Zitronensonne

Katrin Einhorn

Zitronensonne

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Katrin Einhorn

Katrin Einhorn, 1979 geboren, studierte Germanistik und Französisch und arbeitet als Lehrerin. Ihre freien Abende nutzt sie, um ihre charmanten und witzigen Bücher zu schreiben. Katrin Einhorn lebt mit ihrer Familie in Trier.

Über das Buch

Köchin Romy betreibt ziemlich erfolglos einen Food-Truck. Als ihr der Stellplatz am Bahnhof auch noch gekündigt wird, eine saftige Steuernachzahlung droht und ihr Freund sie verlässt, steht Romy vor einem Scherbenhaufen. Widerwillig stimmt sie zu, den geliebten Truck an ihren Konkurrenten Leonard zu verkaufen. Allerdings nur unter einer Bedingung: Sie will damit ein letztes Mal nach Italien reisen. Dort soll sich Streetfood- Artist Quinto aufhalten, den sie anhimmelt. Doch auch Leonard hat eine Bedingung: Er will mit nach Italien.

Impressum

Originalausgabe 2021

© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Hannover

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Die Funktionalität der Web-Links wurde zum Zeitpunkt der Drucklegung (E-Book-Erstellung) geprüft. Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkungen nicht erkennbar.

 

eBook-Herstellung: Greiner & Reichel, Köln (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43836-0 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21948-8

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423438360

 

 

 

Für Emmi und Maggie

&

für einen Welsh Terrier

mit Ringelschwänzchen

und wunderschönem Namen

Magische Momente

Die erste selbstgebackene Torte, die erste Nacht in der eigenen Wohnung, der erste Sonnenuntergang am Meer … Ja, erste Male haben etwas Magisches.

Also nicht alle natürlich. Die erste Warze zählt eher nicht dazu oder das erste graue Haar. Aber darum geht es in diesem Blog nicht. Hier geht es um Quinto.

Wann habe ich das erste Mal von Quinto gehört? Es ist schon eine ganze Weile her. Schätzungsweise vier Jahre. Ich war Mitte zwanzig, arbeitete als Bürokauffrau in einem Ingenieurbüro und träumte vom Kochen. Also, ich träumte nicht nur davon, ich tat es auch. In meiner Freizeit. Da briet und schmorte ich, wälzte Bücher, besuchte Kochkurse, dachte mir Rezepte aus, las mich quer durch das Internet – und dort war er mir begegnet.

Es war Sonntag, das weiß ich noch genau. Ich saß auf dem Sofa, schlürfte einen Milchkaffee mit Caramel und stöberte auf einer Kochseite herum. Plötzlich las ich folgende Überschrift: »Quinto – Geist oder Guru?« Irgendwie blieb mein Blick hängen, und schon nach wenigen Sätzen war es um mich geschehen.

Der Artikel handelte davon, dass Quinto in Barcelona aufgetaucht war und unerkannt die weltbesten Chili-Tacos mit Orangencreme verkauft hatte. Einfach so, am Straßenrand, etwa eine Stunde lang. Dann verschwand er wieder. Er hinterließ nichts als einen wunderschönen Silberlöffel, der am Ende des Stiels ein »Q« eingraviert hatte.

Ich verschlang den Beitrag, war völlig fasziniert. Wer war dieser Unbekannte? Warum hielt er seine Identität geheim? Ich durchforstete das Internet und entdeckte die wildesten Gerüchte. War Quinto ein Enkel von Paul Bocuse? Eine Oma? Der Bassist von Pink Floyd? Ein Marketinggag? Ein Obdachloser? Bis heute habe ich keine Antwort. Aber gemeinsam werden wir das Geheimnis lüften, da bin ich mir sicher! Wann und wo habt ihr zum ersten Mal von Quinto gehört? Ich freue mich auf eure Kommentare!

 

Liebe Grüße

Eure Romy

400g Risottoreis

 

Noch roch die Welt nach Bus und Bahnhof, doch Romy hatte den Duft des Tages schon in der Nase: Von links würde ein Hauch von Orange heranströmen, von rechts das Aroma sonnengereifter Tomaten. Hinzu kam die Frische der Wassermelonen, die sie in Form eines kalten Gazpachos anbieten würde. Ein Traumgeruch im realen Geruchsalbtraum.

Sie ließ den Blick über den Bahnhofsvorplatz schweifen. Kein potenzieller Gast weit und breit. Doch, einer. Beziehungsweise eine. Romy bemühte sich um ein Lächeln. Die Geschäftsführerin von Bürobedarf Klopstock war zwar keine gute Kundin, aber eine wichtige. Ihr gehörte das Gelände, auf dem Romys Food-Truck, genannt »Suppenfee«, von Montag bis Freitag seinen festen Stellplatz hatte.

»Was kann ich Ihnen anbieten?«, fragte Romy, als die Frau vor Romys Wagen stand.

»Ich habe hier etwas für Sie.« Frau Klopstock zog einen Umschlag aus ihrer Tasche. Ein Schreiben zur geplanten Vergrößerung des Ladens? Das wäre nicht nötig, über den drohenden Baulärm war Romy bereits im Bilde. Bevor sie den Umschlag in Empfang nehmen konnte, klingelte Frau Klopstocks Handy. »Ja bitte?« Sie wandte sich ab, steckte den Umschlag wieder ein und strebte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war.

