Das Corona-Rätsel

Das Corona-Rätsel

Tagebuch einer Pandemie

Martin Sprenger

Seifert Verlag

Inhalt

Vorwort

1. Prolog in China

2. Europas Fehleinschätzung

3. Österreichs Ibiza der Alpen

4. Glossar

Anmerkungen

Vorwort

Mein Tagebuch umfasst drei Monate einer Zeit, in der, wie viele meinen, ein »Jahrhundertereignis« stattgefunden hat. Ich sehe das nicht so. Mit Sicherheit ist die Corona-Pandemie aber ein außergewöhnliches Ereignis. Sowohl in Bezug auf das Erkrankungs- und Sterbegeschehen als auch in Bezug auf die daraus resultierenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen. Viele Dinge, die im Jänner noch undenkbar schienen, wurden im März Wirklichkeit. Mit einer vorher noch nie wahrgenommenen Klarheit wurden globale, europäische, nationale und regionale Strukturschwächen offengelegt. Aber auch auf der menschlichen und sozialen Ebene wurden Facetten sichtbar, die ansonsten gut verborgen werden.


Schneller als das Virus infizierte die Angst Gesellschaften und Individuen und führte zu Verschiebungen von Wahrnehmung, Moral und Ethik, demokratischen Werten und Normen und von vielem mehr. Für unerschütterlich gehaltene Fundamente unserer Lebensweise bröckelten. Dies alles erfolgte mit einer Geschwindigkeit, dass einem beim Betrachten schwindlig wurde. Auch die Wissenschaft fand lange keinen festen Boden und schlingerte durch das Geschehen, auf der Suche nach Daten und Informationen, um wieder Halt und Sicherheit zu erlangen. Diese erschienen aber nur zaghaft und widersprüchlich, waren voller Rätsel und Fragen. Keine guten Voraussetzungen, um erfolgreich durch eine Pandemie zu kommen.


Ich habe mich bemüht, nicht nur meine Lernkurve zu beschreiben, sondern parallel dazu auch die Veränderung der Wahrnehmung von Medien, Politik und Wissenschaft. Trotzdem ist ein Tagebuch immer etwas sehr Persönliches, sehr Subjektives. Keinesfalls ersetzt es eine objektive wissenschaftliche Aufarbeitung. Es ist aber auch immer selektiv und kann nur Bruchstücke des Geschehens beleuchten. Trotzdem ergeben auch diese ein Bild, das bei der Betrachtung und Reflexion der Geschehnisse in Österreich helfen kann. Die Puzzlesteine sind meine E-Mails, Texte und Stellungnahmen, die ich in den letzten drei Monaten gesammelt und für dieses Tagebuch sortiert habe. Mit Ausnahme einer Korrektur der Rechtschreibung, der Verwendung besser verständlicher Begriffe oder dem Ausschreiben von Abkürzungen werden diese ohne Veränderung wiedergegeben.


Dass ich damit angreifbar werde, nehme ich gerne in Kauf. Bewusst habe ich darauf verzichtet, die oft brisanten Zeilen der anderen Seite des Dialogs wortwörtlich zu veröffentlichen. Die Leser verstehen auch so, worum es gegangen ist. Ich zitiere viele kluge Stimmen aus diversen Medien und verweise auf wissenschaftliche Ergebnisse. Im Gegensatz zu einer wissenschaftlichen Arbeit wurden nur wenige Fußnoten eingefügt. Die meisten Texte und Videos findet man auch so. Das Archiv Internet hat zum Glück die meisten Schlüsselmomente gut konserviert. Dazu gehören vor allem die vielen Pressekonferenzen und für immer nachlesbaren und nachschaubaren Stellungnahmen aus Politik, Wissenschaft und dem Journalismus.


Das Tagebuch hat, so wie jedes Tagebuch, eine Chronologie. Trotzdem werden an geeigneter Stelle manche Aspekte der Pandemie näher ausgeführt und Querverbindungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hergestellt. Das ist das Privileg des Rückblicks. Während die Zukunft der Pandemie ungewiss in der Glaskugel flimmert, ist ihre Vergangenheit gut dokumentiert und nachlesbar. Ich möchte mich an dieser Stelle herzlich bei Maria Seifert bedanken, die den Impuls zum Schreiben gegeben hat. Ihre Unabhängigkeit hat mich überzeugt. Ein großer Dank gilt auch meinen Eltern, die mich zu einem kritischen, fröhlichen, neugierigen und jegliche Rangordnung ablehnenden Menschen gemacht haben. Ihnen verdanke ich die Liebe zur Natur, den Respekt vor anderen Meinungen, aber auch meine Furchtlosigkeit vor »Mächtigen«, deren Nacktheit mein Vater immer schon erkannte. Devot zu sein habe ich nie gelernt, es war aber aufgrund meiner behüteten wie wilden Kindheit, meiner guten Ausbildung und meinem Privileg der Unabhängigkeit auch nie notwendig. Ich bedanke mich bei all den Menschen, die ich in meinem Leben kennenlernen und lieben lernen durfte. Viele von ihnen sind kantige, schrullige und bunte Charaktere, Freigeister und lebensbejahend. Mit manchen bin ich durch die wildesten Abenteuer gegangen, vertraue ihnen bei meinem Leben. Sie sind der wahre Schatz, den ich gefunden habe. Der größte davon ist meine Familie, die ich spät, aber umso bewusster genießen darf.


