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Ralf Kühling, Jahrgang 1958, wuchs im Ruhrgebiet auf. Er ist Goldschmiedemeister und seit 1990 in Calw im Nordschwarzwald selbstständig. Seinen vier Kindern erzählte er jahrelang Gutenachtgeschichten, bevor er zum Schreiben kam.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: adil nahim/Pixabay.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Lothar Strüh

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-695-1

Originalausgabe

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Für Imme und unsere Kinder

Prolog

Ich habe schon viele Tote gesehen, bei einigen Morden war ich Zeuge, und ich habe selbst getötet, aber der Tod des Redners war … spektakulär.

»… Menschenhandel ist nach Drogen- und Waffenhandel und noch vor dem illegalen Kunsthandel die drittgrößte Einnahmequelle des internationalen Verbrechens. Die kausale Kette heißt Armut, Menschenhandel, Sklaverei. Die extreme Spanne zwischen Armut und den möglichen Gewinnen ist der Motor, der diesen Kreislauf antreibt. Wer also Menschenhandel verhindern will, muss auf der ganzen Front mit allen polizeilichen, juristischen, rechtlichen, politischen und letztendlich auch ideologischen Mitteln gegen die Sklaverei, den Menschenhandel und in letzter Konsequenz gegen die Armut vorgehen.«

Ich war zu diesem Kongress über Menschenhandel und Sklaverei eingeladen worden, die Eröffnungsrede hielt der Tagungsleiter Rogé Delecroix. Ich saß auf dem mittleren Platz in der hintersten Reihe des Auditoriums. Von dort aus hatte ich eine gute Sicht auf das Podium und das Rednerpult in dessen Mitte. Die halbkreisförmige Panoramaglasfront hinter dem Pult öffnete den Blick über einen schilfbewachsenen Zierteich, einen Weg mit hellem Kies, eine Reihe Rhododendronbüsche vor einem alten schmiedeeisernen Zaun und den Wald mit vielen hohen, alten Tannen. Die vorderen Stuhlreihen waren etwas abgesenkt, nach hinten erhöhte sich das Auditorium, sodass ich aus einer leicht erhabenen Position den Überblick über die knapp achthundert Anwesenden hatte.

Durch die unmittelbar vorhergehenden Ereignisse war ich emotional aufgewühlt und richtete deshalb meine ganze Aufmerksamkeit auf den Redner.

»Dieser Kongress wird Lösungen und Vorschläge erarbeiten, wie ehemalige Sklaven resozialisiert, wie Gefährdete aufgeklärt, wie Opfer geschützt und Täter belangt werden können. Was aber am Ende wirklich nötig ist und größer sein kann – sein muss – als der Ansatz eines Kongresses über Menschenhandel, ist die Entwicklung einer Idee für die gerechte Verteilung der Ressourcen. Der Kommunismus hat versagt, der Kapitalismus beutet die Welt zum ungerechten Vorteil weniger aus. Ich wünsche mir, dass diese Konferenz zur Keimzelle einer neuen Ideologie wird, die am Ende nicht nur den Generationen von Sklaven, sondern der ganzen Menschheit zum Wohle –«

Hinter dem Kopf des Redners erblühte im Panoramaglas eine Eisblume aus gezackten Kristallen. Im selben Moment brach aus deren Mitte, dem Kopf von Rogé Delecroix, eine unglaublich schöne rote Blüte hervor, deren Blütenblätter für den Bruchteil einer Sekunde spitz und stachelig auf mich wiesen. Der mittige Blütendorn raste auf mich zu, verlor sich zu einer Ahnung werdend und klatschte mit einem hässlich splitternden Geräusch gegen die Holzvertäfelung über mir.

Ich hatte dieses Phänomen in voller Konzentration auf Rogé Delecroix wahrgenommen, aber erst als ich die Bilder vor meinem inneren Auge rekonstruierte, langsamer als in Zeitlupe, wurde mir klar, dass der Redner vor achthundert Zeugen zum Schweigen gebracht worden war.

Zwölf Tage zuvor

EINS

»Als Arzt kann ich Ihre eigenmächtige vorzeitige Entlassung nicht gutheißen, Herr Moderski.« Der Chefarzt der Schwarzwälder Rehaklinik, in der ich die letzten Wochen verbracht hatte, trug eine für sein Alter zu sportlich-jugendliche Garderobe und machte ein besorgtes Gesicht. Dann hellte sich seine Miene plötzlich wieder deutlich auf. »Wobei ich als Leiter dieses Kurheims (er meinte Irrenanstalt) durchaus fr… erleichtert bin, wenn Sie uns verlassen.«

»Damit spielen Sie vermutlich auf den Vorfall im Speisesaal an.«

»Der Mann, den Sie verprügelt haben, arbeitet seit vier Wochen intensiv an seiner Aggressionskontrolle.«

»Ja«, antwortete ich. »Und ungefähr genauso lange drängelt er sich bei der Essensausgabe vor. Außerdem habe ich ihn nicht verprügelt, ich hatte ein Tablett mit einem Teller Suppe in der Hand.«

Ich hatte ihm nur mit einem kurzen linken Haken bei seiner Aggressionskontrolle geholfen. Nachdem er sich wieder aufrichten konnte, hatte er sich anstandslos hinten angestellt.