Das Kuvert erinnerte Romy daran, dass sie auf dem Weg zur Arbeit ihre Post eingesteckt hatte. Ob sie sie überhaupt öffnen sollte? Ein Schreiben von ihrem Steuerberater war dabei gewesen. Vermutlich die Abrechnung des letzten Monats, und die könnte ihr den Tag verderben. Also ließ sie sie besser in ihrer Tasche.

Summend hackte sie einen Bund Minze klein und platzierte ihn in der Kühlvitrine ihres Food-Trucks. Kaum lag auch die Petersilie bereit, setzte nebenan der alltägliche Wahnsinn ein. Eros Ramazotti: Se bastasse una canzone. Sechs Schritte, und Romy stand vor dem Imbisswagen ihres Nachbarn. Oder besser gesagt vor seiner »Grotta«, denn so bezeichnete er die truckgewordene Silberhöhle. Die Außenwände bestanden aus Chrom, die Innenwände waren mit blauen Milchglasplatten verkleidet, die indirekt beleuchtet wurden. Das Ganze sollte an die Blaue Grotte auf Capri erinnern, daher auch der Name.

Romy fand das Konzept ein bisschen kühl, aber an sich nicht verkehrt – wären da nicht die Plastikzitronen gewesen. Die hingen nämlich auch in der »Grotta«. Bestimmt achtzig Stück oder eher hundert. Über der Theke hingen sie, an den Seitenwänden, dem Kühlschrank und sämtlichen Schubladen. Was das sollte? Eine sehr gute Frage. In der Blauen Grotte wuchsen definitiv keine Plastikzitronen!

»Buongiorno, Frau Nachbarin.« Leonard drehte seine Anlage leiser, warf einen Esslöffel wie einen Cocktailshaker in die Luft und fing ihn nach einer Drehung wieder auf. »Was kann ich Ihnen anbieten? Spaghetti Carbonara? Ein Teller Gnocchi mit Schinken?« Er imitierte den Akzent eines Deutsch sprechenden Italieners, was Romy noch mehr ärgerte als die Tatsache, dass sich der Saarbrücker von seinen Stammkundinnen »Leonardo« nennen ließ.

»Eine Portion Ruhe wäre super«, sagte sie.

»Ruhe? Die ist leider aus.« Ihr Nachbar rührte unbeeindruckt in einer Schüssel, seine Stimme wurde von einem heranrumpelnden Stadtbus übertönt.

»Bei der Musik werden meine Suppen sauer.« Romy deutete auf die beiden Lautsprecher.

»Ach so, verstehe. Na, bevor Ihnen noch das Gleiche passiert …« Leonard drehte die Anlage leiser, und Romy kehrte zu ihrem Truck zurück. Wieder mal ein Tag, an dem sie liebend gerne den Stellplatz wechseln würde. Nein, ihr Traum war es nie gewesen, ihre Zelte ausgerechnet beim Saarbrücker Hauptbahnhof aufzuschlagen.

Schon gar nicht neben diesem Grottenbesitzer. Es war so ungerecht: Romy hatte hippe frische Bio-Suppen auf der Speisekarte, bei ihm gab es Nudeln mit Sauce aus Gläsern! Ihr Wagen hatte Charme, seiner war voller Plastikzitronen. Trotzdem hatte er Erfolg. Und Romy nicht.

Aktuell stand es in Sachen Kundschaft 3 zu 0 für Leonard. Nein, 3 zu 1. Romy lächelte Frau Klopstock entgegen, doch anders als erwartet peilte sie gar nicht ihre »Suppenfee« an, sondern die Imbiss-Grotte des Nachbarn.

»Buongiorno!« Leonard breitete die Arme aus, als wolle er die Unternehmerin umarmen. Eine Ewigkeit stand sie an seiner »Grotta«, obwohl sie keine Pasta erstand. Und dann kam sie auf einmal doch noch zu Romy. Mit ernster Miene.

»Es geht um die Vergrößerung meines Ladens«, erklärte sie.

»Kein Problem.« Romy nahm den Umschlag in Empfang, den ihr Frau Klopstock reichte. »Mir ist schon klar, dass es etwas lauter wird. Aber ich bin ja Kummer gewöhnt.« Sie lächelte schief, als wie zum Beweis ein Motorrad direkt neben ihr vorbeiknatterte.

»Der Lärm ist nicht das Problem«, sagte Frau Klopstock.

»Wieso, was denn dann?«

»Es wird eng.«

»Ich verstehe nicht.«

Angespannt zog Romy das Schreiben aus dem Umschlag, begann zu lesen. Drei Zeilen später verstand sie. Eng wurde es in der Tat, und zwar nicht nur auf dem Parkplatz.

Eng wurde es auch für Romy.

Karl-Otto: Heute Mittagessen, Signor Pasta?

Sig. Pasta: Ich arbeite.

Karl-Otto: Vielleicht gibt dein Chef dir frei …?

Sig. Pasta: Wenn du ihn nicht zu sehr nervst, lädt er dich auf eine Portion Nudeln ein.

Karl-Otto: Nudeln? Wie originell!

Sig. Pasta: Und schon hat sich das Angebot erledigt.

Karl-Otto: Das war ein Witz, bis später.

