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Über dieses Buch:

Seit dem Tod ihrer Eltern ist die schöne Königstochter Regeane eine Gefangene ihres intriganten Onkels. Nur mit Mühe gelingt es ihr, das Geheimnis ihres Blutes vor ihm zu bewahren: Jede Nacht, wenn der Mond am Himmel steht, verwandelt sie sich in eine silberne Wölfin. Als Regeane erfährt, dass sie gegen ihren Willen mit einem finsteren Lord verheiratet werden soll, ist sie fest entschlossen, gegen ihr Schicksal anzukämpfen – denn um Maeniel ranken sich gefährliche Gerüchte. Ist sie erst einmal in seiner Gewalt, wird sie nie mehr entkommen können … Regeanes letzte Hoffnung ruht auf einem geheimnisvollen Fremden, der wie sie ein Gestaltwandler zu sein scheint. Aber wird er wirklich ihre Rettung sein – oder ihr Untergang?

»Ein Epos von Weltklasse.« Kirkus Reviews

»Eine kühne Stimme in der ersten Reihe großer Frauenromane.« Bestsellerautorin Anne Rice

»Eine unglaublich lebendig erzählte Geschichte.« Bestsellerautorin Marion Zimmer Bradley

Über die Autorin:

Alice Borchardt (1939 – 2007) war eine amerikanische Schriftstellerin, die mit Vorliebe historische und fantastische Romane sowie Horror schrieb. Bereits während ihrer Kindheit in New Orleans liebte sie es, sich Geschichten auszudenken. Doch erst, nachdem sie über 30 Jahre als Krankenpflegerin gearbeitet hatte, entschied sie, dass es an der Zeit war, ihren ersten Roman zu veröffentlichen – und in die Fußstapfen ihrer berühmten Schwester zu treten, der Bestsellerautorin Anne Rice, die mit ihren »Chroniken der Vampire« Weltruhm erlangte.

Alice Borchardt veröffentlichte bei dotbooks ihre »Moon«-Trilogie mit den Romanen:
»Silver Moon – Das Herz der Nacht«
»Midnight Moon – Die Geliebte der Nacht«
»Shadow Moon – In den Armen der Nacht«

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eBook-Neuausgabe Juli 2020

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1998 unter dem Originaltitel »The Silverwolf« bei Del Rey/The Ballantine Publishing Group, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2000 unter dem Titel »Die Silberwölfin« im Wilhelm Goldmann Verlag.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1998 by Alice Borchardt

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2000 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

This translation is published by arrangement with Del Rey, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Bolko Olha / OuterSpace / Elena Schweitzer / Ssokolov

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (tw)

ISBN 978-3-96655-318-6

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Alice Borchardt

Silver Moon – Das Herz der Nacht

Roman

Aus dem Amerikanischen von Michaela Link

dotbooks.

FÜR MEINEN GELIEBTEN EHEMANN,
CLIFFORD BORCHARDT

»Siehst du, wie die Glühwürmchen dort tanzen?
Genau das habe ich mir gewünscht: im Mondlicht
zu tanzen, zu den Sternen zu singen, direkt zum
Mond hinaufzuspringen.«
Und mit dir habe ich es getan.

Kapitel 1

Die Sonne ging unter. Der feurige Kreis legte sich über die mit einer Laubenverzierung gekrönten Säulen einer Tempelruine. Die Säulen schnitten den hell strahlenden Ball in dünne Scheiben roten Lichts. Beinahe Abend, dachte das Mädchen und erschauderte in der kühlen Herbstluft, die durch die Fensteröffnung strich.

Das Fenster war unverglast, aber mit Gitterstäben versehen – mit schweren Gitterstäben. Die sowohl senkrecht wie waagrecht verlaufenden Stäbe waren in die Steinmauern des winzigen Raums eingelassen.

Sie wusste, dass sie das Fenster schließen konnte. Sie brauchte nur durch die Gitterstäbe hindurchzugreifen, die schweren Läden zuzuziehen und mit dem eisernen Riegel zu versperren. Aber sie schob diesen Gedanken mit einer Art blinder Sturheit beiseite. Der Anblick der Freiheit, selbst wenn es sich um eine unerreichbare Freiheit handelte, war zu kostbar, um ihn aufzugeben.

Noch nicht, sagte sie sich, nur noch ein kleines Weilchen. Nicht jetzt schon.

Die Luft, die ihre Arme mit einer Gänsehaut überzogen hatte, stieg ihr süß in die Nase. O nein, mehr als süß. Sie war ein sprechendes Wesen. Jedes feine Vibrieren eines Duftes, jede noch so geringfügige Veränderung des Luftstroms, jede flüchtige Regung dort draußen weckte in den tiefsten Winkeln ihres Seins ein lebendiges Bild.

Irgendwo blühte ein Büschel Thymian. Die winzigen blauen Blüten erfüllten die kühle Abendluft mit ihrem Aroma. Ihr zarter Duft war durchmischt mit dem schweren Geruch von feuchtem Marmor und Granit. All diese Düfte verwoben sich mit vielen anderen zu einem üppigen Gobelin, gewoben von den Blumen und Pflanzen, die die Ruinen der Paläste und Tempel des alten Imperiums überzogen.

Der gewaltige, rastlose Geist dieses größten aller Reiche schien endlich unter der weichen Hand der großen, grünen Mutter selbst Ruhe gefunden zu haben.

Regeane wusste nicht, was sie von der einst so stolzen Herrin der Welt erwartet hatte, als sie nach Rom gekommen war. Gewiss nicht das, was sie dort vorgefunden hatte.

Die Einheimischen, Nachfahren einer Rasse von Eroberern, lebten wie Ratten, die die Ruinen eines verlassenen Palastes mit ihrem Gezänk und ihrem Unrat füllten. Ungeachtet der Spuren einstiger Pracht, die sie umgaben, kämpften sie gnadenlos um die letzten Reste verbliebenen Reichtums. Und nur wenig war noch übrig von dem einst gewaltigen Strom von Gold, der in die Ewige Stadt floss. Das Gold, das noch zu finden war, glitzerte in den Händen päpstlicher Beamter und auf den Altären der vielen Kirchen.

Regeanes Mutter versetzte die wenigen Juwelen, die sie noch besaß, um – wie sie es sah – die Seele ihrer Tochter zu retten. Das Geld genügte für die notwendigen Bestechungen, um eine päpstliche Audienz zu erhalten und darüber hinaus den nicht minder teuren päpstlichen Segen zu erwerben.

Regeane war mit von Angstschweiß triefenden Gliedern der Ehrfurcht gebietenden Persönlichkeit unter die Augen getreten. Wenn ihre kränkliche Mutter in Gegenwart des obersten Prälaten der Kirche ein falsches Wort sagte, war es durchaus möglich, dass man sie als Hexe verbrannte oder steinigte. Aber als sie sich dem Pontifex maximus näherte, wurde ihr klar, wie töricht ihre Befürchtungen gewesen waren.

