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Mystery und die Regenbogenbrücke

Ein Trostbuch für die Seele

© 2020 Sabine Schröder

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Vervielfältigung, auch auszugsweise, egal in welcher Form, bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin.

Lektorat: Michaela Retetzki

Illustration: Alexa Sabarth

Umschlaggestaltung: Katharina Netolitzki

Portraitfoto (S. →): Katrin Würtemberger

Katzenfotos: Sabine Schröder

Gestaltung und Satz: Sabine Schröder

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7504-3867-5

Für alle Tiere,
ohne die unser Leben
farblos wäre

In Erinnerung an

Mystery,

einer der tapfersten Kater

im Hier und Dort

Mystery of Wild Dream

(* 17.07.2003, † 28.06.2016)

»There is no death.

Only a change of worlds.«

Chief Seattle

»Es gibt keinen Tod.

Nur einen Wechsel der Welten.«

Häuptling Seattle

Inhalt

Einführung

Dies ist die Geschichte von Mystery, dem goldenen Kater, der sich nach seinem Tod am Fuße der Regenbogenbrücke wiederfindet. Gemeinsam mit neuen Gefährten erkundet er das Regenbogenland und erlebt viele Abenteuer, bis er – wieder vereint mit seinen Menschen – den Weg in eine andere, in eine unbekannte Welt fortsetzen kann.

Grundlage dieser Erzählung ist die Geschichte von der Regenbogenbrücke, die weltweit verbreitet ist und all denen Trost spendet, deren Haustiere unsere Welt verlassen mussten.

Der ursprüngliche Autor steht nicht mit Sicherheit fest. Laut Quelle en.wikipedia.org kommen drei Personen dafür in Betracht; außerdem gibt es zahlreiche freie Übersetzungen in andere Sprachen:

Die Regenbogenbrücke1

Eine lange Brücke aus buntem Licht verbindet Himmel und Erde miteinander. Man nennt sie Regenbogenbrücke, weil sie in allen Farben leuchtet. Irgendwo auf dieser Seite des Himmels, am Fuße der Brücke, liegt ein Land mit blühenden Wiesen, saftigem grünem Gras, dichten Wäldern, sanften Hügeln und majestätischen Bergen.

Wenn ein geliebtes Tier unsere Welt für immer verlassen muss, gelangt es an diesen wundervollen Ort. Alle Tiere, die beim Abschied alt und krank waren, sind wieder jung, gesund und voller Energie. Jene, die verletzt oder verstümmelt waren, sind wieder unversehrt und stark – genau so, wie wir uns an sie erinnern in unseren Träumen von vergangenen Zeiten, als sie mit uns gemeinsam den Weg des Lebens gegangen sind.

Die Sonne scheint und es ist immer angenehm warm. Es gibt reichlich Futter und Wasser für alle unsere Freunde. Sie toben und spielen zusammen, sind vergnügt und fühlen sich sicher und geborgen.

Nur manchmal werden sie traurig und denken wehmütig an ihre Zeit auf der Erde zurück, denn jeder von ihnen musste jemanden zurücklassen und sie vermissen ihren ganz besonderen Menschen, den sie so sehr geliebt haben.

Irgendwann kommt der Tag, an dem eines der Tiere innehält und in die Ferne schaut. Seine klaren Augen blicken aufmerksam und sein Körper beginnt erwartungsvoll zu zittern. Plötzlich läuft es von der Gruppe fort, seine Beine tragen es schneller, immer schneller die Brücke hinauf.

Es hat dich entdeckt und wenn ihr auf der Regenbogenbrücke zusammentrefft, haltet ihr euch voller Wiedersehensfreude aneinander fest, endlich vereint, um nie wieder getrennt zu werden. Feuchte Küsse bedecken dein Gesicht. Zärtlich streichelst du über den geliebten Kopf, fühlst das weiche Fell zwischen den Fingern und siehst tief in die treuen Augen deines Freundes, der so lange aus deinem Leben verschwunden war, doch niemals aus deinem Herzen.

