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Für Jacques Derrida bildete die Tätigkeit als Lehrender zeitlebens eine Quelle seines Denkens und Schreibens. Mit Die Todesstrafe liegt nun ein weiteres der Seminare Derridas vor.

Reflexionen über das „Vergeben“ und das „Nichtvergebbare“ führen Derrida zur Befragung der Todesstrafe als irreversible Sanktion. Im Fokus stehen dabei vor allem drei Begriffe, die sich als problematisch erweisen: Souveränität, Ausnahme und Grausamkeit. Es stellt sich die Frage, warum internationale Konventionen die Abschaffung grausamer Strafen fordern, insbesondere der Todesstrafe, ohne die Staaten je dazu zu verpflichten – mit der Begründung, dass ihre Souveränität zu achten sei. Ausgehend von vier paradigmatischen Fällen zum Tode Verurteilter (Sokrates, Jesus, Al Halladsch, Jeanne d’Arc) wird anhand kanonischer Texte (Beccaria, Kant, Hugo, Camus, Genet, Badinter) und einschlägiger Rechtsdokumente die Logik und Rhetorik dieser Argumentation untersucht. Konkrete Bezugspunkte bilden dabei die Bewegungen zur Abschaffung der Todesstrafe in Frankreich (1981 erfolgreich) und den USA.

Jacques Derrida (1930-2004) lehrte Philosophie in Paris und den USA.

Jacques Derrida

Die Todesstrafe I

Seminar 1999–2000

Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek

Hg. von Geoffroy Bennington, Marc Crépon
und Thomas Dutoit

Passagen forum
Herausgegeben von Peter Engelmann

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Deutsche Erstausgabe

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Allgemeine Einführung

Vorbemerkung der Herausgeber

Erste Sitzung. 8. Dezember 1999

Erste Sitzung. 8. Dezember 1999 (Fortsetzung)

Zweite Sitzung. 15. Dezember 1999

Dritte Sitzung. 12. Januar 2000

Vierte Sitzung. 19. Januar 2000

Fünfte Sitzung. 26. Januar 2000

Sechste Sitzung. 2. Februar 2000

Siebte Sitzung. 9. Februar 2000

Achte Sitzung. 23. Februar 2000

Neunte Sitzung. 1./8. März 2000

Zehnte Sitzung. 15. März 2000

Elfte Sitzung. 22. März 2000

Anmerkungen

Zu den Herausgebern

Verzeichnis der ausführlich zitierten Literatur

Namensverzeichnis

Allgemeine Einführung

Die Gesamtausgabe der Seminare und Vorlesungen Jacques Derridas wird dem Leser die beispiellose und – im mehrfachen Sinne des Wortes – unerhörte Chance bieten, mit dem gesprochenen Wort des Philosophen in Berührung zu kommen, wie es im Rahmen seiner Lehrtätigkeiten geäußert wurde. Diese Ausgabe wird einen neuen Teil seines Werkes darstellen, der zu unterscheiden ist von den Büchern und anderen Texten, die er zu Lebzeiten veröffentlichte oder noch vor seinem Tod durchgesehen hat; dieser Teil besitzt natürlich einen anderen Status als jene. Ob als eigenständiges Ganzes genommen oder in ihrem Verhältnis zu Derridas philosophischem Werk betrachtet werden diese Vorlesungen und Seminare der Forschung ein unvergleichliches Hilfsmittel an die Hand geben und, so glauben wir zumindest, sein Denken in anderer Weise erfahrbar machen, diesmal eben in Verbindung mit seiner – in Frankreich wie im Ausland ausgeübten – Tätigkeit als Lehrender, die stets eine lebendige Quelle seines Schreibens bildete.

Das Korpus, das wir zur Publikation vorbereiten, ist von gewaltigem Umfang. Vom Beginn seiner Lehrtätigkeit an hatte Jacques Derrida es sich zur Gewohnheit gemacht, fast alle seiner Vorlesungen und Seminare vollständig niederzuschreiben. Wir verfügen in diesem Zusammenhang gegenwärtig über das Äquivalent von ungefähr 14 000 Druckseiten, das heißt 43 Bänden oder 1 Band pro Studienjahr. Man kann dieses Material nach verschiedenen Kriterien klassifizieren. Zunächst einmal nach den jeweiligen Orten der Lehre: an der Sorbonne 1960-1964; an der École normale supérieure in der Rue d’Ulm 1964-1984; an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) 1984-2003.1 Sodann nach der Art der jeweiligen Lehrveranstaltung: bis 1964 Vorlesungen mit einer wechselnden Anzahl von Sitzungen (die von einer bis 15 reicht); später dann das, was er stets „Seminare“ nannte. Schließlich – und dieses Kriterium ist für die editorische Arbeit zweifellos am relevantesten – nach den Arbeitswerkzeugen: handgeschriebene Sitzungstexte von 1960 bis 1969; maschinengeschriebene, mit handschriftlichen Anmerkungen und Korrekturen versehene Sitzungstexte von 1969 bis 1987; am Computer verfasste Sitzungstexte von 1987 bis 2003.

Jacques Derridas Seminare, die eine eigentümliche Form besaßen und bereits in der Rue d’Ulm (wo die Wahl der Themen und der Autoren, wenn nicht sogar ihre Behandlungsweise den Zwängen des Studiengangs zur Erlangung der agrégation2 unterworfen war) ein großes und breit gefächertes, internationales Publikum anzogen, nahmen an der EHESS ihren endgültigen Charakter an: Am Mittwoch, von 17 bis 19 Uhr, in circa zwölf Sitzungen pro Studienjahr, trug Jacques Derrida vor einer großen Zuhörerschaft und stets ein wenig improvisierend den Text seines Seminars vor, den er im Laufe des Jahres vollständig niedergeschrieben und redigiert hatte. (Diesen sind noch einige improvisierte Sitzungen hinzuzufügen, die bisweilen der Interpretation eines Textes oder der Diskussion dienten.) Nunmehr frei in der Wahl seines Gegenstands, hat Derrida mehrjährige Forschungsprojekte angelegt, die explizit und in kohärenter, schlüssiger Weise aufeinanderfolgen. Die wichtige Frage nach „Nationalität und Nationalismus in der Philosophie“ (1984-1988) führt zur Frage nach den „Politiken der Freundschaft“ (1988-1991), die wiederum zu einem großangelegten Themenblock unter dem Titel „Fragen der Verantwortung“ (1991-2003) führt, unter dem nacheinander folgende Themen angesprochen werden: das Geheimnis (1991-1992), das Zeugnis (1992-1995), Feindschaft und Gastfreundschaft (1995-1997), Eidbruch und Vergebung (1997-1999), die Todesstrafe (1999-2001); das Ganze mündet schließlich in die letzten beiden Studienjahre, die sich unter dem Titel „La bête et le souverain“ (2001-2003) den Fragen der Souveränität und der Animalität widmeten.

