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RUDY PEVENAGE

NICHTS ALS DIE WAHRHEIT

MIT JOHN VAN IERLAND

BEKENNTNISSE
EINES
RADSPORT-
INSIDERS

ÜBERSETZT AUS DEM NIEDERLÄNDISCHEN VON RENÉ STEIN

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INHALT

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Die Welt des Radsports – eine Schafherde | 2020

Hijo Rudicio | Heute

Dafür bist du noch zu klein | 1954–1968

Endlich groß genug | 1969–1974

Die Rolle auf dem Saffraanberg | 1974 & 1975

Ein IJsboer! | 1975 & 1976

»He, Kleiner!« | 1976

Feiger Willy | 1977

Eine kleine Abmachung | 1978

Ein Glückspilz | 1978

Da kommt noch eins! | 1979

»Ich schlage ihn, ich schlage ihn!« | 1979

Hart. Härter. Hinault | 1980

Von Uhren und Zuckerwürfeln | 1980

Ans Maillot Jaune kann man sich gewöhnen | 1980

Wie ein Trikot dein Leben verändert | 1980

Danke, Kneet! | 1981 & 1982

Schlag ordentlich Krach! | 1982

Giuseppe und Ernesto | 1983–1986

Finale in Viane | 1987 & 1988

Gemelli und Histor-Sigma | 1989

Gewinne und Verluste | 1990–1993

Erik Zabel & Aldis Cirulis | 1994

König Jaja | 1995

Bjarne Riis | 1996

Jan Ullrich | 1997

Der Pirat und der Galibier | 1998

Erythropoetin (Epo) | 1999

Der »San-Remo-Blitz« | 2001

Der Kontakt zu Ullrich bleibt | 2002

Checco | 2003

»Und, Rudy, was jetzt?« | 2003

Asterix, Obelix und Alí babá | 2004–2005

Operacíon Puerto | 2006

Kein Knast | 2007

Die Tonbandaufnahme | 2007

Rock & Republic | 2009

Der Todestrakt | 2017

Epilog | 2020

DIE WELT DES RADSPORTS – EINE SCHAFHERDE

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2020

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»Viele mögen sich fragen, warum dieses Buch erst jetzt erscheint.

Nach meinem Ausschluss von der Tour de France 2006 habe ich den Kopf verloren, ich war völlig frustriert und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Es dämmerte mir langsam, dass ich auch in moralischer Hinsicht Fehler begangen hatte.

Dafür habe ich keine Entschuldigung. Damals habe ich mich von der Seuche, die im Radsport grassierte, mitreißen lassen.

Bis 1995 hatte ich absolut nichts mit Blutdoping am Hut, doch nur ein Jahr darauf wusste ich plötzlich über alles Bescheid. Erst viel später kam mir zu Ohren, dass Epo bereits in den frühen Achtzigerjahren eingesetzt worden war, vor allem in der Leichtathletik. Von dort aus gelangte es zum Radsport und zu anderen Ausdauersportarten. Blutdoping brachte mir Siege, aber auch schwere Niederlagen ein.

Ich wusste, was hinter den Kulissen in der Welt des Radsports abging, vielleicht zu viel, und das wurde mir zum Verhängnis. Ich war zu vertrauensselig. Es hat mir geschadet, aber ich habe mich davon nicht unterkriegen lassen. Belgischen Verlegern, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt mit mir ein Buch machen wollten, erteilte ich eine Absage. Sie verlangten von mir, dass ich mit allem auspacke, was ich über die Welt des Dopings wusste. Aber das konnte ich nicht. Mein Schützling Jan Ullrich war immer noch in Rechtsstreitigkeiten verwickelt, daher nahm ich mir vor, posthum ein Buch zu veröffentlichen.

Ich habe wegen einer schrecklichen Krebserkrankung dem Tod in die Augen gesehen, und dadurch hat sich für mich die Sicht auf die Dinge verändert. Ich habe keine Angst mehr vor den Reaktionen oder Kommentaren. Ich gebe in dieser Biografie viel preis, sehr viel, aber daneben wird auch die ein oder andere Begebenheit sein, die ich ausgelassen oder vergessen habe.

Viele Menschen in meinem Umfeld haben damals mit mir leiden müssen, meine Ex-Frau Vera Borremans, eine tolle, starke Frau, meine Zwillingstöchter Els und Leentje, meine Familie und auch die Familien der Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet habe.

Als ob es das Schicksal so wollte, lief ich in Bergen op Zoom im September 2018 im Rahmen einer Theateraufführung über das Buch Kasseien (auf Deutsch: Kopfsteinpflaster) John von Ierland in die Arme. Als ich ihn bat, mir zu helfen, einen Autor zu finden, der meine Geschichte niederschreibt, meinte er: »Sie haben ihn bereits gefunden, wir werden das gemeinsam machen.«

Ich möchte niemanden verletzen, aber ich sage die Wahrheit darüber, was ich mitgemacht, was ich alles gesehen habe. Ich berichte in diesem Buch über die Geheimnisse, die ich bisher für mich behalten habe, und über all die freud- wie auch schmerzvollen Erfahrungen.

Diese Biografie ist meine Geschichte, es sind meine Erlebnisse: aufschlussreich und schockierend, aber die Wahrheit des Radsports.

