Für Christian Hackbarth-Johnson und alle Freunde und Wegbegleiter, die gerne Brücken bauen

Inhalt

Einführung

1. Der junge Narendra

2. Zu Füßen Ramakrishnas

3. Im Geisterhaus – Klösterliches Leben in Baranagore

4. Wanderjahre

5. Die große Vision

6. In Madras: »Jetzt bin ich bereit!«

7. Ostwärts gen Westen

8. Zu früh gestrandet: In der Neuen Welt

9. Das Parlament der Religionen

10. In den Fängen einer Agentur

11. Zuspitzung in Detroit

12. Auf scheinbar verlorenem Posten

13. »Geht von Dorf zu Dorf, von Tür zu Tür…«

14. Vedanta-Arbeit in Amerika

15. Auf den tausend Inseln

16. London: In der Höhle des Löwen

17. Zurück in New York: Der Schleier wird dünner

18. Zwischenspiel in Detroit und Boston

19. Eine nette kleine Familie

20. Begegnung mit Max Müller

21. Himalaya in der Schweiz

22. Zu Besuch bei Paul Deussen

23. Herbst in London

24. Indien entgegen

25. Triumphzug durch Ceylon und Südindien

26. Zurück in Bengalen

27. In Nordindien

28. Im Kloster

29. Almora

30. In Kashmir – Shiva und Kali

31. Belur Math

32. Die zweite Reise in den Westen

33. Hoher Mittag – In der Sonne Kaliforniens

34. Ist Vedanta die Religion der Zukunft?

35. Paris: Im vorgezogenen Ruhestand

36. Wieder daheim

37. Das letzte Jahr

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Danksagung

Einführung

Es gibt eine bewegende – und zugleich spannende – orientalische Legende: Ein junger, mittelloser indischer Wandermönch wird – wenn auch auf einem normalen Ozeandampfer – an die Gestade der Neuen Welt gespült. Er hat von einem Parlament der Religionen gehört, das im Rahmen der großen Weltausstellung in Chicago abgehalten werden soll. Leider kommt er viel zu früh – im verträumten Indien hatte sich keiner die Mühe gemacht, sich um genaue Termine zu kümmern – und da er außerdem keine Empfehlungen bei sich hat und die Frist für die Anmeldung längst verstrichen ist, sieht er sich gezwungen, sich im nicht ganz so teuren Boston irgendwie über Wasser zu halten. Durch seine exotische Kleidung, sein stolzes Auftreten, seine rhetorische Begabung und sein umfassendes Wissen gelingt es ihm jedoch, einflussreiche Persönlichkeiten des amerikanischen Bildungsbürgertums zu beeindrucken, die ihm das Eintrittsbillet für das Parlament der Religionen verschaffen. Doch als er nachts wieder in Chicago eintrifft, hat er die Adresse seiner Unterkunft verschlampt und sieht sich gezwungen, in einem leeren Güterwaggon zu übernachten. Am Morgen versucht er, verstrubbelt und übernächtigt, auf einer vornehmen Promenade etwas Essen zu erbetteln, aber da man ihn eher für einen – noch dazu farbigen – Penner hält, werden ihm die Türen vor der Nase zugeschlagen. Schließlich, als er sich erschöpft auf einem Stein niedergelassen hat, entdeckt ihn »zufällig« eine reiche Dame – gleichsam die gute Fee in diesem Märchen –, die ihn auch prompt fragt, ob er zum Parlament der Religionen wolle.

Dort flattern ihm die Nerven bei seinem ersten Auftritt so sehr, dass er immer wieder anderen Religionsvertretern den Vortritt lässt. Zuletzt wagt er sich trotzdem an die Rampe, und als er die etwa 4000 erwartungsvollen Zuhörer mit den schlichten Worten »Sisters and Brothers of America« begrüßt, ertönt ein ohrenbetäubender Beifall, der auch nochmals anschwillt, als der Mönch seine relativ kurze Rede, in der er die uralte spirituelle Weisheit des Hinduismus beschwört und zu einer universalen Toleranz, ja Akzeptanz aller Religionen aufruft, beendet. Eine Dame, die beobachtet, wie Dutzende von Frauen über die Bänke springen, um dem jungen Mönch nahe zu sein, murmelt vor sich hin: »Nun, junger Mann, wenn du diesem Ansturm standhältst, bist du wirklich ein Gott!« Schon in den nächsten Tagen sieht man überall Poster mit dem Konterfei des Swamis in den Straßen, der zum unbestrittenen Star des Parlaments der Religionen geworden ist.

Man mag über winzige Details streiten – aber im Wesentlichen stimmt diese Legende mit der historischen Wirklichkeit überein. Unzählige indische Kinder sehen den armen Mönch bereits in Bilderbüchern eine ganze Nacht zusammengekrümmt in einer kleinen leeren Kiste verbringen – der »box-car« war in den Berichten zu einer »box« zusammengeschrumpft – und der erste Auftritt des Swami mit seiner berühmten Anrede »Sisters and Brothers of America« läuft als Endlosschleife in vielen indischen Köpfen ab, die ihren geliebten »Vivekananda« auch am liebsten in seiner herausfordernden »Chicago-Posture«, mit verschränkten Armen, in unzähligen Denkmälern abgebildet sehen. Sein Geburtstag wird in Indien als Nationalfeiertag, als »Tag der Jugend«, gefeiert. 2013, im Jahr seines 150. Geburtstag-Jubiläums, nahmen die Gedächtnisfeiern in Indien kein Ende.

In Deutschland hielten sich die Feierlichkeiten in überschaubaren Grenzen. Kein Rauschen in den Feuilletons. Nur das bedeutendste Nachrichtenmagazin machte eine bemerkenswerte Ausnahme – ohne allerdings das Jubiläum als Aufhänger zu benutzen: Es erklärte Vivekananda in einem Artikel mit dem Titel »Erlösung ohne Erlöser« kurzerhand zu einer der wichtigsten Schlüsselfiguren der Moderne. Vor allem aber habe der indische Mönch, so die steile Kernthese des Artikels1, das, was man im Westen bisher als uralte spirituelle indische Weisheit betrachtet habe, schlicht »erfunden«.

Als Biograf kann man da schon ein wenig verzweifeln. Auf der einen Seite stößt man, wenn man den – zugegebenermaßen für westliche Zungen nicht leicht aussprechbaren – Namen Vivekanandas erwähnt, meistens auf Ratlosigkeit. Wird er dann doch, wie in besagtem Spiegel-Artikel, in den Mittelpunkt gestellt, so gleich in einer solchen Verzerrung, dass man an der Seriosität einer solchen Zeitschrift starke Zweifel bekommt. Um hier nur kurz die schräge These aufzugreifen, Vivekananda habe die indische Spiritualität »erfunden«: Die Wiederbelebung einer uralten Mystik, die sich bereits in den Upanishaden und in der Bhagavadgita offenbarte, ist alles andere als eine »Erfindung«. Der junge Mönch, der eingeweihten Kreisen heute als eine der wichtigsten Pioniergestalten des religiösen Ost-West-Dialogs gilt2 und der mit nur neununddreißig Jahren starb, hat dieser Weisheitsliteratur – nicht zuletzt durch die Inspiration seines Gurus Sri Ramakrishna – ein neues Leben eingehaucht, so wie auch im Christentum Gestalten wie Franz von Assisi den ursprünglichen christlichen Impuls immer wieder erneuerten.