Jacques Derrida hatte die Angewohnheit, für die zahlreichen Vorträge, die er jedes Jahr in aller Welt hielt, aus dem reichen Material dieser Seminare zu schöpfen, und so wurden auf diesem Wege bestimmte Ausschnitte von Seminaren umgearbeitet und publiziert. Darüber hinaus haben einige seiner Bücher ihren Ausgangspunkt in der Arbeit im Seminar: So ist zum Beispiel ein Großteil von De la grammatologie (1967) eine Weiterentwicklung von Sitzungen eines Seminars über „Natur, Kultur, Schrift“ in den Jahren 1965-1966; das Seminar über „Hegels Familie“ (1971-1972) fand Eingang in Glas (1974); Politiques de l’amitié (1994) präsentiert sich explizit als Weiterentwicklung der ersten Sitzung des Seminars von 1988-1989, wobei sich letztendlich auch Spuren weiterer Sitzungen finden.3 Trotz all dieser Neuzuschnitte und partiellen Überschneidungen ist der weitaus größte Teil der Woche für Woche für das Seminar verfassten Seiten unveröffentlicht geblieben; sie werden eine unschätzbare Ergänzung zum bereits veröffentlichten Werk bieten. Jedes Mal wenn eine Sitzung – in modifizierter oder in unveränderter Form – Gegenstand einer späteren Veröffentlichung von Jacques Derrida wurde, wird letztere angezeigt und mit bibliografischen Angaben nachgewiesen werden. Wir sind der Ansicht, dass es nicht Sache einer Edition der Seminare im eigentlichen Sinne, das heißt als Originalmaterialien, ist, eine vergleichende Lektüre dieser Versionen vorzulegen.

Wie bereits angedeutet, gestaltete sich die editorische Arbeit überaus unterschiedlich, je nachdem, auf welche Weise der Text entstanden ist. Für jene Zeitspanne, in der die Schreibmaschine verwendet wurde, verlangen zahlreiche Streichungen und handschriftliche Anmerkungen nicht zu unterschätzende Anstrengungen bei ihrer Entzifferung. Das gilt umso mehr für jene Seminare, die vollständig per Hand, also mit Jacques Derridas schöner, aber schwierig zu lesender Handschrift redigiert wurden und daher eine äußerst gewissenhafte Transkription erfordern. In einer ersten Phase werden wir also die Seminare der letzten zwanzig Jahre veröffentlichen, wobei das allerletzte Seminar den Anfang macht, während die übrigen zur Publikation vorbereitet werden. Unser oberstes Ziel war es jedenfalls, den Text des Seminars zu präsentieren, wie er von Jacques Derrida niedergeschrieben wurde, im Hinblick auf den mündlichen Vortrag, also mit bestimmten vorweg notierten Mündlichkeitsmarkern und gewissen familiären Wendungen. Es ist nicht sicher, ob Jacques Derrida diese Seminare veröffentlicht hätte, wenngleich er bisweilen eine derartige Absicht äußerte4; sehr wahrscheinlich ist jedoch, dass er diese Texte, falls er sie für eine Publikation wiederaufgegriffen hätte, im Sinne des geschriebenen Textes überarbeitet hätte, wie er es immer tat. Wir haben es natürlich nicht auf uns genommen, diese Arbeit an seiner Stelle zu erledigen. Wie bereits erwähnt, wird der Leser die Originalversion, die wir hier vorlegen, mit jenen wenigen Sitzungen vergleichen können, die Jacques Derrida selbst eigenständig publiziert hat.

Geoffrey Bennington

Marc Crépon

Marguerite Derrida

Thomas Dutoit

Peggy Kamuf

Michel Lisse

Marie-Louise Mallet

Ginette Michaud

Vorbemerkung der Herausgeber

Mit dem vorliegenden Band wird das erste der beiden Studienjahre des Seminars von Jacques Derrida veröffentlicht, die er 1999-2000 und 2000-2001 dem Thema der Todesstrafe widmete. Dieses Seminar wurde im Rahmen des Programms „Philosophie und Epistemologie“ an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris gehalten, diente aber auch als Grundlage für Lehrveranstaltungen in den Vereinigten Staaten: für die Dauer von fünf Wochen im Frühjahr 2000 und 2001 an der University of California in Irvine sowie für die Dauer von drei Wochen im Herbst 2000 und 2001 an der New York University.