Ich möchte an dieser Stelle auch die jungen Rennradprofis warnen. Radfahren ist der schönste Sport, den es gibt, aber glücklich macht er nicht. Es wird der Zeitpunkt kommen, an dem du ein für alle Mal vom Sattel steigst, also bereite dich auf die Zeit nach dem Karriereende vor: ein Studium, eine Ausbildung, irgendetwas, was dich aus dem schwarzen Loch herausholt.«

Rudy Pevenage

HIJO RUDICIO

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HEUTE

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»In der Presse wurde viel über Blutdoping gemunkelt, und auch die Behörden saßen dem Radsport im Nacken. Um nicht abgehört werden zu können, benutzte Armstrongs Team das PIN-to-PIN-System von BlackBerry, das nicht zurückverfolgt werden konnte. Wir wurden alle vorsichtiger, und auch ich griff hauptsächlich auf das Telefon von jemand anderem zurück. Ich verwendete das Prepaidhandy meiner Freundin Chiara Gambacorti, die ich in Italien kennengelernt hatte.

Bei einem Zeitfahren in Pisa – wir hatten die Strecke gut ausgekundschaftet – zeigte Jan eine formidable Leistung. Der alte Jan war zurück. Ich war überglücklich, musste das mit Fuentes teilen, aber die Prepaidkarte des Telefons war leer. Aufladen ging nicht, dafür musste man sich identifizieren.

Aber ich war so im Freudentaumel, ich konnte nicht warten, also nahm ich schnell mein eigenes Handy und rief Eufemiano an. Das war nicht so clever, nicht nur, weil die Ermittlungsbehörden und spanische Polizei ihn bereits abhörten, sondern auch, weil sie nun meine Nummer kannten. Für die Behörden war das mehr als genug, das Netz um den Arzt zog sich zu, und im Beisein von Manolo Saiz wurde Fuentes verhaftet.

Ein paar Wochen später stattete ich Jan einen letzten Besuch vor der Tour de France ab. Ich wollte den letzten Trainingseinheiten beiwohnen und noch ein paar taktische Maßnahmen durchsprechen. Am nächsten Tag fuhr ich zum Hotel in Straßburg, um den dortigen Streckenverlauf und auch die ersten Etappen in den Vogesen zu erkunden. Nach der ersten Nacht dort im Hotel erhielt ich bereits frühmorgens einen Anruf von einem befreundeten französischen Journalisten, der für L’Équipe arbeitete. Er sagte mir, dass einige Codenamen durchgesickert seien, die mit Fuentes zu tun hätten. Einer von ihnen lautete ›Hijo Rudicio‹1 – es stünde in der Marca. Ich war geschockt und rannte wie ein Verrückter zur Hotelrezeption, wo ich mich hinter einen Computer klemmte, um den Artikel zu lesen. Was sollte ich nur tun?«

1 Anmerkung des Übersetzers: »Rudys Sohn«, 2007 waren in Fuentes’ Praxis in Madrid Blutbeutel mit diesem Etikett gefunden worden.

DAFÜR BIST DU NOCH ZU KLEIN

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1954–1968

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Bill Haley & His Comets nehmen 1954 Rock Around The Clock auf, ganz Belgien steht wegen Bobbejaan Schoepens etwas ruhigerem Bimbo Kopf; das belgische Parlament ist fest in der Hand der Sozialisten und Liberalen unter der Führung von Achiel Van Acker. Die Bundesrepublik Deutschland gewinnt den Weltmeistertitel in der Schweiz durch einen 3:2-Sieg über Ungarn, und der Franzose Louison Bobet siegt bei der Tour de France, bei der sich der Belgier Fred De Bruyne drei Etappen sichern kann.

Die großen Leistungen des in Berlare geborenen De Bruyne fesselten die Bewohner des 30 Kilometer südlich gelegenen Moerbeke ans Radio. Nach einem weiteren Sieg von De Bruyne wird der drei Wochen alte Rudy von Vater Edgard, einem fanatischen Anhänger des Radsports, begeistert aus der Wiege gehoben. »Ja, kleiner Mann, du wirst auch Radfahrer, genau wie Fred.«

Rudy Pevenage kam am 15. Juni 1954 in Moerbeke zur Welt, einem kleinen Dorf in der Nähe von Geraardsbergen, das innerhalb der Radsportgemeinde für die mit Kopfsteinpflaster berüchtigte Muur van Geraardsbergen hoch auf den Oudenberg bekannt ist. Heute steht der beschwerliche Anstieg bei etwa siebzig Rennen auf dem Programm, aber 1954 hatte der robuste Wadenbeißer – genau wie Rudy – nicht so viel zu bieten. Zum ersten Mal musste der Anstieg, auch Hügel oder Helling genannt, 1951 im Rahmen von Gent–Gent erklommen werden. Das Rennen wurde erstmalig 1945 ausgetragen und galt als der Eröffnungsklassiker der Radsportsaison. Der Abstecher zur Mauer brachte der Region viel Renommee ein, und bald entwickelte sich die Stadt in Ostflandern zu einer Art Mekka für Radsportbegeisterte. Seitdem ist es fast unmöglich, als Einwohner von Geraardsbergen und Umgebung einem fröhlichen Virus namens Radfahren zu entkommen.

»Die Muur … Man fuhr nicht dort hinauf, um mal ganz entspannt zu trainieren. Es ist ein schrecklicher Hügel, der einen leiden lässt. Die Oberflächen der einzelnen Pflastersteine sind waagerecht angeordnet, sodass jede neue Reihe wie eine Treppenstufe wirkt2. Mit dem Fahrrad nur sehr schwer zu erklimmen, und wenn es regnet, ist es erst recht eine Qual.

Wenn Sie in der Gegend sind und eine Radtour unternehmen wollen, umfahren Sie die Muur. Aber es ist in der Tat ein Denkmal, auf das ich sehr stolz bin.

