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Welche Auswirkungen haben arbeitssparende Technologien wie Automatisierung und künstliche Intelligenz auf die Arbeitswelt und das „gute Leben“? Warum ist die von Keynes vorausgesagte 15-Stunden-Arbeitswoche nicht eingetreten, und was sind die Voraussetzungen für eine Reduktion der Arbeitszeit heute? Robert Skidelsky plädiert für einen ethisch begründeten Einsatz von Technologie. Ein Leben, das zugleich menschlich und menschenwürdig ist, ist nur durch die Förderung der Freizeitausbildung anstelle eines sinnlosen Wettlaufs des Menschen mit Maschinen sowie durch die Würdigung der Unvollkommenheit als Voraussetzung aller menschlichen Bemühungen möglich.

Robert Skidelsky ist ein britischer Wirtschaftshistoriker und öffentlicher Intellektueller. Er ist Autor einer dreibändigen, mehrfach prämierten Biografie über John Maynard Keynes.

Robert Skidelsky

Automatisierung der Arbeit:
Segen oder Fluch?

Passagen Thema
herausgegeben von
Peter Engelmann

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Deutsche Erstausgabe

Aus dem Englischen von Felix Lintner, Katharina Hasewend und Evangelos Karagiannis

Gefördert durch Mittel der Stadt Wien – Kultur.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-7092-0413-9

eISBN (EPUB) 978-3-7092-5027-3

© 2020 by Robert Skidelsky

© der dt. Ausgabe 2020 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

http://www.passagen.at

Grafisches Konzept: Gregor Eichinger

Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

Inhalt

Zur Einführung

Das Ende der Arbeit Trugbild, Bedrohung oder Verheißung?

Werden die Menschen ihre Beschäftigung verlieren?

Automatisierung Segen oder Fluch?

Wie lässt sich die Arbeitszeit verkürzen? Ein Bericht

Anmerkungen

Literatur

Zu den Beiträgen

Zur Einführung

Die vier Essays dieser Textsammlung, die hier in der chronologischen Reihenfolge, in der ich sie verfasst habe, angeordnet sind, repräsentieren die Entwicklung meiner Überlegungen zu den Auswirkungen der Technologie auf das menschliche Leben.

Der letzte Essay, „Wie lässt sich die Arbeitszeit verkürzen?“, wurde vom Schattenschatzkanzler der Labour-Partei, John McDonnell, in Auftrag gegeben. Er suchte nach stichhaltigen Argumenten für eine Politik zur Verkürzung der Arbeitswoche des durchschnittlichen britischen Vollzeitarbeiters. Aus diesem Grund ging der im September 2019 publizierte Bericht unter anderem auf die Auswirkungen der Automatisierung auf Arbeit ein. Die Ausgangsposition für die Überlegungen wird im einführenden Abschnitt geschildert: Menschen sollten weniger arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Einsatz von Technologie sollte theoretisch ihre Arbeitsbelastung und ihre Arbeitszeiten reduzieren. Dies ist tatsächlich seit der Industriellen Revolution geschehen. Aber die Arbeitszeit ist nie von allein zurückgegangen und in letzter Zeit tut sie es gar nicht mehr, obwohl die Automatisierung weiter voranschreitet.

Umfragen liefern erdrückende Belege dafür, dass die meisten Menschen es vorziehen würden, kürzer zu arbeiten, wenn sie es sich leisten könnten. Dies bestätigt, was einem schon der gesunde Menschenverstand sagt: dass die meisten Menschen arbeiten, um einen Lohn zu erhalten, und dass sich hinter der sogenannten „Angst vor der Freizeit“ vor allem die Angst vor Einkommenseinbußen verbirgt, nicht etwa die Furcht vor einem Sinnverlust. Seit den 1980er Jahren sind die meisten Menschen nicht in der Position gewesen, sich für mehr Freizeit und weniger Arbeit zu entscheiden, denn ihr Einkommen stagnierte, während die Produktivitätsgewinne größtenteils Kapitaleignern, leitenden Angestellten und Technikern, und nicht der Belegschaft zugutekamen. Das Ziel muss sein, so der Bericht, die politischen und industriellen Arrangements, einschließlich starker Gewerkschaften, wiederherzustellen, die es der Arbeiterschaft in der Vergangenheit ermöglichten, erfolgreich auf höhere Löhne und auf kürzere Arbeitszeiten zu drängen. Der Bericht ist daher als Strategiepapier mit unterstützenden Argumenten für die Politik zu verstehen.