Seine Neuformulierung des Vedanta und Yoga (und unter »Yoga« verstand der Swami noch keineswegs nur körperliche Stellungen!) als »Spiritualität light« für abgeschlaffte Westler zu bezeichnen, ist abwegig. Gewiss, es ging ihm darum, das mythologische Gestrüpp ein wenig auszulichten und die Lehre der Upanishaden vom göttlichen Selbst des Menschen auf ihren wahren Kern zu reduzieren, aber diese »Vereinfachung« ist weder ein Ausverkauf indischer Spiritualität noch eine Neuerfindung, sondern schlicht eine Intensivierung, die für diejenigen, die sich auf diese spirituelle Praxis einlassen, durchaus etwas Forderndes hat.

Außerdem wird von denjenigen, die Vivekananda ausschließlich als einen Modeguru für den Westen porträtieren, völlig übersehen, dass die Verkündigung von Yoga und Vedanta in Amerika und England nur ein Aspekt seiner Sendung war. Mindestens ebenso wichtig war seine Hebammenrolle im Wiederaufbau des indischen Selbstbewusstseins. Dabei war Selbstbewusstsein für ihn nicht gleichbedeutend mit einem fanatischen Hindu-Fundamentalismus, der sich heute völlig zu Unrecht auf ihn beruft, und es war auch nicht gleichbedeutend mit der Arroganz einer aufstrebenden Mittelschicht, die sich kaum um die unterdrückten unteren Volksschichten kümmert. Gerade die Solidarität mit diesen »Ärmsten der Armen« war Vivekanandas Hauptanliegen. Der 1897 von ihm gegründete Ramakrishna-Orden und die ebenfalls von ihm initiierte Ramakrishna-Mission sind heute wohl die größte Wohltätigkeitsorganisationen Indiens.

Allerdings interessiert das niemanden im Westen. Dort zeigt man lieber zum tausendsten Mal einen Fakir, der sich eine Nadel durch die Wange sticht. Exotik ist gefragt. Einen Mönch des Ramakrishna-Ordens, der – inspiriert von der Vision Vivekanandas – schlicht Schüler unterrichtet, Waisen betreut, ein Kulturzentrum leitet oder bei Flutkatastrophen im Einsatz ist, habe ich in westlichen Medien noch nicht gesehen.

Eigentlich hätte Vivekananda für die Riesenaufgabe, die ihm sein Guru Ramakrishna auf die Schulter lud, gleich mehrere Leben gebraucht – und nicht nur neununddreißig Jahre. Da galt es, dem von Engländern unterdrückten Volk ein neues Selbstbewusstsein einzuimpfen. Da galt es, eben dieses Volk aus der Erstarrung seiner Kastenschranken und sonstiger Verkrustungen zu befreien. Da galt es, den eher »statischen« Hinduismus plötzlich dynamisch zu machen und den Westen von der Tiefe und dem Reichtum östlicher Spiritualität zu überzeugen. Da galt es gleichzeitig, von diesem scheinbar überlegenen Westen materielle Hilfe für seine Landsleute zu erbitten. Und schließlich galt es, einen fruchtbaren Dialog der Religionen zu initiieren. Ein bisschen viel für einen einzigen Mann. Kein Wunder, dass sich dieser Mönch manchmal danach sehnte, sich in den Himalaya zurückzuziehen und nur noch zu meditieren. Aber jene Kraft, die sein Guru Ramakrishna immer als die »Göttliche Mutter« bezeichnete, ließ ihn »arbeiten, arbeiten, arbeiten…« – bis seine Kraft völlig erschöpft war.

Diese Vielschichtigkeit in eine einzige Biografie zu pressen, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn ich jedoch manchen Freunden, die Vivekananda zumindest dem Namen nach kennen, erzählte: Ich schreibe eine Biografie über diesen faszinierenden Yogi, sagten manche: »Aber es gibt doch schon eine Biografie über ihn!« Gut, das war vor etwa neunzig Jahren: Da verfasste der französische Schriftsteller und Nobelpreisträger Romain Rolland – ein Brieffreund Hermann Hesses und Stefan Zweigs – eine Doppelbiografie über Ramakrishna und Vivekananda. Eine absolute Pionierleistung! Doch Rolland hatte damals noch nicht den Zugang zu allen Quellen, und sein pathetischer Ton, vor allem in der altertümlichen deutschen Übersetzung, ist ein wenig überholt.

Darüber hinaus gibt es eine deutsche Übersetzung (und inzwischen auch sehr gute Neuübersetzung) der Vivekananda-Biografie von Swami Nikhilananda, einem Mönch des Ramakrishna-Ordens, der sich schon das Verdienst erworben hat, die bengalischen Gespräche Ramakrishnas mit seinen Schülern ins Englische übertragen zu haben, und der die offizielle, inzwischen zweibändige und über 1500 Seiten angeschwollene Vivekananda-Biografie des Ramakrishna-Ordens (»The Life of Swami Vivekananda, by his Eastern and Western Disciples«) auf etwa dreihundert Seiten eingedampft hat. Diese Biografie vermittelt uns einen guten Überblick über dieses leidenschaftliche Mönchsleben, krankt aber – wie alle »offiziellen« Ordensbiografien – ein wenig daran, dass so manche Kanten zu sehr abgeschliffen wurden.

Dies gilt glücklicherweise nicht für das sechsbändige (!) Werk »Swami Vivekananda in the West – New Discoveries« von Marie Louise Burke, das noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde und dem ich sehr viele Hinweise verdanke. Die Autorin macht zwar keinen Hehl daraus, dass sie Vivekananda für einen der größten Propheten der Religionsgeschichte hält, beschenkt uns aber durch ihre emsige Forschung mit einer solchen Fülle von Details, dass man ihr dieses Pathos gern verzeiht. (Und Hand aufs Herz: Ohne eine gewisse Leidenschaftlichkeit kann man über diesen Mönch nicht schreiben. Dass diese Leidenschaftlichkeit recht oft von Humor und Ironie unterlaufen wird, dafür sorgt das Naturell des Swamis, der Gott einmal als einen »lustigen Burschen« bezeichnete, selbst.)