Wir wohnten in Moerbeke an der Pirrestraat, einer Sackgasse mit überwiegend Ein- und Zweifamilienhäusern. Genau wie die Muur bestand die Straße aus platt geklopfter Erde und Kopfsteinpflaster. Im Winter musste man bei jedem Schritt aufpassen, sonst rutschte man leicht aus, während im Sommer teils schrecklich viel Staub aufgewirbelt wurde.

Wir wohnten in einer sogenannten Doppelhaushälfte. Ich habe dort meine Kindheit verbracht. Neben meinen Eltern bestand unsere Familie noch aus meinen beiden Schwestern Henny und Daisy, sechs und zwei Jahre älter als ich. Ich bin der Jüngste, der »Pfannkuchen«, wie man bei uns sagt. Meine Schwestern meinten, dass meine Mutter nach zwei Töchtern gern einen Jungen wollte. Als ich geboren wurde, machte meine Mutter vor Freude einen Luftsprung, zumindest soweit ihr das in jenem Moment möglich war. Das bekomme ich bis heute zu hören.

An diese ersten Jahre habe ich kaum noch Erinnerungen. Was mir wirklich im Gedächtnis erhalten geblieben ist, sind die Bertha-Hühner meiner Mutter. Sie hatte etwa zweihundert, glaube ich; ich kann mich auch irren, aber es war in jedem Fall sehr viel Federvieh, das sie in kleinen Verschlägen und Batterien hielt (in den Fünfzigerjahren nichts Ungewöhnliches). Meine Mutter hielt die Hühner wegen der Eier, die sie an Bauern oder Geschäfte in der Umgebung verkaufte. Der Bäcker zum Beispiel war ein Großkunde, obwohl »Kunde« vielleicht nicht das richtige Wort ist. Meine Mutter sah es als Hobby an. Wir haben auch ständig Eiergerichte gegessen. Manchmal haben meine Schwestern und ich meiner Mutter geholfen, aber mein Vater hat man bei den Ställen vergebens gesucht, der hatte mit all dem nichts am Hut.

Mein Vater arbeitete in Brüssel bei AEG und war für die Buchhaltung verantwortlich. Jeden Tag pendelte er eine Stunde mit dem Zug von Moerbeke in die Hauptstadt.

Laut meinen Schwestern war ich ein Einzelgänger, ein introvertierter Junge, der hauptsächlich allein spielte; am liebsten draußen auf dem Kopfsteinpflaster, auf den Aschepfaden oder bei den Wassergräben. Das war bei uns kein Problem, es herrschte kaum Verkehr. Die Autos, die sich hierhin verirrten, mussten zuerst die Pirrebrug über die Eisenbahnschienen überqueren. Auch habe ich oft auf den Gleisen gespielt. Obwohl die Züge damals noch nicht so schnell fuhren, war es sehr gefährlich. Diese Gefahr erkannte ich damals nicht, und ein ums andere Mal habe ich große Felsbrocken auf die Gleise gelegt.

Wenn mein Vater abends von der Arbeit nach Hause kam, stand das Abendessen bereits fertig auf dem Tisch. Es gab Huhn, Kaninchen, Schweinefleisch, Eier. Das war die Aufgabe meiner Mutter, und sie machte alles selbst: schlachten, rupfen, kochen und braten. Nach dem Abendessen spielten Papa und ich oft Fußball. Er war ein großartiger Fußballspieler, zumindest konnte er mehr als mithalten auf jenem Niveau, das die örtliche Auswahlmannschaft hatte. Sein Spitzname lautete ›Stuka‹, weil er so beinhart verteidigt hat. Er war sehr sportlich, spielte Fußball, war Mitglied des Billardclubs und betrieb auch etwas Radsport. Solange ich mich erinnern kann, war er zusammen mit seinem Bruder Frans im Radsportverein Sportkomiteit Viane aktiv. Innerhalb der Familie war der Sport nicht wegzudenken, und als Jugendlicher wird man automatisch von diesem Sog erfasst. Man interessiert sich schon allein deshalb dafür, weil man die Leidenschaft der Familienmitglieder teilen möchte. Etwas zu erleben, etwas zu feiern ist schließlich viel schöner mit anderen zusammen.«

Der Gründer der Sportkomiteit Viane war Paul Borremans, geboren in Zandbergen in Ostflandern, etwa zehn Kilometer von Moerbeke entfernt. Wie viele in der Gegend wollte auch Paul ein echter »Flandrien« sein, also ein Radrennfahrer mit besonderem Kampfgeist, der man nur werden kann, wenn man aus dem richtigen Holz geschnitzt ist, besser aber noch hart wie Kopfsteinpflaster. Paul war so jemand. Er brachte Talent mit, hatte aber vor allem Durchsetzungsvermögen. Im Gegensatz zu vielen anderen gelang ihm der Sprung zu den Radprofis. Zuvor allerdings fuhr Paul zunächst in der Kategorie »Unabhängige«. Sein erstes Rennen gewann er im niederländischen Mechelen, zwei Wochen vor Rudys Geburt.

Die »Unabhängigen« bildeten in Belgien eine (nicht obligatorische) Kategorie zwischen den Amateuren und den Profis. Aber man durfte auch an fremden Futtertrögen naschen, denn wenn kein spezielles Rennen für Unabhängige angesetzt war, war die Teilnahme an einem Profi-Rennen gestattet. Für einzelne Amateure wie Eddy Merckx machte man eine Ausnahme, er übersprang diese Riege. Die Kategorie starb einen langsamen Tod, da jedes Jahr die gleichen Radrennfahrer aus demselben Jahrgang dort mitfuhren. In der Regel aber trat der Unabhängige ein Jahr lang an, um die Gunst einer Profi-Mannschaft zu gewinnen. In den Niederlanden waren die Unabhängigen nur bei Rennen startberechtigt, an denen sowohl Amateure und Unabhängige als auch die Profis teilnehmen durften. Es hat immer nur einen wirklichen Wettbewerb gegeben, der allein Unabhängigen offenstand, nämlich in Oogezand-Sappemeer. Das Peloton bestand hauptsächlich aus hochklassigen Amateuren, die den Übergang zu den »echten« Profis etwas hinausschieben wollten (und weil es einfach nicht viele Rennen in der Nähe gab). Auch eine Reihe von Glücksrittern, die nicht bei den Amateuren unterkamen, besorgten sich eine Lizenz als Unabhängiger, um mit den »großen Jungs« mitfahren zu können.