Die Frage des Zusammenhangs zwischen Arbeit und Sinngebung, und letztlich zwischen der Technologie und dem, was es heißt Mensch zu sein, wird in den ersten drei Essays thematisiert und fortlaufend entwickelt.

Der erste Essay des Bandes geht auf zwei Lebensideale ein, die in Gontscharows berühmtem Roman Oblomow zur Schau gestellt werden. Darin werden die Haltung der „Freizeit um der Freizeit Willen“ des Aristokraten Oblomow und die Ethik der „Arbeit um der Arbeit Willen“, proklamiert von dessen Freund Stolz, miteinander kontrastiert. Der Essay geht auf zwei Fragen ein: Ist das Ideal des kultivierten Müßiggangs tatsächlich für jeden möglich? Und ist dieses Ideal tatsächlich gut?

Der altbekannte Einwand gegen das Ideal des Müßiggangs ist, dass es auf einer dienenden Klasse basiert, die all die notwendigen (und schmutzigen) Arbeiten verrichtet. Dieser Einwand ist heute von weit geringerem Gewicht, zumal die Diener der Zukunft Roboter sein werden oder, präziser gesagt, digital programmierte automatisierte Systeme. Sie werden die Sklaven der Zukunft sein und, anders als jene der Vergangenheit, werden sich dem willenlos fügen, denn sie werden keinen Willen haben. Das Ideal Oblomows könnte sich also für alle in greifbarer Nähe befinden.

Auf die Frage, ob wir nach diesem Ideal streben sollten, mag die Antwort wie ein schwacher Kompromiss anmuten, aber mir hat sich noch nicht erschlossen, wie man sie schärfen könnte: Zum einen denke ich, dass wir arbeiten müssen, um überhaupt arbeiten zu können. Müssten wir für unseren Lebensunterhalt nicht arbeiten, wären wir kaum in der Lage, uns das Arbeiten anzueignen. Zum anderen bin ich davon überzeugt, dass die Menschen im Westen nicht ansatzweise so schwer zu arbeiten brauchen wie die meisten Menschen.

Der zweite Essay, der auf der Jan Patočka Memorial Lecture fußt, die ich im April 2018 in Wien hielt, widmet sich den Folgen der Mechanisierung/Automatisierung auf die Arbeitswelt und geht auf die damit einhergehenden Hoffnungen und Befürchtungen skizzenhaft ein. Im Zuge der Industriellen Revolution kam es zu einer Auflösung der direkten Verbindung zwischen Arbeit und Leben und an ihre Stelle trat das Konzept des „Arbeitens für den Lebensunterhalt“. Doch wenn Roboter für den Lebensunterhalt arbeiten, was wird es für die Menschen noch zu tun geben? Werden die Menschen ihre Beschäftigung verlieren?, fragt der Essay.

Während die Ersetzung menschlicher Arbeit durch Maschinen in der Vergangenheit unter der Arbeiterschaft Ängste vor Arbeitslosigkeit hervorrief, waren für den herrschenden wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs eher Optimismus und Hinweise auf Kompensationsmechanismen der Wirtschaft bezeichnend, die angeblich die Nachteile des Maschineneinsatzes für die Arbeitnehmer ausgleichen würden. Eine ähnlich optimistische Sicht in der aktuellen Debatte zu den Folgen der Automatisierung auf die Arbeit spricht nicht von Ersetzung, sondern von Ergänzung menschlicher Arbeit. Mit anderen Worten, Maschinen würden in den meisten Berufen menschliche Arbeit ergänzen, nicht obsolet machen. Es wird jedoch eingeräumt, dass schwerwiegende Probleme in der Übergangsphase zu bewältigen sind, und unter Umständen wäre eine umfassende Weiterentwicklung der menschlichen Fähigkeiten erforderlich, um Menschen in die Lage zu versetzen, „mit den Maschinen ins Rennen zu gehen“. Der Essay zeigt die Schwächen dieser optimistischen Narrative und lotet einige Möglichkeiten für politisches Handeln aus.

