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Hannes Nygaard ist das Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard. 1949 in Hamburg geboren, hat er sein halbes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Er studierte Betriebswirtschaft und war viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Hannes Nygaard lebt auf der Insel Nordstrand.

www.hannes-nygaard.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Hayden Verry/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-656-2

Hinterm Deich Krimi

Originalausgabe

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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog,

Dr. Michael Wenzel (www.editio-dialog.com).

 

Die Welt wird nicht bedroht
von den Menschen, die böse sind,
sondern von denen,
die das Böse zulassen.

Albert Einstein

EINS

Die Neonröhren gaben ein unnatürliches Licht ab. In der Werbung wurden Warmtonlampen angeboten, die mit einem geringeren Blauanteil ein gemütlicheres und augenschonendes Licht abstrahlen sollten. Dieses wirkte kalt, fast gleißend.

Ebenso ungemütlich war der Blick aus dem Fenster. Obwohl es erst früher Nachmittag war, leuchteten in den Fenstern der umliegenden Gebäude ebenfalls die Lampen. Der grau verhangene Himmel verschluckte das natürliche Tageslicht. Aus den tief hängenden Wolken regnete es schon seit Stunden. In den Wassertropfen auf der Fensterscheibe brach sich das Licht. Mit ein wenig Phantasie konnte man in jedem einzelnen ein kleines Kaleidoskop erkennen, auch wenn die Farbe fehlte.

Lüder war froh, den norddeutschen Winter aus dem Hausinneren beobachten zu können. Vier Grad und Regen, wohlgemerkt nicht Schauer, versprach die Wetter-App. Die Vorhersage im lokalen Fernsehen verhieß auch keine Besserung. In knapp zwei Wochen war Weihnachten. Wie in jedem Jahr beschäftigte viele Menschen die Frage, ob es weiße Weihnachten geben würde. Nicht bei uns, schweiften seine Gedanken ab. Gefühlt gab es schon seit Generationen keinen Schnee mehr zu den Feiertagen. Doch immer noch verbanden viele Menschen diese Festtage mit Schnee, klarer Winterluft, Schlitten, vielleicht Bergen und kleinen Kirchen in malerischen Dörfern.

Kiel war anders. Grau. Regnerisch. Nasskalt. Hektisch. Aber das waren andere Städte in diesen Tagen auch. Man wünschte sich »besinnliche Festtage«, hetzte aber in den Wochen zuvor durch die Straßen. Nein! Durchs Leben.

Lüder atmete tief durch und trank einen Schluck heißen aromatischen Kaffees aus dem Becher. Er saß auf der Schreibtischkante und lächelte Edith Beyer an, die das Vorzimmer des Leiters der Abteilung 3 des Landeskriminalamts hütete. Es war eine liebe Gewohnheit geworden, dass er sich dort mit Heißgetränken versorgte.

»Was machen Sie über die Feiertage?«, fragte sie Lüder, nachdem sie erzählt hatte, dass sie selbst mit ihrem Lebenspartner Heiligabend zu Hause verbringen und dann bis zu Beginn des neuen Jahres mit ihm und ein paar Freunden in ein großes und komfortables Ferienhaus nach Dänemark fahren würden. »Fanø ist unsere Trauminsel«, hatte sie angefügt.

»Wir werden Weihnachten traditionell im Familienkreis verbringen.« Lüders Augen leuchteten. »Heiligabend und am ersten Weihnachtstag ist das Haus voll. Meine Eltern kommen. Und alle Kinder sind da.«

»Alle vier?«

Lüder nickte. »Das ist ein Großkampftag für meine Frau. Aber sie wird dabei tatkräftig von den Mädchen und meiner Mutter unterstützt.«

Edith Beyer stieß einen Seufzer aus. »Schön, dass es Ihrer Frau wieder besser geht. Dass sie die psychosomatischen Störungen allmählich in den Griff zu bekommen scheint. Den Geiselnehmern ist gar nicht klar, was sie da angerichtet haben.«

Lüder nickte versonnen. Das traf zu. Noch war Margit nicht die Alte, aber in zunehmenden Maßen bewältigte sie den Alltag und nahm auch wieder das Zepter in vielen Bereichen ihrer bunten Patchworkfamilie in die Hand. Familie. Das waren sie nach vielen Jahren Partnerschaft jetzt wirklich. Im Frühjahr hatten sie geheiratet.

Edith Beyer zeigte zum Fenster hinaus. »Gruseliges Wetter. Wie gut, dass es derzeit ruhig ist.«

»Diese Zeit, in der viele Menschen auf den Weihnachtsmärkten Spaß haben, in der Glühwein und herzhafte Imbissangebote dazugehören, bedeutet für die Sicherheitsorgane immer eine besondere Anspannung, spätestens seit der irre Amri in Berlin mit dem Lkw viele Menschen ermordet hat. Leider gibt es Verrückte, die das christliche Fest zum Anlass nehmen, ihrem Hass auf unsere Kultur und unsere Werte Ausdruck zu verleihen und das durch Gewalt zu bekunden.«

»Hoffen wir das Beste«, meinte Edith Beyer. »Wenn es bei uns in Kiel schon keine weißen gibt, dann sollen es doch wenigstens friedliche Weihnachten werden.«

Beide tranken schweigend aus ihren Kaffeebechern und hingen ihren Gedanken nach. Sie wurden durch das Klingeln des Telefons unterbrochen.

»Beyer. Herr Dr. Starke?« Sie hörte kurz zu, dann sah sie Lüder an. »Der ist hier. – Gut, ich richte es ihm aus.«

Lüder zeigte auf die verschlossene Tür, hinter der Kriminaldirektor Dr. Starke saß, der Leiter des Polizeilichen Staatsschutzes im Landeskriminalamt Kiel. »Hat er Sehnsucht?«

Edith Beyer kam nicht mehr dazu, zu antworten. Die Tür öffnete sich, und der auch zu dieser Jahreszeit gut gebräunte Abteilungsleiter erschien. Er war – wie immer – tadellos gekleidet. Graue Hose, graues Sakko, hellblaues Hemd und eine passende Krawatte dazu. Mit Sicherheit war Dr. Jens Starke der bestangezogene Beamte im Polizeizentrum Eichhof. Er streckte Lüder die manikürte Hand entgegen.

»Guten Tag, Lüder. Wir sollen sofort zum Vize kommen.«

Der »Vize« war der stellvertretende Leiter des LKA, der Leitende Kriminaldirektor Jochen Nathusius.

»Moin, die Herren«, begrüßte sie Nathusius und zeigte auf den Besprechungstisch. »Bitte.« Es war eine Eigenart des scharfsinnigen Analytikers, ohne lange Vorreden sofort zum Thema zu kommen. »Uns ist ein Riesenproblem auf die Schienen genagelt worden. Wir bekommen einen überraschenden Staatsbesuch. Und das in vier Tagen.«

Lüder und Dr. Starke wechselten einen raschen Blick.

»Der amerikanische Präsident kommt.«

Die beiden Beamten vom Staatsschutz sahen sich an.

»Das ist nicht wahr«, entfuhr es Lüder. Es war rhetorisch gemeint. Nathusius scherzte nicht mit solchen Aussagen.