Ende 1954 wagte Paul, ein echter Sprinter, den Schritt und heuerte als Profi für Plume Sport-Simplex an. Daneben fuhr er auch für die italienische Equipe Coppi und für Libertas in Belgien. Im Dienst der italienischen Mannschaft errang er 1958 seinen größten Erfolg: Er gewann den Grote Prijs Briek Schotte. In jenem Jahr war er zusammen mit Hugo Koblet, dem Sieger des Giro d’Italia und der Tour de France, im Team. Ebenfalls in jenem Jahr gab er seinen Rücktritt bekannt.

»Nachdem ›Pol‹, so sein Spitzname in Ostflandern, mit Radsport aufgehört hatte, widmete er sich dem Radsportkomitee und den Rennen, die er von nun an organisierte. Zudem kümmerte er sich um sein Café und seinen Fahrradladen. Als ich noch sehr jung war, bin ich mit meinem Vater öfter mal dort hingegangen, und nach einiger Zeit war ich dort nicht mehr wegzubekommen. Ich spreche über den Fahrradladen, natürlich, und nicht über das Café. All die schönen Sachen, die Teile, die glänzenden Fahrräder, all die Fahrer, die vorbeikamen, um etwas zu montieren, einstellen und reparieren zu lassen oder einfach nur über den Verlauf des Wochenendes zu plaudern – all das machte mich hungrig, hungrig auf Rennradfahren und Wettkämpfe. Pol baute die Jungs auf, übte konstruktive Kritik. Für mich war es eine große Sache, zu sehen, zu hören und zu erfahren, wie Pol Ratschläge erteilte. Das wollte ich auch: Ich wollte auch Rennrad fahren, trainieren und an Rennen teilnehmen!

Irgendwann übertrug mir Pol in der Werkstatt einige kleine Aufgaben, schließlich war ich sowieso immer dort, sodass ich noch mehr über Fahrräder und deren Technik lernte. Ich habe sogar selbst Speichen an Rennradfelgen montiert, und es dauerte nicht lange, bis ich mein erstes eigenes Rad hatte.

Ich war neun Jahre alt damals, und ich fühlte mich wie ein echter Flandrien auf meinem grün-gelben stählernen Geschwindigkeitsmonster von Libertas, das im belgischen Boom produziert wurde. Es war das Ersatzrad von Georges Pintens, der es nie benutzt hatte, verfügte über drei Gänge und war ausschließlich mit Komponenten von Campagnolo bestückt. Ich polierte das Rad jeden Tag, bis es wieder in neuem Glanz erstrahlte.«

Georges Pintens aus Antwerpen gewann während seiner neunjährigen Radsportkarriere eine Etappe der Tour de France sowie der Vuelta und konnte Siege bei den Klassikern Gent–Wevelgem, dem Amstel Gold Race, Lüttich–Bastogne–Lüttich und Rund um den Henninger Turm verbuchen. Er begann 1968 bei der Mannschaft MANN-GRUNDIG, das mit Rädern von Libertas ausgerüstet war.

»Ich war öfter bei Pol zu finden als zu Hause, ich war mehr mit Pols Rahmen, Schaltungen und Ketten beschäftigt als mit den Hühnern und Eiern meiner Mutter. Pol war wichtig für mich, er hat mich – buchstäblich – auf ein Rennrad gesetzt, er hat den Sportsgeist in mir geweckt und so meine Kindheit mitgestaltet.«

Rudy musste natürlich, wie jedes andere Kind, zur Schule gehen, zunächst auf die städtische Schule in Moerbeke, gefolgt von dem Koninklijk Atheneum Geraardsbergen an der Buizemontstraat. Jeden Tag fuhr er mit seinen Freunden Jean-Marie, William und Dennis dorthin, und zwar im Rücken der Muur bis nach Geraardsbergen, also nicht über den steilen Abschnitt mit dem Kopfsteinpflaster. Jeden Tag wartete aufs Neue ein Kampf gegen die Steigungsprozente, den sie im Wiegetritt angingen. Seine Schwestern waren nicht mit von der Partie, sie besuchten die katholische Mädchenschule in Geraardsbergen und nahmen den Zug.

»Mir fiel lernen leicht, ich musste nicht viel dafür tun. Ich habe den Stoff ein paar Mal durchgelesen und nicht mehr vergessen. Ich durfte nicht versagen, darauf haben mich mein Vater und Pol immer wieder hingewiesen. Sie alle mochten diesen Sport, und wer weiß, vielleicht konnte ich es eines Tages darin zu etwas bringen. Aber wenn ich nicht lernen würde, keine guten Noten nach Hause brächte, dann wären sie die Ersten gewesen, die all dem ein Ende bereitet hätten. Doch mein Sport war nicht nur das Rennradfahren, ich spielte auch gerne mit Freunden Fußball (nicht in einer Mannschaft, sondern meist in den Pausen auf dem Schulhof). Obwohl ich wirklich gern gekickt habe, hat das Rennradfahren die Oberhand gewonnen. Damit wollte ich weitermachen.