Der Essay Automatisierung: Segen oder Fluch?“, führt die Problematik der Automatisierung über die Arbeitswelt hinaus. Wenn Maschinen so programmiert werden können, dass sie lernen, selbstständig zu denken, werden sie dann besser denken können als wir und somit in der Lage sein, menschliche durch maschinelle Zwecke zu ersetzen? In der Tat ist genau dies das Ziel der Technologieenthusiasten. Sie beschäftigen sich nicht mit der Arbeit; was für sie verbessert werden muss, ist die Menschheit. Es ist dieser Anspruch, der die Frage der menschlichen Zukunft zu einer existenziellen Frage werden lässt. Der Aufsatz untersucht die Plausibilität dieses Konzepts, indem er die Prognose des Technofantasten Ray Kurzweil, es werde einen „Kipppunkt“ geben, an dem Maschinen werden besser denken können als Menschen, der philosophischen Widerlegung einer solchen Möglichkeit durch Hubert Dreyfus gegenüberstellt. Das Unmöglichkeitstheorem von Dreyfus ist insofern beruhigend, als es uns der Last enthebt zu entscheiden, ob wir das Beste aus den von uns erschaffenen Maschinen machen wollen oder sie zerstören sollen, bevor sie uns zerstören können. Ein Mittelweg ist nur schwer auszumachen.

Ich glaube zu wissen, was ich über die Auswirkungen der Automatisierung auf Arbeit sagen will. Doch die Bestimmung einer teilweise automatisierten menschlichen Spezies bleibt für mich im Dunkeln.

Robert Skidelsky, am 20. Januar 2020

Das Ende der Arbeit Trugbild, Bedrohung oder Verheißung?

Heute möchte ich über die Zukunft der Arbeit sprechen, ein Thema, das hochaktuell geworden ist. Einerseits gibt es im Gefolge des großen Crashs 2008–2009 anhaltende Arbeitslosigkeit, von der junge Menschen in ganz Europa überproportional betroffen sind. Dies vermengt sich mit der Befürchtung, Automatisierung werde in der Zukunft die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze in großem Ausmaß vermindern. Man kann heutzutage kaum eine Tageszeitung durchblättern, ohne einen Artikel darüber zu lesen, wie Roboter die Arbeit von Menschen übernehmen. Daher ist es keineswegs jenseits jeglicher Vorstellungskraft, dass Sie, und gar Ihre Kinder, einer Zukunft ohne Arbeit entgegensehen könnten.

I.

Ich möchte mich diesem Thema über einen Umweg nähern. Ich weiß nicht, wie viele von Ihnen den großartigen russischen Roman Oblomow kennen, der von Iwan Gontscharow verfasst und 1859 publiziert wurde. Er war namensgebend für den „Oblomowismus“, einen Zustand der Apathie, den die Hauptfigur des Romans verkörpert – Ilja Iljitsch Oblomow, ein verarmter Adeliger, der größtenteils zu faul ist, um aus dem Bett zu steigen. In die Erzählung eingewoben ist eine bemerkenswerte Unterhaltung zwischen Oblomow und seinem Freund Andrej Iwanitsch Stolz, in der zwei Idealvorstellungen vom Leben, Müßiggang und Arbeit, miteinander kontrastiert werden. Ich steige an der Stelle in das Gespräch ein, wo Stolz zu seinem Freund sagt: „Also zeichne mir die Umrisse deines Lebensideals zu Ende.“1