»Doch. Leider. Wir wissen aus den Medien um die Sprunghaftigkeit dieser Person. Er hat es auf dem von ihm bevorzugten Weg über Twitter angekündigt. Berlin ist ebenso überrascht wie die gern zitierten ›gut informierten Kreise‹.«

»Das geht doch nicht«, warf Dr. Starke ein.

»Das sollte man meinen«, erwiderte Jochen Nathusius mit einem Seufzer. »Aber wenn er diese einsame Entscheidung trifft, steht die Welt kopf.«

»Manches ist trotzdem nicht möglich. Der Wirrkopf kann nicht die Schwerkraft aufheben.«

Beim »Wirrkopf« fing sich Lüder zwei maßregelnde Blicke der anderen ein.

»Er kann«, erwiderte Nathusius. »So wie er über den roten Knopf verfügen kann, sind ihm auch solche Aktionen möglich.«

»Dann soll er sehen, wie er das organisiert bekommt«, meinte Lüder und erntete dafür ein mildes Lächeln des stellvertretenden LKA-Leiters.

»Wir haben nur eine Vorabinformation aus Berlin erhalten. Dort brennt der Baum.«

»Das kann ich mir vorstellen«, mischte sich Jens Starke ein. »Was haben wir damit zu tun? Es geht sicher um die Abstellung von Polizeieinheiten. Das ist eine schwierige Aufgabe für die Schutzpolizei.«

Nathusius nickte versonnen. »Der Präsident hat sich Schleswig-Holstein als Ziel auserkoren.«

»Was?« Lüder und Jens Starke fragten im Chor.

»Staatsbesucher werden doch oft in den bekannten Schlössern im Osten untergebracht. Heiligendamm. Meseberg. Von mir aus irgendwo in den bayerischen Bergen. Bei jedem anderen würde man es als Ehre betrachten. Aber bei Onkel Donald?«

Nathusius lächelte milde. »Wir sollten uns im Sprachgebrauch mäßigen, Herr Dr. Lüders. Wir diskutieren hier keine Einsatzlage am Stammtisch.«

»Was führt den Präsidenten nach Schleswig-Holstein? Wohin genau? Gibt es schon einen Ort?«, wollte Jens Starke wissen.

»Ja«, erwiderte Nathusius knapp.

»Schloss Glücksburg? Ahrensburg? Eines unserer Herrenhäuser?«, riet Lüder.

Nathusius zuckte mit den Schultern. »Wir erhalten nähere Informationen durch einen Beauftragten der Bundesregierung, der auf dem Weg nach Kiel ist. Mehr weiß ich derzeit auch noch nicht. Wir haben lediglich die Anforderung aus Berlin bekommen, die ans Innenministerium gegangen ist. Der Innenminister hat seinen Stab zusammengerufen. Unser Chef nimmt daran teil. Ansonsten gibt es nur die Twitternachricht.« Nathusius setzte seine Brille auf und las den Text von einem Blatt Papier ab: »Die Dänen werden das bereuen. Sie verweigern dem bedeutendsten Staatsmann der Welt die gebührende Achtung. Eine Zusammenarbeit mit ihnen ist nicht möglich. Ich werde statt nach Kopenhagen in die ehemalige Kolonie nach Woodstone reisen.«

»Woodstone?«, fragte Jens Starke verwundert.

»Der Mann ist für seine mangelhaften geografischen Kenntnisse bekannt. Mit ›Woodstone‹ hat er vermutlich Holzstein übersetzt und meint damit Holstein«, überlegte Lüder laut. »Immerhin hat ihm jemand verraten, dass Schleswig-Holstein im Laufe der Geschichte mal dänisch, dann wieder deutsch war.«

»Lassen wir die Historie außen vor«, sagte Nathusius. »Ich habe Sie hergebeten, weil wir etwas zum Schutz des Gastes organisieren müssen.«

»Hat man das den Kielern aufs Auge gedrückt?«, fragte Lüder überrascht.

»Nein. Die Federführung liegt beim Bund. Trotzdem sollten wir uns Gedanken machen. Der Präsident ist einer der gefährdetsten Menschen der Welt. Ich benötige von Ihnen als Polizeilichem Staatsschutz eine Expertise. Worin besteht die Gefahr? Welche Maßnahmen könnten wir vorschlagen beziehungsweise ergreifen? Wo können wir präventiv tätig werden?« Nathusius sah Lüder an. »Sie haben Erfahrungen im Personenschutz.«

Lüder winkte ab. »Es war ein Vergnügen, dem damaligen Ministerpräsidenten zur Seite zu stehen. Der Mann mit dem weißen Bart war beliebt. So volksnah, wie der als Landesvater auftrat, konnte sich niemand vorstellen, dass er Ziel eines Attentäters hätte werden können. Das ist bei Onkel Don …« Der erhobene Zeigefinger Nathusius’ ließ ihn den Satz nicht vollenden. »Wir brauchen einen Tarnnamen für das Zielobjekt. Ich schlage ›das Frettchen‹ vor.«

»Bitte?« Jens Starke musterte ihn irritiert.

»Das ist ein Tarnname für die Operation. Ein Frettchen wird in unterirdische Höhlen gelassen, um die dort Hausenden herauszutreiben.« Dabei fuhr sich Lüder wie zufällig mit der Hand über den Kopf.

Nathusius grinste. Der Leitende Kriminaldirektor hatte Lüders Anspielung auf die Haare des Präsidenten verstanden. Lüder hatte früher einmal angemerkt, der Erste Bürger der USA sehe aus, als hätte man ihm ein totes Frettchen auf den Kopf genagelt.

»Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« Nathusius zuckte mit den Schultern. »Sobald der Beauftragte aus Berlin eingetroffen ist, melde ich mich. Bleiben Sie bitte verfügbar. Diese Sache hat absolute Priorität.«

Damit waren sie entlassen.

Dr. Starke schüttelte auf dem Weg zu ihren Büros immer wieder den Kopf.

»Unfassbar«, murmelte er unentwegt. Dann bat er Lüder zu sich. »Wie wollen wir vorgehen?«

»Es wäre hilfreich, wenn wir mehr Informationen hätten. Für mich sind drei Fragen von Bedeutung. Erstens: Wer ist dieser Mann?« Lüder streckte den linken Zeigefinger in die Luft.

»Verstehe ich nicht, es ist der US-Präsident«, warf Jens Starke ein.

»Das ist sein Job. Aber wer ist er selbst?« Was ich darüber denke, sage ich lieber nicht, dachte Lüder. Es könnte eine Beleidigungsklage zur Folge haben. Das Mindeste wäre eine Rüge seines Vorgesetzten.

»Zweitens.« Es folgte der Mittelfinger. »Wo will er hin? Wir müssen umgehend sein Ziel in Schleswig-Holstein erfahren. Daran schließen sich viele Fragen an. Wie können wir die Örtlichkeit absichern? Gibt es diese Möglichkeit überhaupt? Welche Konsequenzen hat es für die Umgebung? Und drittens«, jetzt folgte der Daumen, »sollten wir uns Gedanken machen, von wem eine Gefahr für das Frettchen ausgehen könnte. Ich fürchte, das wird eine lange Liste.«

»Ich übernehme Punkt drei«, sagte Jens Starke. »Zum zweiten Punkt können wir im Augenblick nichts sagen.«

»Ich mache mir ein Bild von der Person«, sagte Lüder, nahm sich von Edith Beyer einen weiteren Becher Kaffee mit und kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück.