Neben den Lebensbeschreibungen gibt es selbstverständlich etliche deutsche Übersetzungen der Vorträge des Swamis, insbesondere über die verschiedenen Yogas (Raja-Yoga, Karma-Yoga, Bhakti-Yoga und Jnana-Yoga – siehe Bibliografie). Swami Chetananda, ein Mönch des Ramakrishna-Ordens, hat eine Auswahl der Vorträge und Schriften Vivekanandas herausgebracht, die in der Übersetzung von Kurt Friedrichs unter dem Titel »Vedanta – Der Ozean der Weisheit« auch im Deutschen erhältlich ist. Vor kurzem hat auch Martin Kämpchen im »Verlag der Weltreligionen« eine Auswahl vorgelegt, die sich vor allem auf die auf dem Parlament der Religionen gehaltenen Reden und auf die vier »Yogas« konzentriert. Der katholische Theologe Karl-Josef Kuschel, ein Wegbegleiter Hans Küngs, hat in seinem Buch »Leben ist Brückenschlagen« die lange Reihe der Pioniere des Ost-West-Dialogs – unter ihnen Gandhi, Hermann Hesse, Martin Buber, Thomas Merton u.v.a. – mit einem Porträt Vivekanandas eingeleitet. Der frühere Generalsekretär der Vereinten Nationen, U Thant, hatte diesen in einer Rede zur Feier seines hundertsten Geburtstages als den »bedeutendsten geistigen Botschafter Asiens« bezeichnet.

Das heißt: Vivekananda ist kein gänzlich Unbekannter mehr.3 Dennoch – oder gerade deshalb – ist es wichtig, das Leben dieses großen Pioniers in all seinen Facetten zu schildern. Manche Spannungen und inneren Gegensätze, die in der »offiziellen« Biografie zu sehr geglättet werden, werden hier eher scharf herausgearbeitet – wodurch die Gefahr, wieder nur eine Hagiographie zu schreiben, schon deutlich gemindert wird. Es gibt durchaus Seiten dieses großen Yogis, an denen man sich »reiben« kann – und er hätte dieses Sich-an-ihm-reiben ohne Zweifel begrüßt, denn es ging ihm immer um Lebendigkeit.

Der große »Vereinfacher« der hinduistischen Spiritualität, in dem manche einen bloßen »Ideologen« sehen, hatte eine höchst komplexe Natur, die sich wohl am deutlichsten offenbart, wenn man sein Leben einfach erzählt – mit all seinen Windungen und manchmal sogar abrupten Kehrtwendungen. Manchmal träumte er davon, alle seine Einsichten in einer großartigen Synthese, einem Opus magnum, zusammenzufassen. Doch sein Schicksal war es, die zahlreichen Spannungen einfach zu leben – und glücklicherweise auch in Worte zu fassen, die heute immerhin, wenn auch in sehr fragmentarischer Form, neun stattliche Bände füllen: Vorträge, Gespräche, Briefe, Gedichte usw. Doch selbst wenn man diese Bände (die im Internet unter »Vivekananda, Complete Works« einsehbar sind) studiert hat, bleibt noch immer ein Rest; denn so wie diesem Mönch sein Körper, sein irdisches Gehäuse, oft zu klein wurde, so war ihm letztlich auch alles Gesprochene und Geschriebene zu begrenzt, um jene absolute Wirklichkeit auszudrücken, in der er sich »zu Hause« fühlte. Er sagte oft, man müsse seine unendliche Natur verwirklichen, um sich dann wieder freiwillig und bewusst auf diesem Planeten Erde für eine gewisse Aufgabe zu begrenzen. Der indische »Patriot« Vivekananda war eine dieser Begrenzungen, der Verkünder des Vedanta im Westen eine andere und der Ordensgründer wieder eine andere. Wir werden die verschiedenen »Begrenzungen« in diesem Buch im Detail verfolgen, ohne je, bei aller Bewunderung für die oft spannenden Wendungen in seinem Leben, das Gespür für jene Wirklichkeit zu verlieren, die immer wieder durch die Ritzen all dieser verschiedenen Rollen und Begrenzungen hindurchscheint.

1.

Der junge Narendra

Einige Minuten vor Sonnenaufgang, am Montag, den 12. Januar 1863, wurde Narendranath Datta, der später als Swami Vivekananda die Welt so sehr beeindrucken sollte, in Kalkutta geboren. Die Luft vibrierte an diesem Tag von Gebeten und Gesängen, denn es war das Hindu-Fest Makarasamkranti, das der besonderen Verehrung von »Mutter Ganges« geweiht ist.

Narendras Mutter, Bhuvaneshwari mit Namen, hatte sich sehr nach der Geburt dieses Sohnes gesehnt. Zwei ihrer Kinder, ein Sohn und eine Tochter, die sie schon sehr früh bekommen hatte, waren bald gestorben. Ihre nächsten drei Kinder waren alle Töchter; und obwohl Hindus dem Weiblichen in der Region des Göttlichen meist einen hohen Stellenwert einräumen – man verehrt es dort als »Shakti«, als schöpferische Energie –, so hält sich die Begeisterung des hinduistischen Volksempfindens bei der Ankunft einer Tochter im irdischen Bereich meist doch in deutlichen Grenzen. Dies hat teilweise wirtschaftliche Gründe – die Tochter muss später mit einer zum Teil beträchtlichen Mitgift verheiratet werden, was manche Familien völlig ruiniert –, zum Teil dürften aber auch die üblichen patriarchalen Vorurteile eine große Rolle spielen.

Doch wir dürfen es Bhuvaneshvari nicht verübeln, dass sie sich nun sehnlichst einen Sohn wünschte. Sie war eine glühende Verehrerin Shivas und beauftragte eine alte Tante in Varanasi (Benares) – jenem hinduistischen Wallfahrtsort, in dem Shiva ganz besonders »präsent« ist –, die notwendigen Zeremonien zu vollziehen. Sie selbst unterwarf sich intensivem Fasten und Meditationsübungen, um an das Ziel ihrer Wünsche zu kommen; und eines Nachts sah sie dann in einem Traumgesicht, wie Shiva persönlich sich von seinem Meditationssitz erhob, die Gestalt eines männlichen Kindes annahm und ihr signalisierte, dies sei nun ihr Kind.

Solche Traumgesichte und Überschattungen sind in Indien nichts Ungewöhnliches. Sie müssen nicht unbedingt auf eine »wunderbare« Geburt hinweisen. Als Vivekananda später in Kalifornien einmal gefragt wurde, was er von der wunderbaren Zeugung und Geburt Jesu und ähnlichen Mythen im Hinduismus (auch im Falle seines Guru Ramakrishna wurde ja von einer göttlichen Zeugung gesprochen!) halten würde, sagte er, wobei er geruhsam seine Pfeife ausklopfte: »Was ist die Natur [mit all ihren Gesetzen] schon für Gott? Es ist alles Sein Spiel. Wir sind Sklaven der Natur. Gott ist Herr über sie. Er kann einen oder ein Dutzend Körper zur gleichen Zeit annehmen, wenn es ihm beliebt. Wie können wir Ihm Grenzen setzen?« Doch dann fügte er hinzu: »Aber was mich angeht, so bin ich froh, dass ich einen natürlichen Vater und eine natürliche Mutter habe.«1

Außerdem ist Shiva kein Gott, der sich »inkarniert«. Dies ist in der Hindu-Mythologie Vishnu vorbehalten, der sich im Lauf der Evolution in verschiedenen Gestalten, etwa als Rama und Krishna, verkörpert. Ramakrishna selber sah sich in dieser Linie als Avatar, als »Herabkunft« Gottes. Wenn bedeutende Lehrer und Erleuchtete wie Shankara oder Ramana Maharshi in Indien manchmal als »Verkörperungen« Shivas bezeichnet werden, so meint man damit, dass sich in ihnen der Geist Shivas in besonderer Weise inkarniere. Dabei handelt es sich meistens um den Geist des Advaita, der vedantischen Lehre von der Nicht-Zweiheit, die auch Vivekananda später so vehement predigen sollte.