Dann geht ihr gemeinsam über die Regenbogenbrücke …


1 Frei übersetzt und ausgestaltet von Sabine Schröder

Vorwort

Dieses Büchlein erhebt nicht den Anspruch, ein psychotherapeutisch fundierter Ratgeber für Trauerverarbeitung zu sein. Vielmehr handelt es sich um eine Erzählung, die in meinem zweiten Trauerjahr nach Mysterys Tod in mir gewachsen ist und auf Bildern, Ideen und Tagträumen beruht, die mir entweder

Dennoch liegt der Geschichte von Mysterys Abenteuern im Regenbogenland ein wichtiger Ansatz der Trauerverarbeitung2 zugrunde: das Finden eines ›sicheren Ortes‹ für das verstorbene Familienmitglied.

Der sichere Ort ist ein imaginärer Ort, an dem wir uns wohl- und vor allem sicher fühlen können, der uns Frieden und Ruhe spendet. Wir können ihn nicht nur für uns selbst, sondern auch für die Menschen und Tiere erschaffen, um die wir trauern.

Der Diplom-Psychologe Roland Kachler sagt: »Die Seele [des Trauernden] sucht nach einem Ort, an dem der Verstorbene weiterlebt und deshalb die Fortdauer der Beziehung zu ihm möglich sein wird.«

»In allen Mythen und Religionen, die den Tod als Übergang [in eine andere Welt] verstehen, ist das Ziel für den Verstorbenen ein Aufenthaltsort in der anderen, jenseitigen Welt. Dieser Ort ist meist ein Ort der Ruhe, des Friedens, der Sicherheit, wie zum Beispiel das Paradies oder der Himmel.«

Es ist nicht notwendig, das verstorbene Familienmitglied (ob Mensch oder Tier) loszulassen, so wie es in der traditionellen Trauerarbeit gefordert wird. Wir können und dürfen uns erinnern und dadurch die Liebe dauerhaft in uns bewahren. Wann immer wir Nähe zum Verstorbenen wünschen, werden wir ihn an dem von uns gewählten sicheren Ort wiederfinden.

Die Wahl eines solchen sicheren Ortes ist eine sehr persönliche und individuelle Entscheidung. Ich lade Sie dazu ein, Mystery in das Regenbogenland zu folgen. Einen kleinen Teil dieser Welt habe ich für Sie gestaltet. Lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf und finden Sie Trost in dem Gedanken, dass auch Ihr geliebtes Haustier seinen Platz gefunden hat, an dem es auf Sie wartet.

Niemand weiß, was genau uns nach dem Tod widerfährt. Daher ist alles möglich, was Sie sich vorstellen oder woran Sie glauben.

Trauern Sie nicht – träumen Sie!

Hinweis zur Vermenschlichung von Sprache und Verhaltensweisen

Ein Wort zur vermenschlichten Sprache und den entsprechenden Verhaltensweisen: Ich bitte Sie, mir diese Freiheiten zu verzeihen. Vermutlich haben sich beim Transfer der Bilder tierische und menschliche Kommunikationsweisen miteinander vermischt, anders kann ich mir dieses Durcheinander nicht erklären.

Vielleicht wird nach dem Übergang in andere Welten auch eine völlig neue Form der Verständigung mit unseren Lieblingen möglich sein. Lassen Sie sich überraschen.


2 nach Roland Kachler, »Meine Trauer wird dich finden. Ein neuer Ansatz in der Trauerarbeit«, KREUZ Verlag, 13. Auflage 2014

Ankunft

»Los, versteck dich. Ich glaube, er wacht auf.«

Mystery hörte die Worte, ohne zu begreifen, was sie bedeuteten. Er hatte das Gefühl, aus einem dunklen See aufzutauchen, fast so wie damals, als er auf der Jagd nach einem Vögelchen aus Versehen in den Gartenteich gefallen war und sich zurück ans Ufer gekämpft hatte.

»Hey, bist du wach?«, fragte die Stimme neben ihm.

»Hmmmm, nein, bin ich nicht«, murmelte Mystery. Die Müdigkeit umhüllte ihn verlockend weich. Warum sollte sich jemand vor ihm verstecken, so krank und schwach, wie er war? Ohne die Augen zu öffnen, rekelte er sich auf der Unterlage, die so schön erdig nach Moos roch, und streckte wohlig die Pfoten von sich.

