Cover

Gudrun Perko

Social Justice und
Radical Diversity

Veränderungs- und Handlungsstrategien

Die Autorin

Gudrun Perko, Prof. Dr. Philosophin, Mediatorin und Wissenschaftscoach; Professorin an der FH Potsdam zu Sozialwissenschaften mit den Schwerpunkten Gender, Diversity und Mediation (Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften); Begründerin und Ausbilderin für den mit Leah Carola Czollek und Heike Weinbach gemeinsam entwickelten und mit Max Czollek und Corinne Kaszner weiterentwickelten Trainingsansatz „Social Justice und Diversity“ (www.social-justice.eu).

Mit Dank an

Leah Carola Czollek
Corinne Kaszner
Max Czollek



Mit Leah Carola Czollek, Leiterin unseres Institutes „Social Justice und Radical Diversity“ entwickelte ich, gemeinsam mit Heike Weinbach, das Diskriminierungskritische Bildungskonzept. Daraus entstand die Erstauflage des Buches Praxishandbuch „Social Justice und Diversity“. Theorien, Training, Methoden, Übungen (2012). Herzlichen Dank gebührt ihr nicht zuletzt für die vielen Diskussionen zu den einzelnen Themen und das Lektorat dieses Buches.


Die Erneuerung des Konzeptes entstand aus einer über siebenjährigen Weiterentwicklung und in sehr intensiven Diskussionen und Schreibklausuren. Hier entwickelten Leah Carola Czollek, Corinne Kaszner, Max Czollek und ich neue Theorien, Module und Übungen. Das mündete in die vollständig und stark überarbeitete Neuauflage Praxishandbuch Social Justice und Diversity. Theorien, Training, Methoden, Übungen (2019).

Gewidmet

meinem Neffen, Felix,

meiner Nichte, Laura, und Zoe,
meiner hinzugekommenen Nichte.

Inhalt

Vorwort

1. Wir reisen gerne Verbündet-Sein und Positionierung in der Nicht-Positionierung

2. Sagbarkeitserweiterung und Sprach/HandlungenAffirmative Sprache

3. Empörung macht sich breit Desintegration

4. Heimat – ein Gespenst geht um Pluralisierung

5. Zeit zum kollektiven HandelnBündnisse

Lesbians and Gays Support the Miners

Juden_Jüdinnen gegen die Apartheit

Versammlung gegen Antisemitismus

Aufstehen gegen Rassismus

Bündnisse in Vereinen, Projekten und Initiativen

6. Polarisierende Identitätslogik und pluralisierende Magmalogik

7. Ein Manifest zur konkreten Utopie Radical Diversity(Gemeinsam mit Leah Carola Czollek)

Literatur und Quellen

Verwendete Internetquellen

Über die Autorin und Co-Autorin

Vorwort

Radical Diversity bezeichnet eine konkrete Utopie, in der Social Justice (als Anerkennungs-, Verteilungs-, Befähigungs- und Verwirklichungsgerechtigkeit) gesellschaftlich realisiert wäre. Gleichzeitig beschreiben wir im Diskriminierungskritischen Bildungskonzept „Social Justice und Diversity“ 1 mit Radical Diversity eine kritische Praxis, der es um die Veränderung homogener öffentlich-politischer Räume, Institutionen, kultureller Praxen und Diskurse hin zu einem Mainstream der radikalen Verschiedenheit und Vielfalt von Menschen geht. Im Blick haben wir dabei eine inklusive, partizipative und eine für alle Menschen in ihrer radikalen Verschiedenheit offene und plurale Gesellschaft. Um ein solches Radical Diversity zu erreichen, schlagen wir bestimmte Handlungs- und Veränderungsstrategien vor, mit denen bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse verändert und damit auch Strukturelle Diskriminierung beenden werden sollen. Genau daran knüpfe ich bei meinen Überlegungen an.