Die Mitglieder des Haushaltes waren erstaunt über die Gesichtszüge des neugeborenen Jungen. Wieder einmal war eine Generation übersprungen worden, denn das Gesicht des Babys wies eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem seines Großvaters, Durgaprasad, auf. Die indische Mentalität scheint keine großen Probleme zu haben, eine eher himmlische oder sogar göttliche Präexistenz mit Reinkarnations-Phantasien zu verknüpfen: Hatte sich etwa dieser Großvater in dem kleinen Jungen aufs Neue inkarniert?

Durgaprasad hatte sich in seiner Jugend nicht nur große Kenntnisse in Sanskrit und Persisch angeeignet, er war auch in seinem prosaischen Fachgebiet, der Jurisprudenz, so begabt, dass ihn sein Vater, der selber Jurist war, sehr bald zu seinem Partner machte. Doch dann, nach der Geburt eines Sohnes, packte Durgaprasad plötzlich jenes eigenartige Fieber, das schon den jungen Gautama in die Hauslosigkeit getrieben hatte: Er entsagte dem weltlichen Leben, wurde Mönch und ließ volle zwölf Jahre nichts mehr von sich hören.

Das heißt, eine eigenartige Begegnung fand zwischendurch in Varanasi statt. Durgaprasads Frau Shyamasundari – die übrigens von überwältigender Schönheit gewesen sein soll – machte mit ihrem inzwischen dreijährigen Sohn Vishwanath – dem späteren Vater Narendras – eine Pilgerreise in die heilige Stadt Shivas. Es gab damals noch keine Eisenbahn, und so fuhr man die ganze Strecke von immerhin fünfhundert Meilen mit dem Boot. Natürlich hatten Pilgerfahrten vor allem einen spirituellen Hintergrund, aber man darf davon ausgehen, dass sie auch ein »Vorwand« dafür waren, die Welt kennen zu lernen: Neue Landschaften und Städte, die gemächlich vorbeizogen, andere Menschen und Gebräuche, wenn man zwischendurch an Land ging, sogar andere Sprachen. Der kleine Vishvanath genoss den »boat-trip« genauso wie die Erwachsenen, tobte an Deck herum – und fiel prompt bei seinen übermütigen Turnereien Hals über Kopf in den Ganges. Die Mutter konnte nicht schwimmen. Was sie jedoch nicht daran hinderte, ihm in voller Sari-Montur nachzuspringen. Sie hielt ihn so fest, dass die Spuren ihres Griffs angeblich noch jahrelang am Körper des Jungen zu sehen waren.

In Varanasi angekommen, besuchte Shyamasundari sämtliche Tempel. Als sie eines Tages ein Bad im Ganges genommen hatte und sich auf den Weg zum Tempel des Vireshvar Shiva machte, fiel sie auf den Treppenstufen so heftig hin, dass sie das Bewusstsein verlor. Ein vorübergehender Mönch hob sie auf, und als sie wieder zu Bewusstsein kam und in seine Augen blickte – war es natürlich ihr Mann, der sich auf die feine mönchische Art aus dem Staub gemacht hatte und nun auch nichts anderes wusste als »Oh, Maya, Maya!« zu murmeln und wieder zu verschwinden.

Der Vater Narendras, Vishvanath, hatte keinerlei mönchische Ambitionen, er genoss das weltliche Leben in vollen Zügen. Seine Anwaltspraxis garantierte ihm ein hohes Einkommen. Kalkutta (das heutige Kolkata) war damals die Hauptstadt des von den Briten beherrschten indischen Kolonialreiches, und die gesellschaftliche Elite, zu der auch Vishvanath gehörte, fühlte sich von den Engländern kaum unterdrückt. Man hatte sich arrangiert und angepasst und war in gewissem Sinne auch dankbar dafür, dass die Briten eine neue Offenheit und Weltläufigkeit in die oft sehr engen gesellschaftlichen Vorstellungen der orthodoxen Hindus gebracht hatten.

Die Familie gehörte der Kayastha-Kaste an, die vor allem Geschäftsleute, Schriftführer, Advokaten und Beamte im Verwaltungsdienst stellte. Ihr Status im Bezugssystem der »klassischen« indischen Kasten ist ein wenig umstritten – was später auch immer wieder zu Diskussionen um die Kastenzugehörigkeit Vivekanandas führte. Mal wurden die bengalischen Kayasthas in die Nähe der Brahmanen gerückt, dann wieder wurden sie eher als gehobene Shudras (die unterste Kaste) bezeichnet. Am ehesten standen sie aber wohl den »Kshatryas«, der ursprünglichen Ritter- oder Kriegerkaste, nahe, und da Vivekananda im Laufe seines Lebens seine »kriegerische« Natur nie verleugnete, sehen wir ihn in dieser Biografie auch vor allem als Kshatrya2 – wenn er auch als Mönch, als »Sannyasin«, alles Kastendenken weit transzendierte.

Wenn Vishvanath auch relativ wohlhabend war, klammerte er sich jedoch nicht an diesen bescheidenen Reichtum, sondern teilte ihn gern mit anderen Menschen – auch mit solchen, die es vielleicht nicht verdienten. Als Narendra seinem Vater später Vorwürfe machte, er unterstütze sogar nichtsnutzige Verwandte, die dem Alkohol verfallen waren, sagte dieser: »Wenn du die Tiefe des menschlichen Elends erfasst hast, wirst du Mitleid mit diesen unglücklichen Geschöpfen haben. Sie versuchen ihre Probleme und Sorgen – wenn auch nur für kurze Zeit – im Suff zu vergessen.«

Wenn sich Vishvanaths spiritueller Ehrgeiz auch in Grenzen hielt, so hielt er doch viel von religiöser Bildung – wobei er völlig unvoreingenommen war. Er setzte Freunde und Bekannte oft mit Zitaten aus der Bibel oder der Dichtung des Hafis in Erstaunen und fühlte sich besonders von der Kultur des Islam angezogen. Darüber hinaus vererbte er seinem Sohn Narendra seine melodiöse Stimme, seine große Liebe zur Musik und seine Begeisterung für das Kochen.

Narendras Mutter, Bhuvaneshvari Devi, verkörperte dagegen die alte Hindu-Tradition. Sie dirigierte einen großen Haushalt, was sie nicht hinderte, sich zwischendurch der Näharbeit oder dem Singen religiöser Lieder zu widmen. Von den großen indischen Epen, dem Mahabharata und dem Ramayana, konnte sie lange Passagen rezitieren. Während ihr Mann sich eher den Idealen der »Aufklärung« verschrieben hatte und sich nicht selten über gesellschaftliche Konventionen lustig machte, sah sie ihr Ideal in stiller Ergebenheit in Gottes Willen.