Der Mann vor ihr war ein Wrack und kurz davor, von Alter und Gram endgültig besiegt zu werden. Sie bezweifelte, dass er noch vieles von dem, was man zu ihm sagte, verstand. Weinend erflehte ihre Mutter die Fürsprache von Gottes oberstem Stellvertreter auf Erden beim Allmächtigen selbst. Während die allzeit pflichtbewusste Regeane niederkniete, den seidenen Pantoffel küsste und spürte, wie sich die verwelkten Hände auf ihr Haar drückten, fing sie einen schwachen Duft auf, der sich von den den Raum beherrschenden, schweren Gerüchen nach Weihrauch und griechischem Parfüm unterschied: Es war der schale, trockene Geruch von alterndem Fleisch und menschlichem Verfall.

Bei Gott, dieser Geruch war überwältigend. Er wird bald sterben, dachte sie. Er wird Gott Mutters Anliegen schon in ganz kurzer Zeit persönlich vortragen können. Sie wusste, dass dieser Segen, genauso wie all die anderen Segnungen, für die ihre Mutter, Gisela, so weit gereist war und für die sie so viel von ihrem Reichtum vergeudet hatte, nichts nutzen würde.

Dies war das Ende. Regeane wusste es. Sie hatte Angst. Wenn nicht einmal der Papst selbst diesen seltsamen Fluch von ihr nehmen und es ihr ermöglichen konnte, als Frau zu leben, an welche andere irdische Macht konnte sie sich dann noch wenden? Oder um genauer zu sein, an welche Macht konnte ihre Mutter sich noch wenden?

Gisela verwelkte genauso schnell wie der allzu menschliche Mann auf dem Stuhl Petri. Obwohl sie noch vergleichsweise jung war, zehrten die vielen fruchtlosen Reisen an ihr, die sie mit Regeane unternommen hatte, und ein geheimer Kummer, der ihre Gedanken und ihr Herz mit bodenlosem Gram erfüllte, stahl ihr ihre Kraft.

Regeane log. Ihre Mutter glaubte. Und zum ersten Mal seit vielen Jahren spürte Regeane, dass die kleine, zierliche Frau, die so weit gereist war und die so viele Lasten getragen hatte, Frieden fand. Regeanes Lüge war Gisela eine Stütze bis zum Ende.

Drei Tage nach der päpstlichen Audienz hatte sie ihre Mutter wecken wollen und festgestellt, dass Gisela nie wieder erwachen würde. Jedenfalls nicht in dieser Welt.

Regeane war allein.

Mit gierigen Augen sah sie zu, wie die Sonne zu einem Halbkreis schwand, zu einem Schimmern verblasste, das sich über die hohen Zypressen der Via Appia legte und schließlich dem tiefblauen Zwielicht des Herbstes Platz machte. Dann und erst dann wandte sie sich von dem Fenster ab, hüllte sich in einen alten Wollmantel und kehrte zu ihrer Pritsche zurück. Mit Ausnahme des niedrigen Betts und eines kleinen, zugedeckten braunen Terrakottaeimers in der Ecke war der Raum vollkommen kahl.

Regeane setzte sich auf ihr Bett, die Schulter gegen die steinerne Mauer gedrückt, die Beine herabbaumelnd, den Kopf in den Nacken geworfen, die Augen geschlossen. Schweigend wartete sie auf den Aufgang des Mondes. Die silberne Scheibe musste sich gerade in diesem Augenblick über den sieben Hügeln erheben. Bald, sehr bald schon, würde ihre Reise über den Himmel sie zu Regeanes Fenster bringen, wo sie einen Teich silbernen Lichtes auf den Boden werfen würde. Ohne die schwarzen Schatten der Gitterstäbe auf dem Boden zu beachten, würde sie aus diesem Teich trinken können. Dann wäre es ihr noch einmal gestattet, die Luft der Freiheit zu atmen, in dieser Luft zu triumphieren.

Die Tür, die in den Vorraum führte, fiel krachend ins Schloss. Verdammt. Das Mädchen auf dem Bett suchte im Geiste fieberhaft nach Flüchen. Nicht ... fluchen. Auf Grund ihrer Jugend war es ihr nie gestattet gewesen, laut zu fluchen, aber sie konnte die Worte denken. Was sie auch häufig tat. Und mit welcher Inbrunst sie es tat, wenn diese beiden sich im selben Raum aufhielten. Es gab noch schlimmere Dinge als Einsamkeit. Alles in allem zog Regeane Schweigen und Leere alle Mal der Gegenwart ihres Onkels Gundabald oder seines Sohnes Hugo vor.

»Heute Morgen habe ich schon wieder Blut gepinkelt«, jammerte Hugo mit hoher Stimme. »Sind denn alle Huren in dieser Stadt verseucht?«

Gundabald lachte schallend. »Jedenfalls scheinen alle verseucht zu sein, die du dir aussuchst. Wie oft habe ich es dir schon gesagt? Zahl ein bisschen mehr. Beschaff dir etwas Junges, Sauberes. Oder zumindest etwas Junges, damit die ganze Juckerei ein paar Tage später sich wenigstens lohnt. Das letzte Frauenzimmer, das du dir gekauft hast, war so alt, dass sie ihrem Gewerbe im Sternenlicht nachgehen musste. Was du an der Möse sparst, geht hinterher an Medikamenten für deinen Schwanz drauf.«

»Ein wahres Wort«, sagte Hugo gereizt. »Du scheinst es immer besser zu treffen als ich.«

Gundabald seufzte. »Ich bin es Leid, dir Vernunft zu predigen. Beim nächsten Mal sei wenigstens so gescheit, dir ein Fünkchen Zurückhaltung aufzuerlegen und sieh sie dir erst mal bei gutem Licht an.«

»Allmächtiger, wie kalt es hier drin ist«, sagte Hugo wütend. Eine Sekunde später hörte Regeane ihn durchs Treppenhaus brüllen, der Wirt solle einen Kohleofen herbeibringen.

»Es ist sinnlos, mein Junge«, bemerkte Gundabald. »Sie hat schon wieder das Fenster offen gelassen.«

»Ich begreife nicht, wie du das aushältst«, murrte Hugo. »Ich bekomme immer eine Gänsehaut, wenn ich sie sehe.«

Gundabald lachte abermals. »Wir haben nichts zu befürchten. Diese Bretter da sind einen Zoll dick. Da kommt sie nicht durch.«

»Ist sie schon jemals ... rausgekommen?«, fragte Hugo mit furchtsamer Stimme.

»Oh, ich glaube, ein- oder zweimal hat sie es geschafft, als sie noch jünger war. Viel jünger. Bevor ich die Angelegenheit in die Hand genommen habe. Gisela war zu weich. Nichts gegen meine Schwester, sie war eine gute Frau – hat immer getan, was man ihr sagte –, aber schwach, mein Junge, schwach. Denk nur, wie sie um ihren ersten Mann geflennt hat, als die Ehe so abrupt ... beendet wurde.«

»Sie hat sich von ihm scheiden lassen?«, fragte Hugo.