Der Präsident war über siebzig Jahre alt und in New York geboren. Er hatte von seinem Vater ein Millionenvermögen geerbt und es zu einem Mischkonzern ausgebaut, dessen Schwerpunkt im Immobilienbereich lag. Im geschäftlichen Bereich hatte er sich nie zimperlich gezeigt, hatte jedes soziale Ansinnen im Wohnungsbau missen lassen, dafür mit Renommierobjekten, Hotels und Spielcasinos geglänzt. Eine frühere Anklage wegen Rassendiskriminierung war unter den Teppich gekehrt worden. Interessant war, dass der Präsident in der Vergangenheit öfter bei der Aufzeichnung seiner Familiengeschichte gelogen hatte. Er, der sich auch dank seiner Herkunft spöttisch bis arrogant über mittellose Menschen oder Einwanderer äußerte, unterschlug die Historie seiner Mutter aus einer armen schottischen Fischerfamilie. Lüder hätte genüsslich die zahlreichen Artikel zu den amourösen Abenteuern studieren können oder den bewegten Lebenslauf in familiärer Hinsicht. Aber das, so dachte Lüder, gehörte eher auf die Titelseiten der bei Damenfriseuren ausgelegten Zeitschriften.

Der Präsident, der rund um den Globus mit seinem »America First« für Unruhe sorgte, gehörte selbst einer Einwandererfamilie an. Seine Großeltern waren aus dem Pfälzischen als Armutsflüchtlinge nach Amerika ausgewandert. »Das war damals bayerisch«, sagte Lüder. »Kein Wunder, dass das Frettchen bis heute die Attitüde ›Nichts gilt außer mir‹ pflegt.«

Amerika bezeichnet sich oft und gern als Muster für die Demokratie. Lüder schüttelte bei diesem Gedanken den Kopf. Natürlich wurde dort gewählt. Meistens sicher auch fair. Auch wenn gelegentlich Zweifel auftauchten. Als bei der Präsidentenwahl von Bush jr. Stimmen aus Florida fehlten und es Unstimmigkeiten bei der Auszählung der technisch fragwürdigen Wahlmaschinen gab, lehnte der dortige Gouverneur es ab, das Ergebnis durch eine nachträgliche Handauszählung verifizieren zu lassen. Der Skandal war, dass der Gouverneur Jeff Bush hieß und der Bruder des Kandidaten war. Zur deutschen Vorstellung von Demokratie passte auch nicht, dass man in Amerika viel Geld benötigte, um in ein politisches Amt zu gelangen. Man könnte behaupten, Präsident könne nur jemand werden, der sich den Wahlkampf leisten kann. Nur selten gelang es Bewerbern, die Mittel über Sponsoren aufzubringen. Ob der Kandidat diesen im Erfolgsfall verpflichtet war? Lüder mochte darüber nicht nachdenken. Nein. Da war die Demokratie im von Amerikanern oft belächelten alten Teil der Welt ehrlicher.

Gerade der jetzige Präsident war nicht frei von Skandalen, und um seine Person rankte sich manch Fragwürdiges. Hatte er wirklich die Verfolgung strafbarer Tatbestände durch Geld, Bestechung, Drohung oder Amtsmissbrauch unterdrückt? »Freunde werden wir beide nicht«, sagte Lüder im Selbstgespräch. »Aber ich bin professionell genug, um zu wissen, dass ich meinen Anteil an deiner Sicherheit leisten muss.«

Lüder suchte Oberrat Gärtner auf, der mit zwei Mitarbeitern daran arbeitete, eine Liste mit potenziellen Gefährdern zusammenzustellen.

»Das sind nur Schlagworte«, erklärte Gärtner. »Ich habe auch mit dem Kollegen Meenchen vom Verfassungsschutz gesprochen. Aber wenn wir ehrlich sind … Das Ganze ist eine Nummer zu groß für uns. Wir haben unseren Bereich gut im Griff, aber die große Weltpolitik, die geht doch ein wenig an Kiel vorbei.«

Sie wurden durch den Abteilungsleiter unterbrochen, der plötzlich in der Tür stand. Er winkte Lüder zu sich. »Wir sollen sofort ins Innenministerium kommen. Der Kontaktmann aus Berlin ist eingetroffen.«

Jens Starke hatte ein ziviles Fahrzeug mit Fahrer besorgt, das sie mit Blaulicht zum Innenministerium brachte. Der Rotklinkerbau lag unweit des Landtags direkt an der Kieler Förde. Im Besprechungssaal mit Blick auf das im Novembergrau liegende Kieler Ostufer hatte sich eine Reihe von Personen eingefunden. Lüder nickte dem Staatssekretär des Innenministeriums zu, grüßte den Landespolizeidirektor mit einem Handzeichen und nahm zwischen Jochen Nathusius und Jens Starke Platz.

Staatssekretär Sorgenfrei wirkte gehetzt. Mit wenigen Worten betonte er die schwierige Situation, in die der amerikanische Präsident die deutschen Behörden gebracht habe. Es sei eine Herausforderung, der man sich stellen müsse. Dann entschuldigte er sich. Man erwartete ihn in der vom Minister geführten Runde. In diesem Gremium sollten die Experten, wie er betonte, nach praktikablen Lösungen suchen. Er erteilte einer brünetten Frau, deren ganzes Erscheinungsbild mit »dezent« umschrieben werden konnte, das Wort.

»Frau Ministerialdirigentin Wuschig leitet im Bundesinnenministerium die Unterabteilung ÖS II Extremismus, Terrorismus und Organisierte Kriminalität.«

Lüder zog die Blicke der Anwesenden auf sich, als er auflachte. Auch die Angesprochene sah zu ihm herüber.

Extremismus – Terrorismus – Organisierte Kriminalität. Wie passte das zum amerikanischen Präsidenten?, überlegte er, unterließ es aber, seine Gedanken auszusprechen.

»Guten Tag«, sagte die Frau, deren Alter Lüder auf etwa fünfzig Jahre schätzte. »Mein Name ist Sabine Wuschig. Wir alle stehen vor einer großen Herausforderung, die uns aus der überraschenden Entscheidung des amerikanischen Präsidenten erwachsen ist. Insofern gilt es, innerhalb kürzester Zeit ein praktikables Konzept zu etablieren, mit dem wir dem Gast den größtmöglichen Schutz bieten können. Dabei müssen wir auch seiner Person und seiner Position gerecht werden. Ich weiß, es ist eine Herausforderung. Insofern ist Ihrer aller Expertise gefordert.« Sie sah in die Runde. »In der Kürze der Zeit haben wir versucht, alle wichtigen Ansprechpartner hier zusammenzubringen. Darf ich Sie bitten, sich selbst kurz vorzustellen?«

Neben Frau Wuschig hatte ein schlaksig wirkender Mann Platz genommen. Seine Haare waren akkurat in einem Scheitel gekämmt. Das Gesicht zierte eine Harry-Potter-Brille. Das ließ ihn jünger erscheinen, als er vermutlich war. Die farblich aufeinander abgestimmte Kombination und das am Kragen offene Hemd verrieten Geschmack.