So war die Gegensätzlichkeit, die das Wesen des späteren Vivekananda so sehr prägen sollte, ihm schon in die Wiege gelegt: Wie oft erregte er sich über die von Kant beklagte »selbst verschuldete Unmündigkeit« der Menschen – und hier wieder vor allem die seines eigenen Volkes, der Inder –, und wie oft predigte er andererseits die absolute Hingabe an die große Shakti, die von seinem Guru Ramakrishna so stark verehrte »Göttliche Mutter« –, häufig mit dem knappen Kommentar: »Mother knows best!«

Als müsste er diese innere Gegensätzlichkeit auch nach außen hin ausdrücken, beeindruckte er seine Umgebung schon als Kind durch immer wieder auftretende Wutanfälle, in deren Verlauf so manches Möbelstück zu Bruch ging. Um ihn wieder zur Besinnung zu bringen, hielt seine Mutter seinen Kopf oft unter einen Wasserhahn und wiederholte dabei laut den Namen Shivas – jenes Gottes also, der gleichsam sein »Paten«-Gott war und dessen aggressive Seite das ganze Leben Narendras begleiten sollte. (Als er einmal beim Spiel die Treppe hinunterfiel, verletzte er sich an der Stirn und verlor viel Blut dabei. Sein spiritueller Lehrer Ramakrishna sagte später, das sei gut gewesen, denn seine Energie wäre sonst zu groß gewesen, und er hätte die Welt auf den Kopf gestellt.) Narendras Mutter versuchte, die Sache immerhin auch von ihrer humorvollen Seite zu sehen, indem sie einmal sagte: »Ich hatte Shiva um einen Sohn gebeten – und er schickte mir stattdessen einen seiner Dämonen!« Als sie später wieder einmal gefragt wurde, wie denn ihr inzwischen berühmtes Kind gewesen sei, brach es aus ihr heraus: »Ich habe zwei Kindermädchen für ihn gebraucht!«

Als hätte man insgeheim Angst, der Junge könne seinem Großvater nachgeraten, versuchte man den Anblick wandernder Mönche von ihm fernzuhalten. Es ließ sich jedoch nicht verhindern, dass doch hin und wieder einer dieser Wandermönche an die Tür klopfte und um eine milde Gabe bettelte – und Naren war sofort bereit, irgendetwas, etwa ein Kleidungsstück, zu opfern und es dem Mönch zu geben. Sperrte man ihn daraufhin in sein Zimmer ein, warf er einfach irgendetwas, das ihm als Gabe geeignet erschien, zum Fenster hinaus, direkt vor die Füße des Mönches.

Von den mythischen Gestalten, die ihm seine Mutter durch das Vortragen der großen Epen Mahabharata und Ramayana nahe brachte, begeisterte er sich vor allem für den Held Rama und seine Gefährtin Sita; er besorgte sich Bilder von ihnen und schmückte sie mit Blumen. Als er jedoch hörte, wie jemand die Ehe als größtes Hindernis auf dem spirituellen Weg kritisierte, vertauschte er die Bilder Ramas und Sitas mit einem Bildnis Shivas, des großen Asketen im Schnee des Himalaya, der den kleinen Liebesgott mit einem Strahl aus seinem dritten Auge unschädlich machte. Dass auch Shiva »verheiratet« war und in Wahrheit alle Polaritäten transzendierte, dürfte das Verständnis des Knaben noch ein wenig überfordert haben.

Wenn Naren kurz vor dem Einschlafen seine Augen schloss, sah er regelmäßig zwischen seinen Augenbrauen ein intensives Licht mit wechselnden Farben; es dehnte sich langsam aus und zerbarst schließlich. Da er es praktisch jeden Abend vor dem Einschlafen sah, dachte er, dass dies ein ganz gewöhnliches Phänomen sei, und er war höchst erstaunt, als ein Freund behauptete, nie ein solches Licht gesehen zu haben.

Von anderen hatte er gehört, dass die Yogis vergangener Zeiten so sehr in die Meditation vertieft gewesen seien, dass sie gar nicht merkten, wie ihr wachsendes Haar langsam in den Boden eindrang und dort Wurzeln schlug. Wenn Naren nun vor dem Bild Shivas meditierte, blinzelte er hin und wieder, um zu sehen, ob seine Haare bereits in den Boden hineingewachsen waren.

In einer Vision sah er eines Tages eine von innen her strahlende Person, die den Stab und die Bettelschale eines Wandermönchs trug. Anscheinend wollte die Gestalt etwas sagen, doch Naren war so erschrocken, dass er das Zimmer fluchtartig verließ. Später äußerte er manchmal den Verdacht, dass diese Gestalt Buddha gewesen sein könnte – für den er sein Leben lang eine starke Verehrung zeigte.

Sein Name Narendra (»Herr der Menschen«) wies schon auf seine Führernatur hin, die er bereits in der Schule zeigte. Sein Lieblingsspiel war »Der König und sein Hof«, und es ist nicht schwer zu erraten, welche Rolle er in diesem Spiel am liebsten übernahm. Das Herrscherliche seines Wesens wurde jedoch durch einen starken Sinn für Gerechtigkeit und Gleichheit ausgeglichen, der ihn gegen jeden Kastendünkel immun machte. So rauchte er einmal der Reihe nach aus den verschiedenen Pfeifen, die im Büro seines Vaters für die Klienten aus den verschiedensten Kasten bereitstanden, unter anderem auch für Muslime. Als man ihm dieses provokative Verhalten vorhielt, erwiderte er, er habe keinen Unterschied feststellen können.

Vater und Sohn trafen sich, was Offenheit und auch eine gewisse Kühnheit angeht, bald auf Augenhöhe. Als Narendra seinen Vater während einem seiner Wutanfälle herausfordernd fragte: »Was hast du schon für mich getan?!«, erwiderte dieser gelassen: »Gehe und schaue dich im Spiegel an, dann weißt du es.« Als Narendra von seinem Vater wissen wollte, wie er sich in der Welt verhalten solle, sagte dieser: »Zeige nie Überraschung über etwas.«

Da ihm die Schularbeiten sehr leicht fielen, hatte er genügend Zeit für Spiele im Freien, bei denen er sehr erfinderisch war. Er organisierte ein Amateurtheater und einen Sportclub und nahm Stunden im Fechten, Rudern und anderen Sportarten. Doch im Laufe der Zeit machten diese eher extrovertierten Tätigkeiten einem stets wachsenden Bildungshunger Platz: Er begann, Bücher über Geschichte und Literatur zu verschlingen, las Zeitungen und interessierte sich vor allem für die Ausdruckswelt der Musik, in der er sich durch das Erlernen mehrerer Instrumente auch praktisch übte.