Wie betäubt starrte Romy ins Leere. Ihr war kalt, obwohl die Frühlingssonne genau auf ihren Food-Truck schien. In Sachen Kundschaft stand es 8 zu 2 für Leonard. Gleich würde es sich auf 8 zu 3 erhöhen – allerdings ohne weiteren Umsatz. Romy nickte ihrem Freund entgegen.

Chris war Koch und arbeitete in der »Tonkabohne«, dem angesagtesten Restaurant der Stadt. Eine Riesenehre, die ihm jedoch jede Menge Überstunden einbrachte. In letzter Zeit hatten sie sich so selten gesehen, dass Romy darauf bestand, ihn wenigstens an seinem freien Montag zum Mittagessen einzuladen.

»Hey.« Chris warf seine Lederjacke auf den Tresen und studierte die Tafel mit den Tagesgerichten. Wie immer kniff er dabei seine Augen zusammen. Das strahlende Frühlingswiesengrün würde er nie hinter Brillengläsern verstecken.

Romy füllte derweil einen Becher mit Tomaten-Minz-Suppe und gab einen Teelöffel Crème fraîche hinzu. Sie wusste, was ihr Freund wählen würde, noch bevor es diesem selbst klar war. »Ich nehme die Tomatensuppe«, sagte Chris nach einer Bedenkminute.

»Gute Wahl.« Romy reichte ihm den dampfenden Becher, ohne ihn anzusehen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Chris.

»Wie immer.« Jammern half ja doch nichts. Positiv denken, nach vorne sehen. Es würde schon weitergehen. Oder? Romy fühlte sich, als würde ihr ein gigantischer Markkloß im Hals stecken.

»Du hast doch was.«

Romy war auf einmal so müde, dass sie sich am liebsten auf ihre Theke gelegt hätte. »Ich habe nichts. Nicht mal einen vernünftigen Stellplatz.« Sie schob ihrem Freund nun doch das Schreiben zu, und Chris begann zu lesen. Oder besser gesagt zu überfliegen, denn sein Resümee erfolgte nur Sekunden später.

»Du sollst in den Bormannspfad umziehen?«, sagte er.

»Da ist das Lager.«

»Na ja, auch gut, oder?«

»Dort gibt es keine Laufkundschaft.«

»Ach so.« Chris zuckte mit den Achseln. »Na, dann such dir eben was anderes.«

»Glaubst du allen Ernstes, das ist so einfach?« Romy stopfte das Schreiben wieder zurück in den Umschlag. Sie stand jetzt also auf der Straße. Beziehungsweise nicht mal das, denn am Straßenrand durfte man in Saarbrücken nicht ohne Genehmigung stehen. Sie stand nicht auf der Straße, sie stand nirgendwo.

»Ich kann einpacken«, sagte sie dumpf.

»Entspann dich.« Chris strich ihr über den Arm. »Da findet sich schon eine Lösung.«

»Aber welche?! Ich habe ein Jahr lang die ganze Stadt abgesucht, bis ich endlich diesen Platz gefunden habe. Es gibt nichts! Da, wo man stehen könnte, darf man nicht stehen. Und da, wo man stehen darf, gibt es keine Kunden.«

»Muss es denn unbedingt Saarbrücken sein? Stell dich doch irgendwohin, wo das Wetter besser ist!«

»Wo das Wetter …« Romy verstummte. Was war denn das für eine Ansage? Chris wohnte hier, also musste es natürlich Saarbrücken sein! Er konnte doch nicht ernsthaft wollen, dass sie sich einen Stellplatz in Andalusien suchte!

Ein Polizeiauto raste mit schriller Sirene an ihnen vorbei, Romy presste instinktiv die Hände auf die Ohren. »Wenn die Bilanzen wenigstens stimmen würden«, stöhnte sie, nachdem der Wagen um die nächste Ecke gekurvt war.

»Dann mach halt in Burger.«

»So einfach kann ich doch mein Konzept nicht ändern. Ich bin froh, wenn ich meine nächste Miete zahlen kann!« Romy dachte an das Schreiben ihres Steuerberaters. Der März hatte sicher nicht besser ausgesehen als der Februar, und sie war noch mehr in den Miesen. Ein Gedanke, der kaum auszuhalten war.

Drei Jahre lang hatte sie den Schritt in die Selbstständigkeit vorbereitet. Hatte neben der Arbeit in jeder freien Sekunde gekocht und geplant und geträumt. Hatte unzählige Seminare, Schulungen und Kurse besucht. Sie hatte Rezepte ausprobiert, Standorte gecheckt, Genehmigungen eingeholt, eine Speisekarte entworfen, Wagen getestet, einen Businessplan geschrieben, ihre Homepage designt – sie hatte alles gemacht! Aber es lief einfach nicht. Nach nur einem Jahr war sie am Ende.

»Ich muss.« Chris schob die leergegessene Suppenschale von sich weg. »Und Kopf hoch.« Er packte seine Lederjacke, gab ihr einen Kuss auf die Wange und machte sich wieder auf den Weg. Wohin musste er überhaupt? Romy hatte gar nicht nachgefragt, wie unaufmerksam. Gut, dass sie bald nach Florenz fahren würden. Da hatten sie endlich mal Zeit füreinander.