»Richard von Ravenstein«, sagte der Mann. »Ich komme vom Bundesaußenministerium.«

»Würden Sie bitte Ihre Dienststellung mit nennen?«, bat Sabine Wuschig. »Das vereinfacht die Vorstellung.«

»Vortragender Legationsrat«, erklärte von Ravenstein. »Ich möchte die Gelegenheit nutzen und etwas zur Vorgeschichte sagen.«

Er sah Frau Wuschig an. Als die unmerklich nickte, fuhr von Ravenstein fort.

»Ihnen allen ist bekannt, dass der US-Präsident vor einiger Zeit das Ansinnen geäußert hat, von Dänemark die Insel Grönland zu erwerben. Er hat sich dabei wohl vom damaligen Kauf Alaskas von Russland leiten lassen.«

»Eine völlig aberwitzige Idee«, warf Lüder ein.

Von Ravenstein nickte leicht. »Jeder mag seine eigenen Gedanken dazu haben. Auf diplomatischer Ebene haben wir es zur Kenntnis genommen und nicht kommentiert. Die Vereinigten Staaten sind ein … ach was, das politische Schwergewicht auf der Erde, und ihr Präsident repräsentiert dieses. Sie wissen, dass er mit einer größeren Machtfülle ausgestattet ist als die europäischen Regierungschefs. Ich muss zudem nicht ausführen, wie diese Persönlichkeit die Befugnis ausfüllt. Es steht uns nicht zu, öffentlich darüber zu befinden.« Er warf Lüder einen Bick zu und zwinkerte verstohlen mit einem Auge. »Natürlich verkauft ein souveräner Staat wie Dänemark kein Gebiet, schon gar nicht inklusive der Menschen, die dort leben. Abgesehen davon, dass Grönland innenpolitisch vollständig unabhängig ist und nur in allen außen- und verteidigungspolitischen Angelegenheiten von Dänemark vertreten wird. Das sollte auch die US-Administration wissen. Auch, dass es Bestrebungen gibt, Grönland in die volle Unabhängigkeit zu entlassen. Der Präsident wollte nur einen großen Immobiliendeal abwickeln, um das Land und seine Bewohner für einen Atomabwehrschild und zur Ausbeutung von Bodenschätzen zu benutzen.«

Sabin Wuschig räusperte sich vernehmlich.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte von Ravenstein. »Das war jetzt kein Statement der Bundesregierung, sondern ein Pressezitat. Jedenfalls war der US-Präsident sehr verstimmt über die, wie er es nannte, ungebührliche Abfuhr, die ihm seitens der dänischen Regierung widerfahren ist. Deshalb weigert er sich, am NATO-Gipfel in Kopenhagen teilzunehmen. Er versteht es auch als Warnung, da sich die Europäer, hier weist er besonders auf Deutschland hin, seiner Auffassung nach nicht hinreichend engagieren. Stattdessen, so twittert er, will er einen Kurzbesuch in der ehemaligen dänischen Kolonie Schleswig-Holstein absolvieren. Vor diesem Hintergrund möchte die Bundesregierung das Ganze nicht weiter eskalieren lassen. Dem Wunsch des Präsidenten sollte entsprochen werden, auch wenn es keine offiziellen Kontakte zu deutschen Stellen geben wird.« Von Ravenstein hob die Hand in Richtung seines Nachbarn. »Wollen Sie etwas sagen, Herr Möller-Reichenbach?«

Der Mann mit den schütteren silbernen Haaren, der Hornbrille und dem dunkelgrauen Anzug nickte bedeutungsvoll.

»Möller-Reichenbach«, stellte er sich vor. »Bundespräsidialamt. Ich komme vom Referat Z 4, der Abteilung für Zentrale Angelegenheiten. Wir sind zuständig für alle Protokollfragen. Bei allen berechtigten Überlegungen hinsichtlich der Sicherheit ist stets drauf zu achten, dass der äußere Rahmen gewahrt bleibt. Es handelt sich um einen hochrangigen Staatsgast …«

»Ich denke, es ist ein privater Besuch«, warf Lüder ein.

Möller-Reichenbach verdrehte kunstvoll die Augen. »Herr … äh … Ein amerikanischer Präsident ist nie Privatmann.« Dann sah er der Reihe nach alle Anwesenden an. »Ich bitte Sie, diesem Umstand bei all Ihren Überlegungen Rechnung zu tragen.«

»Insofern hat der Gast eine Vorentscheidung getroffen«, sagte Sabine Wuschig. »Er hat sein Wunschdomizil benannt.«

Möller-Reichenbach nickte hoheitsvoll. »Es gibt unsererseits Bedenken, ob eine solche Unterkunft den richtigen Rahmen bietet. Da es aber ein Wunsch der amerikanischen Seite ist, können wir uns dem nicht verschließen.«

»Sie wissen also schon, wo er logieren will?«, fragte Lüder.

»Logieren.« Möller-Reichenbach ließ die Vokabel aus den Mundwinkeln tropfen. Es hörte sich an, als spräche er von einem Obdachlosenasyl. »Der Präsident hat stets seine deutsche Herkunft betont.«

»Na ja«, mischte sich von Ravenstein ein. »Er sprach vom deutschen Blut, nicht von der Herkunft.«

»Eine unglückliche Formulierung«, erwiderte Möller-Reichenbach. »Wir schätzen andere.«

»Deutsches Blut«, wisperte Lüder Nathusius zu, »hat einen Beigeschmack.«

Der Leitende Kriminaldirektor legte einen Zeigefinger auf die Lippen und raunte: »Pssst.«

Sabine Wuschig hatte die Unterbrechung mitbekommen, ohne die Worte zu verstehen.

»Wer sind Sie eigentlich?«, wollte sie wissen und streckte ihre gepflegte Hand in Lüders Richtung aus. Bevor der antworten konnte, ergriff Nathusius das Wort.

»Mein Name ist Jochen Nathusius. Die Herren neben mir sind Dr. Jens Starke und Dr. Lüder Lüders. Wir kommen vom Landeskriminalamt Schleswig-Holstein.«

»Hier aus Kiel?«, fragte Möller-Reichenbach.

Nein, aus Büttjebüll, dachte Lüder, unterließ es aber, es laut auszusprechen.

»Nennen Sie bitte Ihre Funktionen«, bat Frau Wuschig.

»Kriminaldirektor Dr. Starke ist der Leiter des Polizeilichen Staatsschutzes, Kriminalrat Dr. Lüders sein engster Mitarbeiter. Er verfügt über Erfahrungen im Personenschutz.«

»Wen hat er beschützt?«, unterbrach ihn der ältere Mann im beigefarbenen Blouson, der bisher geschwiegen hatte.

»Unseren Ministerpräsidenten.«

»Es macht einen Unterschied, ob man einen Politiker eines kleinen Bundeslandes beschützt oder einen hochrangigen Staatspräsidenten, wenn nicht gar den bedeutendsten derzeitigen Politiker«, sagte der Mann und wirkte dabei eine Spur hochnäsig.

Nathusius ging nicht darauf ein und nannte seinen Vornamen. »Ich bin Leitender Kriminaldirektor und stellvertretender Leiter des LKA

»Insofern ist es gut, dass wir auch die lokalen Behörden mit im Boot haben«, sagte Frau Wuschig. »Wir werden auf Ihre Ortskenntnisse zugreifen.«

Lüder holte tief Luft. Ortskenntnisse. Sonst traute man den Kielern in dieser Runde offenbar nichts zu.