»Äh, ja.« Gundabalds Antwort klang ein wenig beklommen. »Natürlich, sie hat sich von ihm scheiden lassen, weil wir es ihr befohlen hatten. Sie hatte keine Wahl in dieser Sache. Schon damals konnte jeder erkennen, dass Karls Mutter bei Hofe immer mächtiger wurde. Gisela hatte viele wohlhabende Bewerber. Ihre zweite Ehe war viel besser als die erste und hat uns alle reich gemacht.«

»Und jetzt ist alles weg«, meinte Hugo verbittert. »Ihr beide, du und Gisela, habt es geschafft, dass wir bestenfalls noch eine jämmerliche Kupfermünze in unseren Schatztruhen haben. Du wolltest dich bei den Reichen und Mächtigen der Franken einschmeicheln. Um in ihrer Nähe zu bestehen, musstest du dich in Samt und Brokat hüllen. Und das war natürlich noch nicht alles! Wenn ich an die Feste denke, die du für diese Leute ausgerichtet hast! Schlimmer als eine Horde Geier sind sie über dein Haus hergefallen, um alles zu verschlingen, worauf ihr Auge fiel. Und wie die Geier haben sie sich, nachdem der Leichnam sauber abgenagt war, wie eine stinkende Wolke davongemacht und sind nie mehr zurückgekehrt.

Und was ihnen entgangen ist, hat Gisela an sich gerissen, um es für Reliquien, Schreine, Segnungen und Pilgerfahrten zu vergeuden – um ihren elenden Balg von diesem Fluch zu befreien. Du hast mir gesagt, ich soll mir etwas Jüngeres beschaffen. Ich hätte gute Lust, meiner kleinen Cousine mal einen Besuch abzustatten ... Am Tag natürlich, und ...« Hugo schrie laut auf. »Vater, du tust mir weh!«

Gundabalds Antwort war ein zorniges Fauchen. »Wenn du dieses Mädchen auch nur mit dem kleinen Finger berührst, wirst du uns beiden viel Mühe und Kosten ersparen. Ich schneide dir deinen Schwanz mitsamt den Eiern ab. Du wirst der glatteste Eunuch zwischen hier und Konstantinopel sein, das schwöre ich. Sie ist der einzige Trumpf, den wir noch haben, und sie muss heiraten. Hast du mich verstanden?«

Hugo heulte abermals auf. »Ja, ja, ja. Du brichst mir den Arm. O Gott! Hör auf!«

Gundabald musste ihn losgelassen haben, denn Hugos Schreie verebbten. Nach einer Weile begann er mit wehleidigem Tonfall wieder zu sprechen. »Wer würde sie schon heiraten ... diese Kreatur?«

Gundabald lachte. »Ich könnte dir augenblicklich ein Dutzend Männer nennen, die morden würden, um ihre Hand zu erringen. Das königlichste Blut des Frankenreichs fließt durch ihre Adern. Der große König selbst war nicht nur ein Cousin ihres Vaters, sondern auch ein Cousin ihrer Mutter.«

»Und dieselben Männer, die heute morden würden, um sie zu heiraten, werden sowohl dir als auch dem Mädchen ein Schwert in den Leib rammen, sobald sie herausfinden, was für ein Geschöpf es ist.«

»Ich weiß wirklich nicht, wie es möglich ist, dass ein Sohn wie du die Frucht meiner Lenden sein kann«, fauchte Gundabald. »Aber schließlich war deine Mutter eine hirnlose kleine Idiotin. Vielleicht schlägst du nach ihr.«

Trotz der sadistischen Bosheit in Gundabalds Stimme ließ Hugo sich nicht dazu hinreißen, den Köder zu schlucken. Die meisten Menschen, die sich länger in Gundabalds Nähe aufhielten, lernten schnell, ihn zu fürchten. Hugo war da keine Ausnahme.

»Es hat dir recht gut gefallen, wie wir lebten, als wir noch flüssig waren. Geier, was! Das sagt der Richtige! Du hast die ganze Nacht gevögelt, den ganzen Tag gefressen und mit den besten Männern des Landes gezecht. Und jetzt überlässt du Dinge, von denen du nichts verstehst, besser Leuten, die älter und klüger sind als du. Halt den Mund! Und lass uns etwas zu essen und Wein kommen – viel Wein. Ich will mein Abendessen und ich will vergessen, was nebenan hinter dieser Tür ist.«

»Es war ein Fehler, sie hierher zu bringen«, sagte Hugo. Seine Stimme klang hoch und nervös. »Es ist schlimmer denn je mit ihr.«

»Jesus Christus! Barmherziger!«, brüllte Gundabald. »Selbst ein hirnloses Tier hat die Vernunft zu tun, was man ihm sagt. Du Tölpel mit dem Verstand eines Pflastersteins! Halt das Maul und hol endlich den Wein. Mein Gott! Ich sterbe vor Durst.«

Heiraten, dachte sie matt. Wie konnte sie heiraten? Sie glaubte, dass nicht einmal eine Schlange wie Gundabald etwas so Gefährliches wagen würde. Oder dass er Erfolg haben würde, wenn er es versuchte. Ihre Mutter besaß immer noch ein wenig Land im Frankenreich, eine Hand voll heruntergekommener Landsitze. Sie warfen gerade genug Geld ab, um sie und die beiden Männer mit Nahrung und Kleidung zu versorgen. Aber nichts von dem, was ihr als Erbe zustand, würde reichen, um die Aufmerksamkeit auch nur eines Einzigen der großen Männer des fränkischen Reiches auf sie zu lenken.

Was ihre Verwandtschaft mit Karl betraf – einem König, dem man schon heute immer häufiger den Beinamen »der Große« gab –, diese Verwandtschaft bestand in einer eher entfernten Verbindung zu seiner Mutter. Die liebe Dame, Bertrada, hatte Regeanes Existenz niemals auch nur für einen einzigen Augenblick zur Kenntnis genommen. Tatsächlich gehörte es zu den Dingen, die König Pippin der Kurze an Bertrada so sehr schätzte, dass ihr nämlich ein ganzer Stamm von Verwandten folgte. Sie kamen mit der Bereitschaft an den Hof, ihre Schwerter für Kirche und König zu schwingen. Man musste natürlich über all die Wagenladungen von Beute hinwegsehen, Kriegsbeute, die irgendwie an den Schatzkammern des Königs vorbeiwanderten.

Regeane ging in der Menge vollkommen unter. Sie hatte nichts zu bieten. Sie war arm, eine Frau und nicht einmal schön. Sie glaubte nicht, dass es viele Bewerber um ihre Hand geben würde. Aber wenn Gundabald wider Erwarten doch einen armen Tropf fand, den er betrügen konnte, so würde er sie zweifellos ohne die leisesten Gewissensbisse an den Meistbietenden versteigern und dann ihrem Schicksal überlassen. Sie glaubte allerdings nicht, dass er jemanden finden würde. Außerdem hatte Gundabald, wie es hieß, eine heiße Kehle und einen kalten Schwanz. Er wollte so oft als möglich Erstere kühlen und Letzteren wärmen. Für seine Ausschweifungen brauchte er alles, was an Geldern aus Regeanes Gütern floss, wie wenig es auch sein mochte. Er würde sie gewiss verkaufen, aber nicht billig. Und ob er seinen Preis bekommen konnte, blieb abzuwarten. Im Augenblick kümmerte es sie nur wenig, ob sich die Dinge so oder anders entwickeln würden.