Wobei … Romy schluckte. Konnte sie sich die Fahrt überhaupt noch leisten? Eigentlich nicht. Fahren würden sie natürlich trotzdem. Sie freute sich seit Monaten auf die kleine Reise und das Food-Festival »Pane e salame«, das sie besuchen würden. Ihr einziger Lichtblick. In Florenz würden sie essen, trinken, genießen … und natürlich nach Quinto suchen.

Ihre Recherchen hatten nämlich ergeben, dass der Food-Künstler eine Schwäche für die toskanische Stadt hatte. Vier Besuche in zwei Jahren – eine solche Quote gab es kein zweites Mal. Hinzu kam, dass Quinto schon neun Mal im Norden Italiens gesichtet worden war. Bologna, Vinci, Rimini, Livorno – und all diese Orte schienen wie Planeten um eine Sonne zu kreisen: Florenz. Abgesehen davon war Quinto ein Freund von Food-Events. 22,9 Prozent seiner Kochaktionen hatten auf Festivals stattgefunden.

Leicht zu entdecken war der Mann sicher nicht, denn er mischte sich nicht nur an unterschiedlichen Orten, sondern auch in wechselnder Verkleidung unter die Leute. Dennoch war Romy sich sicher, dass sie es schaffen könnte. Und ihr Bauchgefühl war der gleichen Meinung. Außerdem würde ihr die Reise einfach guttun. Ihr und Chris natürlich auch. Endlich raus, endlich wieder Zeit füreinander haben. Und das Quinto-Sightseeing? Das war – sie überlegte kurz – die karamellisierte Zwiebellocke auf dem Ziegenkäsetörtchen.

Geheimnisvolle Gestalten

Kennt ihr Banksy? Diesen Street-Art-Künstler? Ich finde, Quinto hat was von Banksy. Klar, Quinto sprüht keine Graffiti an Hauswände, und er verpackt auch keine politischen Botschaften in seine Burger, aber Ähnlichkeiten gibt es trotzdem.

Beide sind Künstler. Beide sind auf der Straße unterwegs. Beide halten ihre Identität geheim. Der eine sprüht heimlich, der andere kocht heimlich. Beide haben eine Schwäche für verrückte Aktionen. Banksy ließ 2018 nach einer Auktion ein Bild durch einen Mechanismus im Rahmen schreddern. Quinto verzierte 2019 in Wien sämtliche Äpfel eines Kindergarten-Apfelbaums mit einem lächelnden Schokogesicht.

Unterschiede gibt es natürlich auch. Banksy ist gegen Kommerz und will, dass jeder seine Werke sehen kann. Quinto verkauft seine Waren zwar günstig, aber er nimmt Geld ein.

Wie auch immer, ich bewundere diese beiden geheimnisvollen Gestalten. Sie hinterlassen Spuren! Ein paar dieser Spuren werde ich mir übrigens bald ansehen, denn nächste Woche fahre ich nach Florenz. Wart ihr da schon mal? Falls ihr gute Restaurant-Tipps habt, immer raus damit!

 

Liebe Grüße

Eure Romy

1 Fenchelknolle

 

Romy steckte ihr Handy ein. Gut, dass sie diesen Blog führte. Er brachte sie auf andere Gedanken. Andere Gedanken konnte sie gut gebrauchen. Nun war aber wieder Alltag angesagt. Suppe verkaufen, Geld verdienen. Nein, es ließ sich nicht schönreden: Ihre Kasse war ein ausgetrocknetes Flussbett. Und dieses Flussbett führte zu einem See, dessen Wasserspiegel seit Monaten sank.

Immerhin: Auch an der benachbarten »Grotta« gab es aktuell bloß drei Gäste. Ein blondes Glitzerstück nebst Dalmatiner, ein Mann mit tizianrotem Haar und eine ältere Dame. Letztere begutachtete die Tageskarte, die eigentlich eine Monats- oder bestimmt sogar eine Jahreskarte war. »Sind die Saucen vorgekocht? Aus diesen Gläsern da?« Die Dame beugte sich über den Tresen, als müsse sie eine vertrauliche Botschaft vermitteln. Romy wunderte die Frage nicht. Die »Grotta« wirkte wie ein Versprechen, das das Essen nicht einhielt. Zu schade, dass die Dame nicht zur »Suppenfee« herüberschaute. Die Orangensuppe mit den Granatapfelkernen hätte ihr bestimmt geschmeckt.

Ihr Nachbar hatte ja an sich keine schlechten Ideen, aber er übertrieb es einfach, und zwar grundsätzlich. Bei seiner Frisur (zu viel Gel), der Deko (zu viele Zitronen), der Musik (zu viel Eros Ramazotti) und auch beim Kochen. Zweimal hatte Romy bei Leonard gegessen, ganz am Anfang, als sie ihren Stellplatz bezogen hatte. Gericht Nummer 1: Kräuter-Schmand-Pasta (zu viel Kerbel, noch mehr Salz). Gericht Nummer 2: Nudeln mit Linsenpilzrahm (Weißweinessig bis zum Abwinken). Da es in der »Grotta« jedoch gigantische Portionen für wenig Geld gab, schien sich niemand daran zu stören. Selbst der Dalmatiner reckte seine schwarz gefleckte Nase in Topfrichtung, als witterte er ein Festmahl.