Seltsam, mir tut gar nichts mehr weh, dachte er und erinnerte sich. Da war Mama, dicht neben ihm, mit ihrer Hand streichelte sie sacht sein Fell. Er lag auf seiner Lieblingsdecke mit den bunten Katzenpfötchen. Und da war der Schmerz. Plötzlich spürte er einen dicken Kloß in der Kehle. Sein kleiner Körper verkrampfte sich, als ihm einfiel, wie sie frühmorgens, es war noch dunkel draußen, mit dem Auto zur Tierklinik gefahren waren. Mama hatte geweint. Überhaupt: Wo war sie? Die Einsamkeit stach in sein Herz. Mystery rollte sich eng zusammen und schlief wieder ein, um der Erinnerung zu entfliehen.

»Beim Großen Regenbogen, schläft der lange«, quiekte eine hohe Stimme direkt neben Mysterys Ohr. Unwillig schüttelte er den Kopf. Jemand stupste ihn an. Er riss die Augen auf und sah in das Gesicht eines Katers.

Feuergelb umrahmte Pupillen funkelten nur wenige Pfotenbreit vor seiner Nase. Vor Schreck kniff Mystery die Lider gleich wieder zusammen. Wer war das? Maxie, sein Kumpel zu Hause, hatte gelbe Augen. Und sein Fell war kohlrabenschwarz, nicht weiß wie der Pelz dieses Gesellen hier neben ihm. Nein, Maxie war das nicht, außerdem war er viel schmaler gebaut. Dieser Kater war groß – sehr groß. Mystery lugte vorsichtig durch seine Wimpern und unterdrückte das Bedürfnis, aufzuspringen und Deckung zu suchen. Der Fremde schien friedlich zu sein, sonst hätte er seine missliche Lage sicher längst ausgenutzt.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Es ist nur …« Der Kater zögerte. »Ich glaube, es ist wichtig, dass du etwas Wasser trinkst. Dann fühlst du dich bald besser. Komm her, gleich hier oben.«

Mystery entspannte sich und sah sich um. Er lag auf einem steinernen Sims in einer tief ausgeformten Mulde. Ein langer Grashalm, der aus der Polsterung aus Moos hervorragte, kitzelte an seiner Nase, als er verstohlen die Umgebung inspizierte, umfür eine etwaige Flucht gewappnet zu sein.

Der unebene Felsboden erstreckte sich fast kreisförmig eine Katzenlänge unter ihm. Gegenüber erhob sich eine ähnlich breite Bank aus Stein wie die, auf der er lag. Die mausgrauen Wände und der Fußboden verschwammen im Dunkeln. Auf der rechten Seite war es heller. Mystery erkannte einen schmalen Gang, der aus diesem höhlenähnlichen Raum nach draußen zu führen schien. Er seufzte und sehnte sich zurück in die wärmenden Sonnenstrahlen daheim auf seinem Lieblingsplatz.

Der andere Kater hockte neben ihm und putzte lässig eine Vorderpfote. Sein weißes Fell leuchtete im Halbdunkel. Ein großer schwarzer Fleck, geformt wie ein im Wind flatternder Umhang, zierte seinen Rücken. Zwischen den Ohren hindurch zog sich ein Streifen, der unterhalb des linken Auges endete und dem Gesicht etwas Verwegenes gab, so als trüge der Kater eine schwarze Augenklappe.

Mystery gähnte ausgiebig. Die triste Färbung von Boden und Wänden und das schummrige Licht verführten dazu, gleich wieder einzuschlummern, aber die Neugierde tanzte in seinen Gedanken und ließ ihm keine Ruhe.

»Du siehst aus wie so ein Typ, den ich mal im Fernsehen gesehen habe, als ich neben meiner Mama auf dem Sofa lag. Er hieß Zorro oder so ähnlich«, platzte er heraus. »Wer bist du? Und wo sind wir hier?«

»Zorro«, gluckste der Kater. »Hihi, nicht schlecht, leider falsch. Ich bin Mücke und werde mich um dich kümmern. Jetzt trinken wir etwas, alles andere erkläre ich dir später.« Mit einem Satz sprang er auf einen kleinen Felsvorsprung über ihnen, der sich an der Wand entlang rund um das Höhleninnere zog.

»Hier ist Wasser. Los, komm.« Ungeduldig spritzte er einige Tropfen in Mysterys Richtung.

»Können wir das nicht auf später verschieben? Ich habe in der letzten Zeit so furchtbar viel Wasser getrunken, dass ich es leid bin.« Mysterys Magen knurrte so laut, dass Mückes Ohrmuscheln seitlich wegklappten, so als hätte er Segelohren.