Dabei ziehe ich einige dieser Veränderungs- und Handlungsstrategien als Ausgangspunkt heran, skizziere sie in den einzelnen Abschnitten und bespreche sie in Bezug auf ausgewählte gegenwärtige Diskurse in philosophisch-essayistischer und gesellschaftskritischer Weise. Leser_innen, die die detaillierten Erklärungen jener Strategien sowie Begriffe wie Strukturelle Diskriminierung, Macht- und Herrschaftsverhältnisse etc. im Detail kennen und verstehen möchten, verweise ich hier gerne auf das erwähnte „Praxishandbuch Social Justice und Diversity. Theorien, Training, Methoden, Übungen“ selbst. In meinen einzelnen Texten greife ich auf diese Ausführungen zurück, wiederhole sie aber nicht umfänglich. Zugegeben, das wäre auch für mich etwas langweilig.

Den Anfang setzte ich mit den Veränderungs- und Handlungsstrategien des Verbündet-Seins und der Positionierung in der Nicht-Positionierung: Ersteres ist ein spezifisches Solidaritätskonzept und eine Art der politischen Freundschaft, bei der die Anliegen der Anderen zu den je eigenen Anliegen werden; zweiteres entzieht sich eindeutigen Positionierungen im Hinblick auf jene Diversitätskategorien, die Vorteile beispielsweise bei Bewerbungen verschaffen und intendiert, Haltungen und Handlungen zu irritieren. Danach nehme ich – gegen eine diskriminierende Sprache – die Strategie der anerkennenden Sprache in den Blick, die zwar alleine noch keine gerechte Gesellschaft herbeizuführen imstande ist, die aber doch dazu beiträgt, insofern Sprache immer auch eine Art Handlung ist (deshalb spreche ich von Sprach/Handlungen). In einem weiteren Schritt greife ich die Strategie der Desintegration auf: Sie verweigert die Annahme von Fremdzuschreibungen und stellt damit die Selbstbestimmung eigener Seinsweisen und Handlungsräume in den Mittelpunkt. Zugunsten des Verlassens der normativen, also der dichotomen und polarisierenden Logik, bringe ich ferner die Strategie der Pluralisierung ins Spiel, eine Strategie, die sich explizit gegen ein polarisierendes Denken und seinen Auswirkungen richtet, und die Vielfalt und Vielfältigkeit im Blick hat. Schließlich fokussiere ich die Strategie der Bündnisse mit jenen Menschen, die von Struktureller Diskriminierung (als Ineinanderverwobenheit von individuellen, institutionellen und kulturellen diskriminierenden Praxen) getroffen werden, aber auch mit jenen, die nicht davon getroffen sind, sich aber dennoch dagegen verwehren.

Mit diesen Strategien nehme ich insgesamt eine plurale Gesellschaft in den Blick, in der Menschen in ihrer radikalen Verschiedenheit und Gleichheit leben können und in der Gerechtigkeit im Sinne von Social Justice (Anerkennungs-, Verteilungs-, Befähigungs- und Verwirklichungsgerechtigkeit) intendiert ist. Das führt mich zum Radical Diversity als angestrebte konkrete Gesellschaftsutopie, wie ich es weiter oben beschrieben habe. Und seien wir uns gewiss: Kein Gott, keine übergeordnete Instanz – das haben wir Menschen in der Hand.