»Wie dem auch sei.« Der Doktor krakelte auf dem Papier, das vor ihm lag. »Hier ist Ihr Entlassungsschein, mit meinen ausdrücklichen medizinischen Einwänden.«

Damit dir hinterher niemand ans Bein pinkeln kann, dachte ich und nahm ihm das Papier aus der Hand.

»Ihre restlichen Unterlagen bekommen Sie dann an der Pforte«, sagte er und wandte sich demonstrativ der Krankenakte eines anderen Patienten zu.

Du mich auch, dachte ich.

Die sechs Wochen in dem Kurheim – ach, lassen wir das. Ich hatte die Fitnesseinrichtungen ausgiebig genutzt und die Gesprächskreise möglichst wenig. Stattdessen hatte ich mich gerne alleine in den einsamen Wäldern ringsherum verloren. Dunkle Tannen, tiefe Täler mit kleinen Bächen, die zwischen moosüberwachsenen Steinen plätscherten. Auch wenn das alles Nutzwald war, hatten die Ruhe und die Ursprünglichkeit etwas Therapeutisches. »Waldbaden« nannte man das neuerdings, modern oder nicht, mir hat es geholfen. Ich bekam nur noch ab und zu unerklärliche Schüttelfrostanfälle oder Klaustrophobie-Attacken. Das musste reichen. Mein Geisteszustand war auf jeden Fall besser als der der meisten Kripokollegen, die sich abends auch noch »CSI« reinzogen.

Keine zwei Stunden später saß ich im Zug. Kurz nach Mittag kam ich in Friederichsburg an, genau die richtige Zeit für ein Gespräch mit Großhans, dem Präsidiumsleiter. Die meisten der zwölf Schließfächer am Bahnhof waren aufgebrochen oder als Mülleimer benutzt worden, doch ich fand eines, das nicht klebrig und voller Kippen war, und deponierte dort mein Gepäck.

Ich ging zu Fuß. Zum Kommissariat war es nicht weit. In dieser Stadt war eigentlich nichts weit. Ich passierte ein Parkhaus und einen Bäcker, vor dem ein paar Büroleute zum Mittagstisch saßen. Der Drogeriemarkt hatte geöffnet, viele andere Geschäfte waren geschlossen, schließlich war ja Mittag. Wie immer vergaß ich, mir beim Bäcker ein belegtes Brötchen mitzunehmen. Es folgten ein paar Modefilialen, ein Handyladen und ein Fahrradgeschäft. Bei Tchibo holte ich mir einen Kaffee im Pappbecher.

Das Gebäude der Kriminalpolizei war ein lang gestreckter, weißer, zweigeschossiger Flachdachkasten. Wenigstens hatten alle Büros Tageslicht. Auf dem langen Parkstreifen vor dem Gebäude standen zwei Streifenwagen und einige Pkw. Ich drückte auf den Klingelknopf, meine Zugangskarte war im Koffer.

»Ja?«

»Moderski hier.«

»Haben Sie keine Karte?«, schallte es mürrisch aus der Gegensprechanlage, doch der Türsummer schnarrte. Ich stand in der Schleuse. Der Empfang war wie immer nicht besetzt.

Der zweite Summer schnarrte, nachdem die erste Tür zugefallen war. Ich beeilte mich, die Tür zu öffnen, bevor das Summen aufhörte, und ging in den zweiten Stock, Zimmer 212. Müller, Christine. Großhans’ Sekretärin lächelte freundlich, was wie bei den meisten Menschen ihrer Wirkung zugutekam. Ich musste warten und setzte mich auf einen unbequemen Holzstuhl. Nachdem Frau Müller mich beim Chef angemeldet hatte, begann sie ein uninspiriertes Gespräch über meine Gesundheit.

»Ja, alles wieder gut, danke.«

Winfried Großhans war Ende fünfzig, trug einen seiner zahlreichen grauen Anzüge, dazu ein obligatorisches hellblaues Hemd, dezent gemusterte Krawatte und eine rahmenlose Brille. Er hatte ein rundes Gesicht mit hängenden Backen und einen runden Rücken und machte einen väterlichen, freundlichen Eindruck. Vor ihm lag meine Personalakte. Er hob den Deckel an einer Ecke an, machte ihn dann aber, wie es seine Art war, wieder zu. Ich reichte ihm meine Entlassungspapiere. Er blätterte darin.

»Sicher würden Sie gerne noch ein paar Tage freimachen.«

Nee, eigentlich nicht, dachte ich und schwieg.

»Ich für meinen Teil sehe Sie noch lange nicht wieder im Dienst. Aber die VIM hat schon ihre Arbeit aufgenommen, und man wünscht, dass Sie sich so bald wie möglich dort melden.«

Die VIM, die Verbindungsstelle Internationaler Menschenhandel, gehörte zum BKA, hatte ihren Sitz aber in Stuttgart. Wie sinnvoll das war, sei dahingestellt, vermutlich war die baden-württembergische Hauptstadt einfach wieder mal dran bei der föderalen Verteilung von Staatsinstitutionen. Zudem war die VIM nicht wie ein Amt, sondern wie eine Art PR-Agentur organisiert. Sie sollte Inhalte zusammenfassen und an die unterschiedlichen Dienststellen publizieren, sie anpreisen und regelrecht vermarkten. Auf diese Weise würden Ermittlungsergebnisse von Polizei und Nachrichtendiensten, aber auch Erkenntnisse nicht polizeilicher Stellen und nicht staatlicher Organisationen aus dem Bereich Menschenhandel miteinander verknüpft und zur Geltung gebracht werden.