Als der päpstliche Segen sich als fruchtlos erwies, war der dünne Faden der Hoffnung, der sie über die Alpen geführt und ihr während der schwierigen Reise nach Rom Kraft gegeben hatte, zerrissen.

Giselas Tod hatte ihr den letzten Schlag versetzt. Sie war Regeanes einziger Schutz gegen eine Welt gewesen, die sie sofort vernichten würde, wenn sie ihr Geheimnis auch nur erahnte. Aber Gisela hatte ihre Tochter nicht nur vor der Welt geschützt, sondern auch vor den schlimmsten Auswüchsen von Gundabalds Habgier. Sie war Regeanes einzige Vertraute und Gefährtin gewesen. Regeane hatte keine anderen Freunde, niemanden sonst, den sie liebte. Jetzt stand sie ohne einen Menschen und vollkommen allein da.

Trockenen Auges folgte Regeane dem Leichnam ihrer Mutter bis ans Grab. Eine so schwarze Verzweiflung bemächtigte sich ihrer, dass der helle Tag sich in bitterkalte Nacht zu verwandeln schien.

Jetzt erhob sich ein schwacher, silberner Schatten über der Schwärze des Fußbodens.

Es gibt nichts anderes für dich als Mondlicht, dachte Regeane. Trink es, ertränke dich darin. Sie wird mich nie mehr schelten. Ich werde nie wieder ihre Tränen sehen oder an ihrem Weinen leiden. Was immer aus mir werden mag, ich bin allein.

Sie stand auf, streifte ihr Kleid und ihr Hemd ab und wandte sich dem silbernen Nebel zu.

Der Windschwall vom Fenster war eisig, aber es gab keine Lust ohne den scharfen Biss des Schmerzes. Selbst das kurze Aufblitzen eines Orgasmus ist zu intensiv, um reine Freude zu schenken. Die kalte Liebkosung war verführerisch, die schnelle, grausame Berührung, die der Lust vorangeht.

Regeane machte einen kühnen Schritt nach vorn, denn sie wusste, dass ihr schon in einer Sekunde warm sein würde. Nackt trat sie in den silbernen Nebel hinein.

Und stand dort, die Wölfin.

Regeane war für eine Wölfin ziemlich groß. Sie hatte dasselbe Gewicht wie als Mädchen, über hundert Pfund. Allerdings war sie viel kräftiger als in ihrer menschlichen Gestalt – hager, flink und machtvoll. Ihr Fell war glatt und dicht. Der Pelz glitzerte silbern, wo er das Mondlicht auffing.

Das Herz der Wölfin quoll über vor Freude und Dankbarkeit. In ihrer menschlichen Gestalt hätte Regeane es nie zugegeben, aber sie liebte die Wölfin, und päpstlicher Segen hin, päpstlicher Segen her, sie würde die Wölfin niemals ziehen lassen.

Sie genoss die Verwandlung aus tiefstem Herzen. Manchmal, in Menschengestalt, fragte sie sich, wer wohl klüger war, sie oder die Wölfin. Die Wölfin wusste es. Die von Jahr zu Jahr immer schönere und stärkere Kreatur wartete darauf, dass Regeane so weit war, ihre Unterweisung zu empfangen und zu begreifen.

Die Silberwölfin erhob sich auf die Hinterläufe, stellte die Vorderläufe auf das Fenstersims und spähte hinaus. Sie sah nicht nur mit den Augen, wie diese verstümmelten Menschen es taten, sondern auch mit ihrem feinen Gehör und ihrer Nase.

Die Welt, wie die Menschen sie sahen, war wie ein Fresko – dimensionslos wie ein auf eine Wand gemaltes Bild. Damit die Wölfin an ein Ding glauben konnte, musste es nicht nur eine sichtbare Gestalt haben, es musste riechen, schmecken und mit allen Sinnen zu ertasten sein.

Ah, Gott ... wie herrlich. Die Welt war voller Wunder.

Es musste geregnet haben – am Abend. Die Wölfin konnte die feuchte, schwarze Erde unter dem frischen Grün der Pflanzen riechen, genauso wie den Schlamm, den die Pferde in einer nahen Gasse mit ihren Hufen aufgewühlt hatten.

Die Frau hatte es nicht bemerkt. Sie hatte den Tag träumend und in ihrem Kummer verloren verstreichen lassen. Dies trug ihr ein kurzes Aufflackern von Verachtung von Seiten der Wölfin ein. Aber die Wölfin war zu sehr ein Geschöpf der Gegenwart, um in Vergangenem zu verweilen. Sie war dankbar für jeden Augenblick. Und dieser Augenblick war schön.

In Rom überlagerte der Geruch des Menschen für gewöhnlich alles andere: Ausdünstungen von schalem Schweiß und ungeklärten Abwässern, die in den Tiber flossen, Gestank menschlicher Exkremente, der selbst im Vergleich mit dem anderer Tiere durch und durch widerlich war. All das erfüllte die Luft und legte sich über sie. Für gewöhnlich wurde dieser Gestank noch verstärkt von den modrigen, allgegenwärtigen Ausdünstungen menschlicher Behausungen mit ihrem abgestandenen Rauch, feuchtem Holz und Stein.

Aber nicht heute Nacht. Der scharfe Wind kam von den offenen Feldern jenseits der Stadt; er erinnerte an trockenes Gras und die Süße wilder Kräuter, die in den Hügeln nahe dem Meer wuchsen.

Manchmal erreichte sie der duftende Atem der Campagna mit den sauberen Gerüchen der Bauernhöfe nach Schweinen und Rindern, in die sich ganz zart der lockende Moschus von Rotwild mischte.

Die Nacht unter ihr vibrierte von Bewegungen. Die Katzen, die sich zwischen den Ruinen angesiedelt hatten, sangen inmitten vergessener Denkmäler ihre uralten Lieder von Zorn und Leidenschaft. Hie und da erhaschte sie einen Blick auf die geschmeidige Gestalt eines streunenden Hundes; mitunter nahm sie sogar verstohlene menschliche Bewegungen wahr. Diebe und Wegelagerer suchten die Umgebung heim, immer gerüstet, dem Unwachsamen das Seine zu nehmen.

Ihre Ohren stellten sich auf und registrierten, was ihre Augen nicht sehen konnten – das kaum hörbare Flügelschlagen einer Schleiereule im Flug, die hohen, dünnen Schreie von Fledermäusen, die auf der Jagd nach Insekten durch die kühle Nachtluft auf- und niederschossen.

Die huschende Eile und das Wispern der Jäger und der Gejagten, fast lautlos bis zum Ende. Der gequälte Todesschrei eines Vogels, den eine räuberische Katze im Schlaf in seinem Nest überwältigt hatte, zerriss die Luft. Das jäh erstickte Aufkreischen eines Kaninchens, das in den Krallen einer großen Eule starb, folgte.

Diese und viele andere Laute wurden von ihren Wolfssinnen zu einem reichen Gewebe verflochten, das nimmer endende Mannigfaltigkeit und immer währendes Entzücken war.