Aus der Perspektive dieser Veränderungs- und Handlungsstrategien betrachte ich also Diskurse und Geschehnisse, die nicht selten den geruhsamen Schlaf verderben, den Appetit rauben, vielleicht sogar den Hals einschnüren – jedenfalls wütend werden lassen:2 Meine Besprechung betrifft etwa ignorante Haltungen, wenn in bestimmten Ländern Städte zu LGBTQ-freien Zonen erklärt werden und die hierzulande mangelnde Unterstützung für Menschen, denen das Reisen in bestimmten Ländern nicht mehr möglich ist (siehe „Wir reisen gerne: Verbündet-Sein und Positionierung in der Nicht-Positionierung“). Sie betrifft die Verrohung der Sprache und die Sagbarkeitserweiterung im Hinblick auf diskriminierende Begriffe, die salonfähig geworden sind, oder Begriffe, die durch eine negative Umkehrung verunglimpft werden wie etwa „Gutmensch“ oder „Social Warriors“. Es geht mir zudem um die Inszenierung eines angeblichen „Genderwahns“ und darum, wie simpel dieses Konstrukt ist. Meine Konfrontation bezieht sich ferner auf Haltungen und Handlungen von Menschen, deren „Sorge“ sie dazu antreibt, ihrem Unmut am falschen Platz kundzutun und darum, dass jene „Sorge“ dies nicht entschuldigt. (Siehe „Sagbarkeitserweiterung und Sprach/Handlungen: Affirmative Sprache“.) Von Empörung werde ich sprechen und davon, wie sie sich breit macht als inadäquate Reaktion auf Anschläge und Attentate (siehe „Empörung macht sich breit: Desintegration“). Diskurse um Heimat greife ich auf und stelle dar, dass sich Menschen schon an Vieles gewöhnt haben, und frage schließlich, wie sie zu pluralisieren ist (siehe „Heimat – ein Gespenst geht um: Pluralisierung). Es geht mir ferner um Möglichkeiten und Verunmöglichungen von Bündnissen zwischen Gruppen und Communities, deren Mitglieder selbst Diskriminierung erfahren und jenen, die gegen Diskriminierung angehen (siehe „Zeit zum kollektiven Handeln: Bündnisse“). In den aufgegriffenen Diskursen zeigt sich immer wieder das polarisierende Denken – wie Frau/Mann, schwarz/weiß und vieles mehr –, simple Konstruktionen und Positionen, die dennoch oder gerade deshalb ihre Wirkmächtigkeit entfalten. Dieses polarisierende Denken ist ein identitätslogisches Denken, das identitätspolitische Auswirkungen hat. Das klingt sperrig, ich weiss. Deshalb biete ich mit dem Beitrag zur polarisierenden Identitätslogik und pluralisierenden Magmalogik die Möglichkeit, einen Blick darauf zu werfen, was mit identitätslogisch und identitätspolitisch konkret gemeint ist. Eine Zuspitzung erfährt die Identitätslogik zwar in festgezurrten Ideologien (beispielsweise in rechtsextremistischen Ideologien), doch sind insgesamt unser Denken und unsere Sprache grundlegend von ihr geprägt. Demgegenüber stelle ich die Magmalogik als eine vielwertige Logik vor, die ihnen ebenfalls inne liegt, und die gegen polarisierendes Denken ein pluralistisches Denken ermöglicht (siehe „Polarisierende Identitätslogik und pluralisierende Magmalogik“). Hier wird es lebendig. Einen Ausblick bietet in dem Buch ein Manifest. Dafür konnte ich Leah Carola Czollek gewinnen, wobei es uns darum geht, gemeinsam die Frage nach Bündnissen nochmals aufzugreifen (siehe „Ein Manifest zur konkreten Utopie Radical Diversity). Manifest – das klingt nach Polarisierung. Keine Sorge, es basiert auf dem Lateinischen manifestus, was so viel bedeutet wie „handgreiflich gemacht“ und wir bleiben bei der Pluralisierung.

Themenbezogene Haikus als spezielle Gedichtformen und Gedankensplitter in Form von Prosa von Leah Carola Czollek runden die einzelnen Texte in meinem Buch ab und bieten eine nochmals andere Form für mögliche Nachdenklichkeiten.

Würden wir in anderen Zeiten leben, so würden wir über die einzelnen Themen ins Gespräch kommen können, diskutieren, dialogisieren und gemeinsam pluralisieren. Mein Gegenüber würde gleicher, ähnlicher oder anderer Meinung sein, gleiche, ähnliche oder andere Perspektiven haben. In Zeiten der zunehmenden Polarisierung, in denen alte Traditionen in neuen Gewändern erwachen, in denen das Denken einem Entweder-Oder und Richtig-Falsch geopfert wird, in denen kaum mehr hin und her gedacht, miteinander gestritten, diskutiert, dialogisiert, abgewogen und überlegt wird, sondern festgezurrte, extremistische Ideologien die Köpfe vernebeln, ist das nicht mehr so einfach. Mancherorts schier unmöglich. Wollen wir es dabei belassen?

