mich kaum etwas Entmutigenderes als Kameraproben. Auch wenn das Gehirn weiß, dass dort kein Publikum sitzt, das die Pointen belachen kann, lässt sich dieses Wissen nicht auf den Körper übertragen. Meine Hände sind eiskalt, die übergeworfene Bomberjacke zieht an meinen Schultern, als wäre sie mit Beton gefüllt, meine langen Beine zittern in zu engen Hosen, ich wanke leicht auf der Stelle hin und her.

Heiner oder Reiner und sein Redaktionsleiter sowie der Kameramann mit der Mundantenne sind kein gutes Substitut für ein echtes Publikum. Entweder ist ihnen in jahrelang antrainierter Professionalität das Lachen vergangen, oder sie finden mich einfach kacke.

Der einzige funkelnde Stern in diesem kalten, dunklen Universum eines öffentlich-rechtlichen Fernsehstudios ist das Gesicht meiner Managerin Nina, die sich abseits der Bühne postiert hat und mir zulächelt. Nina und ich arbeiten seit ein paar Jahren miteinander, und abgesehen von ihrem Spleen, sich immer mindestens drei Getränke auf einmal zu bestellen („Ich nehme ein stilles Wasser, eine Cola Zero und einen frisch gepressten Orangensaft, ach, haben Sie nicht, dann gar nichts, danke!“), ist sie einer der tollsten Menschen, die ich kenne.

Früher haben meine Lehrereltern, die gleichzeitig im Lehrerzimmer meiner Schule und in meinem Wohnzimmer saßen, mich auf- und wieder abgebaut, weil meine Mitschüler meinen Turnbeutel mal wieder ins Klo gesteckt hatten. Heute grinst mich meine kroatische Allzweckwaffe Nina mit gefühlt 52 Zähnen an und legt ihren Arm um mich.

Ohne Nina würde ich einen Großteil meiner Auftritte auf Geburtstagen von Oma Erna oder beim Jahresfest der Taubenzüchter bestreiten, weil ich nicht Nein sagen kann und niemanden enttäuschen will. Nina sagt oft Nein für mich und ist immer für mich da, besonders bei Auftritten wie dem heutigen. Sie steht wie eine Soccer-Mom neben der Bühne und lächelt mich an, nickt die einzelnen Zeilen ab und schafft es, dass sich das Öffentlich-gegrillt-Werden nur noch wie eine sehr heiße Sauna anfühlt.

Prompt vergesse ich meinen Anschlusssatz und krame unsicher in meiner Hosentasche herum. Meine kryptischen Entschuldigungen klingen wie eine Mischung aus „Tschuldigung“ und einem serbischen Geburtstagslied.

Mein Spickzettel ist durch den Angstschweiß leider völlig unbrauchbar geworden, und die Notizen, die ich mir hinter den Kulissen aufgeschrieben hatte, können nun selbst von einem zwölfköpfigen Team von Dechiffrierspezialisten nicht mehr entziffert werden. Mit einem lauten „Hrrrpfffff“ stößt der Mann hinter der Kamera einen Seufzer aus, der klingt, als wäre ein sehr dicker Mann auf einen Staubsaugerbeutel getreten. Ich stammle meinen Gag über Xavier Naidoo, der vor Kurzem als Strafe für rassistische Äußerungen aus der „Deutschland sucht den Superstar“ Jury geflogen ist und ernte Stille.

Stille hat unterschiedliche Klangfarben. Da gibt es die beruhigende Stille. Zum Beispiel wenn man in einem Haus am Meer hinter der schützenden Fensterscheibe sitzt und auf die Fluten schaut, die tonlos gegen die Klippen hämmern. Und es gibt die Stille des Neuanfangs. Wenn man zum Beispiel nachts in einer neu bezogenen Wohnung auf einer Matratze auf dem Boden wach liegt, die Luft klar und kalt im Raum steht und einen diese völlige Stille umgibt, die nur selten vom Knacken des Holzbodens unterbrochen wird.

Und dann gibt es diese absolute Stille. Wenn man einen Witz macht und niemand lacht. Eine Stille, die sich wie ein Sarkophag um einen legt.