Kopfschüttelnd beobachtete Romy, wie das blonde Glitzerstück ein bunt eingepacktes Päckchen auf die Theke legte. Das Schicksal kannte keine Gnade. Während ihr eigenes Geschäft vor sich hin dümpelte, bekam der Herr Nachbar auch noch Geschenke. Was war das? Pflaster? Romy kniff die Augen zusammen. In der Tat: Heftpflaster mit Pizza-Muster. »Das ist ja magnifico! Einfach genial!« Leonard schüttete sich aus vor Lachen.

»Weil Sie sich doch neulich verbrannt haben.« Das Glitzerstück lächelte.

»Signorina, jetzt fiebere ich der nächsten Wunde entgegen!« Leonard warf ihr zwei Luftküsse und ein überlautes grazie zu. Nicht auszuhalten.

Romys Blick wanderte ins Innere der »Suppenfee« zurück. Genauer gesagt zu ihrer Tasche, die an einem Haken neben der Tür hing. Sollte sie …? Eigentlich wollte sie sich ihre Laune nicht noch mehr verderben lassen. Eigentlich wollte sie viel lieber an Florenz denken und an ihren Blog. Aber was brachte das? Sie kam ja ohnehin nicht drum herum.

Zögerlich kramte Romy nach dem Schreiben und faltete es schließlich auseinander. Betriebseinnahmen, Wareneinsatz, Sachkosten, der Nettogewinn … Ihr wurde noch flauer, als ihr ohnehin schon war. Die Betriebseinnahmen: 600 Euro weniger als im Vormonat. Insgesamt hatte sie nun also über 4000 Euro Schulden. Und jeden Monat wurden es mehr.

Wieder biss Romy sich auf die Lippen. Schulden, keine Einnahmen und kein vernünftiger Stellplatz. Sie nahm einen selbstgemachten Karotten-Chip und knabberte darauf herum. Nur die Ruhe. Es würde schon eine Lösung geben. Es gab doch immer eine Lösung!

Romy blätterte bis zur letzten Seite des Schreibens – und verschluckte sich fast. Nein. Bitte nicht! Das Papier flatterte, ihre Finger auch. Das musste ein Missverständnis sein, irgendeine blöde Verwechslung! Nur mit Mühe las sie die Nachricht ein zweites Mal.

Das war’s dann wohl.

Endgültig.

Romy schloss die Augen, presste beide Hände gegen ihre Schläfen. Sie war erledigt. Wenn sie nicht geradewegs in die Insolvenz schlittern wollte, musste sie die Reißleine ziehen. Eine Steuernachzahlung. 5158 Euro! Sie hatte keine 5158 Euro. Im Gegenteil: Sie hatte über 4000 Euro Schulden! Und keinen Stellplatz. Und keine Kunden. Sie hatte nichts.

Romy wollte sich noch zusammenreißen, irgendwie, schaffte es aber nicht. Mühevoll würgte sie den Karotten-Chip hinunter, während Szenen des vergangenen Jahres vor ihrem geistigen Auge aufblitzten. Der Kaufvertrag (mit Füller unterschrieben). Ihre erste Fahrt zum neuen Stellplatz (drei von vier Ampeln grün). Die erste Kundin (rote Brille, thailändische Hühnersuppe). Die Einweihungsparty (zu viel Wein).

Romy hatte sich alles so schön ausgemalt. Früh aufstehen, Märkte und Bauern abklappern, neue Rezepte ausprobieren, wechselnde Standplätze anfahren und Food-Festivals am Wochenende … Rund um die Uhr hatte sie für ihren Traum gearbeitet, manchmal sechzehn Stunden am Tag, begeistert und mit vollem Einsatz – für nichts!

Romy griff nach ihrem Schlüssel. Genug für heute. Mit diesem Gesicht würde sie die Kunden sowieso vergraulen. Sie hatte die Verkaufsklappe gerade abgeschlossen, als sich jemand hinter ihr räusperte.

»Kann ich helfen?«, fragte Leonard.

»Nein«, murmelte Romy.

»Ist es wegen dem Stellplatz?«

Romy antwortete nicht.

»Frau Klopstock hat mir alles erzählt«, sagte Leonard. »Tut mir sehr leid. Ich hatte schon befürchtet, dass Sie das trifft.«

»Ja.« Romy schluckte.

»Also falls ich …?«

»Nein, danke«, brach es aus ihr heraus. »Ich weiß: Bei Ihnen läuft es super und das freut mich für Sie.« Romy konnte nicht verhindern, dass ihr schon wieder die Tränen über die Wangen liefen. »Aber bei mir läuft nichts rund!« Ihre Stimme zitterte. »Ich kann hier nicht bleiben und ich bin pleite. So sieht’s aus. Also verschonen Sie mich bitte mit Ihrem Mitleid!« Ihre Stimme überschlug sich, und zwei Passanten drehten sich nach ihr um. Leonard hob beide Hände, wirkte betroffen. Romy wandte sich ab, riss ihr Handy aus der Tasche und rief Chris an. Er nahm den Anruf nicht entgegen. Vollkommen aufgelöst beschloss Romy mit der »Suppenfee« das Weite zu suchen, doch Leonard stellte sich ihr in den Weg. »Warten Sie bitte kurz, ich hätte da eine Idee …«

Sig. Pasta: Esse gleich Pizza. Quattro Stagioni …

Karl-Otto: Sehr nett, danke.

Sig. Pasta: Neidisch? Hungrig?

Karl-Otto: Nee, wegen Quattro Stagioni.