»Warum erzählst du mir nicht erst, wo wir hier sind? Und dann bräuchte ich dringend etwas zu fressen. Ich heiße übrigens Mystery.« Er kuschelte sich tiefer ins weiche Moos.

»Mystery. Was für ein seltsamer Name«, sagte Mücke. »Aber er gefällt mir.«

Plötzlich verlagerte Mystery das Gewicht, schob sich dichter an Mücke heran und ließ ihn nicht aus den Augen.

»Hey, starr mich nicht an, das ist unhöflich«, beschwerte sich Mücke. »Ich will dir doch nur helfen.«

»Nicht bewegen!«, flüsterte Mystery. »Neben dir sitzt mein Frühstück! Das kommt ja wie gerufen.« Sein Schwanz schlug hektisch von einer Seite zur anderen. Er ignorierte, dass Mücke ihn entsetzt ansah und abwehrend die Pfoten hob, wackelte mit hocherhobenem Hinterteil und setzte zum Sprung an. Neben Mücke quiekte es laut und eine kleine Gestalt flitzte den Absatz entlang ins Dunkel. Kaum auf den Beinen, brach Mystery wie vom Blitz getroffen wieder zusammen und hielt sich den Kopf.

»Oh nein, was ist das? Es dreht sich alles um mich«, jammerte er. »Meine Beine sind weich wie Katzenfutter. Dieses Paté, weißt du?«

»Puh, das war knapp«, stöhnte Mücke. »Siehst du, ich hab dir gesagt, du sollst es langsam angehen lassen.« Er drehte sich um, neigte den Kopf nach unten und schlabberte genussvoll.

»Was war knapp?«, fragte Mystery. »Sag, da war doch eine Maus neben dir.«

»Eine Maus? Nein, das hast du dir sicher nur eingebildet. Komm jetzt!«

Mücke wandte sich erneut dem Wasser zu. Seine kleine rote Zunge bewegte sich so schnell auf und ab, dass Mystery beim Zuschauen gleich wieder schwindelig wurde.

Widerstrebend richtete er sich auf und kletterte im Zeitlupentempo auf den steinernen Sims. Die kurze Anstrengung erschöpfte ihn so, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Mücke hat recht, dachte er. Futter scheint es hier nicht zu geben und momentan habe ich gar keine Kraft mehr, um zu jagen, sofern es hier überhaupt Beute in der Nähe gibt. Ein paar Schlucke werden mir guttun.

Aus einigen Spalten in der Felswand plätscherte das Wasser herab auf den Absatz, auf dem sie saßen, und sammelte sich in einem kleinen Becken. Ein schmales Rinnsal floss aus einem Überlauf Richtung Höhlenausgang. Einige vorwitzige Sonnenstrahlen drangen bis zu ihnen vor und brachten die von Moosen und hellgrünen Farnen überwucherte Wand zum Leuchten.

Das Wasser in dem Becken schillerte trotz des Dämmerlichts in bunten Farben und duftete verführerisch.

»Es sieht wunderschön aus«, sagte Mystery. »Fast zu schade zum Trinken.« Er tunkte eine Pfote hinein, um die Temperatur zu testen.

»Oh, esch schieht nischt nur wunnerschön ausch, esch schmeckt auch gansch vorschüglich«, nuschelte Mücke undeutlich, während ihm das Wasser aus den Mundwinkeln tropfte.

Vorsichtig näherte sich Mystery der Wasseroberfläche und nahm einen ersten Schluck. Seine Augen wurden groß.

»Hmmmm, das ist der Wahnsinn, es schmeckt fantastisch!« Mystery schob sich bis dicht an den Rand der Quelle und trank mit Mücke um die Wette.

Nach kurzer Zeit saßen beide Kater mit gestilltem Durst zufrieden nebeneinander. Mücke rülpste und schlug sich verlegen mit der Pfote auf das Mäulchen.

»Tschuldigung. Das passiert mir jedes Mal, wenn ich zu schnell trinke.«

»Und zu viel!«, piepste es leise hinter ihm.

Mystery verlor das Gleichgewicht, als er den Hals reckte, um an Mücke vorbeizuschauen, und purzelte in die Schlafmulde.

»Was war das?«, fragte er. Mücke schwieg, so als hätte er nichts gehört.