Nach einer solchen Kameraprobe ist die Moral maximal am Boden. Es fühlt sich ein bisschen so an, als würde man einen Hundertmeterläufer vor dem alles entscheidenden Rennen eine Testrunde laufen lassen, aber mit Gewichten an beiden Beinen, Gegenwind aus Windkanonen und ohne Schuhe.

Nina klatscht. Allein.

Als ich das erste Mal bei TV Total aufgetreten bin, wollte Stefan Raab mich beruhigen und sagte: „Denk immer daran: Der Saal ist egal, nur die Millionen Menschen vor dem Fernseher zählen.“

An diese Worte muss ich jetzt denken und rätsle immer noch, was daran nun eigentlich beruhigend sein sollte.

Ich gehe langsam rückwärts von der Bühne, fast comichaft schiebe ich mich aus dem scharfkantigen Lichtkegel des Scheinwerfers. Das einzig Beruhigende in diesem Moment ist die Gewissheit, dass es nicht mehr schlimmer werden kann. Um das zu toppen, müsste ich mich heute Abend schon vor laufender Kamera selbst beschmutzen oder ohne Hose das „Thüringer Klöße“-Lied singen.

„Das war doch toll“, sagt Nina und legt ihren Arm um mich. Eine tröstende Geste, mein Kopf hängt trotzdem wie eine Abrissbirne zwischen meinen Schultern. Den Begriff „toll“ für diesen Unfall zu verwenden, klingt wie Satire. Aber sie meint es ernst. Sie reibt meine Schultern wie eine Mutter, deren Kind vom Pferd gefallen ist. Nur dass das Kind in diesem Fall zwei Meter groß ist und 200 Pfund wiegt.

Plötzlich regt sich etwas im Raum, Heiner oder Reiner schiebt seinen Körper aus der Lehne des Stuhls in die Senkrechte, ein Luftzug geht durch die leeren Gänge der Sitzreihen, der die Techniker und Kameraleute aufzuwecken scheint wie eine Explosion am Horizont.

Dieter Nuhr erscheint durch die offene Stahltür an der westlichen Seite des Raums. Wir haben uns noch nie gesehen, deshalb grüße ich, immer noch getroffen von den schlimmen letzten Minuten, mit einem schmalen „Hallo“, das er mit einem Nicken erwidert.

Als ich an diesem Nachmittag auf den sozialen Netzwerken gepostet habe, dass ich abends bei „Nuhr im Ersten“ zu Gast sein würde, bekam ich erschreckend viel Gegenwind. Schon interessant, dass „Tabubrecher“ fast überall auf der Welt ein Kompliment ist, während es bei uns (und vielleicht noch im Vatikan) immer mit einer hochgezogenen Augenbraue verwendet wird.

Dieter Nuhr betritt die Bühne und geht routiniert seine Moderation durch. Die Kameraprobe scheint ihn nicht annähernd so ins Wanken zu bringen wie mich. So sieht wohl Erfahrung aus, denke ich. Nuhr trägt wie immer Schwarz, den dunklen Mantel hat er über einen Hocker neben der Bühne geworfen.

Den Vorwurf, den Rechten gefallen zu wollen, kann ich bei dem, was er heute probt, wirklich nicht nachvollziehen. Vielmehr seziert er wie jeder große Kabarettist alle Lager mit der gleichen Leidenschaft: Extrem Linke, extrem Rechte, extrem Irre.

Zwischen den Sätzen lächelt er trocken in die Kamera und nimmt einen tiefen Schluck aus der Desinfektionsflasche auf dem Pult. Erleichtert atme ich auf. Immerhin war die nicht für mich gedacht!

Corona. Seit ein paar Tagen ist dieses Wort mehr als ein lackes mexikanisches Bier und in all seiner Bedrohlichkeit wohl im Bewusstsein der meisten Menschen angekommen.

Ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll. Rinderwahnsinn, Schweinepest, SARS, Vogelgrippe, alles Krankheiten, die mehr in den Schlagzeilen als in der Lebenswirklichkeit der meisten Mitteleuropäer vorkamen. Bis jetzt.