»Herr Kuckuck«, forderte Sabine Wuschig den älteren Mann auf.

»Kuckuck, Waldemar. Oberregierungsrat, Berlin. Wir vom BND verfügen über fundierte Erkenntnisse über die Gefährdungslage.«

»Dann lassen Sie uns daran teilhaben«, schlug Lüder vor.

»Das ist zu komplex, um es in zwei Sätzen unterzubringen.«

Ein sportlich wirkender Mann mit einem gepflegten Dreitagebart meldete sich zu Wort. »Mein Name ist Karsten Timmerloh. Ich bin Kriminaloberrat beim BKA und kann die Ausführungen des Kollegen vom BND hinsichtlich der Gefährdungslage ergänzen. Gleichzeitig soll ich die Bundespolizei entschuldigen. Sie ist für den Schutz unserer hochrangigen Persönlichkeiten zuständig und verfügt auch über Erfahrungen im Objektschutz. In der Kürze der Zeit von der Einladung bis jetzt haben es die Vertreter der Bundespolizei leider nicht geschafft hierherzukommen.«

»Das ist schade«, sagte Frau Wuschig. »Insofern müssen wir hier und heute auf das entscheidende Know-how verzichten. Wir werden die Bundespolizei aber auf jeden Fall einbinden.« Sie ließ ihre manikürte Hand ein wenig kreisen. »Herr Kuckuck oder Herr Timmerloh! Wer sagt etwas zu den potenziellen Gefährdern?«

Die beiden Angesprochenen setzten gleichzeitig an. Timmerloh hielt aber sofort inne und nickte dem BND-Mann zu. »Bitte.«

Kuckuck drückte das Kreuz durch, setzte sich kerzengerade hin und nahm seine Brille ab. »Wo soll ich anfangen? Es gibt eine lange Liste von Aktivisten, die es auf den Präsidenten abgesehen haben könnten. Könnten«, betonte er.

»Haben Sie konkrete Anhaltspunkte?«, wollte Lüder wissen. »Die halbe Welt ist gegen diesen Mann voreingenommen.«

»Man kann manches anders sehen«, mischte sich von Ravenstein ein, »ist deshalb aber noch lange kein Gewalttäter.«

»Soll ich etwas ausführen?« Kuckuck warf dem Mitarbeiter des Außenministeriums und Lüder einen bösen Blick zu.

»Bitte«, sagte Frau Wuschig sanft.

»Es sind die bekannten Problemfelder. Die Hinweise verdichten sich nach unseren Informationen auf bestimmte Gruppierungen, die wir für besonders gefährlich halten. Da wären die Kurden, die sich nach dem Rückzug der Amerikaner verraten fühlen. Aus der dortigen Region rekrutieren sich auch weitere Gefährder. Islamisten und ihre Terrorableger. Sie würden jede Gelegenheit nutzen, um wieder auf sich aufmerksam zu machen. Nach Nine-Eleven wäre ein Attentat auf den US-Präsidenten ein Paukenschlag, nachdem diesen Terrorinstitutionen an vielen Stellen der Boden entzogen wurde. Denken Sie an den Bedeutungsverlust, den der IS erleben musste. Wir kennen noch andere Gruppierungen. Das südamerikanische Drogenkartell hat eine offene Rechnung mit den USA. In Mittelamerika hat sich eine Untergrundorganisation etabliert, die sich für die angeblichen Menschenrechte der illegalen Einwanderer über die Grenze von Mexiko starkmacht. Die Politik der harten Hand – Stichwort Grenzzaun – hat viele Gegner hervorgebracht. Rund um den Globus fühlen sich viele berufen, auch zum Teil militant, für den sogenannten Klimaschutz einzutreten. Das sind nicht nur Kinder, ob aus Schweden oder anderswo, auch aus den pazifischen Ländern oder Südamerika, die fordern, dass sich auch die USA den Klimazielen der Europäer anschließen müssen. Gerade der US-Präsident steht für einen verheerenden Marsch direkt in die Katastrophe.«

Kuckuck unterbrach seine Ausführungen und nahm mit spitzen Fingern einen Schluck Kaffee zu sich.

»Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. In China ist man aufgrund des Handelskonflikts dem Präsidenten alles andere als wohlgesinnt. Das Land hat sich zur Welthandelsmacht entwickelt. Das bleibt nicht ohne Folgen. Und die innenpolitischen Probleme hat man in China mit wirtschaftlichem Fortschritt beiseiteschieben können. Die könnten jetzt wieder aufwachen. Daran ist der dortigen Führung genauso wenig gelegen wie den Russen. Dort geht der Protest gegen die Einschränkung der Demokratie einher mit den aufgrund des Embargos verhängten wirtschaftlichen Sanktionen. Die Menschen wollen Freiheit, aber auch Wohlstand. Und eingeschränkte Rechte kann man mit Wohlstand sublimieren. In Singapur beklagt sich niemand über nur singulär vorhandene Bürgerrechte.«

Kuckuck ließ seinen Blick in die Runde schweifen, um sich von der Wirkung seiner Ausführungen zu überzeugen. Dann fuhr er fort: »Wir dürfen die innenpolitischen Gegner nicht unterschätzen. Die Minderheiten von Schwarzen, Latinos und sozial Benachteiligten …«

»Denen man die Krankenversicherung verweigert?«, merkte Lüder an.

Kuckuck ging nicht darauf ein. »Leute, die schärfere Waffengesetze wünschen, und viele andere. Auch jene, die in der freien Wirtschaft durchs Raster gefallen sind.«

»Sie haben viele Allgemeinplätze angeführt«, sagte Lüder ungehalten. »Das andere Gremium mit den Politikern wäre dazu das richtige Forum gewesen. In diesem Kreis wäre es dienlicher, wenn Sie konkreter würden. Von welcher Seite erwarten wir eine Gefahr für den Besucher? Haben Sie sich mit befreundeten Diensten ausgetauscht?«

»Sie haben falsche Vorstellungen von unserer Arbeit. Erwarten Sie eine Liste mit Namen?«

»Ja.«

»Insofern muss ich Herrn Kuckuck recht geben«, mischte sich Sabine Wuschig ein. »Mit solchen Angaben können wir in der Kürze der uns zur Verfügung stehenden Zeit nicht rechnen.«

»Was soll dann geschehen? Wir müssten präventiv tätig werden. Gibt es schon einen Plan, unsere Grenzen zu schließen? Die Einreise von Attentätern erfolgt nicht unbedingt über Deutschland. Den Norden haben wir gut im Griff, gemeinsam mit den Skandinaviern. Aber was ist mit dem restlichen Europa? Wenn der gedungene Mörder über Brüssel oder Paris einreist?«

Timmerloh vom BKA nickte zustimmend. »Wir kennen nicht alle Schläfer, die beispielsweise als Migranten eingeschleust wurden. Diese Vorgehensweise ist uns bekannt. Was ist mit jenen, die unauffällig als Geschäftsleute oder Studierende bei uns sind? Wir kennen nicht einmal alle Geheimdienstler, nur die akkreditierten. Doch jeder Dienst verfügt auch über Personal, das im Verborgenen agiert. Oder?« Timmerloh sah Kuckuck an. Der zuckte nicht einmal mit den Augenbrauen.