Sig. Pasta: Kapier ich nicht.

Karl-Otto: Siena? Der Wettbewerb?!

Sig. Pasta: Ach so! Sorry, deshalb hab ich das doch nicht geschrieben. Ich habe ewig nicht mehr dran gedacht. Wollte eigentlich bloß wissen, ob du mitessen willst.

Karl-Otto: Ach so. Nein danke. Ich hole mir was bei dem neuen Chilenen in der Altstadt. Komme danach bei dir vorbei.

Sig. Pasta: Bis später!

Gute-Laune-Gerichte

Was hilft gegen schlechte Laune? Kochen natürlich. Wenn bei mir alles drunter und drüber geht, schmeiße ich den Herd an. Aus Prinzip, nicht weil … blablabla als ob das irgendwas bringen würde, ist doch alles Mist hier und der Blog interessiert eh keinen, 3:58 Uhr kann nicht schlafen will nicht mehr will?? als kind hätte ich jetzt gesagt ich will nach hause aber ich bin ja schon zu hause undeshilftnichtnichtshilftallesscheiße sös fdö iemöiamjrcamöw

800ml warme Hühnerbrühe

 

Am Dienstag kam Leonard eine halbe Stunde früher als gewohnt zu seiner »Grotta«. Romy wurde flau, als sie seinen Volvo heranrollen sah. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie sämtliche Gefühlsregungen durchlaufen, die Menschen in Krisenzeiten heimsuchen.

Den ganzen Tag über hatte sie zunächst das Unausweichliche geleugnet, hatte sich immer wieder damit getröstet, dass die Sache mit der Nachzahlung bloß ein blödes Missverständnis war. Sie hatte zweimal mit Chris telefoniert, das Feedback zu ihren letzten Blog-Beiträgen kommentiert und gute, aber günstige Restaurants in Florenz gesucht.

Nach dem Telefonat mit dem Steuerberater war sie vollends ausgerastet. Wieso hatte er sie bloß ins offene Messer laufen lassen?! Er hätte sie vorwarnen müssen! Der Zustand hatte bis Mitternacht angehalten. Danach hatte Romy der drohenden Insolvenz den Kampf angesagt, ab vier nur noch geweint. Als die Sonne über den Dächern von Saarbrücken aufging, war ihr klar geworden, was sie zu tun hatte.

Leonard stieg aus. Romy verließ ebenfalls ihren Wagen, vor dem ohnehin kein Kunde stand. In ihr war eine Leere, die sie nicht kannte. Der Geschmack des Chai Latte, den sie am Morgen getrunken hatte, passte nicht zu diesem Tag.

»Und?«, fragte Leonard.

»Ja.«

»Sie machen es?«

»Ich habe keine Wahl.« Unwillkürlich berührte Romy die pastellblaue Seitenwand ihres Food-Trucks. Der Aufkleber »Suppenfee« prangte in sandgelber Schrift auf dem Lack. Daneben ein zartrosa Zauberstab, der von ebenfalls sandgelben Funken umgeben war. Das Mittelmeerblau des Wagens entsprach Romys Augenfarbe, Schrift und Funken kamen dem Blond ihres Haars nahe – natürlich kein Zufall.

Sie fühlte sich wie ein kleines Mädchen, das über das wollige Fell seines todkranken Hundes streichelte. Wohl wissend, dass ihm kein Tierarzt der Welt mehr helfen konnte und ihre gemeinsamen Tage gezählt waren. Es nutzte nichts: So ging es nicht weiter, sie musste ihr Schicksal akzeptieren. Und das Angebot könnte sie retten.

»Perfetto.« Leonard lächelte. »6500 Euro – und Sie dürfen den Truck noch bis zum Ende des Pachtvertrags nutzen.«

Romy nickte. Bis zum Ende des Pachtvertrages – das klang so großzügig. Ende Mai, also in etwas mehr als vier Wochen, war Schluss. Bis dahin musste sie einen neuen Job gefunden haben. Bestenfalls in einem Restaurant. Schlimmstenfalls in einem Büro. Alles war sinnvoller, als noch mehr Schulden anzuhäufen.

»Wegen des Kaufvertrages würde ich mich gerne mit einem Kollegen besprechen«, sagte er. »Und einen befreundeten Mechaniker möchte ich auch befragen.«

»Klar«, sagte Romy tonlos.

»Jetzt gucken Sie bitte nicht so.« Leonard sah aus, als würde er ihr gleich ein Taschentuch reichen. »Das ist doch eine gute Lösung.« Und mit diesen Worten schlenderte er zurück zu seiner »Grotta«.

Sig. Pasta: Hast du die Nummer?

Karl-Otto: Welche Nummer?

Sig. Pasta: VON DEM MECHANIKER!!

Karl-Otto: Jetzt schrei doch nicht so.

Sig. Pasta: Du wolltest sie gestern Abend noch raussuchen.

Karl-Otto: Sorry, vergessen. Kein Wunder nach dem Maisauflauf. Geht es um den Food-Truck von der kleinen Blonden?

Sig. Pasta: Sie ist nicht klein.

Karl-Otto: Aber blond.

Sig. Pasta: Karamellblond. Nein, honigblond. Die Spitzen sind sonnenblond.

Karl-Otto: Gut, dass wir das geklärt haben.

Sig. Pasta: Hast du die Nummer?