Irgendwas ist diesmal anders. Seit drei Tagen herrscht in Norditalien eine Ausgangssperre, und die Bilder aus den Krisengebieten in Italien, Spanien und China wirken immer drängender, die Stimmen der Moderatoren und Politiker enervierender, diesmal ist alles näher, drastischer.

Nach der Kameraprobe stehe ich nervös im Aufenthaltsraum hinter den Kulissen herum, wo sich die Künstler vor der Aufzeichnung einfinden. Dieter Nuhr nippt an einer Tasse Kaffee, eine andere Künstlerin läuft unruhig auf und ab und vergegenwärtigt sich noch mal die Zeilen, die sie gleich vor dreihundert Menschen im Saal und ungefähr drei Millionen Menschen vor den Fernsehgeräten sagen wird. Ich muss mich korrigieren. Dreihundert Menschen im Saal werden es wohl nicht heute, eher die Häfte.

Ein Techniker, der sich auch am Catering bedient hat, steht neben mir und schiebt sich ein Stück Braten in seinen Mund. „Hatten wir auch noch nie, dass so viele nicht gekommen sind. Normalerweise ist die Warteliste für die nächsten zwei Jahre voll“, sagt er und schiebt ein weiteres Stück Fleisch hinterher.

Irgendjemand hat den Fernseher eingeschaltet, und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sieht uns aus sorgenvollen Augen an. Irgendwie habe ich den Eindruck, das jüngste Regierungsmitglied ist in den letzten Tagen um Jahrzehnte gealtert. „… und ich ermuntere die Verantwortlichen ausdrücklich, Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern bis auf Weiteres abzusagen.“

So langsam weicht meine Angst vor dem Auftritt einer anderen Sorge. Was, wenn auch Veranstaltungen mit weniger Teilnehmern abgesagt werden? Nina scheint meine Gedanken lesen zu können. „Ruhig, Kleiner“, sagt sie und muss sich auf die Zehenspitzen stellen, um meine Schulter tätscheln zu können. „So weit wird’s nicht kommen!“

Die wenigen Minuten bis zu meinem Auftritt wirken wie eine Ewigkeit, auf den Anzeigen des Tontechnikers blinkt eine rote Uhr, die zu meinem Countdown wird.

Ich muss mich ermahnen, dankbar dafür zu sein, dass ich hier sein darf und versuche, den Gedanken an die aufblinkende Uhr, die sich wie der Timer eines Sprengsatzes anfühlt, wegzuwischen. Das Bombenräumkommando ist nicht auf dem Weg, um die Bombe zu entschärfen. Ich muss das selbst tun.

Ich greife an meinen Hals, an dem ein Anhänger aus Bergkristall hängt, den ich als Glücksbringer von meiner Frau Nadja geschenkt bekommen habe, und küsse gedankenverloren den körperwarmen Stein.

Ich atme ein. Meine Lungen füllen sich mit kalter Luft, ich spüre meinen rasenden Puls, die Haare an meinem Arm stellen sich auf.

„… und hier ist er … Bastian Bielendorfer“, ruft Dieter Nuhr, und ich trete aus der Dunkelheit ins Licht der Scheinwerfer.

Applaus brandet auf. Ich bin da.

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BERLIN BERLIN. LIEBES TAGEBUCH

In Berlin ist über Nacht die Covid-19-Angst eingezogen. Meine ganze Reise hierher fühlt sich an, als wäre ich die Hauptfigur in einem Roman aus der Zeit der Spanischen Grippe. Die Cafés sind leer, die Straßen sind leer, selbst die Augen der Rezeptionistin des Hotels, in dem ich schlafe, wirken leer, als sie mir stumm mit einer Hand den Weg Richtung Frühstücksbüfett zeigt.

Ich habe das Gefühl, dass eine Lawine bevorsteht, man hört bereits das Knacken des Eises oberhalb des Berges, aber der Schnee ist noch nicht in Bewegung geraten.

Ich muss diese seltsame Zeit irgendwie festhalten, um nicht den Bezug zur Realität zu verlieren, so unwirklich fühlt sich das alles an. Ich beginne mit meinem Corona-Tagebuch.