Aber mit Pol um mich herum war das gar nicht so einfach. Sowohl den wichtigen als auch unwichtigen Dingen in meinem Leben schenkte er große Aufmerksamkeit, das ging teilweise sehr weit. Er war nicht nur der Auffassung, dass ich in der Schule gute Noten haben sollte, sondern auch, dass ich eine bestimmte Körpergröße erreichen musste, um überhaupt Rennen fahren zu können. Jeden Monat musste ich mich mit dem Rücken an eine Wand stellen, dann nahm er Maß und machte mit einer Kreide einen Strich. Alle paar Wochen standen wir dann in der Hoffnung davor, dass ich wieder ein wenig gewachsen war. Wenn es dann nur ein paar Millimeter waren, musste ich mich noch gesünder ernähren, denn gesunde Ernährung war es, die einen wachsen ließ. Vielleicht noch mehr Eier?

Als ich dreizehn Jahre alt wurde, war ich bereit, ich hatte lange genug gewartet. Auch wenn ich laut Pol dafür noch zu klein war, musste ich einfach Rennen fahren – und ich würde es tun! Leider erlaubten die Regeln das nicht.«

Der junge Rudy, und mit ihm viele seiner Leidensgenossen, war bereit, aber Belgien war es noch nicht. Nach den Regularien des belgischen Radsportverbandes musste man mindestens fünfzehn Jahre alt sein, um sich mit anderen messen zu können. Rudy hatte diese »Messlatte« noch nicht erreicht, da konnte er sich buchstäblich abstrampeln, so viel er wollte. Heutzutage liegt die Altersgrenze dank Fürsprache der Verbände niedriger. Allerdings konnte man zu Rudys Zeit an Wettkämpfen in den Niederlanden teilnehmen, für viele belgische Fahrer aus der Grenzregion nur ein Katzensprung entfernt.

»Ich wollte das natürlich auch, aber die Niederlande waren zu weit weg. Ich suchte also ohnehin nach einer Möglichkeit, ein Rennen zu fahren, und als Pol ein Jugendrennen organisierte, war meine Geduld aufgebraucht. Pol und ich baten darum, für mich eine Ausnahme zu machen. Es funktionierte, der damalige Präsident Josse Du Château vom Koninklijke Belgische Wielrijdersbond (Königlicher Belgischer Radsportverband, KBWB) fasste sich ein Herz und machte eine Ausnahme. Plötzlich spürte ich eine ganz besondere Art von Druck auf meinen Schultern, doch darauf hatte ich nur gewartet: ›Hier ist er, der neue Eddy Merckx. Ich fahre das Rennen auf jeden Fall zu Ende.‹

Ich verglich mich mit dem größten Radrennfahrer aller Zeiten, der immer mehr zu meinem Idol wurde und erst sechs Monate zuvor den Weltmeistertitel auf der Straße errungen hatte. Im niederländischen Heerlen besiegte er im Sprint Jan Janssen mit einer halben Radlänge Vorsprung. Ich hatte also etwas zu beweisen, nicht nur mir selbst und Du Château, sondern auch Julien Matthijs und Lucien Marquant vom Sportausschuss, die sich nachdrücklich für meine Teilnahme eingesetzt hatten.

Mein erstes Rennen. Ich hatte keinen Schimmer, was mich erwartete, aber was habe ich gelitten. Es war so brutal anstrengend! Danach wusste ich nicht mehr, wo oben und unten war, aber ich bin es zu Ende gefahren. Ich konnte mich mit Hängen und Würgen an einer kleinen Gruppe festbeißen und schaffte es so über die Ziellinie. Eine Auszeichnung blieb mir versagt, aber ich hatte mein Versprechen gehalten, das Rennen zu beenden.«

Man musste fünfzehn sein, um als Rookie die jüngste Kategorie der BWB-Fahrer – starten zu können. Und doch fuhr Rudy Pevenage als Dreizehnjähriger sein erstes Rennen mit den Neulingen.

Sein Schwiegervater hatte 1979, etwa elf Jahre später, noch immer ein sichtliches Vergnügen daran, als Pol seine Erlebnisse einem Reporter der Sportwereld schilderte, die zur flämischen Zeitung Het Nieuwsblad gehört.

»Er war dreizehn Jahre alt, ein junger Hüpfer. Ich hatte in Moerbeke ein Rennen für die Frischlinge organisiert. Vierzehn Teilnehmer waren erschienen, um sich eine Rückennummer abzuholen. Aber ich hatte fünfzehn Preise zu vergeben. Rudy wollte es, der BWB-Vertreter hatte keine Einwände. Also ging Rudy an den Start. Ich hatte ihm gesagt, dass er sich aus dem Kampf um den Sieg heraushalten solle. Er musste sich ein paar Mal beherrschen, vor allem als einige wenige abreißen lassen mussten und er sogar mit dem Ersten, dem Besten, mithalten konnte. Aber schlussendlich hielt er sich an die Vereinbarung. Er fuhr nicht als Erster, aber sicherlich nicht als Letzter über den Zielstrich. Da kamen noch ein paar nach ihm ins Ziel.«

»Bevor ich offiziell Rennen fahren durfte, habe ich schon an einigen Wettkämpfen teilgenommen. Es waren kleine Ausscheidungsfahrten, organisiert von Radsportkomitees, die nicht dem Verband angehörten. Es waren ›wilde Rennen‹, wie sie so schön und abenteuerlich genannt wurden. Ich kam stets einigermaßen gut zurecht und bewegte mich im Schutz des meist übersichtlichen Hauptfeldes. Ich bin all diese Rennen gefahren, habe aber nicht ein einziges Mal irgendetwas gewonnen.«