Oblomow stellt sich vor, wie er mit seiner Frau und umgeben von Freunden auf dem Land verweilt. Er wacht morgens auf; das Wetter ist prächtig; er wandelt in den Gärten umher, gießt mit dem Gärtner zusammen die Blumen und pflückt einen Strauß für seine Frau. Bei seiner Rückkehr erwartet ihn diese bereits und begrüßt ihn mit einem Frühstück und einem Kuss. Er zieht sich eine weite Jacke an und sie gehen gemeinsam eine endlose Allee entlang, „wir gehen langsam und sinnend, schweigen oder denken laut, träumen, zählen die Augenblicke des Glücks wie das Schlagen des Pulses; … Wir steigen ins Boot, die Frau rudert, die Ruder kaum sichtbar hebend …“.2

Der ideale Tag gestaltet sich weiter so, dass er für den Mittagstisch Früchte des Gartens bestellt, was ihn dazu veranlasst, in der vor Energie strotzenden Küche zu verweilen. Der Koch stellt eine Pfanne auf den Herd, nimmt eine zweite vom Feuer, rührt etwas in einer dritten um, knetet Teig, schneidet Gemüse, schlägt Rahm. Dann kommen die Gäste zum Mittagessen: zwei oder drei Freunde, immer dieselben; sie führen die Konversationen fort, die sie tags zuvor begonnen haben; manchmal verstummen sie, nicht etwa, weil etwas Schlimmes geschehen wäre, „sondern infolge der Fülle verwirklichter Wünsche“.3 Es folgen der Genuss von Mokka und einer Havanna-Zigarre auf der Terrasse.

Wenn die Hitze nachlässt, fahren sie zum Birkenhain oder aufs Feld, um Tee und ein Dessert zu sich zu nehmen. Sie vergnügen sich bis es Zeit ist für ein Beefsteak und eine kalte Suppe. „Die Bauern kehren mit den Sensen auf den Schultern vom Felde zurück, dort führt man Heu vorüber, das den ganzen Wagen und das Pferd bedeckt; oben steckt aus dem Haufen eine blumenumwundene Bauernmütze und ein Kinderköpfchen hervor; dort singt eine Gruppe barfüßiger Frauen mit Sicheln in den Händen … Plötzlich erblicken sie die Herrschaft, verstummen und verneigen sich tief.“4

Sie fahren nach Hause zurück, in der Hütte flackern die Lichter. Aus der Küche hört man das Hämmern großer Messer, die Pfannen sind voller Pilze, Koteletts, Beeren. Oblomow summt die Melodie von Casta Diva.

Wie Ihnen vielleicht auffällt, wird Oblomows perfektes Leben voller Vergnügungen in aristotelischer Manier von einem beträchtlichen Tross idealisierter Leibeigener aufrechterhalten. Auf die Frage von Stolz, was danach noch geschehe, antwortet Oblomow: „Nun, … was noch? … Das ist alles! … Die Gäste ziehen sich in die Seitengebäude und die Pavillons zurück; und am nächsten Morgen geht jeder seines Weges; der eine fischt, der andere nimmt das Gewehr, der sitzt einfach so da … “.

„Und immer dasselbe?“, hakt Stolz verblüfft nach.

„Bis zu den grauen Haaren, bis zum Grabe. Das ist das Leben!“

„Nein, das ist nicht das Leben!“, entgegnet Stolz.

„Wieso nicht? Was fehlt hier? Denke nur daran, daß du keinem einzigen bleichen, leidenden Gesicht, keiner Sorge, keiner einzigen Frage bezüglich des Senats, der Börse, der Aktien, der Relationen, des Empfanges beim Minister, der Titel, der Erhöhung der Diäten begegnen würdest. Es werden nur intime Gespräche geführt! Du würdest niemals deine Wohnung zu wechseln brauchen – was das allein wert ist! Und das wäre nicht das Leben? … [I]st denn das Erreichen der Ruhe, das Streben nach diesem verlorenen Paradiese nicht das Ziel eurer ganzen Geschäftigkeit, eurer Leidenschaften, eurer Kriege, eures Handelns und eurer Politik?“5

Stolz erinnert seinen Freund daran, welche Pläne sie hatten, als sie jung waren – Mathematik studieren, fremde Länder kennenlernen, zur Universität gehen, dem Staat dienen. Stolz hatte all dies getan, Oblomow hatte aufgegeben.