Seine erste spirituelle Ekstase erlebte er im Alter von fünfzehn Jahren. Er fuhr mit seinen Eltern nach Raipur, wobei ein Teil der Strecke mit Ochsenkarren zurückgelegt werden musste. Der Reichtum der Natur – die vielfarbigen Blüten, die Schlingpflanzen, die verschiedenen Vögel mit ihrem prächtigen Gefieder – begeisterte den Jungen. Als sie durch eine enge Schlucht fuhren, erspähte Narendra einen riesigen Bienenstock in einer Felsenspalte, worin er ein Sinnbild göttlicher »Vorsehung« sah. Vielleicht war dies aber auch nur der äußere Anlass für die innere Ekstase, die ihn ergriff und vorübergehend das Bewusstsein verlieren ließ – ein Vorgang, den wir auch hundertfach im Leben Ramakrishnas finden.

Bereits in seiner Kindheit und Jugend hatte Narendra auch wiederholt sogenannte Déjà-vu-Erlebnisse. Beim Anblick bestimmter Personen oder Orte hatte er das starke Empfinden, dass er sie schon von früher her kannte. Eines Tages war er mit Bekannten im Hause eines Freundes und diskutierte mit diesen bestimmte Fragen. Plötzlich hatte er das Gefühl, bei einer früheren Gelegenheit mit denselben Freunden über denselben Gegenstand diskutiert zu haben. Er konnte jede Ecke und jeden Winkel des Gebäudes beschreiben, das er vorher noch nie gesehen hatte. Am plausibelsten erschien ihm als Erklärung zuerst, das alles bereits in einem früheren Leben erlebt zu haben. Doch dann verwarf er diese Erklärung wieder – was natürlich nicht heißt, dass er die Reinkarnationsidee, die in Indien fast als Naturgesetz gilt, insgesamt bezweifelte. Doch er glaubte, diese Phänomene besser damit erklären zu können, dass er die Menschen, Ereignisse und Plätze, denen er in der jetzigen Inkarnation begegnen würde, in einer präexistenten Form bereits vor seiner Geburt gesehen haben müsse. (Manchmal liebäugelte der spätere »Vivekananda« auch mit der Lehre von der »ewigen Wiederkehr« des Gleichen, die ja auch Nietzsche so sehr faszinierte. Gewöhnlich vertrat er aber eher die Ansicht, das Absolute manifestiere sich im Relativen durch eine Unzahl von »Variationen«.)

Nach der Rückkehr der Familie von Raipur nach Kalkutta – wir befinden uns inzwischen im Jahr 1879 – absolvierte Narendra innerhalb kurzer Zeit die höhere Schule, um dann auf die Universität von Kalkutta zu gehen. Er hatte inzwischen viele wichtige Werke der bengalischen und auch englischen Literatur gelesen. Am meisten begeisterte er sich für geschichtliche Bücher – eine Vorliebe, die ihm sein ganzes Leben lang erhalten blieb. Um so viele Bücher wie möglich lesen und auch aufnehmen zu können, eignete er sich eine besondere Methode an: Er las nur die ersten und die letzten Zeilen eines Paragraphen, um den mittleren Rest dann »intuitiv« aufzunehmen. Später erweiterte er diese Methode dann noch, indem er nur noch die ersten und letzten Zeilen einer ganzen Seite las; und noch später genügte es ihm oft, nur ein paar Zeilen eines Autors zu lesen, womit er sich die weiteren oft ausschweifenden Gedankenflüge sparte, da er, wie er meinte, die Quintessenz bereits begriffen habe.

Nach einem Jahr auf der Universität trat er in das »Presidency College of Calcutta« für höhere Studien ein, das von der »Allgemeinen Schottischen Missionsgesellschaft« gegründet worden war und später als das College der Schottischen Kirche bekannt wurde. In den ersten zwei Jahren studierte er vor allem westliche »Logik« und spezialisierte sich dann ganz auf die westliche Philosophie und auch auf die alte und neue Geschichte der europäischen Nationen. Wieder half ihm seine ungeheure Konzentrationsfähigkeit, um sich etwa Greens berühmte »Geschichte des englischen Volkes« in nur drei Tagen geistig einzuverleiben. Vor einer Prüfung studierte er oft die ganze Nacht hindurch und hielt sich mit starkem Kaffee oder schwarzem Tee wach.

Professor Hastie, der Leiter des College, sagte über den vielversprechenden Studenten: »Narendra ist wirklich ein Genie. Ich bin viel herumgekommen, habe aber noch nie einen jungen Mann mit solcher Begabung und solchen Aussichten getroffen, selbst nicht unter den Philosophiestudenten an den deutschen Hochschulen. Er wird seinen Weg im Leben machen.«3

Doch Hasties Bedeutung für Narendra erschöpfte sich nicht darin, ihn über den grünen Klee zu loben und ihn zu unterstützen. Seine wichtigste Aufgabe war – ohne dass er sich ihrer in vollem Maße bewusst war –, dass er Narendra auf Ramakrishna aufmerksam machte. Als er in seiner Klasse über englische Literatur das Gedicht »Der Ausflug« von Wordsworth durchnahm, erwähnte er Trance-Zustände und fügte hinzu, solche religiöse Ekstasen seien in der modernen Zeit höchst selten. »Ich habe nur eine Person kennen gelernt«, sagte er, »die diesen gesegneten Zustand verwirklicht hat, nämlich Sri Ramakrishna Paramahamsa von Dakshineshvar. Ihr werdet solche spirituellen Ekstasen besser verstehen, wenn ihr diesen Heiligen besucht.«4

Bisher hatte Narendra spirituelle Anstöße eher von den indischen Reformbewegungen wie dem »Brahmo Samaj« gesucht. Diese Bewegung, die von Raja Rammohan Roy (1774-1833) gegründet worden war, setzte sich etwa für die Wiederverheiratung der Witwen, die Abschaffung der Kinderverheiratung und überhaupt für die Emanzipation der Frauen und die Hebung der Massen ein. In religiöser Sicht hatte diese »Reinigung« allerdings auch ihren Preis: Indem man auf den »Polytheismus«, den Ritualismus und den Bilderkult verzichtete und, vom Islam und vom Christentum inspiriert, einen etwas farblosen, stark von der Ratio inspirierten Monotheismus zu installieren suchte – ein wenig zaghaft überwölbt vom überpersönlichen Brahman der Upanishaden – verlor man viel von der ursprünglichen Vitalität des Hinduismus.

Narendra fühlte sich von den sozialen Ideen des Brahmo Samaj sehr stark angezogen und nahm auch häufig an deren Gottesdiensten teil. Seit Keshab Chandra Sen die Führung der Vereinigung übernommen hatte, hatte diese eine starke christliche Färbung erhalten. Mit großer Inbrunst sang Narendra die frommen Lieder der Kongregation, doch als er wichtige Mitglieder etwas intensiver befragte, ob sie auch Gott im Inneren erfahren hätten, bekam er eher ausweichende Antworten.

1884 – also zu einer Zeit, als er Ramakrishna bereits kannte – trat Narendra auch der Freimaurerloge in Kalkutta bei, wohl auf Anregung seines Vaters. Auch hier waren es vor allem die »humanistischen« Ideale, die ihn anzogen, während ihn die Geheimniskrämerei auf die Dauer eher abstieß – war er doch der Ansicht, dass die Wahrheit immer offen ausgesprochen werden müsse. Jedenfalls hinterließ diese Mitgliedschaft keine weiteren Spuren in seinem Leben und seinem Werk.