2 Anmerkung des Übersetzers: Der Straßenbelag ist mittlerweile erneuert worden.

ENDLICH GROSS GENUG

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1969–1974

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Der langersehnte Moment war gekommen, als Rudy am 15. Juni 1969 fünfzehn Jahre alt wurde. Monatelang hatte er sich darauf gefreut, alles in dieser Zeit drehte sich um diesen einen Tag. Nun durfte er endlich offiziell an Radrennen teilnehmen. Rudy schloss sich dem WSC Merelbeke-Scheldestreek an (WSC steht für Wieler Sport Club, auf Deutsch: Radsportclub). Ein großer Verein mit mehr als zweihundert Mitgliedern, der von Louis Romans Brauerei Romy Pils aus Oudenaarde gesponsert wurde. Die Firma Hespen Ebo fungierte als Co-Sponsor.

»Dort stand ich nun in meinem weiß-rot-grün karierten Trikot, verziert mit dem Teamsponsor. Ich war alt genug, aber als ich mich so umsah und die anderen Fahrer betrachtete, fühlte ich mich immer noch wie ein Grünschnabel. Ich schaute nicht nur sprichwörtlich, sondern buchstäblich zu ihnen auf und fühlte mich nicht annähernd ebenbürtig. Doch mit dieser Meinung stand ich allein, denn mein Teamleiter André Tummeleer war damit überhaupt nicht einverstanden. Für ihn bekam jeder die gleiche Chance, und die musste man ergreifen. Seine Einstellung gefiel mir, und seine Meinung wurde mir wichtig. Er war keiner der alten Recken, er hatte keinen drahtigen Körper, ihn umgab keine Gewinneraura, die nur ›Sieg‹ ausstrahlte. Nichts von alledem traf auf ihn zu. Unser Teamleiter war übergewichtig und mit einem alles andere als aerodynamischen Schnurrbart gesegnet. André wurde von den meisten deshalb geschätzt, weil er ein gutmütiger Kerl war. Und genau deshalb habe ich alles von ihm aufgesogen und noch mehr Spaß am Radfahren gehabt.

Ich habe begriffen, dass Radfahren ein Sport für Einzelkämpfer ist, vor allem in der Jugend. Du bist zwar in einer Mannschaft gefahren, aber es ging stets um die eigene Leistung, nicht um die der anderen. Ich musste Kilometer fressen, an meiner Kondition feilen wie auch an den technischen Fähigkeiten auf dem Rad. Ich musste dieses stählerne Ding quasi lesen können. Mein Sportlicher Leiter hat mir vieles beigebracht, wodurch ich an Selbstvertrauen und Fähigkeiten zulegte, an meiner Körpergröße konnte er jedoch auch nichts ändern.

André hat uns zu den ersten Rennen begleitet und das Team aufgestellt. Er arbeitete als Autoverkäufer, und Radfahren war sein Hobby. Er mochte es, uns zur Ronde van Limburg oder sogar nach Ostberlin zu begleiten, wo wir stundenlang an einem Grenzposten an der Mauer warten mussten, bevor man uns endlich passieren ließ.

In Berlin habe ich sogar bei einem Rennen über mehrere Etappen die Führung übernommen, aber am letzten Tag habe ich es schleifen lassen, weil ich mir Körner für die Belgische Meisterschaft einen Tag später aufsparen wollte. Es lief alles so sehr nach meinen Wünschen, dass die Leidenschaft für den Radsport wuchs und wuchs. Das bedeutete allerdings nicht, dass ich schon einzelne Rennen gewinnen konnte. Aber laut André war es nur eine Frage der Zeit, und ich tat gut daran, weiter an meinen Grundlagen zu arbeiten. Ich musste zäh sein, meine Kondition ausbauen, an Widerstandsfähigkeit arbeiten und vor allem weiter mit dem nötigen Selbstvertrauen fahren.

Erst bei den Junioren gelang es mir, mich in den Vordergrund zu kämpfen und damit auch um die Podiumsplätze. Mein Sportlicher Leiter hatte recht: Wenn ich Durchhaltevermögen bewies, würde ich irgendwann Siege einfahren.

Bei den Frischlingen erzielte ich in Wambeek einen schönen dritten Platz, und zwei Jahre später, 1972, stand ich schließlich als Junior ganz oben auf dem Podium: Ich hatte den Großen Preis von Erwetegem gewonnen. Es war Ostermontag, und die Strecke führte durch die Klemhoutstraat, eine giftige Steigung, über die ich mich mehr als gut hochkämpfte. Viele Leute fragten mich danach, ob ich dank der Muur van Geraardsbergen mit den Beinen eines Kletterspezialisten gesegnet sei. Nein, sie hatte damit nichts zu tun, ich bin sie praktisch nie hinaufgefahren, sondern ging ihr immer aus dem Weg.

Ich war nur ein dünnes Kerlchen, ein Mann von zarter Statur, Muskelpakete suchte man bei mir vergebens. Ich sah aus wie eine moderne Bergziege: leicht, klein und drahtig, weshalb ich im Vergleich zu den anderen, den Größeren, leichter bergauf fahren konnte. Aber es lag nicht nur daran, ich hatte auch ein bisschen Glück. In der letzten Runde waren wir noch zu zweit, aber mein Mitausreißer stürzte auf der Abfahrt hin zur Ziellinie, und ich kam allein und als Erster ins Ziel.