»Es ist eine Ehre für uns«, betonte Großhans, »einen Beamten für diese BKA-Abteilung zu stellen, außerdem ist es ja eine ruhige Stelle, keine Ermittlungstätigkeit, nur Aktenarbeit. Ich denke, das wird Ihrer weiteren Erholung zuträglich sein.«

»Ja, bestimmt«, pflichtete ich ihm bei und freute mich kein bisschen. »Was ist mit meiner Stelle hier?«

Großhans klärte mich also über meine weitere berufliche Verwendung auf. Zwei oder drei Tage pro Woche, je nach Bedarf, war ich in Stuttgart bei der VIM. Zum einen erschien ich aufgrund meiner Erfahrungen in meinen letzten beiden Fällen als geeignet, zum anderen hatte sich Peter Manakov, ein Unternehmer und Multimillionär aus der Sicherheitsbranche, für mich starkgemacht. Die restliche Zeit sollte ich dem Kommissariat 11 von Friederichsburg unter der Leitung von Nadija Hammerschmitt zur Verfügung stehen.

»Also, wenn Sie dann bei VIM schon tätig sind, können Sie ja hier nicht dienstunfähig sein. Sie werden sich hier im K11 um ein paar alte Fälle kümmern, die wir uns noch mal ansehen müssen.«

Also Akten, Akten, Akten. Na toll.

»Frau Hammerschmitt hat heute frei«, erklärte mir Großhans nicht ohne eine gewisse Erleichterung. Schade, Nadija wäre ein Lichtblick gewesen.

»Für die Fahrt nach Stuttgart sollten Sie sich ein Auto besorgen«, meinte Großhans, der natürlich wusste, dass ich seit Jahren keinen eigenen Wagen besaß, dafür aber zwei seiner Autos ramponiert beziehungsweise zu Schrott gefahren hatte. »Sie können ja nicht immer mit dem Zug von Friederichsburg … Das dauert ja ewig.«

Nach dem Treffen mit Großhans wusste ich wenigstens, was mich erwartete. Bürojob, zwei Stunden Autobahn pro Tag oder ein bis zwei Nächte pro Woche in einem billigen Hotel, also was man in Stuttgart so »billig« nannte. Da freute ich mich doch schon auf meine zwei Zimmer bei Lydia.

Lydia Sokolowski betrieb in einer alten Fabrikantenvilla in der Kranichstraße 8 eine Zimmervermietung, »für junge Damen, die gerne Herrenbesuch empfingen«, wie sie immer sagte, wenn man sie nach ihrer Beschäftigung fragte. Darüber hinaus war sie Terminplanerin, Empfangsdame, Marketingchefin, Köchin, Freundin, Mutter oder Tante, auf jeden Fall die gute Seele, und außerdem auch meine Vermieterin.

Lydia musste die Haustür gehört haben. Sie kam mir aus der Küche entgegen und warf die Arme zur Begrüßung hoch. An ihren Händen hing noch Schaum vom Spülen, den sie in kleinen Flöckchen durch die Luft wirbelte.

»Carl!« Sie drückte mich an ihren nicht unerheblichen Busen, bevor sie mich auf Armeslänge von sich schob, um mich zu inspizieren. »Du siehst gut aus«, befand sie schließlich. »Wie aus der Sommerfrische. Abgenommen hast du auch.« Dann klopfte sie mir auf den Bauch. »Oh.« Sie rollte erwartungsvoll mit den Augen. »Festes Männerfleisch.«

Aber dann fand sie doch, dass ich etwas essen musste, und schob mich mit den Worten »Es ist noch was vom Mittagessen über« vor sich her zur Küche.

In der großen Küche stand ein langer alter Tisch mit acht Stühlen. Wenn alle Damen gleichzeitig da waren, mussten sie noch Stühle dazustellen. Aber das kam nicht so oft vor. Melissa saß in ihrer Schulmädchenverkleidung am Tisch und rauchte. Sie sprang gleich auf und hüpfte mir an den Hals. »Hi, Carl.« Und dann plapperte sie was von schön, dass ich wieder da sei, und wie es mir gehe und dass sie jetzt Kosmetikerin werde und, und, und …

Ein zweites Mädchen trocknete einen Topf ab und stellte ihn in den Schrank, bevor sie zu mir kam und vor mir stehen blieb. Sie sah mich still an.

Ich hatte sie nicht mehr gesehen, seit ich zwei Vergewaltiger von ihr runtergezogen und verprügelt hatte. Obwohl Stina Nereni nicht so zart war wie Melissa, musste ich doch zu ihrem stillen, traurigen Gesicht hinuntersehen wie zu einem Teenie. Warum machten diese Frauen diese Arbeit, die sie verrückt machte oder traurig?

»Wie geht es dir?«, fragte ich.

»Okay«, antwortete sie.

»Ich hätte gedacht, dass du genug hast von dem Job.«

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Dann schlang sie ihre Arme um mich und presste ihr Gesicht an meine Brust. Ich fühlte ihren Körper unter der Erinnerung beben und hielt sie fest, bis sie sich mit einem Seufzer löste. »Danke«, sagte sie, »du weißt nicht, was es mir bedeutet, dass die Kerle nicht einfach so davongehen konnten.«

Sie weinte, und ihre Worte kommentierten die inneren Bilder, die sie sicher immer wieder bedrängten.