Die Silberwölfin ließ die Vorderpfoten mit einem leisen, beinahe unhörbaren Aufschrei der Sehnsucht wieder auf den Boden fallen. Dann zog sie die Lefzen zurück und bleckte fauchend die Zähne, als sie das Geräusch von Stimmen im Nebenzimmer wahrnahm.

Hugo und Gundabald aßen. Bei dem Geruch nach gebratenem Fleisch knurrte der Wölfin der Magen. Sie hatte Hunger und Durst und verzehrte sich nach frischem Wasser und Nahrung.

Die Frau ermahnte ihre Nachtgestalt, ihre Begierden zu zügeln. Sie würde nichts bekommen.

Die Wölfin antwortete. Sie waren beide fort – die Frau hatte ihr Gefängnis verlassen, die Wölfin ihren Käfig. Die Wölfin stand neben einem klaren Bergsee. Der Vollmond spiegelte sich silbern im Wasser wider. Überall um den See herum hoben sich schwarze Bäume gegen die Berge ab, auf denen ewiger Schnee weiß glänzte.

Die Erinnerung verblasste. Die Wölfin und die Frau blickten wieder auf die versperrte Tür.

Die Wölfin und die Frau wussten beide, was Gefangenschaft war. Regeane hatte den größten Teil ihres Lebens hinter verschlossenen Türen verbracht. Schon vor langer Zeit hatte sie gelernt, von welch zermürbender Nutzlosigkeit es war, gegen Eiche und Eisen anzurennen. Sie schob beiseite, was sie nicht ändern konnte und wartete ab.

Die beiden Männer sprachen von ihr.

»Hast du das gehört?«, fragte Hugo verängstigt. Hugos Ohren waren besser als die Gundabalds. Er musste ihren leisen Protestschrei gehört haben.

»Nein«, murmelte Gundabald mit vollem Mund. »Ich habe nichts gehört und du hast auch nichts gehört. Du hast es dir nur eingebildet. Sie gibt nur selten einen Laut von sich. Wofür wir übrigens dankbar sein sollten. Wenigstens heult sie nachts nicht den Mond an wie ein echter Wolf es tun würde.«

»Wir hätten sie niemals hierher bringen dürfen«, stöhnte Hugo.

»Fängst du schon wieder damit an?«, seufzte Gundabald müde.

»Es stimmt aber«, erwiderte Hugo mit trunkener Beharrlichkeit. »Die Gründer dieser Stadt wurden an den Zitzen einer Wolfsmutter gesäugt. Früher nannten sie sich Söhne der Wölfin. Seit ich die Wahrheit über sie herausgefunden habe, muss ich oft an diese Geschichte denken. Ein echter Wolf könnte keine menschlichen Kinder großziehen, aber eine Kreatur wie sie ...«

Gundabald lachte heiser. »Ein Märchen, das irgendeine Dirne ersonnen hat, um eine Brut von Bastarden zu erklären. Sie war bestimmt nicht die Erste und wird auch nicht die Letzte sein, die sich eine wilde Geschichte ausgedacht hat, um ihre eigene ... Verderbtheit zu bemänteln.«

»Du hörst mir einfach nicht zu«, sagte Hugo verdrießlich. »Seit wir hier sind, ist es mit ihr immer schlimmer geworden. Sogar als ihre eigene Mutter im Sterben lag, hat sie ...«

Die Silberwölfin zog die Lefzen zurück. Ihre Zähne glitzerten im Mondlicht wie elfenbeinerne Messer. Selbst im Herzen der Wölfin waren Hugos Worte wie Säure.

Sinnlos der schwelende Zorn. Sinnlos die kurze, traurige Rebellion. Zwischen ihr und ihren Peinigern stand die Tür. Zwischen dem prachtvollen Geschöpf und der Freiheit das verriegelte Fenster.

Sie begann, auf und ab zu laufen, wie jedes gefangene Tier es tun würde, und gehorchte damit dem wortlosen Befehl: Bleib stark. Bleib gesund. Bleib wachsam. Fürchte dich nicht, deine Zeit wird kommen.

Kapitel 2

Maeniel war eine sorgenvolle Natur. Heute hatte er sehr viele Sorgen, als er auf der halb zerstörten Galerie stand, die einst der Erbauung eines römischen Gouverneurs hatte dienen sollen.

Er beneidete den Mann, der wahrscheinlich einst an ebendieser Stelle gestanden, tief durchgeatmet und selbstzufrieden seine ausgedehnten Ländereien betrachtet hatte. Heute galt Maeniels Sorge unter anderem dem Heu. Es schien nicht so schnell zu reifen wie es sollte. Und sie brauchten dieses Heu, um durch den langen, kalten Winter zu kommen. Abermals seufzte er; der Mann von einst war zu mächtig gewesen, um sich den Kopf über Heu zu zerbrechen. Er hatte wahrscheinlich andere Sorgen gehabt, vielleicht noch drückendere als Maeniel. Zum Beispiel um die Führung der Staatsgeschäfte in Rom. »Die Führung der Staatsgeschäfte in Rom«, murmelte er.

Gavin, der Hauptmann seiner Wache, saß an ein Wandgemälde gelehnt auf einer Bank und döste. Das Gemälde zeigte Perseus, wie er die Medusa tötete, und das Gorgonenhaupt in der Hand des Helden starrte ihn wütend an. Aber das bereitete Gavin kein Ungemach. Nichts bereitete Gavin irgendwelches Ungemach. Er öffnete ein Auge und wiederholte: »Was ist mit der Führung der Staatsgeschäfte in Rom?«

»Mir ging nur gerade durch den Kopf, dass sich der römische Gouverneur wohl keine Sorgen um das Heu gemacht haben wird wie ich es tue, dass ihm dafür aber die Führung der Staatsgeschäfte in Rom sehr wohl Sorgen bereitet haben könnte.«

Gavin öffnete nun auch das zweite Auge. »Habe ich richtig verstanden? Du hast aufgehört, dich wegen des Heus zu sorgen, um dir den Kopf darüber zu zerbrechen, was einem bereits lange toten Römer Sorgen bereitet haben könnte?«

»So ist es«, bestätigte Maeniel.

»Vielen Dank, dass du mir in diesem Punkt Klarheit verschafft hast.« Gavin schloss die Augen. »Und jetzt, wenn du nichts dagegen hast, möchte ich noch ein wenig schlafen.«

»Es scheint nicht so schnell zu reifen wie sonst«, beharrte Maeniel.

»Das Heu oder die Sache mit den Staatsgeschäften in Rom?«, fragte Gavin.

»Das Heu.« Maeniel biss sich auf die Lippen.

Gavin stieß einen tiefen Seufzer aus, öffnete beide Augen und blickte über die Felder um sie herum.

Das Land lag schläfrig in der warmen, goldenen Nachmittagssonne, ein Bild ruhiger, bäuerlicher Schönheit. Drei wohlhabende Dörfer lagen in den Hügeln verstreut, inmitten bestellter Äcker, und ihr tiefes Grün trug den ersten schwachen Hauch der reichen Farben des Herbstes, rot, braun und gold.