»Was ist mit den Nichtregierungsorganisationen?«, setzte Lüder nach. »Mit anderen Worten: Wir wissen gar nichts.«

»So kann man das nicht sagen«, beschwerte sich Kuckuck. »Wir müssen unbedingt mit unseren amerikanischen Freunden sprechen.« Er holte hörbar Luft. »Es muss …«

Lüder schaltete ab. Die Ausführungen stahlen ihnen Zeit, die sie nicht hatten. Entweder wusste der BND nichts, oder man hüllte sich in Schweigen. Beides war nicht hilfreich.

Lüder warf einen Blick aus dem Fenster auf die Förde. Es regnete. Alles war in ein Einheitsgrau getaucht. Der Wind kräuselte das Wasser. Von der anderen Seite, aus der Schwentine, näherte sich ein »Bügeleisen«, ein Fährschiff der Kieler Schlepp- und Fährgesellschaft, das mit seiner Bauform an das Haushaltsgerät erinnerte.

Mit Erstaunen registrierte er ein Ruderboot, in dem sich eine Frau und ein Mann tapfer gegen das Wetter und die Naturgewalten stemmten. Sie saßen in dem Gig-Ruderboot hintereinander mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Der Doppelzweier hatte Ausleger mit Dollen, in die, soweit er das aus der Distanz erkennen konnte, Skulls eingelegt waren, die eigentlich für Rennboote im Sommer genutzt wurden. Die beiden, erkennbar eher den Senioren zuzurechnen, mussten Ruderenthusiasten sein, dass sie sich bei diesem Wetter, bei dem andere sich scheuten, überhaupt das Haus zu verlassen, aufs Wasser trauten. Ihr schmales Boot tanzte auf den Wellen, als sie die Förde kreuzten und den südlich des Landtags gelegenen Ersten Kieler Ruderclub ansteuerten, dessen Gründung auf das Jahr 1862 zurückging. Sicher hatten sich die erfahrenen Sportler entsprechend ausstaffiert. Von hier aus sah er nur die seewasserfeste Kleidung und die Pudelmützen. Es schmerzte ihn fast, als er zusah, wie die beiden mit kräftigem Zug die Skulls durch das aufgewühlte Fördewasser zogen.

»Insofern haben wir jetzt einen groben Überblick über die Gefahrenlage«, zog Frau Wuschig ein Resümee, nachdem Kuckuck geendet hatte.

»Das ist unbefriedigend. Wir hätten uns detaillierte Informationen gewünscht«, sagte Jochen Nathusius. »Auf dieser Basis können wir nicht viel planen.«

»Planen ist ohnehin kaum möglich«, ergänzte Dr. Starke. »Dazu reicht die Zeit nicht. Selbst wenn wir Ad-hoc-Maßnahmen ergreifen, können wir nur marginal tätig werden.«

»Ich sehe ein, dass eine Landespolizei mit solchen Ereignissen überfordert ist«, erwiderte Kuckuck. »Deshalb wurde das BKA mit ins Boot geholt.«

»Und die Bundespolizei vergessen«, erwiderte Lüder spitz.

»Die ist von uns informiert worden, konnte aber so kurzfristig nicht reagieren«, fügte Frau Wuschig an. »Das wurde hier schon gesagt.«

»Ich verstehe Ihre Sorgen«, meinte Möller-Reichenbach, »lassen Sie aber bei all Ihren Überlegungen nicht das Protokollarische außer Acht. Es handelt sich um eine hochgestellte Persönlichkeit, wenn nicht um die Persönlichkeit überhaupt. Ich muss auf die Einhaltung des Protokolls bestehen und behalte mir namens des Bundespräsidialamtes ein Vetorecht vor. Es gilt, nicht nur technische Aspekte zu betrachten.«

»Ich denke, es ist ausdrücklich ein privater Besuch«, sagte Lüder.

»Wenn der amerikanische Präsident kommt, ist es nie ein Privatbesuch«, erwiderte Möller-Reichenbach pikiert.

»Lassen Sie uns noch einmal auf die Unterkunft zurückkommen, die der Präsident ausgewählt hat«, erinnerte Lüder daran, dass sie diese Frage nicht weiter erörtert hatten.

Sabine Wuschig wollte antworten, aber Möller-Reichenbach kam ihr zuvor.

»Bezug nehmend auf sein deutsches Blut hat der Präsident eine entfernte Verwandte ausgemacht. Hildegard von Crummenthal.«

»Aus der Dynastie der Industriellenfamilie?«, wollte Lüder wissen.

»Die Familie ist nicht nur in der Industrie engagiert«, sagte Frau Wuschig.

»Ich weiß. Es ist ein weitverzweigter Familienclan …«

»Clan sollten wir nicht sagen«, protestierte Timmerloh vom BKA. »Darunter verstehen wir eher kriminelle Strukturen.«

Lüder unterließ es, eine Parallele zu mafiösen Strukturen zu ziehen, auch wenn er es satirisch meinte. »Die Crummenthals sind in vielen Bereichen tätig, auch wenn sie sich im Unterschied zu anderen Familien bedeckt halten und nicht direkt auf das Tagesgeschäft Einfluss nehmen. Sie lassen Managern den Vortritt. Man munkelt, dass manche von diesen wie Marionetten aus dem Hintergrund gesteuert werden.«

»Soll das eine politische Diskussion werden?«, sagte Kuckuck und sah Lüder mit zusammengekniffenen Augen an.

»Ich zähle nur Fakten auf. Also: Onkel Donald …«

»Ich protestiere gegen solche Formulierungen!« Möller-Reichenbach war laut geworden. »Der Präsident kann nach eigener Recherche auf verwandtschaftliche Beziehungen zu den Crummenthals verweisen.«

»In welcher Weise?«, unterbrach ihn Lüder.

Möller-Reichenbach verdrehte die Augen. »Friedrich Trump, der Großvater, war ein Cousin von Jakob Gröbele, der im Badischen erfolgreich eine Eisengießerei betrieb. Durch Heirat brachte Gröbele sein Unternehmen in die Crummenthal-Familie ein. Wir haben Kontakt zu Hildegard von Crummenthal aufgenommen. Das ist die Witwe von Heinrich von Crummenthal. Die alte Dame ist vierundachtzig.«

»Kann man ihr einen solchen Besuch zumuten?«, fragte Jens Starke.

»Das ist nicht die Frage. Ich sagte bereits: Wünsche des amerikanischen Präsidenten sind zu erfüllen«, meinte Möller-Reichenbach.

»Das klingt so, als sei die alte Dame nicht begeistert«, meinte Lüder. »Wer war Heinrich von Crummenthal? Irgendwie habe ich den Namen schon gehört.«

»Abgesehen von der Zugehörigkeit zur Familie und der damit verbundenen wirtschaftlichen Unabhängigkeit hat sich Heinrich von Crummenthal einen Namen als Kunsthistoriker gemacht. Auch seine Frau war auf diesem Sektor erfolgreich.«

»Na ja«, brummte Lüder. »Die erste Generation gründet ein Unternehmen, die zweite baut es aus, die dritte stabilisiert es, und die vierte studiert Kunstgeschichte.«

Sabine Wuschig klopfte mit der Spitze ihres Kugelschreibers auf die Tischplatte.