»Mich benutzen und wegwerfen und dann einfach so gehen. Als wäre ich kein Mensch.«

Sie schluchzte, Tränen liefen über ihr Gesicht. »Aber dann kamst du, und dann konnten sie nicht mehr gehen.« Sie lächelte durch die Tränen, dann wandte sie sich ab.

Lydia fing sie auf und nahm sie in die Arme, bis der Anfall vorüberging.

Ich wusste, dass Stina Nereni richtig Ahnung von Autos hatte. Sie hatte schon eine Kraftfahrzeuglehre hinter sich und wollte Rennfahrerin werden. Dazu brauchte sie viel Geld.

Ein großer Traum – ein hoher Preis.

Die erste Nacht im eigenen Bett war herrlich gewesen, ich hatte das Fenster zu dem parkähnlichen Garten offen lassen können und war entsprechend früh von Amseln und Spatzen geweckt worden. Lydias Kaffee war mit dem Spülwasser im Kurheim nicht zu vergleichen und brachte mich schnell auf Betriebstemperatur. Um sieben Uhr dreißig saß ich im Zug über Pforzheim nach Stuttgart und las ein Dossier über VIM, meine neue Teilzeitarbeitsstelle.

Um neun Uhr fünfundvierzig stand ich im Eingangsbereich eines Stuttgarter Hochhauses und studierte eine Tafel mit einem Dutzend Firmenschildern. Und las dann: »VIM Deutschland, zwölfte Etage«. Der Expressaufzug erhöhte die Schwerkraft zunächst deutlich, um sie kurz vor dem Ziel fast aufzuheben. Dieses beeindruckende Gefühl hatte mich die Enge des Fahrstuhls nicht wahrnehmen lassen, bis ich die Erleichterung fühlte, als die Tür aufglitt und ich in einem dunklen Flur vor einen unbesetzten Empfangstresen trat. Ich hörte, wie sich die Aufzugtür wieder schloss. Bis auf zwei grüne Notausgangsschilder war es hier ziemlich dunkel. Nur unter einer in der Wandtäfelung versteckten Tür rechts daneben drang so etwas wie ein Lichtschein. Dahinter lag VIM, die Verbindungsstelle Internationaler Menschenhandel des Bundeskriminalamtes.

Ich trat ein. Ein Großraumbüro, das nur durch Glaswände abgeteilt war, erstreckte sich fast über die gesamte Grundfläche des Gebäudes, dahinter war die Stuttgarter City zu sehen. Rechts standen Reihe um Reihe schulterhohe Aktenschränke, links ebensolche Serverschränke, in der Mitte eine Reihe immer zu zweit zusammengestellter Schreibtische mit großen Monitoren, und am gegenüberliegenden Ende gab es drei verschieden große Besprechungszimmer mit einer kleinen Küche dazwischen. Der mittlere, größte Raum war abgedunkelt, auf einer Leinwand flimmerte eine Projektion. Beim Näherkommen erkannte ich sechs Menschen, die den Ausführungen des Leitenden folgten. Es wirkte grotesk: sieben, mit mir zusammen acht Menschen auf zweitausendfünfhundert Quadratmetern Bürofläche. Ich klopfte an die Glastür und trat ein. »Guten Tag«, sagte ich zu den erschrockenen Gesichtern, »Moderski, Carl Christopher Moderski. Ich bin der Neue.«

»Ah, Herr Moderski«, sagte Dr. Kevin Wandenberg, der Leiter von VIM, wie ich aus dem Dossier wusste. Sehr dynamisch, fand ich, einer von den Typen, die dir das Gefühl geben, du hättest nicht genug von irgendwas. Und zwar immer genau von dem, was dir am wichtigsten ist. »Dann sind wir ja jetzt vollständig. Nimm dir einen Kaffee und setz dich, Carl. Ich darf doch Carl sagen? Wir duzen uns hier alle.« Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern fuhr direkt fort: »Ich mach noch eben hier fertig, dann machen wir eine Vorstellungsrunde, wenn dir das recht ist?«

Wieso fragst du, wenn du es sowieso so machst?

Er hatte sich schon wieder seiner Präsentation zugewandt und erläuterte unsere Hauptzielgruppen: die Leute vor Ort in den Polizeirevieren und Präsidien, aber auch Spezialisten in den Landeskriminalämtern, Einwanderungs- und Sozialämtern, beim Zoll und Grenzschutz, europäische Behörden, nationale und internationale Politiker und nicht zuletzt Medien und Presse, einfach alle, die irgendwie mit Menschenhandel und seinen Folgen wie Sklaverei und Prostitution in Kontakt kommen konnten, diesbezüglich Informationen hatten oder brauchten. Alles dargestellt in sauberen Verknüpfungsdiagrammen mit optischer Gewichtung und statistischen Erhebungen.

So öde ich solche Vorträge auch fand, musste ich Dr. Wandenberg doch zugestehen, dass seine Ausführungen strukturiert, präzise und bar unnötiger Schnörkel waren. Er kam tatsächlich unvermutet rasch zum Ende und fasste in einem Schlusssatz noch mal alles zusammen: »VIM ist also eine Mischung aus einem Archiv, einer Ermittlungsbehörde und einer Nachrichtenagentur. Wir sind Historiker, Analytiker, Vermarkter und manchmal auch wie investigative Journalisten. Danke, das war’s.«

Die anderen sechs Zuhörer hatten sich von der Rede begeistern lassen, sie strahlten vor Tatendrang. Ich fragte mich, warum ich investigativer Journalist werden musste und nicht einfach Polizist bleiben konnte.