Dieses Seminar geht dem bereits veröffentlichten über „Das Tier und der Souverän“1 unmittelbar voraus. Es gehört zu einem größeren Ensemble, das unter dem Titel „Le parjure et le pardon [Eidbruch und Vergebung]“ 1997-1998 begonnen und 1998-1999 fortgesetzt wurde, und das seinerseits Teil eines langjährigen Zyklus unter dem Titel „Questions de responsabilité [Fragen der Verantwortung]“ ist, der 1989 begonnen wurde und 2003 seinen Abschluss fand, dem letzten Jahr, in dem Jacques Derrida Lehrveranstaltungen abhielt.2

Das erste Studienjahr des vorliegenden Seminars war nicht eigens betitelt3; erst im Jahrbuch der EHESS 2000-2001, für das zweite Studienjahr also, wurde der Titel wie folgt festgelegt: „Questions de responsabilité (VIII. La peine de mort) [Fragen der Verantwortung (VIII. Die Todesstrafe)]“.4

Der aufmerksame Leser der Gesamtheit dieser sich über zwei Jahre erstreckenden Ausführungen über „die Todesstrafe“ wird leicht feststellen, in welcher Weise jedes einzelne Jahr strukturiert und die Gesamtheit der zweiundzwanzig Sitzungen komponiert ist. Es obliegt nicht uns, eine Interpretation zu liefern oder Bemerkungen zu Besonderheiten in der Struktur dieses Ganzen zu machen. Gleichwohl sollte der Leser von Anfang an vor Augen haben, dass die Darlegungen, ja sogar die Gebiete oder die „Themen“ des ersten Bandes sich deutlich von denen unterscheiden, die das zweite Studienjahr des Seminars bilden. Wenn eine Gesamtlektüre auch gewisse Leitfäden zutage fördern kann, so darf sie gleichwohl nicht verdecken, auf welche Weise Derrida die beiden Jahre entsprechend der unterschiedlichen sie jeweils strukturierenden Reihen oder Unterreihen trennt, ganz zu schweigen vom (Text-)Korpus und den einzelnen Fachgebieten, die von einem Jahr zum anderen variieren. Derrida selbst liefert gewisse Klärungen zu Beginn des zweiten Seminarjahres sowie in den Zusammenfassungen, die er für die beiden Studienjahre jeweils verfasste. Wir laden den Leser dieses ersten Bandes daher ein, sich noch keine feste „Vorstellung“ von der Todesstrafe (beziehungsweise den Todesstrafen) gemäß Jacques Derrida zu bilden, solange der zweite Band, der sich vom ersten in vielerlei Hinsicht unterscheidet, noch nicht erschienen ist5.

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Hier nun das Resümee, das Jacques Derrida vom Seminar des Jahres 1999-2000 gab, um das es uns hier geht:

Die Problematik, die wir in den letzten beiden Jahren unter diesem Titel < „Le parjure et le pardon [Eidbruch und Vergebung]“ > in Angriff genommen haben, hat uns dahin geführt, dieses Mal die große Frage der Todesstrafe in den Vordergrund zu stellen. Das war zumindest insofern notwendig, als die sogenannte Kapitalstrafe6 im unmittelbaren Bevorstehen einer irreversiblen Sanktion, zusammen mit dem, was als das Nichtvergebbare zu gelten scheint, auch die Begriffe der Souveränität (des Staates oder des Staatsoberhaupts – Recht über Leben und Tod gegenüber dem Staatsbürger), des Begnadigungsrechts usw. ins Spiel bringt.

Untersucht, zumindest auf präliminarische Weise, haben wir die Todesstrafe ausgehend sowohl von großen paradigmatischen Beispielen (Sokrates, Jesus, Al-Halladsch, Jeanne d’Arc) als auch von kanonischen Texten, von der Bibel über Beccaria, Locke, Kant und Victor Hugo – dem wir einige Sitzungen widmeten – bis hin zu Camus, Badinter und Genet usw., insbesondere auch juridischen Texten aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Tat legen zahlreiche internationale Konventionen die Abschaffung von grausamen Strafen und von Folterungen, darunter der Todesstrafe, dringend nahe, ohne die Staaten je dazu zu verpflichten, deren Souveränität geachtet werden müsse. Wir haben uns für die Bewegungen zur Abschaffung der Todesstrafe7 interessiert, für ihre Logik und ihre Rhetorik, vor allem in den Vereinigten Staaten, deren jüngste, ja sehr aktuelle Geschichte zahlreiche Analysen erforderte – insbesondere seit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von 1972, der die Anwendung der Todesstrafe für verfassungswidrig erklärte („cruel and unusual punishment“), bis hin zur spektakulären erweiterten Wiederaufnahme der Exekutionen von 1977 an, etc. Wir haben der Ausnahme der Vereinigten Staaten viel Aufmerksamkeit gewidmet.

In unserer Fragestellung waren durch die untersuchten Texte und Beispiele hindurch drei problematische Begriffe vorherrschend: die Souveränität, die Ausnahme und die Grausamkeit. Eine weitere Leitfrage lautete: Warum haben die Bewegung zur Abschaffung der Todesstrafe oder die Verdammung der Todesstrafe in ihrem Prinzip bisher (fast) nie einen im eigentlichen Sinne philosophischen Platz gefunden in der Architektonik eines großen philosophischen Diskurses als solchem? Wie ist diese höchst signifikante Tatsache zu deuten?8

Einige Monate zuvor hatte er für die University of California in Irvine auf Englisch folgende andere Beschreibung des Seminars verfasst, das er dem amerikanischen Publikum im Frühjahr geben sollte:

Death Penalty

In continuing the past years’ seminars (Pardon and Perjury), we will take up this year, under the heading of the unforgivable, the question of capital punishment.

We will start by studying its history, juridical and political dimensions, the present stakes of its abolishment (in the process of mondialisation, worldization, „globalization“, particularly in the United States). We would also analyse the „scene“, the history of its visibility and of its „public“ character generally, but also its representation in the arts of theatre, painting, photography, cinema and of course, literature.

Intertwined in this first approach will be two leading threads: the equivocal concepts of „cruelty“ and of „exception“, which play a determining role in juridical discourses (for and against death penalty).

On the horizon – the big question of sovereignty in general, of sovereignty of the State in particular.

Todesstrafe

In Fortsetzung der Seminare der vergangenen Jahre (Vergebung und Eidbruch) werden wir dieses Jahr, unter dem Titel des Nichtvergebbaren, die Frage der Todesstrafe aufgreifen.

Wir werden damit beginnen, ihre Geschichte und ihre juristischen und politischen Dimensionen zu untersuchen, sowie die aktuellen Bemühungen um ihre Abschaffung (im Prozess der mondialisation, der Globalisierung, der Weltweitwerdung, der „globalization“, insbesondere in den Vereinigten Staaten). Analysieren werden wir auch die „Szene“, die Geschichte ihrer Sichtbarkeit und ihres „öffentlichen“ Charakters ganz allgemein, aber auch ihre Darstellung in den Künsten, im Theater, in der Malerei, der Photographie, im Film und, natürlich, in der Literatur.