„Du wirst doch einmal zu arbeiten aufhören“, insistiert Oblomow.

„Ich werde niemals aufhören. Warum denn?“

„Wenn du dein Kapital verdoppelt hast“, wagt Oblomow zu sagen.

„Ich höre auch dann nicht auf, wenn ich es vervierfacht habe“, antwortet Stolz.

„Weswegen mühst du dich dann ab? … Wozu soll man sich dann das ganze Leben abquälen?“

Stolz entgegnet: „Um der Arbeit selber willen, das ist alles. Die Arbeit ist die Gestalt, der Inhalt, das Element und Ziel des Lebens, wenigstens des meinigen. Sieh, du hast die Arbeit aus dem Leben verbannt; was ist daraus geworden? Ich versuche, dich, vielleicht zum letzten Male, aufzurütteln. … Jetzt oder nie!“6

Nun, es sollte nie sein.

II.

Statt mit Oblomows Ideal des Vergnügens zu beginnen, lassen Sie mich in meinem Kommentar zunächst auf Stolz’ Ideal von Arbeit eingehen. Denn es ist in der Tat ein Ideal. Er verrichtet Arbeit nicht, um sich einen Lebensunterhalt zu sichern, sondern weil Arbeit unabhängig von ihrem Zweck einen intrinsischen Wert hat. Stolz würde nicht einmal dann aufhören zu arbeiten, wenn er sein Kapital vervierfacht hätte. In seiner Lobeshymne auf die Arbeit findet sich nichts von der Auffassung der Ökonomen, dass Arbeit ein Aufwand ist, den man betreibt, um materiellen Nutzen daraus zu ziehen. Dies entspricht der Vorstellung, dass wir arbeiten, um uns zu ernähren.

Die Konsequenzen dieser Auffassung sind weitreichend. Sie ist heute beispielsweise das Hauptargument, das gegen Sozialleistungen ins Feld geführt wird. Wären Nahrungsmittel kostenlos verfügbar, würden wir alle aufhören zu arbeiten. Andererseits war das Argument der kostenlosen Ernährung Grundlage sämtlicher Utopien. Sie alle waren relativ oder gänzlich arbeitsfrei. Diese Logik findet sich exemplarisch auch in Keynes’ futuristischem Essay aus dem Jahr 1930, „Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“, in dem er voraussagte, dass der Produktivitätszuwachs es der Generation seiner Enkelkinder erlauben würde, lediglich 15 Stunden pro Woche zu arbeiten, bis Arbeit irgendwann schließlich vollkommen abgeschafft werden würde.7 Diese Prophezeiung ist nicht eingetreten, und Stolz kann uns einen wichtigen Grund dafür nennen, warum dem so ist und aus welchem Grund wir nicht erwarten können, dass es irgendwann dazu kommen wird: „Die Arbeit ist die Gestalt, der Inhalt, das Element und Ziel des Lebens“.8

An dieser Stelle müssen wir Begrifflichkeiten definieren. Für Oblomow bedeutet Freizeit Faulheit, also im wahrsten Sinne des Wortes Nichtstun. Das ist jedoch nicht, was Philosophen seit Aristoteles unter Freizeit verstanden haben. Diese stellten sich eine aktive Freizeit vor, die sich von Arbeit nur insofern unterscheidet, als sie frei ist von äußerem Zwang.