»Insofern haben wir ein erstes Informationsgespräch geführt. Wir werden in dieser Runde, gegebenenfalls ergänzt um weitere Expertise, die nächsten Schritte veranlassen. Ich denke, jeder von Ihnen weiß, was zu tun ist.«

»Abstimmungen mit zu vielen Beteiligten sind oft zäh«, stellte Kuckuck fest. »Ist die Präsenz der Landespolizei wirklich erforderlich?« Dabei streifte sein Blick Lüder.

»Ich denke schon«, erwiderte Frau Wuschig. »Sie hören von mir.«

Die drei Beamten machten sich auf den Weg zurück zum Landeskriminalamt.

»Ich fand das Treffen unbefriedigend«, sagte Lüder, als sie zu einem kurzen Resümee in Nathusius’ Büro zusammensaßen. »Die Aufregung in Berlin ist verständlich. Es handelt sich um eine Kurzschlussreaktion des US-Präsidenten, der keine Vorstellung davon hat, dass es eine gewisse Vorbereitung braucht, wenn er sich irgendwo einnistet. Natürlich muss für seine Sicherheit gesorgt werden. Das Protokollarische interessiert mich weniger. Ob er ein blaues Himmelbett benötigt, die Toilette in seiner Lieblingsfarbe gestrichen werden soll oder ob sein Pizzabäcker eingeflogen werden muss … Darum kann sich der Butler vom Bundespräsidialamt kümmern. Aber wie halten wir ihm die fern, die ihm ans Leder wollen?«

Nathusius hüstelte. »Herr Dr. Lüders. Sie haben manchmal eine gewöhnungsbedürftige Ausdrucksweise.«

»Ich passe mich nur Onkel Donald an. Der wird in vielen Medien als der pöbelnde Präsident bezeichnet. Das kann man mir nicht nachsagen.«

»Stimmt«, entgegnete Jochen Nathusius. »Sie sind kein Präsident.«

»Aber das Pöbeln …«, ergänzte Dr. Starke. »Wir wissen jetzt, wo er wohnen will. Es schien so, als hätte Berlin die Zustimmung der Eigentümerin erwirkt.«

»Ich fahre nach Timmendorfer Strand und sehe mir die Örtlichkeiten an«, schlug Lüder vor.

»Gut«, antwortete Dr. Starke.

»Ich werde mit dem Landespolizeidirektor und der Bundespolizei sprechen und Kontakt zum Ministerium halten«, erklärte Nathusius. »Sie«, dabei zeigte er auf Jens Starke, »stellen eine Taskforce zusammen, die sich Gedanken machen soll, was unsererseits machbar ist. Lassen Sie uns auch darüber nachdenken, was nicht machbar ist, aber trotzdem getan werden muss.«

Lüder kehrte in sein Büro zurück. Dort traf er auf Friedjof, den mehrfach behinderten Büroboten.

»Guten Tag«, sagte Friedjof leise.

»Mensch, Friedhof, was ist mit dir? Hat dein Lieblingsverein Holzbein Kiel wieder verloren?«

Friedjof schüttelte den Kopf. »Die halten einen guten Mittelplatz in der Zweiten Liga.«

»Da gehören sie auch hin. Das ist gut so«, sagte Lüder. »Im Haifischbecken Erste Liga werden sie nur zerschlagen. Viele Vereine, die zur Freude ihrer Anhänger den Aufstieg geschafft haben, mussten bitter Lehrgeld bezahlen und wurden dann in untere Ligen durchgereicht. Freuen wir uns, dass dein Holstein Kiel eine gute Rolle in der Zweiten Liga spielt.« Sind wir auch in der Zweiten Liga?, überlegte Lüder. Oder siedeln uns Leute wie Kuckuck vom BND oder die Vertreter der Berliner Ministerien in den Amateurklassen an?

»Wir haben außerdem den THW Kiel, eine erste Adresse im Handball.«

»THW – Technisches Hilfswerk. Und die spielen Handball«, sagte Friedjof leise.

Lüder lachte. »THW steht für Turnverein Hassee-Winterbek.«

»Hassee – da wohnst du doch«, stellte Friedjof fest. »Wie schön.«

Lüder stand auf und legte Friedjof freundschaftlich einen Arm um die Schulter. »Was ist mit dir? So kenne ich dich nicht.«

»Ach – nichts.«

»Friedhof!« Es klang nachdrücklich.

»Ich bin besorgt. Wegen Franzi.«

»So. Wer ist Franzi?«

»Meine Freundin. Wir wohnen seit zwei Wochen zusammen.«

»Mensch, alter Schwerenöter. Das ist ja großartig.« Lüder führte Friedjof zum Besucherstuhl und drückte ihn auf die Sitzfläche. Er selbst nahm auf der Schreibtischecke Platz.

»Franzi ist krank. Ein Infekt.«

»Das ist doch nicht weiter schlimm.«

»Ich mache mir aber Sorgen.« Er sah zu Lüder auf.

»Weshalb hast du das nicht erzählt – ich meine, mit Franzi?«

»Na – sie ist doch auch behindert. So wie ich.«

»Ja und? Du bist doch auch mein Freund.«

»Also …«, druckste Friedjof herum. »Sie hat das Downsyndrom. Und wenn wir beide unterwegs sind … Manche Leute gucken komisch.«

»Das sollte euch nicht stören.«

»Franzis Eltern sind okay. Sie haben nichts dagegen, dass wir zusammenwohnen, ich meine, so … so wie Mann und Frau.«

»Friedjof. Es zählt doch nur, dass ihr euch liebt.«

Friedjof nickte heftig. »Oha – doch. Das tun wir. Sie ist eine ganz Liebe. Und sie kocht gern. Am liebsten Pfannkuchen.«

»Mensch. Das ist eine wunderbare Neuigkeit. Weißt du was? Wir laden euch zum Essen bei uns ein.«

»Ehrlich?« Friedjof strahlte.

»Natürlich. Aber erst, nachdem der amerikanische Präsident wieder weg ist.«

»Was?« Der Bürobote musterte Lüder mit offenem Mund. »Der ist auch bei euch eingeladen?«

Lüder lachte laut auf. »Um Gottes willen. Der ist nirgendwo willkommen. Im Unterschied zu euch. Nun sieh zu, dass du deine Runde abschließt. Dann machst du heute etwas früher Feierabend und pflegst Franzi. Du wirst sehen. Morgen ist sie wieder fit.«

Friedjof atmete tief durch. »Danke«, sagte er und zog von dannen.

Lüder machte sich auf den Weg nach Timmendorfer Strand. Für die etwa siebzig Kilometer, die ihn an Preetz und Plön vorbeiführten, benötigte er fast anderthalb Stunden. Zu anderen Jahreszeiten war es eine reizvolle Strecke durch die leicht hügelige Landschaft. Heute bereitete das Fahren auf den alleenartigen Straßen wenig Freude.

Timmendorfer Strand mit fast neuntausend Einwohnern galt als eines der mondänsten Ostseebäder mit seinem großen touristischen Angebot. Vor der deutschen Wiedervereinigung bevölkerten Massen die Orte an der Lübecker Bucht. Lüder hatte sich damals, wie viele andere, gewundert, dass man die Lage hemmungslos ausnutzte, um zu überhöhten Preisen Urlaubsfreuden anzubieten, ohne im gleichen Maße zu investieren.