Diese erste Annäherung wird von zwei Leitfäden durchzogen sein: den zweideutigen Begriffen der „Grausamkeit“ und der „Ausnahme“, die in den juristischen Diskursen (für und gegen die Todesstrafe) eine bestimmende Rolle spielen.

Am Horizont zeichnet sich dabei ab – die große Frage der Souveränität im Allgemeinen, sowie der Souveränität des Staates im Besonderen.9

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Die zwei Jahre dieses Seminars umfassen zweiundzwanzig Einzelsitzungen, darunter zwölf im ersten Studienjahr (1999-2000)10, und zehn im zweiten Studienjahr (2000-2001). Alle zusammen wurden von Jacques Derrida auf dem Computer verfasst. Von den zwölf Sitzungen dieses ersten Jahres ist die erste doppelt, nummeriert mit 1 und 1 (Fortsetzung)11, was erklärt, dass die letzte Sitzung hier als „elfte“ firmiert. Das gesamte Ensemble ist unveröffentlicht, mit Ausnahme dieser ersten doppelten Sitzung, die Gegenstand eines Vortrags in Sofia war, mit einer anschließenden Veröffentlichung unter dem Titel „Peine de mort et souveraineté (pour une déconstruction de l’onto-théologie politique)“12.

Um die vorliegende Edition zu erstellen, sind wir von diversen ausgedruckten Versionen ausgegangen, die mit dem Begriff „Typoskript“ bezeichnet sind, sowie von den verfügbaren digitalen Datenträgern. Die ausgedruckten Fassungen des Seminars 1999-2000, die im Institut Mémoires de l’édition contemporaine (IMEC, Caen) aufbewahrt werden, befinden sich in drei Mappen.

Eine naturfarbene Mappe enthält die Sitzungen 2, 3, 4, 5, 6 und 7. Auf der ersten Seite mehrerer dieser Sitzungen hat Derrida das Wort „Doppel“ vermerkt. In dieser Fassung gibt es keine handschriftlichen Anmerkungen.

Eine gelbe Mappe enthält die Sitzungen 1 und 1 (Fortsetzung), 8, 9, 10 und 11. Dort hat Derrida auf der ersten Seite der ersten Sitzung „doppelt“ vermerkt. In der neunten Sitzung hat Derrida handschriftlich einige Tippfehler korrigiert und angezeigt, dass er einen Teil dieser Sitzung an der New York University vortragen wird. Im Ausdruck der zehnten Sitzung sind ebenfalls einige Tippfehler korrigiert. Auf der Rückseite der letzten beiden Seiten der neunten Sitzung (bei denen es sich um photokopierte Seiten eines amerikanischen Presseartikels handelt) skizziert Derrida einen kurzen Plan zur Beziehung zwischen der Bio-Macht nach Michel Foucault und der Frage des Interesses an der Todesstrafe. Wir haben ihn hier nicht transkribiert, zum einen, weil wir das mündliche Referat, das ein Student über das Kapitel „Recht über den Tod und Macht zum Leben“ aus Sexualität und Wahrheit 1. Der Wille zum Wissen 13, hier nicht aufgenommen haben, zum anderen, weil die Entzifferung dieser Skizze zahlreiche Stellen offen ließ.

Eine blaue Mappe schließlich enthält eine komplette Fassung des Seminars, mit handschriftlichen Anmerkungen von Jacques Derrida, vor allem im Hinblick auf die Vorbereitung dieser Vorlesung auf Englisch, für Irvine und New York, sowie die Wiederaufnahme bestimmter Teile in einem Vortrag (wie dem, den er in Sofia gehalten hat). In dieser Mappe sind die Photokopien der im Seminar zitierten Texte klar erkennbar integriert und annotiert, um jeweils die genaue Stelle auffinden zu können, die gelesen und kommentiert werden sollte. Es ist also vor allem diese letztgenannte Mappe, von der wir bei unserer Arbeit ausgegangen sind.

Unsere Eingriffe als Herausgeber im Typoskript von Jacques Derrida haben wir auf das Mindestmaß begrenzt. Wie immer ist das Seminar vollständig redigiert, und Derrida gibt in seinem Typoskript sorgfältig die Quellen der Zitate an, die er seinen Zuhörern zur Prüfung vorlegt und minutiös kommentiert. Wenn er den zitierten Text nicht reproduziert, gibt er sehr genau an, wo die untersuchten Zitate beginnen und enden, und zwar mit einem System von Referenzen zwischen seinem Typoskript und den Büchern oder Photokopien, denen er die Zitate entnahm. Falls diese bibliographischen Angaben einmal präzisiert oder vervollständigt werden mussten, so haben wir das auf der Grundlage von Derridas eigenen Photokopien oder den in seiner persönlichen Bibliothek konsultierten Ausgaben getan, was jedes Mal durch das Kürzel (A.d.H.) angezeigt wird. Falls die von ihm verwendete Ausgabe nicht auffindbar war, haben wir jene herangezogen, die uns am sichersten schienen.

Signifikante handschriftliche Ergänzungen, die Jacques Derrida am Rand des Typoskripts vermerkte, haben wir in Anmerkungen wiedergegeben. Falls uns eine grammatikalische Korrektur im Text unerlässlich zu sein schien, haben wir die Hinzufügung oder die Korrektur durch spitze Klammern angezeigt (< … >)14 oder in einer Anmerkung erläutert. Den spezifischen Charakter des Textes haben wir so genau wie möglich respektiert; er ist geprägt von seiner Bestimmung zum mündlichen Vortrag und folglich durch Charakteristiken im Rhythmus und in der Zeitstruktur, deren stilistische Modalitäten sich in der Syntax der Sätze und der Bewegung der Absätze niederschlagen. Eine minimale Überarbeitung auf der Ebene der Zeichensetzung wurde gleichwohl für unerlässlich erachtet. Um den mündlichen Charakter zu bewahren, geben wir auch alle Didaskalien beziehungsweise „Regieanweisungen“ wieder, die im Manuskript enthalten sind, wie zum Beispiel all die Hinweise „Lesen und Kommentieren“, die ein Zitat ankündigen sowie oftmals auch eine Darlegung, die während der Sitzung improvisiert wurde: Diese Hinzufügungen haben wir ausgehend von der Tonbandaufnahme immer dann in Anmerkungen integriert15, wenn sie für die im Gange befindlichen Ausführungen nützliche Einzelheiten und Präzisierungen boten.