Alle waren glücklich, außer Pol, der der Meinung war, ich sei zu leicht. Er schickte mich zu Emile Van Der Schueren, dem Chefarzt des Sanatoriums Denderoord.«

Das Sanatorium Denderoord befindet sich seit 1953 auf dem Hoge Buizemont in Overboelare, nahe der berühmten Muur. Damals war es ein auf Tuberkulose, Staublunge (jene gefürchtete Krankheit der Kumpels unter Tage) und andere Atemwegserkrankungen spezialisiertes Krankenhaus. Die Patienten kamen zur Kur hierher, wo saubere, frische Luft und viel Sonnenlicht wichtige Bausteine während des Heilungsprozesses bildeten. Rudy erhielt Medikamente, die das Muskelwachstum fördern sollten, aber eigentlich waren es Vitaminpräparate, die das körperliche Wachstum stimulieren sollten. Er war zu dünn, zu gebrechlich, er brauchte einen Wachstumsschub. Es war nicht mehr, als der Natur ein klein wenig unter die Arme zu greifen.

Bei den Junioren war Rudy unter den guten Fahrern zu finden, der sich im Peloton halten konnte und regelmäßig eigene Angriffspläne verfolgte. Innerhalb der Equipe von Merelbeke-Scheldestreek gehörte er, vor allem bei vereinsinternen Rennen, zu den besseren Fahrern, aber auf der Siegerstraße befand er sich nur selten.

»In meiner Kindheit gab es nicht nur Sport, die Schule war ein wichtiger Bestandteil. Es war alles andere als sicher, dass ich den Radsport zu meinem Beruf machen konnte. Ich war kein Überflieger. Ich kann sicher nicht mit Fahrern wie Paul Clinckart oder Karel Rottiers verglichen werden, die damals viel bekannter waren, weil sie viel mehr Siege einfuhren als ich. Natürlich muss man diese Art von Erfolg relativieren, denn in diesem Alter hat ein Sieg noch nicht so viel Aussagekraft. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie sehr man um den Sieg hatte kämpfen müssen. Der eine wuchs schneller heran als der andere, und konnte jeder gleich viel trainieren? Es war nicht wie bei den Profis, nicht jeder saß den ganzen Tag auf dem Rennrad. Ich ging noch zur Schule, und ich habe mit dem Lernen sicher nicht zugunsten des Radsports nachgelassen. Ein gutes Zeugnis bedeutete mir viel, das hatten mein Vater und mein Mentor mir immer wieder eingebläut. Sich nur auf den Radsport zu konzentrieren, war – und ist es bis heute – zu riskant. Der Erfolgsdruck wird riesengroß, womit nur die wenigsten umgehen können. Gerade in diesem Alter kann man nicht jeden Tag achtzig Trainingskilometer abspulen!

Ich konnte gut lernen, konnte mir alles leicht merken. Ich war auf dem Atheneum in Geraardsbergen, jene Schule, auf die fast alle Hallodris gingen, im Gegensatz zu den kirchlichen Schulen, die von den Pfarrern und Nonnen geführt wurden. Dort hatten wir zum ersten Mal Unterricht in gemischten Klassen, jeweils mit acht Jungen und acht Mädchen, was für eine Veränderung.

Ich hatte dort gute Freunde, und wir hatten eine schöne Zeit. Ab und zu durfte ich früher nach Hause gehen, wenn ein Rennen anstand. Die Schule sah es positiv, wenn ich statt der Sportstunden an einem Rennen teilnahm, sodass ich montagnachmittags manchmal etwas früher gehen durfte. Normalerweise waren sie sehr streng, aber bei mir haben sie ein Auge zugedrückt. Pol holte mich von der Schule ab, und dann fuhren wir zu Wettkämpfen in Westflandern oder in der Wallonie. In diesen Regionen waren die kniffligeren Streckenverläufe, und so habe ich am meisten gelernt. Das Gelände war hügeliger als bei uns, und dort fühlte ich mich zu Hause. Bei den Attacken musste ich noch besser werden, aber in der Defensive, wenn es darum ging, Angriffe abzuwehren, da stand ich meinen Mann; mich wurde man nicht so schnell los. Es war eine schöne Zeit, allein unterwegs mit Pol. Keine Fans, kein Ärger, nur Rennen und das Leben genießen. Ich denke oft mit Melancholie daran zurück.

Doch Pol war nicht immer nett zu mir, er konnte sehr cholerisch werden. Vor allem, wenn ich etwas getan habe, was in seinen Augen nicht richtig war, ob nun während des Rennens oder in der Werkstatt. Ich musste immer alles geben, herumtrödeln gehörte nicht dazu. Seiner Meinung nach würde ich mit so einer Einstellung nicht sehr weit kommen, dann würde ich nicht einmal das Minimum von dem erreichen, was ich – und auch er – im Sinn hatte. Schwierige Momente für mich als jungen Burschen, wenn ich wieder mal einen Einlauf in Form einer Schimpfkanone verpasst bekam, selbst in Gegenwart anderer. Das waren die Momente, in denen ich Reißaus nehmen wollte. Mir standen die Tränen in den Augen, was niemand sehen durfte. Es war ein Zeichen von Schwäche.

Wenn es Ärger gab, suchte ich Trost bei Pols Frau, Marie Henriette. Ihr konnte ich mein Herz ausschütten, sie verstand mich. Einmal war sie nicht zu Hause, und ich wartete auf der Türschwelle. Als sie schließlich auftauchte, und ich ihr meine Geschichte erzählte, wurde sie sehr wütend und ging direkt zu ihrem Mann. Pol bekam, obwohl die Werkstatt gerammelt voll war, vor aller Augen die Leviten gelesen.