In dem Buch fokussiere ich das, was wir als Motto des Institutes „Social Justice und Radical Diversity“ folgenderweise ausdrücken: „Es gibt keine Orte und keine Zeiten, die uns zwingen (dürfen), die tiefste Anerkennung der radikalen Verschiedenheit von Menschen (Diversity) und der Bejahung einer demokratisch-pluralen Gesellschaft aufzugeben. Und es gibt keine Orte und keine Zeiten, die uns zwingen (dürfen), das eigenständig-kritische Denken aufzugeben. Die Unverletzlichkeit und Würde eines jeden Menschen sind der Referenzrahmen.“3

Alles hat seine Zeit. Jetzt ist es Zeit zum Denken und zum Handeln.

Mit dieser Publikation spreche ich alle an, die sich in verschiedenen Kontexten gegen menschenverachtende und diskriminierende Praxen wenden: sie rede ich mit einem nummerischen wir – klein geschrieben – an. Ein „Wir“ – groß und in Anführungszeichen geschrieben – hingegen drückt in meinen Texten immer ein identitätspolitisches und identitätslogisches Gebilde aus. Ferner spreche ich jene an, die keine festgezurrte Ideologie, keinen Extremismus in sich tragen, aber doch das eine oder andere Mal fraglos mittun: Mit einer gewissen Distanz spreche ich sie in dem Buch mit einem Sie an. Möglicherweise entstehen bei ihnen Zweifel und/oder Neugierde, über das eine oder andere Thema (selbst-)kritisch nachzudenken.

In welcher Anrede Sie sich/Du Dich finden/findest, vermag ich nicht zu bestimmen. Das ist Ihre/Eure Entscheidung.

Anmerkung:

Dieses Buch habe ich vor dem Attentat in Hanau, dem Drama an der griechisch-türkischen Grenze und der Corona-Pandemie geschrieben. Jetzt gibt es Weiteres zu tun.

1. Wir reisen gerne

Verbündet-Sein und Positionierung in der Nicht-Positionierung

Im Konzept des Verbündet-Seins, in dem die Anliegen der Anderen zu meinen Anliegen werden, eine Art politischer Freundschaft, ist der Blick jener, die in bestimmten Bereichen privilegiert sind, unterstützend auf jene Menschen gerichtet, die Diskriminierung erleben. Bei der Veränderungs- und Handlungsstrategie des Verbündet-Seins geht es um Sprach-/Handlungen zur Unterstützung einzelner oder sozialer Gruppen und um die Eröffnung von Handlungsräumen für jene, die von Struktureller Diskriminierung getroffen sind: Verbündet-Sein im Sinne von Social Justice und Diversity intendiert die Suche nach Handlungsoptionen und möglichen Strategien, Strukturelle Diskriminierung zu unterbrechen und diejenigen Menschen zu unterstützen, die von Diskriminierung getroffen sind. Ein Ziel ist dabei nicht zuletzt die Wahrnehmbarmachung der radikalen Verschiedenheit von Menschen. Verbündet-Sein setzt die Reflexion eigener Privilegien, ein kritisches Bewusstsein für eigene Gruppenzugehörigkeiten und Identitäten sowie ein Wissen um die strukturellen Dimensionen von Diskriminierungsformen voraus. Sprechend und handelnd übernehmen Verbündete Verantwortung dafür, Diskriminierungsstrukturen und -mechanismen zu thematisieren und zu unterbrechen und öffnen dadurch Räume, in denen die je diskriminierten Perspektiven (wie queere, jüdische, migrantische oder Arbeiter_innen-Perspektiven) sichtbar werden können. Die Positionierung in der Nicht-Positionierung ist eine der Veränderungs- und Handlungsstrategien, eine irritierende Strategie von Sprach/Handlungen, die auf das Konzept Verbündet-Sein basiert. Seine Intention liegt darin, sich identitätspolitischen Zu- und Festschreibungen radikal zu entziehen. Im Konzept selbst geht es dabei beispielsweise um Fragen, wer über welche Diskriminierungsform sprechen darf, wer dagegen handeln darf, wer Strategien anwenden darf, um Diskriminierungsverhältnisse, eingebettet in Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu verändern und aufzulösen. Die „Positionierung in der Nicht-Positionierung“ bedeutet dabei zweierlei: sich nicht mit identitätslogischen Kategorien zu positionieren und/oder absichtlich zu irritieren.4