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Jacques Derrida besaß eine umfangreiche persönliche Bibliothek zur Todesstrafe; seine Anmerkungen in Büchern, wissenschaftlichen Aufsätzen, Zeitungsartikeln oder auch Publikationen von Amnesty International belegen eine umfassende und diversifizierte Dokumentation. In seinem Arbeitszimmer stehen diese Dokumente an passender Stelle, nämlich neben denjenigen, die die anderen Schreibprojekte betreffen, denen er sich zur selben Zeit widmete, insbesondere denen zu Berühren – Jean-Luc Nancy.16

Anders als bei einigen anderen Seminaren, die vor oder nach dem zur „Todesstrafe“ gehalten wurden, ist sehr wenig von Derridas eigenen Untersuchungen zu diesem Thema von ihm selbst in Frankreich veröffentlicht worden. Es sei jedoch festgehalten, dass er 1995, also vier Jahre vor Beginn des vorliegenden Seminars, das Vorwort zu < der französischen Ausgabe von > Live from Death Row von Mumia Abu-Jamal geschrieben hatte.17 Die einzige Publikation, die direkt mit diesem Seminar verbunden ist, war, wie bereits erwähnt, der Vortrag in Sofia, den Derrida der Zeitschrift Divinatio anvertraut hatte.

Man kann jedoch Derridas Ausführungen in Woraus wird morgen gemacht sein? Ein Dialog18 als eine regelrechte Synthese seines Seminars lesen; darüber hinaus sei darauf hingewiesen, dass Jacques Derrida einige Tage nach dem 11. September 2001 bei einer Zwischenlandung in Hong Kong (auf einem Umweg seiner China-Reise, wo es ihm nicht möglich war, sein Seminar offen zu präsentieren, zum einen aufgrund des Tabucharakters des Themas, aber auch aufgrund der Risiken, die seine Gastgeber und Freunde dadurch eingegangen wären19) es wagte, das Thema der Todesstrafe erneut zu diskutieren. Nach dem Zeugnis von Chan-Fai Cheung und Kwok-Ying Lau (Professoren des Philosophie-Departments der Universität, die für seinen Auftritt verantwortlich zeichneten) hielt Derrida dort über mehrere Stunden hinweg einen improvisierten Vortrag, in dem er die Frage der Globalisierung mit der der Todesstrafe kreuzte.

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Wir danken Marguerite Derrida, die uns die Türen ihres Hauses öffnete und Zugang zu Jacques Derridas Bibliothek, seinen Büchern und seinen Arbeitsdokumenten gewährte. Ohne ihre warmherzige und aufmerksame Unterstützung hätte diese Arbeit nie vollendet werden können. Desweiteren danken wir Chan-Fai Cheung und Kwok-Ying Lau von der Chinesischen Universität in Hong Kong; François Borde und José Ruiz-Funes vom IMEC; den Herausgebern der beiden Bände des vorhergehenden Seminars, Séminaire La Bête et le Souverain, die Pionierarbeit leisteten und uns gleichsam als Führer dienten: Michel Lisse, Marie-Luise Mallet und Ginette Michaud; den jungen Forschern Delmiro Rocha, Federico Rodiguez Gomez und Beatriz Bianco sowie Cristina de Peretti für ihre Hilfe während der vergangenen vier Jahre; den zahlreichen Forschern des „Derrida Seminars Translation Project“ unter der Leitung von Peggy Kamuf; Eric Prenowitz für die Bereitstellung seiner Tonbandaufzeichnung des Seminars; Patrice Théry und Dominique Perrin vom Centre audivisuel et multimédia der Universität Lille 3 für die Digitalisierung der Audio-Dateien.

Geoffrey Bennington

Marc Crépon

Thomas Dutoit

Erste Sitzung

8. Dezember 1999

Was würden Sie jemandem antworten, der Ihnen gleich zu Beginn, wenn alles noch im Dämmer liegt1, sagen würde: „Wissen Sie, die Todesstrafe ist das Eigene des Menschen“?

(Langes Schweigen)

Ich meinerseits wäre versucht, demjenigen – allzu schnell – zu antworten: Ja, Sie haben recht. Wenn sie nicht das Eigene Gottes ist – oder ebendies nicht auf dasselbe hinausläuft. Dann, kraft einer anderen Versuchung – oder einer Gegen-Versuchung – der Versuchung widerstehend, wäre ich bei näherem Nachdenken versucht, nicht allzu schnell zu antworten und ihn warten zu lassen – Tage und Nächte lang. Bis der Morgen dämmert.

(Langes Schweigen)

Es dämmert, jetzt, wir befinden uns in der einsetzenden Dämmerung. Im ersten Licht der Dämmerung. Im weißen Licht der Morgendämmerung [aube] (alba). Noch vor dem Anfang, wollen wir beginnen. Würden wir beginnen.

Wir würden beginnen, indem wir so tun, als würden wir vor dem Anfang anfangen.