›Den armen Jungen vor seinen Freunden niedermachen? Dann kannst du ihm gleich allen Mumm nehmen. Das ist niederträchtig, so was kannst du nicht machen. Du wirst damit aufhören!‹

Seitdem bin ich nicht nur der Augapfel meiner eigenen Mutter, sondern auch der Augapfel meiner Schwiegermutter.

Schwiegermutter, in der Tat, Sie haben richtig gelesen. Irgendwann war Pol mehr als mein Begleiter, Sportlicher Leiter, Arbeitgeber und Vaterersatz … Nach einer Weile durfte ich ihn Schwiegervater nennen. Die Familie wurde mein zweites Zuhause, ich war ständig dort oder im Fahrradladen und manchmal im Café, wo ich oft seiner Tochter Vera begegnete. Wir redeten öfter miteinander, aber als Freunde, schließlich hatte Vera bereits einen Freund. Als es vorbei war, bekamen unsere Gespräche einen anderen Unterton. An den wettkampffreien Tagen, an dem gleichzeitig der Laden geschlossen hatte, fuhr die Familie Borremans oft ans Meer, meist in das niederländische Cadzand. Einmal lud man mich ein, und dort an der niederländischen Küste gingen wir zum ersten Mal Hand in Hand. Hier nahm die Liebesgeschichte ›Rudy & Vera‹ ihren Anfang.

Seitdem durfte ich zu Pol Schwiegervater und Marie Henriette Schwiegermutter sagen, und natürlich hing ich nun noch öfter bei der Familie Borremans herum. Meine Eltern sahen das nicht besonders gerne. Regelmäßiges Stirnrunzeln war an der Tagesordnung, gefolgt von einer Reihe vorwurfsvoller Fragen: ›Wo treibst du dich immer herum? Kommst du überhaupt noch mal nach Hause?‹ Das Schlimme war – das ist mir heute viel bewusster –, dass mein Vater jeden Tag am Haus der Borremans vorbeikam, entweder auf dem Weg zum Bahnhof oder zurück. Wahrscheinlich hat er mich oft dort sitzen sehen … was muss er dabei gefühlt haben?

Mein Leistungsniveau in der Schule war wirklich gut, ich hatte die Möglichkeit, Arzt oder Anwalt zu werden, einen renommierten Beruf zu ergreifen, von dem die meisten Eltern träumen. Leider habe ich mich immer weiter von diesem Ziel entfernt. Jahr für Jahr – ich war zu abgelenkt und beschäftigte mich mit zu vielen Nebensächlichkeiten – musste ich gegen Ende des Schuljahres zum Zielsprint ansetzen, wobei es eher einer Aufholjagd gleichkam. Doch irgendwann schaffte ich es nicht mehr und war gezwungen, eine neue Richtung einzuschlagen: Wirtschaft. Die Prüfungen in diesem Fach waren für mich nicht weiter schwierig, und der Unterricht in den modernen Sprachen kam mir sogar entgegen. In der Region wurde Niederländisch und Französisch gesprochen, selbst Deutsch war kein Problem. Nach der Ausbildung wollte ich mich weiterbilden und schrieb mich für ›Buchhaltung‹ an der Freien Universität Brüssel ein. Tag für Tag fuhr ich nach Brüssel und zurück, weil ich keine Lust auf eine Studentenbude hatte. Das Jahr fiel mir viel schwerer, als ich es zuvor erwartet hatte.

Im Sommer 1974 erhielt ich mein Abschlusszeugnis, und ich hatte es nicht gepackt. Ich hätte in fünf von zwanzig Kursen in die Nachprüfung gemusst, darunter sogar einer, bei dem ich absolut sicher war, dass ich eine gute Klausur geschrieben hatte. Ich war völlig desillusioniert, bedeutete es doch, dass ich meine Ferien opfern musste, um für die Nachholtermine im August zu pauken. Das hat mir alles andere als gefallen und gab für mich den Ausschlag: Ich setzte alles auf eine Karte und entschied mich für das Rennrad. Nichts kann mich aufhalten, ich werde Radrennfahrer, sagte ich mir damals.«

DIE ROLLE AUF DEM SAFFRAANBERG

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1974 & 1975

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Rudy entschied sich also für das Rennrad und gegen das Studium. Das verschaffte ihm zusätzliche Luft, die Extraportion Sauerstoff, um in seinem letzten Jahr als passionierter Amateur mehr von vorn zu fahren. Er konnte sich mehr zeigen und schaffte schließlich den Durchbruch. Rudy fuhr zusammen mit Männern wie Fons De Wolf aus Willebroek, André Van Den Steen aus Wetteren (der bereits mit dreiundzwanzig Jahren verstarb) und Paul De Keyser aus Aarschot.

Als Jugendlicher und Nicht-Profi gewann Rudy insgesamt 47 Rennen:

7 unter den »Frischlingen« (drei im Jahr 1970 und vier im Jahr 1971)

16 bei den Junioren (zwei im Jahr 1971, zehn im Jahr 1972 und vier im Jahr 1973)

24 als Amateur (zwei im Jahr 1973, zehn im Jahr 1974 und zwölf im Jahr 1975)

Keine schlechte Ausbeute, wenn man bedenkt, dass es für Rudy nur eine Freizeitbeschäftigung war.

»Nachdem ich das Studium abgebrochen hatte, arbeitete ich eine Zeit lang bei meinem Vater und einen Monat lang in der Bank meiner Schwester, aber das war nichts für mich. Und als Radprofi konnte man damals so viel verdienen wie ein normaler Angestellter. Wenn man wie ich fast auf dem Sattel eines Rennrades geboren wurde, fiel die Wahl entsprechend leicht. Ich habe es nie bereut, mich für eine Profikarriere entschieden zu haben.