Sich nicht mit identitätslogischen5 Kategorien zu positionieren bedeutet, sich davon zu verabschieden, ich könne nur als Frau gegen Diskriminierung von Frauen aktiv eintreten, oder nur als Jüdin gegen Antisemitismus. Im Gegenteil dazu spreche und handle ich nicht gegen Strukturelle Diskriminierung, weil ich „Frau“, Jüdin“ etc. bin. Ich spreche und handle gegen Strukturelle Diskriminierung, weil ich gegen jede Form von Diskriminierung bin und weil meine Intention darin liegt, jede Form von Diskriminierung abzuschaffen. Das meint nicht, paternalistisch für Menschen zu sprechen als könne die Situation all jener nachempfunden werden, die von Diskriminierung getroffen sind. Es meint vielmehr, sich jeweils gegen Strukturelle Diskriminierung jeder Form zu positionieren (siehe „Zeit zum Handeln: Bündnisse“). Wir wissen es: Eine identitätspolitische Positionierung selbst lässt noch nicht auf die ethisch-politische Perspektive der jeweils Sprechenden und Handelnden schließen. So kann beispielsweise auch eine Person, deren identitätspolitische Positionierung darin liegt, Lesbe zu sein bei der Diskriminierung gegen Lesben mitwirken. Denken wir an bestimmte Mitglieder der AfD.

Mit der „Positionierung in der Nicht-Positionierung“ als politische Strategie gilt es auch, absichtlich zu irritieren. Dinge bleiben dort in der Schwebe, wo Menschen durch Fremdzuschreibungen und stereotypisierend-normative Vorgaben in ein Korsett gezwungen werden. Damit werden Komplexität, Vielperspektivität und neue Relationen hergestellt. Das ermöglicht nicht zuletzt ein Verbündet-Sein, in dem die Anliegen der Anderen zu meinen Anliegen werden, eine Art politischer Freundschaft, wo der Blick jener, die in bestimmten Bereichen privilegiert sind, unterstützend auf jene Menschen gerichtet ist, die Diskriminierung erleben. So positionieren Sie sich in der Nicht-Positionierung, wenn Sie versuchen eine Bewerbung in einer heteronormativ orientierten Institution beispielsweise – entgegen identitätspolitisch zumeist gewollter Form – damit anzufangen: „Ich bin nicht verheiratet, habe keine Kinder, bin Jüdin und lesbisch“. In anderen Kontexten, beispielsweise in jenen, wo es antisemitische BDS Befürworter_innen gibt (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel) könnten Sie sich als Jüdin positionieren, die Israel liebt. Diese irritierende Strategie gegen identitätspolitische Eindeutigkeiten und Normativitäten geht nicht spurlos an Ihnen vorbei, das versteht sich von selbst. Sie ernten möglicherweise den Vorwurf des Uneindeutig-Seins, der Beliebigkeit und nicht zuletzt des nicht-authentisch Seins oder des paternalistisch-Seins. Das müssten Sie aushalten.

Falls ich also keine Jüdin und nicht lesbisch bin, wäre ich nicht authentisch, würde ich mich solcherart vorstellen? Im irritierenden Rütteln aber an Macht- und Herrschaftsverhältnisse, in denen gewöhnlicherweise erwartete und gut einfügbare Vorstellungen Platz haben, wäre ich mit meiner Vorstellung doch echt und zuverlässig und befände mich selbst als Original.6 Ich gehe dagegen an und genau so bin ich Ich, also authentisch. Wer könnte mir das absprechen? Abgesehen von unserem jeweiligen Recht auf eine eigene Bestimmung darüber, wann wir jeweils „authentisch“ sind, könnte Folgendes eintreten: Es wäre möglich, die Arbeitsstelle nicht zu bekomme – je nachdem, an welchen Institutionen wir uns in der Bundesrepublik bewerben und darüber hinaus an welchen Orten. Das ist das Risiko.

Wussten Sie beispielsweise, dass sich in Polen 80 Städte 2019 zu „LGBTQ-freie Zonen“ erklärt haben?7 Da haben wir nichts zu lachen.