Mystery kniff die Augen zu, schnitt eine Grimasse und hörte gar nicht mehr auf zu gähnen.

»Ich verstehe das nicht, dieses Wasser ist unübertrefflich, aber du hast gesagt, ich würde mich besser fühlen, wenn ich etwas getrunken habe. Stattdessen habe ich das Gefühl, es macht furchtbar müde«, klagte er.

»Das ist normal. Ruh dich aus. Es wird einige Zeit dauern, bis du dich erholt hast und wieder geheilt bist.«

»Wieder geheilt?« Mystery öffnete mühsam die Augen, die ihm schon zugefallen waren.

»Ja, du wirst bald wieder ganz gesund sein, versprochen. Fühlst du dich denn nicht schon viel besser als …«, Mücke biss sich nervös auf die Lippen, »… hmmm, vorher?«

Vorher? Mystery schob die Müdigkeit für einen Moment beiseite und fühlte in sich hinein.

»Du hast recht, ich habe keine Bauchschmerzen mehr und vor allem dieses furchtbare Stechen in der Brust ist nicht mehr da. Das war wirklich schrecklich.«

Mücke nickte verständnisvoll.

»Ich glaube, je schlimmer du in der Alten Welt krank warst, desto länger dauert es, bis du hier wieder auf den Beinen bist. Bleib einfach liegen und schlafe dich aus. Morgen ist auch noch ein Tag.«

Wo ist hier?

»Wo ist hier?«, fragte Mystery zögernd. Mücke grinste schief. Das sah komisch aus, denn Mystery hatte noch nie zuvor einen Kater grinsen sehen. Nur Mama oder Papa, aber das immer seltener in letzter Zeit. Beim Gedanken an sein altes Zuhause kämpfte er sich mühsam hoch.

»Mama! Ich muss sie suchen. Jetzt! Sie ist sicher todunglücklich und wird mich fürchterlich vermissen. Weißt du, wo sie ist?«

»Hier ist das Land an der Regenbogenbrücke. Wir nennen es das Regenbogenland«, sagte Mücke langsam. Er holte tief Luft, dann schleckte er seine Pfote ab und fuhr sich damit über das rechte Ohr. »Deine Mama ist nicht hier.«

»Was heißt, sie ist nicht hier? Sie hat mich gehalten, als diese blöde Tierärztin mir eine Spritze gegeben hat, und sie hat geweint. Hör zu, es ist wichtig. Ich muss sie finden und trösten. Sie kann ja nicht urplötzlich weg sein.« Mystery versuchte sich an einemwackeligen Katzenbuckel, um den steif gewordenen Rücken zu strecken. Kurz bevor seine Beine unter ihm nachgaben, ließ er sich erschöpft wieder in das weiche Moos sinken und begnügte sich damit, vorsichtig den Nacken zu dehnen. Warum nur fühlte er sich, als wäre er tagelang nicht aufgestanden?

Mücke rückte dichter an Mystery heran und legte eine Pfote auf seine Schulter.

»Immer langsam. Es braucht Zeit, bis du dich erholt hast. Und deine Mama ist wirklich nicht hier.« Er sah Mystery traurig an. »Meine Mama auch nicht. Dafür sind wir gesund und allen geht es gut. Das ist der Deal.«

Mystery schüttelte Mückes Pfote ab.

»Ich will keinen Deal. Ich will zu Mama. Ich verstehe das alles nicht. Wo bin ich hier? Ich vermisse die Sonne.« Er sah sehnsüchtig zum Ausgang der kleinen Höhle.

Mücke drehte sich umständlich mehrere Male im Kreis, bevor er sich neben Mystery niederließ. »Komm, wir machen es uns bequem. Ich erkläre dir alles.«

Mystery zog eine Grimasse. Etwas drängte ihn, unverzüglich auf die Suche nach seinem alten Zuhause zu gehen, doch er spürte, dass es wichtig war, sich anzuhören, was Mücke zu sagen hatte.

»Okay«, sagte er. »Los, spann mich nicht länger auf die Folter.«

»Wir sind hier im Regenbogenland«, wiederholte Mücke umständlich.