Ein Stück weiter oben grasten an den Berghängen Schafe, Ziegen und Rinder, die auf den hohen Sommerweiden Fett ansetzen sollten. Dahinter ragten schneebedeckte Gipfel auf, die in ätherischer Schönheit vor dem Himmel zu schweben schienen.

»Das Heu«, sagte Gavin, »scheint mir genauso gut zu reifen wie es das immer getan hat, seit wir hierher kamen.«

»Meinst du wirklich?«, fragte Maeniel hoffnungsvoll.

»Ja«, erwiderte Gavin, der abermals die Augen schloss.

Maeniel schüttelte den Kopf. »Trotzdem, ich höre von Clotilde, dass wir einen bösen Winter zu erwarten haben. Sie sagt, die Wolle der Schafe sei doppelt so dick wie gewöhnlich, und ...«

»Nein«, widersprach Gavin entschieden. »Ich höre mir das nicht länger an. Jedes Jahr um diese Zeit ist es das Heu. Und sobald es eingebracht ist, erhebt sich als Nächstes die Frage, ob es genügen wird, um uns durch den Winter zu bringen. Oder ob du ins Tiefland gehen solltest, um weiteres Heu zu kaufen und so das Überleben unseres Viehs zu sichern. Danach lamentierst du dann wegen des Holzes. Haben wir genug? Angenommen, es kommt ein wirklich schlimmes Unwetter und der Schnee ist so tief, dass wir uns nicht mehr hinauswagen können, um weiteres Holz zu schlagen. Also müssen wir jetzt zusätzliche Bäume fällen, die wir dann immer höher und höher auftürmen, bis wir draußen im Schnee schlafen müssen, weil unsere Häuser bis auf das letzte Plätzchen mit Holz gefüllt sind.

Zwischendurch läufst du dann mitten im Schneesturm hinaus, um jede Kuh, jede Sau, jedes Mutterschaf und jede säugende Ziege zu besuchen, die irgendein Zipperlein hat oder ein Junges zur Welt bringt. Du hältst ihren Huf, bis sie ihr Junges geworfen hat. Wenn eins der Tiere niest, hörst du das Niesen noch im Schlaf und weckst mich auf, um mir dein Leid zu klagen. Halt die Laterne etwas höher, Gavin. Schwing die Axt ein wenig kräftiger, Gavin. Zieh, Gavin. Schieb, Gavin. Trommle deine Männer zusammen und weise diese Räuber in ihre Schranken, Gavin. Ich weiß, sie befinden sich nicht auf meinem Grund und Boden, aber es gefällt mir nicht, dass sie ihre Raubzüge in unserer Nähe durchführen, Gavin.

Jetzt sind es die Sorgen verstorbener Römer und politische Fragen, die uns hier in unseren Bergen nicht das Mindeste angehen. Zuerst habe ich mich darüber gewundert, als der alte, kranke Rieulf seinen Grundbesitz in deine Hände legte. Aber nach dem ersten Winter habe ich begriffen, wie klug die Entscheidung des Alten gewesen war. Er wusste genau, wer für diese Aufgabe der Richtige war.«

Maeniel hörte sich Gavins Schimpftirade mit duldsamer Miene an. Sie waren alte Freunde. All das bekam er mehrmals im Jahr zu hören, wann immer Gavin sich über ihn ärgerte.

»Ich wünschte nur«, kam Gavin nun langsam zum Schluss, »du würdest etwas anderes finden, worüber du dir Sorgen machen kannst, abgesehen vom Heu und von den Schafen, von den Ziegen, dem Holz und den Schneestürmen. Das wäre wenigstens mal eine Abwechslung.« Seine Stimme verlor sich und er hob den Kopf, um zu schnuppern. »Frisch gebackenes Brot«, flüsterte er. »Ich habe ganz vergessen, dass heute Matronas Backtag ist.« Sein Körper hob sich wie von selbst von der Bank. Die Nase hoch in die Luft erhoben, schien er von den lockenden Düften wie magisch angezogen zu werden.

Maeniel legte Gavin seine große Hand auf die Schulter und drückte ihn wieder auf die Bank. »Matrona hat am Backtag alle Hände voll zu tun. Man kann sie leicht verärgern. Weißt du noch, wie ich dich einmal retten musste? Sie hat versucht, dich mit den Füßen zuerst in einen der Öfen zu schieben. Du hast dich mit beiden Füßen an der Ofenwand abgestemmt und dir das Herz aus dem Leibe geschrien. Wenn ich nicht gekommen wäre ...«

»Du brauchtest mich nicht zu retten«, leugnete Gavin hitzig. »Es lag nur daran, dass ich ihr nicht wehtun wollte – ich weiß schließlich, was sich gehört.«

»Klar«, beschwichtigte ihn Maeniel, »klar. Außerdem hattest du Recht ... Ich meine, was meine Sorgen betrifft.«

»Du hörst auf damit? Du machst dir keine Sorgen mehr?«, fragte Gavin.

»Nein«, sagte Maeniel. »Ich habe eine neue Sorge.« Er reichte Gavin einen Brief.

Gavin überflog das Schreiben und las es dann ein zweites Mal und etwas langsamer, als ihm die Bedeutung des Briefes aufging.

»Nicht die Führung der Staatsgeschäfte in Rom«, erklärte Maeniel. »Die der Staatsgeschäfte im Frankenreich. Die Frau kommt mit Empfehlungen von Karl dem Großen, Charlemagne persönlich. Ich sollte sie besser heiraten.«

»Ich würde es nicht tun«, sagte Gavin, während er ihm den Brief zurückgab. »Ich würde dem großen Karl den Rat geben, seine Falken fliegen zu lassen oder Sachsen zu jagen oder zu tun, was ein König sonst noch so tut. Aber heiraten? Vergiss es! Wenn so eine königliche Cousine herkommt, versperrst du am besten deine Tore, schärfst dein Schwert und wünschst ihr eine glückliche Reise über den Pass ins Tal. Ich wette, du wirst nie mehr etwas von ihr hören.«

»Diese Wette kann ich nicht halten«, entgegnete Maeniel leise. »Der Einsatz ist zu hoch.«

»Nein, das ist er nicht«, beharrte Gavin. »Du sitzt in einer uneinnehmbaren Festung. Dieser Felsen ist noch nie gefallen, nicht einmal zu Zeiten der Römer.«

»Und wenn Karl jemals den ernsten Entschluss fassen sollte, mich hier herauszuholen«, antwortete Maeniel mit tonloser Stimme, »dann wird es ihm gelingen. Warum glaubst du, habe ich solche Kostbarkeiten an Karls Hof geschickt? Jedes Jahr zu Weihnachten sende ich dem Hof ein hübsches Geschenk, Gold und Juwelen. Ich halte die Straßen frei von Dieben und Banditen und verlange den Händlern, die über den Pass reisen, keine übertriebenen Summen ab. In der Zwischenzeit drücke ich mir die Daumen. Bisher hat er mich in Ruhe gelassen.