Stellen wir uns einen Augenblick vor, dass sich Funktionsträger_innen politischer Parteien verbündet zeigen, sich in der Nicht-Positionierung positionieren und sich den „LGBTQ-freie Zonen“ vehement entgegenstellen. Beispielsweise die Bundeskanzlerin Angela Merkel oder die Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer als Lesbe oder Trans*Person, der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als Schwuler oder Trans*Person. Dieser Strategie könnten sich die österreichischen Funktionsträger_innen anschließen – allen voran der Bundeskanzler Sebastian Kurz oder der Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Ob das Auswirkungen hätte? Das können wir nicht wissen, doch wäre es einen Versuch wert, indem sie verkünden, dass sie als so Positionierte trotz ihrer jeweiligen politischen Funktion nicht nach Polen reisen könnten. Stattdessen, Sie wissen es, stimmte Angela Merkel im Bundestag bei der Abstimmung für die „Ehe für alle“ mit „Nein“, die in Deutschland seit dem 1. Oktober 2017 möglich ist, Annegret Kramp-Karrenbauer äußerte sich skeptisch gegen sie und nutzt 2019 den Karneval, um sich über Intergeschlechtliche und Trans*Gender Personen lustig zu machen – um nur wenige Beispiele zu nennen.8 Pädagogisch gesprochen, bedarf die Ausübung der Strategie der „Positionierung in der Nicht-Positionierung“ reflexive Fähigkeiten hin zu Perspektivenvielfalt und Perspektivenerweiterung, indem andere Perspektiven eingenommen und eigene erweitert werden. Politisch gesprochen könnte es auch ein einfaches Kalkül sein, eine reine Kopfsache, die strategisch praktiziert wird. Nicht immer muss es eine Herzensangelegenheit sein. Doch machen wir uns nichts vor: hier haben wir nichts zu erwarten.

Information: Die International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA) bietet mit ihrer neuen Weltkarte 2019 einen Überblick zur weltweiten gesetzlichen Lage; der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) hat die Weltkarte ins Deutsche übersetzt.“9

Es sieht nicht gut aus in dieser Welt.

In einer demokratischen Gesellschaft aufgewachsen, lernte ich Reiseeinschränkungen erst spät kennen. Sie ergaben und ergeben sich ohne mein Mittun. Sie stellen sich gegen das, was zum grundlegenden Menschenrecht gehört, nämlich das Recht, Rechte zu haben10 und treten die Bedeutung von Freiheit – als Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Willens-, Wahl- und Handlungsfreiheit etc. – mit den Füßen. Hier zeigen sich Intersektionalität, also die Verschränkung für Menschen, die von unterschiedlichster und nicht selten gleichzeitiger Diskriminierung getroffen sind. Zwar konnte ich keine Weltkarte zu Antisemitismus oder Rassismus finden, doch verdeutlichen Studien zur Genüge, wohin ich als Jüdin oder als Schwarze Frau nicht reisen würde.11 Allein schon als heterosexuelle Frau wären so manche Länder nicht anzuraten. Geld ist nicht immer die Welt.

Wir bleiben also im jeweiligen hierzulande, wo wir auch nicht ganz sicher sind und reisen ins jeweilige dortzulande, wo wir auch nicht ganz sicher sind. So schlimm ist das auch wieder nicht, wer muss schon Urlaub machen und wer muss schon jeden Job annehmen, der weltweit Reisen erfordert. Und schließlich spreche ich hier weder von Flucht noch von Migration. Doch wäre es auch hinsichtlich jener Reisemöglichkeiten schon erquicklich, wenn sich Merkel und Co die Strategie des Verbündet-Seins und der „Positionierung in der Nicht-Positionierung“ – nebst allen anderen ihrer Möglichkeiten – zu Kopf und/oder zu Herzen nehmen würden. Zu ihnen gesellen könnte sich noch eine Menge anderer Leute. Stellen Sie sich etwa vor, wie es wäre, wenn sich (National-)Fußballmannschaften dezidiert verweigern würden, in Ländern zu reisen und zu spielen, die menschenverachtende und diskriminierende Praxen institutionalisiert haben. Das wäre schon mal etwas.