»So«, zog Wandenberg die Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Ihr habt euch ja untereinander schon kennengelernt, also machen wir noch schnell eine Vorstellungsrunde für Carl.«

Er wirkte in seiner strukturierten Klarheit etwas gehetzt, nur keine Zeit verschwenden und schnell an die Arbeit.

»Das hier vorne ist Eddy.« Eddy hatte schwarze Locken und ein T-Shirt mit dem Aufdruck »fuck the reality«, wir nickten uns zu, und ich ergänzte im Geist: Eduard Bachmayer, Informatik und Philosophie. »Eddy sorgt dafür, dass unsere Server laufen, außerdem ist er Spezialist für die Verknüpfung von abstrakter Informatik und einer globalen Weltsicht.« Ich nahm an, er meinte das eher philosophisch als kriminalistisch.

Wandenberg wies auf eine schlanke blonde Dame, von der ich bisher nur den entzückenden Rücken hatte bewundern können. »Hier haben wir Lyla. Dr. Lyla Nostokova ist Mathematikerin, sie ist für Statistik und mathematische Analysen zuständig.« Lyla wandte sich um und nickte trocken. Ganz hübsch, etwas zu große Nase, etwas zu kantig, höchstens fünfundzwanzig.

Wandenberg stellte mir mit knappen Worten nacheinander die anderen Anwesenden vor, wobei er nur etwas lässiger ausdrückte, was ohnehin im Dossier stand. Da war Volker Peine, Journalist, er war etwas fortgeschrittenen Alters und sah aus wie ein ewiger Junggeselle: leicht übergewichtig, ungepflegte Haare und Bart, gestreiftes Hemd und karierte Strickjacke mit Flecken. Er musste gut sein, denn er hatte für die »Zeit«, »Geo«, den »Stern« und andere renommierte Zeitungen geschrieben.

Prof. Dr. Vera Sophie Müller-Lerchenbrink war Medienberaterin und Kommunikationswissenschaftlerin. Sie duzte Wandenberg nicht, er benutzte offenbar gerne ihren vollständigen Titel. Sie war Mitte fünfzig, sehr korrekt gekleidet, sehr korrekte Frisur, dezenter teurer Schmuck. Entgegen ihrer steifen Erscheinung nickte sie mir sehr freundlich zu.

Benjamin Behni wurde Benni gerufen. Er hatte Jura und Kriminologie studiert und arbeitete seit Jahren an seiner Promotion, deren Titel so lang war, dass ich ihn mir nicht gemerkt hatte, aber es ging um Sklaverei und Menschenhandel im Vergleich zwischen Kulturen und Epochen. Er war schmal und ziemlich fahrig in seinen Bewegungen, was ihn unsicher wirken ließ.

Der Letzte in der Runde, gleich zu meiner Linken, war Ansgar Stevenson, ein Mann, der in der Medienbranche reich geworden war, einen Verlag und eine eigene Fernsehproduktionsfirma hatte und auch selbst als Moderator eines populären Enthüllungsmagazins bekannt geworden war. Seine langen Haare fielen durch einen perfekten Schnitt lässig nach hinten. Er trug eine Designerjeans, die sehr kunstvoll zerschlissen war, einen marineblauen Rollkragenpullover und ein teures hellblaues Sakko. Er strotzte vor Selbstbewusstsein und grüßte mich herablassend.

Wandenberg selbst hatte Politikwissenschaften und Jura studiert, war Bundestagsabgeordneter für die Junge Union gewesen und Ressortleiter im Innenministerium. Welches Ressort er geleitet hatte und welche Funktion er noch außer der Leitung von VIM hatte, war nicht zu ermitteln.

»Carl ist unser Praktiker«, rief er jetzt fast in die Runde. »Er ist der Einzige von uns, der nicht studiert hat, sondern er hat sich durch besondere Leistungen vom mittleren Dienst zum Kriminalhauptkommissar hochgearbeitet. Wobei er dabei mehrmals mit organisiertem Verbrechen in Verbindung mit Menschenhandel in Berührung gekommen ist. Und diese Berührungen«, dabei schlug er sich energisch mit der rechten Faust in die geöffnete linke Hand, »haben einige böse Buben nicht gut verdaut, wenn ihr wisst, was ich meine.«

Er lächelte süffisant, bis jedem klar war, dass er diese Methoden bewunderte, obwohl er natürlich selbst meilenweit darüberstand. Offensichtlich hatte er meine Personalakte nicht ganz gelesen, sonst hätte er gewusst, dass ich ein Jurastudium abgeschlossen hatte, bevor ich zur Polizei ging, und nur deshalb erst in den mittleren Dienst eingestuft worden war, weil man mir einmal zu hohe Gewaltbereitschaft attestiert hatte. Aber vielleicht hatte er mich auch absichtlich abgewertet, aus welchem Grund auch immer. Aber den Ball, den er mir hart zugespielt hatte, konnte ich gut verarbeiten.