So als ob wir bereits das Ende hinauszögern wollten, da wir dieses Jahr, mit der Todesstrafe, eben gerade über das Ende sprechen werden. Es ist zwar ein Ende, aber ein beschlossenes Ende, beschlossen durch ein Verdikt, ein Ende, das durch eine Gerichtsentscheidung [arrêt de justice] festgelegt wurde [arrêtée], es ist ein beschlossenes [décidée] Ende, über das wir bestimmt [décidément] endlos sprechen werden, aber ein Ende, das vom Anderen beschlossen wurde, was nicht unbedingt, a priori, bei jedem Ende und bei jedem Tod der Fall ist, zumindest wenn man annimmt, diesmal in Bezug auf die Entscheidung, auf das Wesen der Entscheidung, dass sie überhaupt jemals anders getroffen wird als durch den Anderen. Und wenn man annimmt, dass die Entscheidung, über die zu sprechen wir uns gerade anschicken, die Todesstrafe, nicht der Archetyp selbst der Entscheidung ist. Wenn man also annimmt, dass jemals irgendjemand eine Entscheidung trifft, die die seine, für ihn selbst, seine eigene ist. Ich habe diesbezüglich schon oft meine Zweifel zum Ausdruck gebracht. Die Todesstrafe als souveräne Entscheidung einer Macht erinnert uns vielleicht, vor allem anderen, daran, dass eine souveräne Entscheidung immer eine des Anderen ist. Vom Anderen kommend.

Wir würden also so tun, als begännen wir nicht nach dem Ende, nach dem Ende der Todesstrafe, die heute nur in einer begrenzten Zahl von Nationalstaaten der Welt abgeschafft ist, einer zwar wachsenden Zahl, die aber noch begrenzt ist (vor zehn Jahren eine Minderheit – 58 Länder –, heute eine knappe Mehrheit2), sondern als begännen wir vor dem Anfang, am Vorabend des Anfangs, in der Morgendämmerung, am frühen Morgen, so als wollte ich, etwas pathetisch (aber wer würde wagen, ein nicht-pathetisches Seminar über die Todesstrafe zu halten) [so als wollte ich lieber, auf bewusst pathetische Weise] damit beginnen, Sie – noch bevor wir anfangen, noch in der Dämmerung – in jene frühen Morgenstunden der Gefängnisse, sämtlicher Inhaftierungsorte der Welt zu führen oder Sie dort mit mir festzuhalten, wo zum Tode Verurteilte darauf warten, dass man kommt, um ihnen entweder einen souveränen Gnadenerweis zu verkünden (jene Gnade, über die wir letztes Jahr im Zusammenhang mit der Vergebung viel gesprochen haben), oder sie abzuholen, wobei stets ein Priester anwesend ist (und ich insistiere darauf, denn ich werde heute vor allem über politische Theologie sprechen, und über die Religion der Todesstrafe, über die Religion, die bei der Todesstrafe immer präsent ist, über die Todesstrafe als Religion) [sie also abzuholen], um sie zu einer der zahlreichen Einrichtungen zur legalen Tötung zu bringen, die die Menschen einfallsreich erfunden haben, die gesamte Geschichte der Menschheit hindurch, als einer Geschichte der Techniken – Techniken im Bereich der Polizei, des Kriegswesens und des Militärs, aber auch auf dem Gebiet von Medizin, Chirurgie und Anästhesie –, um die sogenannte Kapitalstrafe3 zu verabreichen [administrer]. Mit der Grausamkeit, die Sie kennen, einer Grausamkeit, die immer dieselbe ist und von der Sie zumindest wissen, dass sie von der größten Brutalität des Abschlachtens bis zur perversesten Raffinesse, von der blutigsten oder brennendsten Folter bis zur höchst verleugneten, maskierten, unsichtbaren, überaus subtil bewerkstelligten Qual gehen kann, wobei die Unsichtbarkeit oder die Verleugnung niemals, in keinem Fall, etwas anderes sind als ein Teil der theatralischen, ja voyeuristischen Maschinerie des Spektakels. Per definitionem, ihrem Wesen nach sowie ihrer Berufung gemäß, wird es für eine legale Tötung, für eine Anwendung der Todesstrafe nie Unsichtbarkeit gegeben haben, für dieses Verdikt hat es prinzipiell nie eine geheime oder unsichtbare Vollstreckung [execution] gegeben. Schauspiel und Zuschauer sind unabdingbar. Das Gemeinwesen, die polis, die Politik insgesamt, die Mit-Bürgerschaft – sie selbst oder vermittelt durch ihre Vertretung [représentation] – muss4 dabei sein und bestätigen, sie muss öffentlich bezeugen, dass der Tod gegeben oder zugefügt wurde, sie muss den Verurteilten sterben sehen.

Der Staat muss und will den Verurteilten sterben sehen.

Der Moment, in dem das zum Staat oder Nationalstaat gewordene Volk den Verurteilten sterben sieht, ist übrigens auch jener Moment, an dem es sich selbst am besten sieht. Es sieht sich [se voit] am besten, das heißt es nimmt seine absolute Souveränität zur Kenntnis und wird sich ihrer bewusst, und es wird gesehen [se voit], in dem Sinne, in dem il se voit im Französischen bedeuten kann, dass es sich sehen lässt, dass es sich zu sehen gibt.+ 5 Nie ist der Staat, oder das Volk, oder die Gemeinschaft, oder die Nation in ihrer staatlichen Gestalt, nie ist die Souveränität des Staates in ihrer begründenden Versammlung sichtbarer, als wenn sie sich zum Zuschauer und zum Voyeur der Vollstreckung eines Verdikts ohne Berufungsmöglichkeit und ohne Begnadigung, eben einer Exekution macht. Denn dieses Zeugnis – der Staat als Zeuge der Exekution und seiner selbst, seiner eigenen Souveränität, seiner eigenen Allmacht –, dieses Zeugnis muss visuell sein: augenscheinlich. Es geht also nie ohne eine Bühne und ohne Licht, das natürliche Tageslicht oder künstliches Licht. Im Laufe der Geschichte konnte es geschehen, dass das Licht des Feuers hinzukam. Nicht immer und nicht nur die Feuerstöße des von einem Erschießungskommando oder mit einer einzigen Kugel in den Nacken Füsilierten, sondern bisweilen auch das Feuer des Scheiterhaufens.