»Dein Soli verschwindet an Mecklenburgs Küste«, hatte sein Vater irgendwann einmal festgestellt, nachdem seine Eltern die herausgeputzten Orte im Osten entdeckt hatten.

Plötzlich war man an der Lübecker Bucht ins Hintertreffen geraten. Timmendorfer Strand schien davon verschont geblieben zu sein. Selbst an einem Tag mit widrigen Witterungsbedingungen wie heute traf man auf Touristen, die – wetterfest gekleidet – den Ort durchstreiften. Wer den Strandweg Richtung Niendorf mit seinem beschaulichen Fischereihafen benutzte, konnte das durch einen Zaun und sorgfältig gestutzte Rhododendrenbüsche abgeschirmte Haus bewundern, das der Familie von Crummenthal gehörte. Lüder wählte die Zufahrt über die ruhige Wohnstraße, in der sich zahlreiche Traumhäuser auf großzügigen Grundstücken aneinanderreihten.

Am gemauerten Pfosten neben dem schmiedeeisernen Tor fand er einen bronzenen Klingelknopf. Ein Namensschild fehlte. Es dauerte eine Weile, bis sich die Kamera in der gläsernen Halbkugel bewegte. Er wurde gescannt, nannte nach Aufforderung seinen Namen und hielt seinen Dienstausweis in die Kamera.

»Kommen Sie«, sagte eine Stimme mit einem hart klingenden Akzent.

Dann öffnete sich die Pforte automatisch. Es war ein weiter Weg durch das makellos gepflegte Anwesen bis zum repräsentativen Portal. Marmorstufen, stellte Lüder fest. Die vier Säulen waren makellos weiß. Das galt auch für die schwere Holztür mit den eleganten Verzierungen und den Messingbeschlägen. In der Türöffnung stand ein Mann mittleren Alters in einem mausgrauen Anzug. Er hielt in einer Hand den Türrahmen, in der anderen das Türblatt und sah Lüder mit einem fragenden Blick an.

»Landespolizei«, sagte Lüder und präsentierte erneut seinen Dienstausweis, den der Mann aufmerksam studierte. Lüder hielt ihn für den Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes.

»Sie wünschen?« Es war die Stimme, die ihn über den Lautsprecher am Tor begrüßt hatte.

»Ich würde gern mit Frau von Crummenthal sprechen.«

»Mit der gnädigen Frau?« Der Mann zog eine Augenbraue in die Höhe, als hätte Lüder um eine Audienz beim Papst gebeten. Oder beim amerikanischen Präsidenten, ergänzte er für sich selbst. »Ich werde nachfragen«, erklärte der Securitymann und schloss die Tür.

Es dauerte einige Minuten, bis er wieder erschien, die Tür ganz öffnete, Lüder ins Haus bat und ihm bedeutete, in der Halle zu warten. Lüder sah sich um. Hier schien alles auf Repräsentation ausgerichtet zu sein.

Eine geschwungene Marmortreppe mit einem handgeschnitzten Geländer führte ins Obergeschoss. Teppiche bedeckten große Flächen der ebenfalls mit Marmor ausgelegten Halle, in der Plastiken deponiert waren. Wäre nicht Weiß die dominierende Farbe, hätte das Interieur den Anstrich eines düsteren englischen Adelssitzes haben können. Dazu passten auch die Wandgemälde, eine Galerie von in Öl gefassten, finster dreinblickenden Männern, vermutlich die Ahnenreihe der erfolgreichen Industriebarone, Bankiers und Reeder. Die hohen Räume waren an den Decken stuckverziert und wurden durch Kristallleuchter erhellt.

Eine Frau in einem beigefarbenen Pullover und einem Rock im schottischen Karomuster erschien. Auf dem ausladenden Busen lag eine Kette aus grüner Jade auf. Die ganze Erscheinung wirkte dezent.

»Guten Tag«, sagte sie. »Sie kommen von der Polizei? Darf ich fragen, in welcher Angelegenheit?«

Lüder wollte seinen Dienstausweis zeigen, doch die Frau winkte ab.

»Es geht um den Wunsch des amerikanischen Präsidenten, dieses Haus zu besuchen.«

»Das hat uns viel Unruhe beschert«, sagte die Frau. »Mein Name ist Berghoff. Ich bin die Assistentin Frau von Crummenthals«, stellte sie sich vor. »Sie sehen mich nicht überrascht, dass die Polizei uns ihre Aufwartung macht. Es war schon jemand von der Sicherungsgruppe des Bundeskriminalamts hier und hat sich umgesehen. Grob. Der Mann hat angekündigt, dass noch mehr Personal dieses Haus in Augenschein nehmen wird. Es gilt, potenzielle Risiken für den Besucher auszuschließen. Abgesehen davon werden auch Wünsche hinsichtlich der Bequemlichkeit zu erfüllen sein.« Frau Berghoff zog dezent die Augenbraue in die Höhe. »Als würde es ihm daran in diesem Haus mangeln.«

»Es klingt so, als wäre die Entscheidung bereits gefallen«, stellte Lüder fest.

»Es wurde seitens Berlins ein mehr oder minder starker Druck ausgeübt. Hinter dem Wunsch dieses Herrn«, das »Herr« ließ sie gekonnt nasal klingen, »stecken handfeste politische Interessen. Frau von Crummenthal konnte sich dem nicht verschließen. Sie fühlt sich in dieser Hinsicht in einer staatsbürgerlichen Verantwortung.«

Ob es auch wirtschaftliche Interessen sein könnten?, überlegte Lüder. Berlin könnte auf mögliche internationale Verflechtungen der Familie von Crummenthal verwiesen haben.

»Der US-Präsident hat auf seine familiären Kontakte aufmerksam gemacht«, warf Lüder ein.

Frau Berghoff zog hörbar Luft durch die Nase ein. »Gewiss«, sagte sie spitz. »Wenn wir weit genug bis zu Adam und Eva zurückgehen, sind wir alle miteinander verwandt.« Sie drehte sich um. »Kommen Sie bitte«, forderte sie Lüder auf und ging auf eine bestimmt drei Meter hohe Doppeltür aus dunklem Holz zu, hinter der eine Bibliothek lag. Diese wirkte im Unterschied zur lichtdurchfluteten Eingangshalle fast düster. Ein Kamin aus Sandstein dominierte neben den hohen Bücherregalen den Raum. Vor dem Kamin standen zwei schwere, mit Samt bezogene Sessel, davor ein runder Beistelltisch aus Messing mit einer Glasplatte. Ein gehämmertes Tablett, ebenfalls aus Messing – oder vergoldet? –, trug eine Teekanne, eine Tasse aus englischem Porzellan und die unvermeidlichen Accessoires für dieses Zeremoniell. Im mächtigen Sessel versunken, saß eine kleine schmächtige Frau mit schlohweißen Haaren. Hinter der Goldrandbrille sahen ihm zwei wässrige blaue Augen entgegen.

»Der Herr von der Polizei«, sagte Frau Berghoff.

Die alte Dame streckte Lüder die Hand entgegen. Sie trug eine weiße Bluse und eine Kette mit einem Medaillon um den Hals.