Ich stand auf und sagte: »Also, wie Dr. Wandenberg, also Kevin, schon gesagt hat«, ich druckste ein bisschen rum, »bin ich mehr fürs Praktische. Also ich mein, ich hab’s nicht so mit den Akten und Berichten.« Wieder eine kleine Pause. »Weil«, noch eine kleine Pause, »weil ich eine Lese-Rechtschreib-Schwäche habe. Natürlich kann ich lesen und schreiben, aber ich bin nicht besonders gut darin und mit den Akten eher langsam und vielleicht … also nicht, dass ich was übersehe oder so, aber …«

So, das musste reichen, damit sie mich mit dem Papierkram in Ruhe ließen. »Aber sonst bin ich natürlich für jeden da, wenn er mal nicht klarkommt. Also ich helfe dem Team auf jeden Fall, klar.«

Ansgar und Benni rollten die Augen, und Vera wirkte enttäuscht. Die anderen blieben ungerührt, sie hatten wohl nicht viel mehr von mir erwartet. Nach einem Moment betretener Stille setzte sich bei dem Team aber die anfängliche Begeisterung wieder durch, und es begann eine lebhafte Diskussion über die nächsten Schritte und die Verteilung der Aufgaben. Und siehe da, einer nach dem anderen verließ den Raum, engagiert und mit einem dicken Packen Arbeit, nur ich war erfreulich leer ausgegangen. Das hatte ja prima geklappt.

Ich saß auf meinen Stuhl am Ende des Tisches und sah Wandenberg am anderen Ende groß an. »Ich warte dann mal, bis es was Praktisches zu tun gibt.«

Wandenberg schnappte sich eine prall gefüllte Hängeregistratur, die, für mich unsichtbar, an seinem Platz gestanden hatte, wuchtete sie vor mir auf den Tisch und setzte sich daneben, sodass er auf mich herabsah. »Ich weiß nicht, wie du das gemacht hast«, sagte er stirnrunzelnd, »dass du an deinem ersten Arbeitstag hier schon eine persönliche Einladung zu einem internationalen Kongress auf dem Tisch liegen hast.« Er klatschte einen an mich persönlich adressierten geöffneten Brief so vor mich auf den Tisch, dass er damit seine ganze Missbilligung darüber zum Ausdruck brachte, dass er, der Leiter dieser Organisation, übergangen worden war. Vielleicht hatte er den Brief nur aus Versehen geöffnet, aber ich vermutete, dass eher andere Motive eine Rolle spielten.

»Wie nett«, sagte ich. »Du hast ihn schon geöffnet. Was steht denn drin?«

Seine rote Gesichtsfarbe verriet mir, dass er seinen Geltungshunger fast nicht mehr beherrschen konnte. »Du wirst VIM schon in zehn Tagen auf einem, auf dem internationalen Kongress über Menschenhandel vertreten. Dieser Kongress wird seit zwei Jahren auf politischer Ebene vorbereitet. Da VIM erst seit Kurzem besteht, sind wir nicht auf der Einladungsliste, obwohl das genau die Plattform ist, auf der wir uns präsentieren müssen. Ich habe mich über das Innenministerium bemüht, noch eine Einladung zu erhalten.« Er starrte auf den Brief und presste hervor: »Vergeblich. Und jetzt das.«

Nach einem Moment gab er sich einen Ruck. »Wie dem auch sei. Moderski, Sie gehen dahin.«

Er siezt mich wieder, interessant.

»Und Sie werden VIM vertreten.« Er klopfte auf die Hängeregistratur und meinte: »Das hier ist die Essenz von allem, was wir bisher erarbeitet haben. Machen Sie sich damit vertraut wie mit den Krümeln in Ihrer Hosentasche. Blamieren Sie VIM nicht.«

Das bedeutete Arbeit, viel Aktenarbeit.

»Ach ja.« Wandenberg hielt im Hinausgehen inne und neigte sich an den Türrahmen gelehnt noch mal zu mir. »Und sagen Sie Ihrem Freund Manakov, wer auch immer das ist, er soll sich in Zukunft auf dem offiziellen Weg über mein Büro an Sie wenden.«

Damit verschwand er. Ich war überrascht und zog den Brief aus dem Umschlag. Was hatte Manakov mit der Einladung zu dem Kongress zu tun?

Peter Manakov, der milliardenschwere Besitzer des Sicherheitsdienstes PMC, der Peter Manakov Corporation, dessen Leute aus der Friederichsburger Niederlassung bei meinem letzten Fall eine große Rolle gespielt hatten. Dieser Peter Manakov wusste, dass ich bei VIM war, schließlich hatte er über seine Kontakte zu deutschen Ministern dafür gesorgt, dass ich dieser Organisation zugeteilt wurde. Diesbezüglich hegte ich nicht den geringsten Zweifel.

Ich würde ihn selbst fragen müssen, was er mit dem Kongress zu tun hatte, denn aus dem knapp und offiziell gefassten Brief, der nur durch Manakovs eigenhändige Unterschrift eine persönliche Note bekam, ging das nicht hervor.

Ich drehte mich zu Wandenberg um, der aber inzwischen nicht mehr zu sehen war, und murmelte: »Manakov ist nicht mein Freund. Außerdem glaube ich nicht, dass er sich von mir irgendetwas sagen lässt. Und von Ihnen schon gar nicht.«

ZWEI

Mein Zug kam erst nach halb zehn in Friederichsburg an. Rund um den Bahnhof war die Stadt dunkel und menschenleer, aber der Abend war mild, daher entschied ich mich, zu Fuß zu Nadija zu laufen. Sie würde um die Zeit sicher noch wach sein, und ich wollte sie nicht erst im Präsidium zum ersten Mal wiedersehen.