Wir haben noch nicht angefangen, noch hat nichts angefangen. Wir befinden uns noch im frühen Morgengrauen. In der Dämmerung, der Dämmerung von wer weiß wovon, von Leben oder Tod, Begnadigung oder Exekution, der Abschaffung oder dem Fortbestehen der Todesstrafe, beziehungsweise dem Begehen der Todesstrafe.6 Was auch immer wir im Laufe dieses Seminars denken oder sagen mögen, man muss, wir werden – indem wir uns mit dem Herzen und der Einbildungskraft, auch mit dem Körper, darauf beziehen – unablässig an die frühen Morgenstunden dessen denken müssen, was man eine Exekution nennt. An die/In der Morgendämmerung [À l’aube] des letzten Tages.

Es dämmert also erst. Es ist früh am Morgen, ganz früh am Morgen. Vor dem Ende, sogar noch bevor wir anfangen, vor den drei Schlägen [coups], sind die Akteure und die Örtlichkeiten bereit, sie warten auf uns, um anzufangen.

So wie wir im letzten Jahr Theater spielten, ohne zu spielen, wie wir so getan haben, als spielten wir In-Szene-setzen, so theatralisch, aber auch so wenig theatralisch wie möglich, vier Männer in Szene zu setzen, vier Staats- oder Kirchenmänner, Denker des Staates oder der Kirche oder beides zugleich (Hegel, Mandela, Tutu, Clinton: vier Protestanten der Moderne – keine Frau, kein Katholik, kein Orthodoxer, kein Jude und kein Moslem)7, nun, so werden wir dieses Jahr, noch bevor wir anfangen, und weil die Frage des Theaters unsere Aufmerksamkeit noch mehr und auf andere Weise wird fesseln müssen als in der bühnenlosen Szene der Vergebung (die Geschichte der Beziehungen zwischen der Todesstrafe und dem Schauspiel, der Inszenierung, dem wesentlichen Voyeurismus, der mit einer Tötung verbunden ist, die öffentlich, weil legal sein muss, diese Geschichte des Theaters der Todesstrafe würde ein Seminar für sich allein verdienen und wir werden ihr viel Interesse entgegenbringen, wenn wir es auch nie genügend tun werden), nun, dieses Jahr noch werde ich, bevor ich anfange, damit beginnen, einige Figuren, große Gestalten, große „characters“ aufzurufen, herbeizurufen oder zu neuem Leben zu erwecken, die uns unablässig begleiten werden – unabhängig davon, ob wir sie nun nennen und sehen oder nicht. Es werden immer noch vier sein, es gibt aber keine Protestanten mehr unter ihnen, sie werden immer noch vier sein, aber Männer und Frauen8, denn dieses Mal wird eine Frau kommen, um eine der sexuellen Differenzen in dieser Wahrheit der Todesstrafe in Erinnerung zu rufen. (Erinnern Sie sich an die Frage, die wir uns letztes Jahr stellten, oder die wir zitierten, ausgehend vom Südafrika Antjie Krogs, der Autorin von Country of My Skull, und der weiblichen Opfer, die vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission Zeugnis ablegen oder eben nicht ablegen können+: „Does truth have a gender?“, oder, wie der Titel eines Buchkapitels lautet: „Truth is a Woman9.)

Wer werden also dieses Jahr diese – männlichen und/oder weiblichen – „Figuren“ sein? Zum Tode Verurteilte, natürlich, oder Begleiter, ein Chor großer zum Tode Verurteilter aus unserer Geschichte, aus der Geschichte des griechisch-abrahamitischen Abendlands, zum Tode Verurteilte, die durch die Szene, durch die Sichtbarkeit, durch die Zeit und die Dauer ihrer Tötung hindurch die im eigentlichen Sinne theologisch-politische Bedeutung dessen, was man die „Todesstrafe“ nennt, illustriert, ja begründet haben.

Jedes Mal, auf unterschiedliche Weisen, die zu untersuchen sein werden, wird der – mit einer klerikalen oder religiösen Macht verbundene – Staat diese Verurteilungen ausgesprochen und diese großen zum Tode Verurteilten (hier sind es, wie nochmals gesagt sei, vier) exekutiert haben, die da waren10 (ich werde sie einen nach dem anderen nennen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist), zunächst Sokrates, natürlich, der erste der vier. Sokrates, dem, Sie wissen es, aber wir werden noch darauf zurückkommen, dem also vor allem vorgeworfen wurde, die Jugend verdorben zu haben, indem er nicht an die Götter der Polis geglaubt und sie durch neue Götter ersetzt habe, so als ob er die Absicht gehabt hätte, eine andere Religion zu gründen und einen neuen Menschen zu denken. Lesen sie Die Apologie des Sokrates und den Kriton noch einmal, Sie werden dort sehen, dass eine im Wesentlichen religiöse Anklage von einer Staatsmacht übernommen wird, von einer Macht der polis, einer Politik, einer juridisch-politischen Instanz, was man mit einer schrecklichen Zweideutigkeit eine souveräne Macht als Exekutiv- beziehungsweise Exekutions-Macht [pouvoir exécutif] nennen kann. Die Apologie (24 b-c) sagt es ausdrücklich: Die kategoria, die gegen Sokrates vorgebrachte Anklage, lautet dahingehend, den Fehler begangen zu haben, schuldig geworden zu sein, die Ungerechtigkeit (adikein) begangen zu haben, die Jugend zu verderben und (oder um) aufgehört zu haben, die Götter (theous) des Gemeinwesens oder die vom Gemeinwesen verehrten Götter zu ehren (nomizein) – vor allem aber, an ihre Stelle nicht einfach neue Götter gesetzt zu haben, wie die Übersetzungen oft sagen, sondern neue daimonia11 (etera de daimonia kaina); und daimonia, das sind zweifellos Götter, Gottheiten, aber bisweilen, etwa bei Homer, auch untergeordnete Götter oder Wiedergänger, die Seelen der Toten; der Text unterscheidet genau zwischen den Göttern und den daimonia: Sokrates hat die Götter (theous) des Gemeinwesens nicht geehrt, und er hat neue daimonia eingeführt (etera de daimonia kaina). Die Anklage ist ihrem Gehalt nach also eine religiöse, eigentlich theologische, ja exegetische. Sokrates wird der Häresie beziehungsweise der Blasphemie, des Sakrilegs oder der Heterodoxie beschuldigt: Er täuscht sich hinsichtlich der Götter, er täuscht sich oder er täuscht die anderen, die Jungen vor allem, in Bezug auf die Götter; er ist hinsichtlich der Götter einem Missverständnis erlegen beziehungsweise hat hinsichtlich der Götter des Gemeinwesens Missachtung [mépris] und Missverständnis [méprise] erzeugt. Diese Beschuldigung, dieser Hauptanklagepunkt, diese kategoria religiösen Wesens wird – wie immer, und wir werden uns regelmäßig für diese immer wiederkehrende Verbindung interessieren – von einer Staatsmacht als Souverän übernommen, von einer Staatsmacht, deren Souveränität ihrerseits phantasmatisch-theologischen Wesens ist und sich, wie jede Souveränität, durch das Recht über Leben und Tod des Bürgers auszeichnet [se marque], durch die Macht, zu entscheiden, das Gesetz vorzugeben, zu urteilen und sowohl die Ordnung als auch den Verurteilten zu exekutieren. Selbst in den Nationalstaaten, die die Todesstrafe abgeschafft haben – eine Abschaffung der Todesstrafe, die mitnichten einer Abschaffung des Rechts auf Töten gleichkommt, zum Beispiel im Krieg – nun, jene wenigen Nationalstaaten der demokratischen Moderne, die die Todesstrafe abgeschafft haben, behalten ein souveränes Recht über das Leben der Bürger, die sie in den Krieg schicken können, um zu töten oder getötet zu werden in einem Raum, der dem Raum der internen Legalität, des Zivilrechts, in dem die Todesstrafe ihrerseits aufrechterhalten oder abgeschafft sein kann, radikal fremd gegenübersteht.+