Um diese Zeit versuchte die Familie auch, wie es in Indien üblich ist, ihn zu verheiraten, zumal sich eine günstige Gelegenheit bot: Ein wohlhabender Mann hatte das verführerische Angebot gemacht, die Kosten für ein Hochschulstudium in England zu übernehmen, als Sprungbrett für eine Karriere im indischen Verwaltungssystem, wenn – ja, wenn Narendra seine Tochter heiraten würde. Narendras Eltern fühlten sich geschmeichelt und bedrängten ihren vielversprechenden Sohn, doch dieser lehnte ab. Auch andere Vorschläge in ähnlicher Richtung liefen ins Leere.

Dabei hätte Narendra durchaus das Zeug zu einer weltlichen Laufbahn gehabt. Oft sah er nachts vor dem Einschlafen diese beiden möglichen Lebenswege vor sich: Die eines Weltmenschen mit einer vorzeigbaren schönen Gattin, prächtigen Kindern und einem noch prächtigeren Einkommen, das ihm eine hohe Stellung in der Gesellschaft sicherte – eine Stellung, wie sie Narendra etwa im Leben von Devendranath Tagore, einem der Führer des Brahmo Samaj (und dem Vater des Dichters Rabindranath) verkörpert sah. Dieser hatte zu dem jungen Mann gesagt: »Mein Junge, du hast die Augen eines Yogi. Du solltest meditieren.« Ansonsten hatte aber auch er eher ausweichende Antworten auf die Frage gegeben, ob er Gott »verwirklicht« habe.

Der zweite Weg, der Narendra vor dem inneren Auge stand, war natürlich der des Mönchs, des Sannyasin, der alle Bindungen aufgegeben hatte und sein Leben nur der Verwirklichung des Absoluten weihte. Allerdings war ihm auch wichtig, dass er diesen Weg nicht aus einer Schwäche heraus wählte, sondern aus dem vollen Wissen, dass er den weltlichen Weg auch ausfüllen könnte. Der Weg des Mönch sollte ja nicht nur eine bloße Absage sein, sondern ein Transzendieren, ein Überschreiten: Hin zu jenem »Ufer jenseits der Finsternis«, das schon die Upanishaden als höchstes Ziel priesen.

2.

Zu Füßen Ramakrishnas

Ramakrishna war fünfundvierzig Jahre alt, als der junge Student Narendra ihm zum ersten Mal begegnete, und hatte nur noch fünf Jahre zu leben. Er hatte zahllose Wege des Hinduismus beschritten, theistische und nicht-dualistische, er hatte sich auch für kurze Zeit dem mystischen Islam zugewandt und war mit einer intensiven Christus-Vision gesegnet worden. Nun war die Zeit gekommen, die inneren Schätze weiterzugeben: An einen äußeren Kreis von Gläubigen, die tagtäglich zu ihm strömten und denen er in unzähligen Parabeln erklärte, wie man in Gottes unmittelbare Nähe kommen könne, und an einen inneren Kreis von einem guten Dutzend Jüngern, deren Führer sehr bald Narendra werden sollte.

Der Gegensatz konnte kaum größer sein: Hier ein ekstatischer Heiliger, der völlig trunken war von Gott, aber noch stark in der Welt der indischen Mythen verwurzelt zu sein schien. Dort ein junger Student, dessen Kopf vollgestopft war mit westlicher rationaler Philosophie und den gesellschaftlichen Reformideen des Brahmo Samaj. Natürlich gab es auch bei Narendra eine starke spirituelle Unterströmung, aber es bedurfte erst einmal der Berührung durch den Meister, um diese Quelle so richtig aufbrechen zu lassen.

Bei seinem ersten Besuch in Dakshineshvar, jenem großen Tempelbezirk, in dem Ramakrishna wohnte, sang Narendra mit großer Hingabe ein Brahmo-Lied: »Oh Geist, lass uns nach Hause gehen. Warum wanderst du in der Welt umher, dem fremden Land, und trägst ein fremdes Kleid?« Ramakrishna versank beim Anhören dieses Liedes sofort im Samadhi. Er hatte zuvor eingehend die ausdrucksvollen großen Augen Narendras studiert, die sich von den weltlichen Gesichtern und dem eher gelangweilten Ausdruck seiner Begleiter stark abhoben. Als das Lied verklungen war, nahm Ramakrishna den Neuankömmling zur Seite und führte ihn zur Veranda, wo sie ungestört waren. Narendra erwartete wohl, dass ihm der Heilige ein paar Ratschläge geben würde, wie er meditieren sollte. Umso schockierter war er, als Ramakrishna plötzlich in Freudentränen ausbrach und seine Hand ergriff. »Du bist so spät gekommen«, sagte er zu ihm. Er habe schon so lange auf ihn gewartet. Und Narendras Erstaunen erreichte seinen Höhepunkt, als Ramakrishna seine Hände faltete und sagte: »Ich weiß, wer du bist. Du bist der Weise Nara, die Inkarnation Narayanas. Du bist wieder zur Erde gekommen, um die Leiden der Menschen zu lindern.«1

Narendra fühlte sich alles andere als geschmeichelt. Sein erster Gedanke war, es mit einem völlig Verrückten zu tun zu haben. Erzählten sich die Leute nicht die seltsamsten Geschichten von diesem Heiligen? Doch so verrückt diese erste Begegnung auch sein mochte – sie war noch ziemlich harmlos verglichen mit dem, was ihn bei seinem zweiten Treffen mit Ramakrishna erwartete. Diesmal kam Narendra allein, ohne geschwätzige Freunde, und auch Ramakrishna war allein in seinem Zimmer. Ramakrishna begrüßte ihn freudig und bat ihn, sich am Ende des Bettes niederzusetzen. Doch dann ging alles blitzschnell: Ramakrishna berührte Narendras Körper plötzlich mit dem rechten Fuß, und im selben Moment begann sich die ganze Umgebung vor den weit offenen Augen Narendras wie in einem riesigen Wirbel zu drehen und in einem Nichts zu verschwinden. Auch sein Ich schien sich mit dem ganzen Universum aufzulösen. Narendra fühlte sich dem Tod nahe. »Was machen Sie da mit mir?«, rief er aus. »Ich habe meine Eltern daheim!« Ramakrishna lachte laut und berührte Narendras Brust. »Ist schon gut«, sagte er, »das reicht für heute. Es wird sich alles im Lauf der Zeit ergeben.«2 Narendra kehrte zu seinem normalen Bewusstsein zurück und sah wieder alles »an seinem Platz«. Ramakrishna begann mit ihm zu scherzen und gab ihm zu essen, und zwar mit einer solchen Fürsorge und Liebenswürdigkeit, dass sich Narendra verlegen fühlte.