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AUF KEIN BIER MIT DR. DROSTEN

Gestern Abend saß ich mit meinem alten Freund Philipp im WATT im Kollwitzkiez. In der dunklen Kaschemme trinken Austauschstudenten in schlecht sitzenden Winterjacken neben Lebensverlierern und älteren, pittoresk geschminkten Frauen. Philipp und ich saßen an der Bar und tranken bitteres Pils, das von einer ruppig-herzlichen Bardame mit seltsamen Tätowierungen gezapft wurde.

Als meine Hand das Glas zum Mund führen will, stocke ich kurz. In einer Folge seines Corona-Update-Podcasts hat der Virologe Dr. Drosten gerade erst empfohlen, man solle tunlichst kein gezapftes Bier trinken. Dr. Drosten kann froh sein, dass er in Berlin wohnt – in Bayern würde er für die Aussage wahrscheinlich öffentlich mit einem Weizenbierglas gepfählt werden.

Drosten hat wohl auch schon vor der derzeitigen Krise von derartigen lukullischen Suizidversuchen abgeraten. Aus einem Bierglas zu trinken, das nur einmal kurz durchs Wasser gezogen wird, in dem das Spülmittel stärker verdünnt ist als der Wirkstoff in Schüssler Salzen, klingt nach dieser Warnung so, als könnte man gleich seine Zunge am Toilettensitz eines Bahnhofklos entlangführen.

Lustiger Gedanke, fand ich und nippte an meinem Bier, bis ich irgendwann bedenklich angetrunken meinen Freund umarmte und die paar Schritte ins Hotel ging, in dem ich gerade der einzige Gast bin.

Klingt ein bisschen wie in einem Wes Anderson-Film oder in einer französischen Novelle. Ein einsamer Autor als einziger Gast in einem Hotel in einer ausgestorbenen Stadt …

Von meinem Auftritt bei „Nuhr im Ersten“ habe ich mich inzwischen erholt, aber es stresst mich trotzdem, dass ich vom Veranstalter noch keine Nachricht erhalten habe, ob meine morgige Show stattfinden wird.

Das einzige Beruhigende an Berlin ist, dass egal ist, welchen nervösen Unruhezustand man gerade hat, man wird ihn definitiv mit einem anderen Bewohner der Stadt teilen können. So viele schräge Existenzen, wie ich in den letzten drei Tagen in der Hauptstadt gesehen habe, sieht man sonst wirklich nur in David Lynch-Filmen. Gestern Abend saß ein Mann im Trenchcoat neben uns an der Bar, der sich mit einer Handpuppe unterhielt, die auf seiner rechten Hand steckte. Niemand außer Philipp und mir schien davon Notiz zu nehmen. Die Handpuppe hatte sogar ihr eigenes Bier vor sich stehen, aus dem der Mann abwechselnd trank und sich selbst zuprostete. In München würde der Kellner bei solch einem Verhalten wahrscheinlich einen Arzt rufen, in Berlin dagegen zapft man dem Verrückten lieber ein zweites Bier.

Am Frühstücksbüfett bin ich am nächsten Morgen der einzige Gast. Eine irgendwie verunsichert wirkende Servicekraft zieht die Tischdecken an den leeren Plätzen stramm und stochert mit einer Riesenkelle in der Warmhaltetheke herum.

Ein Kollege von mir hat mal getwittert, dass es eines der Lebensziele eines Stand-up-Comedians ist, in ganz Deutschland einmal schlechtes Rührei gegessen zu haben. Wenn es danach geht, kann ich mich bald zur Ruhe setzen. In meinem heutigen Hotel ist es ihnen gelungen, aus der Fertigeimischung einen soliden vier Kilo schweren Block zu gießen. Die gelbliche Masse gleicht in Form und Farbe einem offen aufgebahrten Spongebob und liegt nun vor mir im Warmhaltebehälter.