Um einen Augenblick zu Sokrates und Platon zurückzukehren, sowie zum grundlegend religiösen Charakter des Hauptanklagepunktes, der Beschwerde, der Inkriminierung, der Kriminalisierung, der Beschuldigung, der bzw. die vom Staat übernommen wurde, verweise ich Sie auf die Gesetze von Platon, der die Todesstrafe im Falle von Gottlosigkeit (asebeia), hartnäckiger Gottlosigkeit, wiederholten Rückfalls in die Gottlosigkeit rechtfertigt. Lesen Sie diese langen und spannenden Seiten in den Gesetzen (10. Buch, 907d-909d) bitte selber ausführlich nach. Das Gemeinwesen, die polis, muss allen verkünden, dass die Gottlosen Sühne leisten und sich zu einem frommen Leben bekehren müssen, und dass, falls sie dies nicht tun, wenn sie in Worten und Taten Gottlosigkeit (asebeia) bekunden, der erstbeste Zeuge sie beim Magistrat anzeigen muss, der sie vor das zuständige Gericht zitieren wird. Es folgen die Beschreibung der verschiedenen Arten der Gottlosigkeit (darunter, wie ich im Hinblick auf das Thema unseres Seminars anmerken möchte12, die Respektlosigkeit gegenüber Eiden (orkous)) sowie schließlich die Taxonomie der drei Typen von Gefängnis oder Besserungsanstalt; lesen Sie all das also bitte alleine. Ich werde aus dieser langen und reichhaltigen Passage nur zwei oder drei Hinweise festhalten.

1. Erster Hinweis. Um bei dieser Zeit der Morgendämmerung zu verharren, halte ich fest, dass in der Beschreibung der Strafen gesagt wird, dass der Gefangene keinen Besuch von Bürgern empfangen dürfe, mit Ausnahme der Mitglieder eines gewissen Nächtlichen Rats13. Nun, wenn Sie wissen wollen, was das ist, dieser Nächtliche Rat (den ich also wegen der Morgendämmerung und wegen der Religion in Erinnerung rufe, wegen der Morgendämmerung der Religionen, wenn nicht der Götterdämmerung14), dann schauen Sie dort nach, wo er von Platon zum ersten Mal definiert wird, das heißt nicht im 10. Buch der Gesetze, 907-909, woraus ich soeben zitiert habe und wo der Nächtliche Rat sicherlich genannt wird, aber nur genannt, sondern weiter hinten in den Gesetzen, im 12. Buch, 951d-e, wo der Athener diesen Nächtlichen Rat beschreibt, jenen syllogos der Nacht als Ort der Versammlung, einer Versammlung, die aus Jüngeren und Älteren gemischt besteht und die, ich zitiere, „Tag für Tag vom ersten Morgengrauen bis zum Sonnenaufgang sich zusammenzufinden haben“ (951d)15. Dieser syllogos ist weder eine Synagoge (erklären)+ noch ein Sanhedrin, jener Oberste Rat der Nation, der auch ein Oberster Gerichtshof war (ebenjener, der Jesus zum Tode verurteilte, wir werden noch darauf zu sprechen kommen), doch wird ein syllogos (kommentieren) Priester enthalten, und unter den Priestern (tōn hiereōn, das heißt wörtlich eine Hierarchie, eine sakrale Ordnung oder Autorität von leitenden Priestern) jene, die die höchsten Auszeichnungen erhalten haben, und weiter unter den Hütern des Gesetzes (tōn nomophylakōn) die zehn ältesten, anschließend alle Oberaufseher des Erziehungswesens, alle mit der Erziehung der Jugend Beauftragten (tes paideias pases epimeletes), seien sie noch im oder bereits außer Dienst. (Stellen Sie sich ein Äquivalent dieses Nächtlichen Rats im Frankreich von heute vor – Lustiger, der Oberrabbiner, der Großmufti, Allègre, seine Vorgänger und so weiter.16) Dieser große syllogos, dieser große pädagogisch-konfessionelle Rat versammelt sich also in der Morgendämmerung [à l’aube]. Und er allein ist berechtigt, den Gefangenen zu besuchen. Erster Hinweis.