Bei ihrem dritten Treffen, etwa eine Woche später, lud Ramakrishna ihn zu einem Spaziergang in der Gartenanlage ein, um ungestört mit ihm sein zu können. Da der recht sportliche Narendra auch Unterricht im Ringen genommen hatte, ging er gleichsam innerlich in Deckung, wachsam wie ein Kämpfer, da er wieder irgendetwas »Verrücktes« befürchtete. Vielleicht hatte er auch mitbekommen, dass der eigentlich recht schmächtige Meister manchmal andere Schüler, die sich ebenfalls in Ringschulen geübt hatten, im Spaß zum Kampf aufgefordert hatte – um sie dann zumindest innerlich zu überwältigen.

Sie erreichten jenes Gartenhaus, in dem Ramakrishna Jahre zuvor ein dort hängendes Bild der Madonna mit dem Jesuskind intensiv betrachtet hatte, dessen Strahlen dann in ihn eingedrungen waren. Als sie sich gesetzt hatten, schien Ramakrishna wieder einmal im Samadhi zu versinken. Narendra blieb auf der Hut. Und richtig: Ramakrishna war trotz aller Versunkenheit immer noch fähig, ihn wieder zu berühren. Diesmal verlor Narendra völlig das äußere Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, stand Ramakrishna lächelnd vor ihm und strich mit der Hand über seine Brust.

Später sagte Ramakrishna zu anderen Jüngern: »Als Naren an jenem Tag das Bewusstsein seiner jetzigen Persönlichkeit verloren hatte, stellte ich ihm viele Fragen: Wer er in Wahrheit sei, woher er komme, wie lange er in der Welt bleibe und so weiter. Ich ließ ihn in die Tiefe seines Wesens hinabtauchen und die Antworten auf meine Fragen hervorholen. Diese Antworten bestätigten, was ich bereits in Visionen über ihn erfahren hatte. Ich muss über diese Dinge schweigen. Aber ich kann so viel sagen: An dem Tag, an dem Naren erfährt, wer er in Wahrheit ist, wird er nicht länger in der Welt bleiben. Mit einer starken Willensanstrengung wird er sogleich mit Hilfe seiner Yoga-Kraft seinen Körper aufgeben. Naren ist eine große Seele, die bereits Vollkommenheit in der Meditation erlangt hat.«3

In der bedeutendsten dieser »Visionen«, die Ramakrishna bereits vorher zuteil geworden waren, hatte dieser Narendra in einer der obersten himmlischen Welten erblickt. Sein Geist hatte die gröberen und feineren Regionen der Materie durchdrungen und auch die Welt der göttlichen Gestalten, der »Devas«, transzendiert. Er gelangte in die Region des überpersönlichen Absoluten, die aber bei aller Transpersonalität immer noch Platz hatte für sieben Rishis (Weise oder Seher), deren Körper aus dem Licht reinen Bewusstseins gemacht schienen. Sie waren völlig im Samadhi versunken. Das undifferenzierte Licht, aus dem die ganze Region bestand, verdichtete sich nun an einer Stelle und nahm die Gestalt eines Kindes an. Dieses Kind näherte sich einem der Weisen und versuchte, ihn aus der Versenkung zu wecken. Endlich öffnete dieser die Augen. Der Anblick des Kindes schien ihn aufs höchste zu erfreuen, und als das Kind sagte: »Ich gehe hinunter. Du musst mit mir kommen!«, drückten seine Augen Zustimmung aus. Er versank wieder im Samadhi, und dann sah Ramakrishna, dass ein Fragment des Weisen in Form eines hellen Lichtes zur Erde fiel. Als Ramakrishna dann wenig später Narendra begegnete, erkannte er in ihm sofort diesen Rishi wieder und bat die Göttliche Mutter, sie möge die Augen Narendras mit etwas Maya bedecken, damit er seinen Auftrag erfüllen könne.4 Als er ein anderes Mal ein Licht über den Himmel huschen sah, rief er aus: »Mein Mann ist gekommen!«

Versenkt man sich im Geiste in jene platonischen Lichtwelten, aus denen Ramakrishna – das »göttliche Kind« – seinen Schüler herabkommen sah, so wird unser geläufiger Ausdruck, jemand erblicke »das Licht der Welt«, natürlich ein wenig relativiert. Denn verglichen mit jenen Lichtwelten könnte dieses Licht der Welt ja auch eine recht armselige Funzel sein, und die Dankbarkeit dafür, dass man dieses Licht erblicken darf, könnte sich dann in Grenzen halten.

Allerdings fiel Narendra, wie wir bereits gesehen haben, keineswegs als voll ausgewachsener Rishi auf die Erde, sondern musste sich in der Welt des mühsamen »Werdens« seine Statur als bereits erleuchteter Weiser erst »erkämpfen«. Auch Narendra musste diesem Gesetz folgen, das auf eine verquere Art mit jener seltsamen »Göttlichen Mutter« zu tun hatte, die Ramakrishna so leidenschaftlich verehrte.

Nicht alle Verehrer Ramakrishnas waren begeistert von dem Neuankömmling, den ihr Meister so intensiv umwarb. Eifersuchtsdramen sind nichts Ungewöhnliches im Umfeld eines Guru; wird doch das Ego der Anbeter meistens nicht gleich abgetötet, sondern – selbstverständlich auf einer sehr hohen, angeblich »spirituellen« Ebene – erst recht in Szene gesetzt. Und hatten manche dieser eifersüchtigen Verehrer nicht auch recht – hatte sich der Atman, das göttliche Selbst, in das Narendra in seinem himmlischen Refugium versunken war, auf der irdischen Maya-Ebene nicht in einen ziemlich arroganten Schnösel verwandelt, der sein Hauptvergnügen darin zu sehen schien, seine Umgebung zu provozieren? Dass Ramakrishna sich die Augen aus dem Kopf weinte, nur weil dieser verwöhnte Student sich irgendwo herumtrieb und nicht daran dachte, nach Dakshineshvar zu kommen, überstieg das Fassungsvermögen vieler Verehrer Ramakrishnas.

Auch diesem waren die Lobeshymnen des Meisters auf ihn manchmal peinlich. Eines Tages hatten Keshab und Vijay, führende Gestalten im Brahmo Samaj, Ramakrishna in Dakshineshvar besucht. Als sie sich wieder verabschiedet hatten, sagte Ramakrishna zu einigen Brahmos, die noch geblieben waren: »Ich konnte das Licht der Erkenntnis in Keshab und Vijay brennen sehen; es glich der Flamme einer Kerze. Doch das Licht in Naren glich einer strahlenden Sonne.« Naren stellte den Meister später zur Rede: »Die Leute werden denken, du seist verrückt, wenn du solche Dinge sagst. Keshab ist weltberühmt. Vijay ist ein Heiliger. Und ich bin ein Niemand. Wie kannst du sie und mich in einem Atemzug nennen? Ich bitte dich, sage so etwas nie wieder!«

»Aber mein Kind«, antwortete Ramakrishna mit dem für ihn so typischen unschuldigen Lächeln, »was kann ich da tun? Glaubst du, ich würde diese Dinge aus mir selber heraus sagen? Die Mutter hat mir die Wahrheit über dich offenbart, und ich musste sie aussprechen. Die Mutter hat noch nie gelogen.«5