Interessenskonflikt:

Bei der Einreichung jeder wissenschaftlichen Publikation, am Beginn jedes wissenschaftlichen Vortrags, steht die Offenlegung der eigenen Interessenskonflikte. Die etwas sperrig klingende Definition lautet: »Interessenkonflikte sind definiert als Gegebenheiten, die ein Risiko dafür schaffen, dass professionelles Urteilsvermögen oder Handeln, welches sich auf ein primäres Interesse beziehen, durch ein sekundäres Interesse unangemessen beeinflusst werden.« Konkret bedeutet das: Jede entgeltliche oder unentgeltliche Zuwendung muss offengelegt werden (Transparenzprinzip); jede entgeltliche oder unentgeltliche Zuwendung muss unabhängig von Entscheidungen beziehungsweise Geschäften sein (Trennungsprinzip); Leistung und Gegenleistung müssen in einem angemessenen Verhältnis stehen (Äquivalenzprinzip); alle Leistungen müssen schriftlich festgehalten werden (Dokumentationsprinzip).


Hier also meine Interessenskonflikte in Bezug auf dieses Tagebuch. Ich habe in den gesamten drei Monaten keinen einzigen Cent Honorar oder Spesenersatz für irgendeine Tätigkeit, wie zum Beispiel die im Beirat des Gesundheitsministeriums, oder für irgendeinen Artikel, ein Interview oder einen Medienauftritt erhalten. Zwei unentgeltliche Zuwendungen habe ich bekommen. Erstens hat Christian Jungwirth mir einige seiner Portraitaufnahmen unentgeltlich zu Verfügung gestellt, unter der Auflage, dass diese mit dem korrekten Foto-Kredit versehen werden, und Flo Rudig hat mich im Hinterzimmer auf zwei Bier (eines davon alkoholfrei) und eine Jause eingeladen. Beide Zuwendungen hatten keinen Einfluss auf das Geschriebene in diesem Tagebuch.

Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,

In allen Lüften hallt es wie Geschrei.

Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei

Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen

An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.

Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.

Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

(Jakob van Hoddis, 1911)

1

Prolog in China

Die Stadt Wuhan ist über 8.000 Kilometer von Wien entfernt und hat gleich viel Einwohner wie Österreich. Trotzdem wusste ich – und sicher auch die meisten Menschen in Europa – bis vor Kurzem nicht, dass sie überhaupt existiert. Als dort am 17. November 2019 der erste Fall von COVID-19 dokumentiert wurde, blieb dies weitgehend unbeachtet. Erst am 31. Dezember verständigte China die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über Fälle von Lungenentzündungen unbekannter Ursache.1 Drei Wochen später, am 21. Jänner 2020, zählte die WHO bereits 314 bestätigte COVID-19-Fälle, davon 309 in China.2 Am 23. Jänner sind es 830, und ganz Wuhan wird in Quarantäne geschickt. Gleichzeitig wird das soziale, aber auch wirtschaftliche Leben mittels eines »Lockdowns« fast vollkommen stillgelegt.3 Der Mathematiker Adam Kucharski schätzt, dass es Ende Jänner bereits zehn Mal mehr Erkrankungen gegeben hat, als offiziell bestätigt.4 Andere schätzen, dass es sogar 40 Mal mehr waren.5


Anfang März kamen Forscher der Universität Southampton zu dem Ergebnis,6 dass eine Vorverlegung der strikten Maßnahmen um eine Woche, also auf den 16. Jänner, die Anzahl der infizierten Personen in Wuhan um 66% reduziert hätte. Bei einer Vorverlegung von zwei Wochen wären es 86% und bei drei Wochen sogar 95% gewesen. Rückblickend hätte somit die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 schon in China unterbunden werden können. Welche gesundheitlichen, psychischen, sozialen und ökonomischen Schäden wären der Welt erspart geblieben, wenn das gelungen wäre? Wir werden es nie erfahren.

2

Europas Fehleinschätzung

Das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kon­trolle von Krankheiten (ECDC) veröffentlicht am 09. Jänner eine erste Risikoabschätzung zur SARS-CoV-2 Epidemie in China.1 Der Ausbruch wird als ein lokales Ereignis eingeschätzt, eine Reisewarnung ausgesprochen und die Gefahr einer Einschleppung nach Europa als niedrig klassifiziert. Die Leitung des Europäischen Labornetzwerks für aufkommende virale Erkrankungen2 bezeichnet die europäischen Kapazitäten und Fähigkeiten einer Diagnostik auf Corona­viren als ausreichend. Eine am 26. Jänner aktualisierte Risikoabschätzung3 des ECDC empfiehlt allen Mitgliedsländern, ihre Testkapazitäten zu überprüfen und gegebenenfalls auszubauen. Verdachtsfälle sollen über das Europäische Frühwarn- und Reaktionssystem (EWRS) gemeldet werden. Eine Kontaktverfolgung von positiv getesteten Fällen wird empfohlen, eine Quarantäne für asymptomatische Personen jedoch nicht. Am Ende des Dokuments wird noch auf die vielen Unsicherheiten und offenen Fragen eingegangen.

Wie wäre die Risikoabschätzung des ECDC Anfang Jänner 2020 ausgefallen, wenn alle heutigen Informationen zur Verfügung gestanden hätten? Wo würde die Europäische Union (EU) heute stehen, wenn es einen abgestimmten Pandemieplan mit allen erforderlichen Kapazitäten und ab Mitte Jänner eine gemeinsame Überwachung gegeben hätte? Welche gesundheitlichen, psychischen, sozialen und ökonomischen Schäden wären Europa erspart geblieben, wenn eine gemeinsame Eindämmungsstrategie erfolgreich gewesen wäre? Wir werden es nie erfahren. Am 28. Jänner werden in Rom zwei chinesische Touristen positiv auf SARS-CoV-2 getestet. Am 23. Februar war Italien mit 76 bestätigten Fällen bereits das meistbetroffene Land außerhalb von Asien.4