Ich schaufle mir einen klitzekleinen Brocken auf den Teller und sehe sofort die hochschießende Augenbraue der Servicekraft. Das soll wahrscheinlich so viel heißen, wie: „Wir haben das gekocht, jetzt wird es aufgegessen!“

Nadja wirkt am Telefon etwas besorgt. Ihre Mutter wohnt jetzt seit vier Tagen bei uns und hat begonnen, die Schränke aufzuräumen. Klingt banal, bedeutet aber, dass eine knapp ein Meter fünfzig kleine Frau schon vor Sonnenaufgang in den Kleiderschränken herumkriecht und ihre Tochter abwechselnd mit Aussagen wie „Was haben wir denn da?“ und „Das trägst du doch eh nicht mehr, das ist Altkleider“ in den Wahnsinn treibt.

Schwiegermutter wollte nur ein paar Tage bei uns bleiben, weil sie einen Wasserrohrbruch hatte, jetzt aber, wo stündlich neue Meldungen zu Corona über die Nachrichtenticker laufen, deutet Nadja schon an, dass sie ihre Mutter nicht guten Gewissens nach Hause schicken kann.

Wenigstens haben wir ein Gästezimmer, sonst könnten wir uns nach meiner Rückkehr nur das Boxspringbett teilen. Nadja und ich, getrennt durch meine 69-jährige Schwiegermutter in der Besucherritze, ein 1,50 großer menschlicher Keuschheitsgürtel durch unser Eheleben.

Ich bin ganz froh über die Ausmistaktion, sage aber lieber nichts.

Ich liebe meine Frau wirklich sehr, aber wenn es ein thematisches Minenfeld gibt, auf das ich mich jetzt nicht einlassen will, dann ist es ihre Unfähigkeit, Dinge wegzuschmeißen. Sie ist imstande, jeden Gegenstand mit Bedeutung aufzuladen. Ich bin froh, dass ich zumindest alte Spülschwämme entsorgen darf.

Am schlimmsten ist es bei Kleidung. Sie kann jedes Kleidungsstück in ihrem Schrank sofort einordnen, weiß, wann sie es getragen hat und warum es eine Bedeutung für ihr Leben hat.

Nach Sätzen wie: „Aber diese Socken habe ich doch bei unserem ersten Date getragen“ oder „Das T-Shirt habe ich am Tag meines mündlichen Abis angehabt, das kann auf keinen Fall weg“, habe ich aufgegeben und ihre offensichtliche Störung in den mentalen Abstellschrank für Schrulligkeiten einsortiert, die man bei jedem Partner findet.

Ob das so eine gute Idee war, wage ich zu bezweifeln, seit sie letztens mit Tränen in den Augen drei völlig verblichene Kelly-Family-Shirts im Schrank gefunden und wie ein Neugeborenes an sich gedrückt hat. Auf meinen Einwand hin, dass sie nun 37 Jahre alt sei und seit etwa 20 Jahren nicht einen Song der irischen Großfamilie gehört habe, schenkt sie mir einen Blick wie einen Axthieb. Ich bin mir recht sicher, dass sie, sollte ich vor ihr sterben, mit einem „Over the Hump“-Shirt vor meinem offenen Sarg stehen wird. Joey, Angelo und Paddy werden mich davon in ewig eingefrorener Begeisterung anstarren, und statt „Du fehlst mir“ wird Nadja ein triumphierendes „Siehst du, ich trage es doch“ flüstern.

Da ich immer noch nicht weiß, ob meine Show stattfinden wird und ob die Züge nach Köln noch fahren, gehe ich gegen Mittag zu Philip, der mir in Unterhose die Tür öffnet. Ich glaube nicht, dass sein Aufzug viel mit dem drohenden Lockdown zu tun hat, sondern mit Philipps sympathischer Zerstreutheit. Ihm würde ich auch zutrauen, dass er gedankenverloren genug ist, in seinen grünen Boxershorts in den Rewe zu wackeln und erst an der Kasse beim vergeblichen Griff in die nicht existierende Hosentasche merkt, dass er gerade in Unterhose im Supermarkt steht.

„Na, kommst du nicht weg? Das ist in Berlin nichts Neues“, umarmt mich mein Freund und grinst.

Besser kann man diese Stadt in zwei Sätzen wohl nicht zusammenfassen. Ich nehme mir ein Bier aus dem Kühlschrank und setze mich auf die Couch.