Aber damit ist es jetzt vorbei. Die Stunde der Wahrheit ist gekommen und er schickt sie mir in einer Gestalt, gegen die ich keine wirklichen Einwände erheben kann. Er bietet mir die Ehe mit einer Frau aus königlichem Geblüt an. Ich wage es nicht, dieses Angebot abzuschlagen. In dem Brief steht, sie sei jung, anziehend und ...«

»Der Brief«, fiel Gavin ihm ins Wort, »setzt dich über jede wesentliche Einzelheit die Dame betreffend ins Bild: über ihre Geburt, ihre Abstammung und alles andere. Nur eine Frage bleibt offen: Was stimmt nicht mit ihr?«

»Was soll denn nicht stimmen mit ihr?«, fragte Maeniel.

Gavin blickte mit düsterer Miene über das Dorf. »Wer ist jetzt der Optimist von uns beiden? Abgesehen von bitterer Armut fallen mir da einige Dinge ein. Liederlichkeit, Trunkenheit, Wahnsinn, Unehrlichkeit, Dummheit, Lepra, Grausamkeit und Habgier. Jeder einzelne dieser Punkte könnte zutreffen. Außerdem wird sich wahrscheinlich herausstellen, dass sie ein buckliger Zwerg ist, nur noch einen einzigen Zahn im Mund hat und obendrein halb schwachsinnig ist.«

»Manchmal denke ich, es war ein Fehler, dass dein Vater dich zur Schule geschickt hat. Das hat deiner Phantasie ein Übermaß an Nahrung gegeben«, meinte Maeniel.

»Ich weiß«, pflichtete Gavin ihm bei. »Und genau das habe ich ihm jeden Tag gesagt, bis es nun nur noch die Frage war, was sich als Erstes abnutzen würde – sein Arm, sein Gürtel oder meine Kehrseite. Wie die Dinge lagen, haben wir beide, du und ich, am Ende versucht, auf- und davonzulaufen und unser Glück zu suchen. Nun, wir haben es gefunden und jetzt musst du diese ... Kreatur heiraten, um es nicht wieder zu verlieren.«

»Es ist ein kleines Opfer«, antwortete Maeniel.

»Wollen wir es hoffen«, sagte Gavin.

»Wenn sie ein buckliger Zwerg ist, hat sie vielleicht einen angenehmen Charakter. Wenn sie schwachsinnig ist, werde ich dafür sorgen, dass sie in gute Obhut kommt. Falls sie sich als Trinkerin entpuppt, muss sie bisweilen ausgenüchtert werden und wenn sie ein liederliches Frauenzimmer ist, muss man sie zur Diskretion überreden. Grausamkeit und Habgier lassen sich beide im Zaum halten. Und selbst Lepra kann man, Gott helfe mir, behandeln. In diesen Höhenlagen erholen sich die Kranken entweder sehr rasch oder sie sterben.«

»So ist es richtig«, ermunterte ihn Gavin. »Betrachte die Sache von der Sonnenseite. Vielleicht wird sie ja den ersten Winter hier nicht überleben.«

»Vielleicht ist sie ja auch all das, was der Brief verspricht: jung, reizvoll und umgänglich. Wer weiß, vielleicht ist ihr einzig wirklicher Fehler die Armut.«

»Nein«, widersprach Gavin. »Wenn das das einzige Problem wäre, würden sie sie niemals einem Mann wie dir anbieten. Einem heruntergekommenen irischen Söldner. Wenn Rieulf nicht gewesen wäre, würden wir immer noch unsere Schwerter dem Meistbietenden leihen, um uns unser Brot zu verdienen. Aber du konntest ihm einen Dienst erweisen, und er hat dich ins Herz geschlossen. Du hattest Glück ...«

»Das ist wahr.« Maeniel ließ den Blick abermals über das Tal wandern, in Gedanken immer noch mit der Frage des Heus beschäftigt. »Was meinst du, Gavin? Sollten wir einen Teil jetzt schon einholen und ...«

Aus Richtung der Küche ertönte lautes Gebrüll.

Maeniel drehte sich um. Gavin war verschwunden. Sein Hauptmann hatte am Ende der Verlockung des frisch gebackenen Brotes doch nicht widerstehen können.

Gavin zu Pferd, das Schwert in der Hand, mochte der Schrecken jedes einzelnen Räubers in den Bergen sein, aber wenn er es mit Matrona aufnahm, war er unweigerlich der Verlierer.

Maeniel beschloss, ihm zu Hilfe zu eilen. Er überließ das Heu und die Zukunft ihrem Schicksal und machte sich auf den Weg in Richtung Küche, wo der Tumult immer wilder wurde.

Kapitel 3

Als Regeane am nächsten Morgen erwachte, lag sie nackt auf dem Bett. Die Wölfin war bis zum Untergang des Mondes im Raum auf und ab geschritten, bis die beiden Männer im Nebenzimmer in tiefen, trunkenen Schlaf fielen und laut schnarchten. Dann erst stieg sie ins Bett, legte die Schnauze auf das Kissen und schlief ebenfalls ein. Sie erinnerte sich nicht daran, wieder Menschengestalt angenommen zu haben. Das Bett roch gleichzeitig nach warmem Tier und nach Mensch.

Ihr altes blaues Kleid lag am Fußende des Bettes. Obwohl sie es für blau hielt, war es vom vielen Waschen so verblichen, dass es nur mehr einen schlammigen Grauton hatte.

Als sie sich nun anzog, stellte sie fest, dass das Kleid, das ihr erst vor wenigen Monaten locker über den Leib gefallen war, mittlerweile über den Schultern und der Brust zu eng wurde. Früher hatte sie es nur dann tragen können, wenn sie den Saum hochhielt. Jetzt reichte es ihr kaum mehr bis zu den Knöcheln.

Als das Kleid neu gewesen war, hatte es am Hals und an den Ärmeln breite, bestickte Bänder gehabt. Der Faden war aus reinem Gold gewesen, etwas, wonach Hugo und Gundabald die Habe ihrer Mutter mit Feuereifer durchsucht hatten. Einer der beiden Männer hatte schon vor langer Zeit die kostbaren Garne aus dem Tuch gezogen.

Draußen herrschte heller Tag. Jetzt müssten sie sich eigentlich sicher fühlen, dachte sie.

So schien es. Die schwere Tür ließ sich ohne weiteres öffnen.

Gundabald saß am Tisch. Seine Augäpfel sahen so aus, als hätten sie geblutet. Getrockneter Speichel sprenkelte seinen borstigen schwarzen Stoppelbart, aber er machte sich bereits wieder mit gutem Appetit über dunkles Brot, molkigen Käse und sauren Wein her.

Hugo kniete auf dem Boden und erbrach sich in einen Nachttopf.

Der große, runde Brotlaib lag mitten auf dem Tisch. Regeane brach sich einen ordentlichen Brocken ab. Das Brot roch nach Olivenöl und Zwiebeln. Regeane riss es mit kräftigen Zähnen entzwei. Sie hatte gute Zähne.

Von dem Käse war kaum mehr übrig geblieben als die Rinde. Diese verzehrte sie zusammen mit dem Brot, wobei sie sich zweimal in die Finger biss.