Sie stand lässig an die Tür ihrer Wohnung gelehnt, als ich die Treppe hochkam, und erwartete mich, als hätte ich nur eben was aus dem Keller geholt. Ich begrüßte sie etwas zurückhaltend. »Hi.«

Sie nahm mich still in den Arm und schaffte es auf ihre eigene Art, der sehr freundschaftlichen Umarmung einen kleinen Schuss Sex-Appeal zu geben. Erst nachdem sie die Tür hinter mir geschlossen hatte, sagte sie: »Schön, dass du noch vorbeikommst.« Und ich war wieder ihr Freund und Partner, als wäre ich nie zusammengebrochen und weg gewesen.

Sie rief: »Hey, David, wenn du noch nicht schläfst, guck mal, wer da ist.«

Ihr Sohn sah vorsichtig aus seinem Zimmer, und dann hing er auch schon an meinem Hals und zog mich einen Augenblick später hinter sich her in sein Zimmer. »Ich muss dir was zeigen, sieh mal, sieh mal.«

Stolz präsentierte er mir die Sammlung seiner Spielzeugautos, die beträchtlich gewachsen war, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte.

David war ein zarter zwölfjähriger Junge mit einem etwas zu großen Kopf, wodurch er ein bisschen grotesk aussah. Als ich ihn kennenlernte, hatte er sehr schüchtern gewirkt und wie zurückgeblieben, da er in vielen Dingen etwas langsam war. In der Schule wurde er gehänselt, wegen seines Aussehens und weil er Schwierigkeiten mit dem Lesen, Schreiben und Rechnen hatte. Das war Nadijas großer Kummer. Dafür war David immer ehrlich und freundlich, ein richtiger Sonnenschein, wenn er seine Scheu erst einmal überwunden hatte. Seine große Leidenschaft waren Autos, er wusste alles über Autos, was man nur wissen konnte.

Auf einem Tisch, so groß wie eine halbe Tischtennisplatte, standen alle Modellautos wie auf einem Parkplatz in Reihen geparkt. Sie bildeten dabei kleine Gruppen, deren Sortierung sich mir nicht auf den ersten Blick erschloss.

»Das sind Wörter, du Dummer, das sieht man doch«, sagte David und zeigte der Reihe nach auf die Autogruppen. »Am – Morgen – des – 12. – April – ist – eine – Gruppe – von – Unbekannten … Habe ich aus der Zeitung abgeschrieben.« Er sah mich mit großen, erwartungsvollen Augen an. Und dann begann ich zu kapieren. Audi plus Mercedes gleich »Am«, Mercedes plus Opel plus Renault plus G-Klasse plus Espace plus Nissan gleich »Morgen« und so weiter.

Vor ein paar Monaten hatte ich ihm das Rechnen mit Autos nahegebracht und den Tipp mit dem Lesen gegeben. Weil er doch die Autos alle kannte, konnte er sie für die Buchstaben einsetzen.

»Hey, cool«, sagte ich erstaunt. »Ist das nicht eine Menge Arbeit?«

»Nö«, meinte David und begann, in Windeseile einen Teil der Autos umzusortieren. Und schon stand da: »Herzlich willkommen«. »Manchmal muss ich mogeln. Es gibt keine Us und so.«

Während er mir erzählte, dass er auch auf ganz normalen Parkplätzen lesen konnte, natürlich meistens nur Blödsinnsätze, beobachtete Nadija uns still und zufrieden vom Flur aus. Als David in dem für ihn ganz untypisch langen Redefluss eine kleine Pause machte, hakte sie ein: »Ich glaube, für heute hat Carl genug Autos gesehen, und für dich ist es längst Zeit fürs Bett.«

David murrte natürlich wie jeder Zwölfjährige, er sei noch überhaupt nicht müde, aber dann schickte er sich doch an, ins Bett zu gehen. »Kommst du jetzt öfter?«

»Ja, unbedingt. Bin jetzt wieder da.«

»Kann ich dich auch noch mal besuchen?«, fragte er an Nadija vorbeiblickend, die ihn gerade zudecken wollte.

Nadija war sauer gewesen, als ich ihn das erste Mal zu Lydia und den Prostituierten mitgenommen hatte. Sie schüttelte jetzt den Kopf, aber ich sagte: »Klar.«

Nadija rollte mit den Augen, aber David ließ sich zufrieden zudecken.

Das Wohnzimmer war nett eingerichtet, ein bisschen IKEA, ein bisschen fast Antikes vom Sperrmüll und ein teures Sofa, das dem Ganzen Glanz verlieh, viel Mühe und Geschmack, wenig Geld, was sollte sie auch machen als Alleinerziehende?

Sie hatte mir einen Tee gekocht und sich einen doppelten Whiskey eingeschüttet, dann berichtete sie vom K11, deren Leiterin sie nun war. Unsere Ex-Kollegen Uwe Gerl und Norbert Oppermann waren aus dem Verkehr gezogen worden, weil sie Ermittlungen verhindert und zugunsten der Täter manipuliert hatten. Daher war ihrem Team ein alter Hauptkommissar zugeteilt worden, der schon nächstes Jahr in den Ruhestand gehen würde, und zudem ein Praktikant direkt von der Polizeischule, der bald in den regulären Dienst übernommen werden sollte.

»Na, und dich Teilzeit-Ordnungshüter habe ich ja auch noch«, sagte sie und fand, dass das für ein Kommissariat für Gewaltverbrechen natürlich lächerlich sei, aber für Friederichsburg vollkommen ausreichend. Seit ich weg war, hatte sie zwei ungeklärte Todesfälle, die sich aber als Unfälle entpuppt hatten, und zwei schwere Körperverletzungen, beides häusliche Gewalt, aufgeklärt. Und noch den üblichen Kleinkram: Morddrohungen, Schlägereien und so weiter.