Karl-Otto: Von der Honigblonden mit den sonnenblonden Spitzen?

Sig. Pasta: VON DEM MECHANIKER!!

Karl-Otto: Muss ich schauen. Moment …

Romy kletterte in ihren Wagen. Vier Wochen blieben ihr, um Abschied zu nehmen. Vier Wochen, um noch ein bisschen Umsatz zu machen und Schadensbegrenzung zu betreiben. Vier Wochen minus zwei Tage, denn das Wochenende in Florenz würde sie auf gar keinen Fall absagen. Es stellte sich nur die Frage, wie sie dorthin kamen. Ursprünglich wollten sie mit der »Suppenfee« fahren, aber das fiel ja nun flach. Zu dumm, dass sie beide kein Auto besaßen.

Ihr Handy vibrierte sich in ihre Gedanken. »Sorry, wurde gestern spät«, schrieb Chris. »Wie hast du dich entschieden?«

»Ich verkaufe.«

»Gute Entscheidung.«

»Wie man’s nimmt.«

Romy biss sich auf die Lippen. Nicht losheulen, nicht schon wieder. Sie hatte sich doch vorgenommen, die letzten vier Wochen mit der »Suppenfee« zu genießen. Ansonsten könnte sie auch gleich Abschied nehmen. Aber wie sollte sie die Zeit genießen? Sie war im Begriff, das Wichtigste zu verkaufen, was sie besaß – ihren Traum. Nur mit Mühe riss sie sich zusammen, als das Telefon erneut vibrierte. Wieder war es Chris, diesmal rief er an. Bestimmt wollte er sie trösten. Ein echter Lichtblick, dieser Mann.

»Wir müssen über Florenz reden«, sagte er.

»Ich habe ein paar gute Restaurants gefunden.«

»Das meine ich nicht.« Chris räusperte sich. »Ich finde, wir sollte das lassen. Bringt ja nichts, in deiner Situation.«

»So teuer wird das nicht.«

»Du hast Schulden.«

»Es ist nur für ein Wochenende. Und wir können gerne in der ›Suppenfee‹ schlafen. Auf einer Luftmatratze. Dann sparen wir uns das Hotel.«

»Ich schlafe doch nicht auf dem Boden.«

»Aber wir haben die Fahrt ewig geplant!« Romy verdrängte tapfer die Frage, warum Chris nicht einfach das Hotel bezahlte. Chris – der gut verdiente in der »Tonkabohne«. Chris – der sich doch auch auf Florenz gefreut hatte.

»Wir können das ja nachholen«, sagte er. »Wenn du aus den Miesen raus bist und ich nicht mehr so viel um die Ohren hab. Bob ist schon wieder krank, Jenny geht morgen in Elternzeit, es brennt an allen Ecken.«

»Aber das musst du doch nicht ausbaden«, sagte Romy. »Du hast den Urlaub vor Ewigkeiten eingetragen! Und das Hotel ist längst reserviert!«

»Leonard erlaubt das doch sowieso nicht mit der ›Suppenfee‹. Immerhin kauft er den Wagen.«

»Weiß ich.« Romy starrte auf einen Kaugummifleck auf dem Asphalt. »Aber da finden wir schon eine Lösung.«

»Unwahrscheinlich.«

»Kommst du später noch vorbei?«, fragte sie. »Dann können wir das in Ruhe besprechen.«

»Höchstens auf einen Sprung.« Chris klang schon wieder gestresst, wie so oft in letzter Zeit. »Aber noch mal: Ich denke, wir sollten das Zimmer stornieren und die Reise absagen. Das ist vernünftiger.«

»Das sagt der Richtige.« Romy musste trotz allem schmunzeln. Ihr Freund, der die halbe Nacht durcharbeitete und danach noch feiern ging, der keinen Föhn besaß, aber ein Tattoo auf der linken Wade, der bei Regen in jede Pfütze sprang wie ein Kind … Dieser Kerl sprach von Vernunft?

1 Zitrone (unbehandelt)

 

Romys erste Kundin kam um Viertel vor zwölf. Frau Schwäbli, ihre Wohnungsnachbarin, war Stammgast. Sie nahm sich ihre Mahlzeit immer mit nach Hause, aß am liebsten Provenzalische Hühnersuppe und am zweitliebsten Eintöpfe. Romy mochte die Seniorin sehr. Sie war ein menschgewordener Obstkorb mit einer Birnenfigur, apfelroten Wangen und pflaumenblauem Lidschatten. Meistens trug sie ein dreieckiges Seidentuch um die Schultern. Das aktuelle Tuch schlug farblich aus der Art, da es nicht an ein Obst erinnerte, sondern an einen Räucherschinken.