Neben dem Brot stand eine braune Terrakottaschale mit Feigen. Sie wollte sich eine der Früchte nehmen. Gundabald ließ den Griff seines Messers auf ihren Handrücken herunterschnellen. Man konnte den Aufprall hören. Es tat weh. Sie zuckte zusammen und riss ihre Hand zurück. Ihr Blick begegnete dem Gundabalds.

Er kicherte und einige Krümel fielen ihm aus dem Mund.

Sie hatte die Hand noch immer auf dem Tisch liegen, neben der Schale. Ihre schön geformten Finger waren lang und liefen so spitz zu, dass es nicht weiter auffiel, dass die Nägel vorne zu stumpfen Dreiecken zusammen liefen.

Gundabald schlug sie noch einmal und diesmal hinterließ sein Schlag einen Striemen auf Regeanes Fingern. Sie zuckte nicht zusammen und zog die Hand auch nicht weg. Gundabald genoss es, Menschen wehzutun. Wer Schmerz zeigte, forderte ihn nur noch mehr heraus.

Er starrte erst die roten Abdrücke an, die sein Messer hinterlassen hatte, dann sah er Regeane wieder ins Gesicht. Ihre Gelassenheit schien ihn zu verwirren.

»Hier, iss noch etwas Brot«, sagte er. »Damit du Fleisch auf die Rippen kriegst. Du wirst es brauchen.«

Hugo hatte aufgehört zu würgen. Er saß auf einem der Stühle am Tisch. Auf seinem Gesicht glänzte Schweiß, aber er brachte es trotzdem fertig, Regeane mit einem anerkennenden Blick zu streifen. »Sie ist gar nicht schlecht, so wie sie jetzt ist«, sagte er. »Dieses Haar. Diese Augen.« Dann widmete er seine Aufmerksamkeit einem Becher Rotwein. Beim ersten Schluck musste er erneut würgen. Er hustete, spuckte den Wein auf den Boden und führte den Becher dann erneut an die Lippen, um gierig zu trinken.

Gundabald betrachtete erst ihn, dann Regeane. Sie hat tatsächlich ihre Vorzüge, dachte er. Ihr Haar war lang und dunkel, beinahe schwarz an den Wurzeln, mit einem silbrigen Schimmer in der Mitte und schließlich, an den Spitzen, ganz weiß. Es geriet nie durcheinander. Er hatte selbst gesehen, wie es sich anhob und wieder herunterfiel, wenn der Wind zu heftig daran zog.

Ihre Augen waren wirklich schön, groß, warm und dunkel – bis sich das Licht darin fing. Dann loderten sie golden auf, wie Wasser es im Licht der untergehenden Sonne tut.

Davon abgesehen machte sie nicht viel her. Mager, blass und farblos. Gundabald zog Frauen vor, bei denen er ordentlich zupacken konnte – Frauen, die kreischten, stöhnten und ihm einen harten Ritt gaben. Er hatte das Gefühl, dass sie weder das eine noch das andere tun würde. Und Gott helfe dem Mann, der mit ihr im Bett erwachte, wenn der Mond schien.

Trotzdem war sie tagsüber fast genauso hilflos wie jede andere Frau, und er musste Maßnahmen ergreifen, um sie zu schützen. Charlemagnes Stern war im Aufgehen begriffen und sie ein möglicherweise wertvoller Besitz.

Hugo kippte noch mehr Wein hinunter, wahrscheinlich, um seinen rebellischen Magen davon abzuhalten, auf diesen Angriff zu reagieren. Der Wein war von seltsamer Beschaffenheit. Er stank. Zwischen den einzelnen Schlucken knabberte er an dem Brot. Er hatte beim Essen weniger Erfolg als Regeane und Gundabald. Hugo hatte einige verfaulte Zähne im Mund.

Gundabald zog langsam und bedächtig seinen Fuß zurück. Dann rammte er dem nichts ahnenden Hugo die Ferse in die Lenden.

Hugo schrie nicht. Regeane bezweifelte, dass er schreien konnte. Er presste sich die Hände auf die Stelle zwischen seinen Beinen. Die Augen verdrehten sich in ihren Höhlen, bis nur noch das Weiße darin zu sehen war. Sein Stuhl kippte nach hinten um. Mit einem hörbaren Krachen schlug er mit dem Schädel auf dem hölzernen Boden auf.

Gundabald stopfte sich den letzten Rest seines Essens in den Mund, seufzte und erhob sich von seinem Platz. Er beugte sich über Hugo und drehte den keuchenden Mann auf die Seite, damit er nicht erstickte.

Hugo erbrach, was er gegessen hatte, auf den Boden: Brot, Wein, dann, als seine gepeinigten Gedärme nach dem Essen vom gestrigen Abend griffen, kleine Bröckchen von Fleisch und Rüben.

Regeane stand, eine Hand auf die Brust gepresst, voller Entsetzen auf. Sie wusste, dass die beiden ein gewalttätiges Paar waren, aber dies hier überstieg das gewohnte Maß an Barbarei.

Gundabald schnaubte seine Verachtung über den am Boden liegenden Hugo heraus, dann warf er einige Silbermünzen vor ihn hin. »Beschaff ihr eine Zofe«, sagte er.

Hugo stieß ein gurgelndes Geräusch aus, das irgendwie Verwirrung anzuzeigen schien.

»Stell eine Zofe für sie ein«, sagte Gundabald etwas lauter. »Beschaff deiner Cousine Regeane eine Zofe.«

Eine alte Frau trat in den Raum. Sie war klein und gebeugt und hatte die verzerrten Glieder der Krankheit, die Regeane häufig in den schmalen, dunklen Straßen der Stadt bemerkt hatte. Ihr Gesicht war mit Pockennarben übersät, ihre Nase gebrochen und sie hatte ein Blumenkohlohr. Unter ihrem Schleier stahlen sich wirre graue Haare hervor.

Sie beschimpfte Hugo, weil er eine derart widerliche Schweinerei angerichtet hatte. Dann beschimpfte sie auch Gundabald; wie es schien, legte sie ihm das Verbrechen seiner bloßen Existenz zur Last. Regeane ignorierte sie. Sie sprach den ungeschliffenen Dialekt der römischen Gosse. Eine Sprache, die Regeane obszön, faszinierend, ausdrucksvoll und bisweilen beinahe schön fand, obwohl sie eindeutig keine Ähnlichkeit mehr mit dem Lateinischen hatte.

Gundabald verstand sie nicht, begriff aber sehr wohl den Inhalt ihres Wortschwalls. »Was hast du zu plärren, du alte Vogelscheuche?«, brüllte er sie an.

Zu Regeanes Überraschung verlangsamte die Frau ihre Rede. Sie stieß eine höchst einfallsreiche Beschreibung von verschiedenen möglichen Vorfahren Gundabalds hervor.

Er hob die Faust und machte einen Schritt auf die winzige Frau zu.

Schneller als ein Auge blinzeln konnte, erschien ein Dolch in ihrer Hand. Die Klinge war schwarz und rostzerfressen, aber die Schneiden waren sorgfältig geschliffen und glitzerten gefährlich.