Ich erzählte von der Kur und meinem ersten Tag bei VIM.

»Und deine Frau?«, fragte sie.

»Scheidung läuft. Die Kinder haben mich noch zweimal besucht. Ich sehe sie am Wochenende in Stuttgart.«

Nadija sah mir tief in die Augen, dann nahm sie mich in den Arm, und es tat gut. Ich fühlte ihren trainierten Körper, der so leidenschaftlich sein konnte, und dachte an meine Frau, eine andere Umarmung, als wir jung gewesen waren und die Kinder klein, ihr Lachen, das vergangen war und das ich noch immer vermisste.

Dann schob Nadija behutsam, aber bestimmt einen Arm zwischen uns beide. »Ich denke, es ist besser, wenn du dann mal nach Hause gehst.«

Auch wenn wir uns sehr mochten, war das ihre Bedingung gewesen: Partner im Beruf oder im Bett, beides ging nicht. Außerdem war sie jetzt die Chefin vom K11, meine Chefin.

Ich hatte mir ein Taxi nehmen wollen, aber um die Zeit gab es keines mehr in Friederichsburg, also musste ich zur Kranichstraße laufen. Es hatte leicht zu nieseln begonnen, und ich war gezwungen, die Hängeregistratur von Wandenberg zu schleppen, die auf die Dauer ganz schön schwer wurde. Deshalb war ich ziemlich schlecht gelaunt, als ich zu Hause ankam.

Bei Lydia war noch reichlich Betrieb. Auf dem Parkplatz fünf Autos, davon zwei Porsches und ein Jaguar F-Type. Meine Stimmung sackte noch tiefer in den Keller. Erst war ich von Nadija weggeschickt worden und hatte laufen müssen. Und jetzt waren da ein paar reiche Schnösel, die sich die Mädchen einfach so kauften. Mich ekelte es vor den arroganten, schmierigen, selbstgefälligen Freiern, als ich sie mir vorstellte.

Ich sah noch schnell bei Lydia rein. »Hi, ich bin wieder da.«

Lydia merkte sofort, dass ich angekäst war. »Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«

»Es regnet«, offenbarte ich nur die halbe Wahrheit.

»Willst du ein Bad? Der Whirlpool ist frei.«

»Nee, ich geh schlafen.«

Aber an Schlaf war so schnell nicht zu denken. Über mir war richtig was los. Das Zimmer über meinem Schlafzimmer hatte eine junge Polin, die noch nicht so lange bei Lydia war. Sie hieß Pauline, hatte die Haare schwarz gefärbt, war tätowiert und hatte Piercings an den unmöglichsten Stellen. Sie sprach noch nicht so viel Deutsch, obwohl sie zweimal in der Woche zum Sprachkurs ging.

Ich hatte die Fenster zum Garten offen, die Stimmen von oben waren deutlich zu hören. Pauline konnte unmöglich mit einem Freier alleine so viel Lärm machen. Ich glaubte, mehrere Männerstimmen unterscheiden zu können. Eine Weile lag ich im Dunkeln und lauschte dem Treiben, dann schloss ich die Fenster. Jetzt hörte ich die Balken und Dielen der Decke rhythmisch knarzen, und Putzkrümel rieselten aus dem Riss in der Zimmerdecke auf den Boden vor meinem Bett. Wird ja irgendwann mal Schluss sein, dachte ich. Aber dann hörte ich Pauline jammern und schluchzen und die Männer lachen. Da stand ich auf.

Ich streifte meine Jeans drüber und ging zu Lydia. »Was ist denn bei Pauline los?«, fragte ich und winkte Lydia in den Flur, wo man ganz leise die Geräusche von oben hörte.

»Die hat einen Dreierpack mit aufs Zimmer genommen. Ich hab sie gewarnt, sie soll’s nicht tun, aber die haben ihr ganz schön was geboten.« Lydia machte ein bekümmertes Gesicht.

»Okay, ich glaube, das läuft aus dem Ruder«, sagte ich und war schon auf dem Weg nach oben. »Welche Mädchen haben gerade nichts zu tun? Kannst du sie holen?«

Während Lydia Selma, Yvette und Melissa einsammelte, klopfte ich an die Tür von Paulines Zimmer. Von drinnen kam nur ein geknurrtes »Nicht stören!« und Paulines ersticktes Jammern.

Lydia stand hinter mir. »Die haben bestimmt gesoffen und Viagra genommen, und jetzt wollen sie’s wissen.«

Die Tür war abgeschlossen. Ich rüttelte daran und rief: »Aufmachen, es brennt. Feuer! Kommen Sie raus, alle raus!«

»Hat mal eine von euch Feuer?«, fragte ich die Mädchen.

Lydia gab mir ein Feuerzeug. In dem Zimmer rumorte es. Ich zupfte eine Blume aus einem verstaubten Strohblumenstrauß im Flur und zündete sie an. In dem Moment, wo ich den Schlüssel im Schloss hörte, schlug ich sie aus, dass die Funken stoben. Die Tür wurde gerade in den Funkenregen hinein geöffnet. Ich schrie: »Es brennt, alle raus, raus hier«, und trieb Lydia und die Mädchen vor mir her.