In der Tat ist Freizeit für Aristoteles der Zustand der eudaimonia, der Zufriedenheit, die man aufgrund eines gelungenen Lebens empfindet. Es ist Oblomow durchaus bewusst, dass er sein Leben verschwendet und seine Chance auf das Glück verspielt. Es gibt für ihn zu wenig zu tun, um die Langeweile zu vertreiben, deshalb verbringt er auch so viel Zeit im Bett. Das ideale Leben, wie er es Stolz schildert, ist nichts anderes als ein idealisiertes Bild der Langeweile. Doch auch Stolz’ Begriff von „Arbeit“ entspricht nicht unserem gängigen Verständnis. Denn für ihn wird sie nicht mit dem Ziel verrichtet, Geld zu verdienen, sondern ist stärker verwoben mit Pflichtgefühl und einem inneren Zwang aktiv zu sein.

Sollten wir dementsprechend nicht eher zwischen zwei Arten von Freizeit einerseits – einer aktiven und einer trägen Freizeit – und der Arbeit für den Lebensunterhalt andererseits unterscheiden? Und gehen unsere Schwierigkeiten, uns von diesem Sachverhalt ein klares Bild zu machen, nicht auf ein Wortverständnis zurück, das Freizeit mit Nichtstun und Arbeit mit dem Bestreiten des Lebensunterhalts gleichsetzt? Diese spezifische Zweiteilung von Bedeutungen ist keineswegs zufällig. Sie widerspiegelt die seit langer Zeit bestehende historische Teilung der Gesellschaft in jene, die arbeiten müssen und jene, auf die das nicht zutrifft. Diese Teilung nahm ihren Ausgang in der urtümlichen Unterteilung der Gesellschaft in Krieger, Priester und Landwirte. Über längere Zeit hinweg entwickelte sich daraus eine Reihe ethischer Konstrukte, derer wir uns nur schwer entledigen können.

Auf der einen Seite steht die griechische Vorstellung, dass sich die Arbeit für den Lebensunterhalt nur für diejenigen eignet, die von Natur aus Sklaven sind. Die höher gestellten Schichten kamen ihren Verpflichtungen gegenüber der Polis ausreichend nach, indem sie regierten, kämpften, dachten: das aristokratische Ideal. Auf der anderen Seite entwickelte sich mit dem Christentum und als Abwehr gegen die aristokratische Überheblichkeit die Vorstellung der Vornehmheit und des erlösenden Werts von Arbeit. Nietzsche sah im Christentum eine Religion der Sklaven.9 Diese zwei gegensätzlichen Haltungen finden wir bei Oblomow und Stolz, obwohl die aristokratische Haltung in Oblomows Fall aufgeweicht ist.

Ökonomen haben die Vorstellung von Arbeit als Kostenfaktor aufgegriffen und dieser mit der Idee eines Trade-offs zwischen Arbeit und Freizeit eine spezifische Wendung verliehen. Darin widerspiegelt sich das Wohlstandswachstum des 19. Jahrhunderts sowie die Erkenntnis, dass für eine zunehmende Anzahl von Menschen Arbeit eine Wahl statt einer Notwendigkeit werden würde.

Betrachten wir einen Moment die Darstellung des Arbeitsmarktes, so wie sie im Lehrbuch steht. Arbeit stellt sowohl für den Arbeitgeber als auch für den Arbeiternehmer einen Kostenfaktor dar. Sie erzeugt Kosten für die Arbeitgeber, denn sie müssen ihren Arbeitnehmern eine bestimmte Geldsumme geben, um sie dazu zu bewegen, eine gewisse Anzahl von Stunden zu arbeiten (Anreiz). Daher kommt die allgemein bekannte Formel: Der Lohn entspricht dem Grenzprodukt der Arbeit. Da man annimmt, dass das Grenzprodukt der Arbeit mit jeder weiteren Arbeitsstunde fällt, zeichnen die Ökonomen für Arbeit eine abfallende Nachfragekurve.

Doch es gibt auch eine Angebotskurve der Arbeit. Die zentrale Annahme lautet hier, dass der Lohn dem Grenzleid der Arbeit entspricht. Sie ist steigend, da jede zusätzliche Arbeitsstunde für den Arbeitnehmer die Strapazen der Arbeit vergrößert, und dafür erwartet er eine höhere Entlohnung. Der Preis und die Menge der Arbeit sind am Schnittpunkt der beiden Kurven fixiert.