»Sie sehen nicht froh aus.« Frau Schwäbli brauchte keine zwei Sekunden, um das zu erkennen. »Der Verkauf nimmt Sie wohl sehr mit.«

»Es ist alles so sinnlos«, seufzte Romy. »Wie verkochte Kartoffeln. Nein, schlimmer.«

»Verkochte Kartoffeln sind nicht sinnlos.« Frau Schwäbli klang, als wolle sie ihr ein Familiengeheimnis anvertrauen. »Daraus kann man noch ein wunderbares Püree machen.« Sie deutete auf die Gulaschsuppe, stellte eine kleine rote Schale auf den Tresen und zückte ihr Portemonnaie. »Alles im Leben ist zu irgendetwas gut«, fuhr sie fort. »Nein, nicht alles. Die drei bösen K nicht.«

»Welche bösen K?« Romy überlegte. »Kopfschmerzen? Kettenbriefe? Kellerasseln?«

»Krankheiten, Krieg und Krümel im Bett.«

»Da ist was dran.« Romy schmunzelte nun doch, während sie die Schale mit Gulaschsuppe füllte. »Manches stellt sich vielleicht erst viel später als gut heraus«, erklärte Frau Schwäbli. »Hätte mich mein Manfred nicht holterdipolter verlassen, wäre ich Peter nie begegnet. Und wer weiß, was auf Sie alles wartet! Vielleicht scharrt ihr Traumberuf schon mit den Hufen!«

»Das hier ist mein Traumberuf.« Romy steckte das Geld für die Suppe in ihre Kasse. »Aber trotzdem danke. Und guten Appetit.«

»Kopf hoch.« Frau Schwäbli rückte ihr Seidentuch zurecht, bevor sie von dannen zog. Nur zehn Minuten später kam Leonard mit einem Entwurf des Kaufvertrags vorbei. Romy schluckte. Wie er wohl auf ihre Idee reagieren würde?

»Lesen Sie sich in Ruhe alles durch«, sagte er.

»Eine Frage hätte ich noch.«

»Klar, was denn?«

»Also, Sie kaufen ja meinen Food-Truck.« Romy blickte auf ihren Herd, als müsse sie sich Mut holen. »Und nutzen darf ich ihn noch bis Ende des Pachtvertrags.«

»So ist der Plan.«

»Wäre es für Sie in Ordnung, wenn ich noch eine kleine Reise unternehme?« Romy wagte kaum, den Blick von ihrem Herd zu lösen.

»Was denn für eine Reise?«

»Nach Italien. Mit meinem Freund. Wir haben das schon ewig geplant. Und er hat kein Auto.«

»Italien liegt nicht gerade um die Ecke.«

»Ich passe gut auf«, versprach Romy. »Der ›Suppenfee‹ wird keine Stoßstange gekrümmt.«

»Dann bezahle ich den Wagen aber erst nach Ihrer Rückkehr«, sagte Leonard. »Und über den Preis müssten wir auch noch einmal sprechen.«

»Ja … Also – vielleicht könnten Sie schon mal einen Teil anzahlen? Meine Miete …«

»Nein, tut mir leid.« Leonard schüttelte den Kopf. »Ich zahle doch nicht für den Truck und nachher kommt er völlig verbeult zurück. Und überhaupt: Wer garantiert mir denn, dass Sie mit meiner Anzahlung und dem Wagen nicht über alle Berge verschwinden?«

»Ich garantiere das!«, rief Romy. »Sogar schriftlich! Ich muss nur … Ich möchte wirklich wahnsinnig gerne nach Italien.« Sie spürte, wie ihr schon wieder die Tränen in die Augen traten. Eine letzte Reise. Mehr wollte sie doch gar nicht.

»Das geht nicht«, sagte Leonard.

»Denken Sie doch bitte darüber nach«, flehte Romy.

»Ausgeschlossen. Sie können den Food-Truck hier am Bahnhof nutzen. Bis Ende des Monats.«

»Aber …« Romy brach ab.

»Tut mir leid.« Leonard drehte sich um. Sein dunkelbraunes Haar glänzte, als hätte er es mit Olivenöl benetzt.

 

»Was hast du erwartet?«, fragte Chris, den sie nach dem Gespräch sofort anrief. »Er ist Geschäftsmann. Er kauft dir die ›Suppenfee‹ nicht ab, weil er dich so nett findet, sondern weil er Geld damit verdienen will.«

»Ja, schon klar«, sagte Romy dumpf. »Es hätte nur … Ach, ist ja auch egal.«

»Klar hätte das nett werden können, aber …« Chris klang auf einmal sehr fern. »Ich kann ihn verstehen. Ich hätte das an seiner Stelle auch nicht gemacht. Und ich war ja sowieso dafür, die Reise abzublasen.«

»Ich weiß.« Romy stützte sich auf den Tresen der »Suppenfee«, als wären sämtliche Muskeln ihres Körpers erschlafft. »Und weißt du was? Du hast gewonnen. Es gibt keine letzte Reise.«

»Das ist besser, glaube mir.« Chris klang erleichtert, was Romy noch trauriger machte.

»Also bis später«, murmelte sie. »Vor fünf schaffe ich es nicht, aber dann haben wir wenigstens ein bisschen Zeit.«

»Hm, ja, mal schauen.«

Romy legte auf. Immerhin hatte sie Zeit, um Stellenangebote anzuschauen. Vielleicht suchte ja eine nette kleine Tapas-Bar dringend Verstärkung. Sie klickte sich durch die Anzeigen. Die netten kleinen Tapas-Bars waren alle versorgt und die Burger-Läden ebenso. Auch die Kneipen, selbst die mit den billigen Lichterketten an den Fenstern. Eine Pizzeria in der Altstadt suchte eine Küchenhilfe – zur Not würde sie sich dort bewerben. Zwiebeln schneiden und Käse reiben … Na ja, immer noch besser als Büro, und sie hätte zumindest einen Fuß in der Tür – auch wenn es nicht ihre eigene war.