In dieser Logik – wir sollten hier zur Kenntnis nehmen, dass sie annimmt, dass die Wahl zwischen Nachfrage und Angebot von Arbeit ausschließlich von individuellen Übereinkünften zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern abhängt –, ist es sehr schwierig, der Sprache der Trade-offs zu entkommen, gemäß der Arbeiter zusätzliches Einkommen durch mehr Arbeit gegen zusätzliche Freizeit durch weniger Arbeit eintauschen.

Ökonomen unterscheiden zwischen zwei Effekten, dem Substitutions- und dem Einkommenseffekt. Wenn Löhne steigen, wird Arbeit relativ rentabler als Freizeit (Substitutionseffekt). Der Substitutionseffekt höherer Löhne geht davon aus, dass Arbeiter Freizeit aufgeben, um mehr zu arbeiten, zumal Arbeit nun höher entlohnt wird. Doch bei höheren Löhnen können Arbeiter auch mit weniger Arbeit einen annehmbaren Lebensstandard aufrechterhalten (Einkommenseffekt). Der Einkommenseffekt höherer Löhne besagt, dass Arbeiter ihre Arbeitswochenstunden reduzieren, weil sie ein bestimmtes Einkommensziel mit weniger Arbeitsstunden erreichen können.

Ist der Substitutionseffekt größer als der Einkommenseffekt, werden Menschen mehr arbeiten. Doch man nahm an, ab einem bestimmten Lohnniveau würde der Einkommenseffekt dominieren. Davon ging sicherlich auch Keynes in seinem Essay „Wirtschaftliche Möglichkeiten“ aus. Menschen würden umso weniger arbeiten, je reicher sie werden. Bis vor circa dreißig bis vierzig Jahren schien dies eine vernünftige Annahme zu sein. Während die Löhne stiegen, sanken die Arbeitsstunden kontinuierlich. Allerdings scheint der Substitutionseffekt seit den 1980er Jahren stärker zu sein. Die westlichen Gesellschaften wurden durchschnittlich reicher, die Arbeitsstunden gingen jedoch nicht weiter zurück. Mit diesem Rätsel waren mein Sohn Edward und ich anfangs konfrontiert, als wir unser Buch Wie viel ist genug? verfassten.10 Wir formulierten vier mögliche Erklärungen.

Die erste besagt, dass viele Menschen Arbeit nicht mit Kosten, sondern mit Nutzen in Verbindung bringen. Sie begreifen Arbeit – und dies entspricht der Sichtweise Stolz’ – als „die Gestalt, de(n) Inhalt, das Element und Ziel des Lebens“.11

Zweitens könnte es daran liegen, dass Menschen unersättlich sind. Sie wollen immer mehr Güter haben. Länger zu arbeiten ermöglicht es ihnen, immer mehr davon zu erwerben. Daher arbeiten sie länger. Aus dieser Perspektive geht Arbeit noch immer mit Kosten einher, aber das mit der Arbeit verbundene Leid, ist geringer als das Leid, das mit dem Verzicht auf Güter einhergeht, die man mit mehr Arbeit hätte bekommen können.

Drittens können Arbeiter es sich in der Tat, anders als die ökonomische Theorie geltend macht, gar nicht aussuchen, wie viel sie arbeiten. Es sind vielmehr die Arbeitgeber, die darüber entscheiden. Demnach würden die Arbeitszeiten nicht die Präferenzen der Arbeitnehmer, sondern die Macht der Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt widerspiegeln.

Schließlich hat der Anstieg des durchschnittlichen Realeinkommens seit den 1980er Jahren eine Stagnation oder sogar einen Rückgang des Medianlohns verschleiert. Der typische Verdiener ist daher nicht besser und vielleicht sogar schlechter gestellt als vor 30 oder 40 Jahren. Mit anderen Worten ist der Substitutionseffekt zum größten Teil eine Illusion. Menschen arbeiten nicht länger, um mehr Güter zu erwerben. Sie arbeiten länger, um weiter dieselbe Menge an Gütern erwerben zu können.