»Das sagtest du schon«, unterbrach Mystery. »Was ist das für ein Land? Und wo ist es? Vor allem, wie komme ich wieder nach Hause?«

»Das ist unmöglich. Du kannst nicht zurück. Niemand kann das.« Mückes Schwanzspitze schlug aufgeregt hin und her. »Es ist kompliziert. In der Alten Welt bist du …, man nennt es ›gestorben‹. Tot.«

Er holte tief Luft und seufzte. »Für deine Menschen sieht es aus, als ob in dir kein Leben mehr ist. Du liegst nur so da, bewegst dich nicht, atmest nicht. Das passiert meistens, wenn man alt oder krank ist. Oder wenn man einen Unfall hatte. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Es geschieht etwas mit deinem Körper, was es unmöglich für dich macht, dort zu bleiben.«

Mystery starrte Mücke ungläubig an. Tausend Fragen brannten ihm auf der Zunge. Er riss sich zusammen, rümpfte die Nase und wartete ab.

Der weiße Kater mit der schwarzen Augenklappe schwieg eine Weile.

»Ich habe keine Ahnung, wie es bei den Menschen ist oder bei anderen Tieren. Ich kann nur von uns Haustieren erzählen. Wenn es so weit ist, kommen wir hierher in dieses Land. Es liegt am Fuße des Regenbogens. Du hast doch schon mal einen Regenbogen gesehen?«

Mystery nickte stumm. Er wollte nicht glauben, was er hörte. Egal, irgendwie schaffe ich es schon, nach Hause zu kommen. Trotzig drehte er die Ohren nach außen. Mücke sah ihn an, blinzelte und legte den Kopf schief. Er weiß, was mir durch den Kopf geht, dachte Mystery. Es war schön, keine Schmerzen mehr zu haben, doch wenn er gewusst hätte, dass er deswegen seine Menschen verlassen musste, dann hätte er sich mit allen vier Pfoten dagegen gewehrt.

Mücke fuhr fort: »Warte erst mal ab. Es ist wunderschön hier. Es gibt massenhaft Bäume zum Klettern, mehr Hügel und Wiesen, als du zählen kannst, und viele Seen mit famosen Stränden.« Er verzog verlegen das Gesicht. Seine Augen funkelten wie reflektierende Sonnenstrahlen auf der Wasseroberfläche. »Ich liebe Wasser, daher bin ich oft am See. Bald zeige ich dir alles. Du wirst gar nicht wieder wegwollen.«

Mystery schüttelte den Kopf. »Ich möchte heim. Mama wird untröstlich sein, solange ich fort bin. Sie weiß ja nicht, dass es mir gut geht und wird mich vermissen. Ich muss ihr sagen, wo ich bin, damit sie nicht mehr so traurig ist.«

»Vergiss es. Der Weg hierher funktioniert nur in eine Richtung. Ich habe mir damals genauso gewünscht zurückzukehren und musste lernen, dass es nicht geht.«

»Was ist dir passiert?«, fragte Mystery und gähnte. »Entschuldige.«

»Alles gut. Du hast eine weite Reise hinter dir. Ich erzähle es dir ein anderes Mal, versprochen.« Mücke gähnte ebenfalls. »Ups! Gähnen ist verteufelt ansteckend.«

Er kniff die Augen zusammen und fletschte die Zähne, dann fuhr er fort: »Also die Kurzfassung: Hier sind viele Haustiere. Eine Menge Katzen und Hunde, außerdem Mäuse, Kaninchen, Meerschweinchen, Hamster und wer weiß, was hier noch so rumkraucht. Vögel in allen Größen und Farben. Und sogar Pferde. Diese Welt ist groß genug und jeder hat akzeptiert, warum er hier ist. Wir kommen prima miteinander aus, schließen Freundschaften und haben gemeinsam unglaublich viel Spaß.«

»Ich will nicht Spaß haben, ich will, dass Mama nicht mehr traurig ist. Und ich will zurück.« Mystery rollte sich zusammen und verbarg sein Köpfchen zwischen den Pfoten.

Mücke schmiegte sich eng an Mysterys Rücken und legte den Schwanz über seinen mageren Körper, als wollte er ihn umarmen.

»Ich verstehe dich«, sagte er. »Es ist das erste Mal, dass ich … tut mir leid, ich kann es nicht besser erklären. Bitte glaube mir, mit der Zeit wirst du dich daran gewöhnen. All unsere Menschen trauern um uns, vor allem am Anfang. So wie deine Mama jetzt. Vielleicht kannst du ihr Traumbilder schicken. Man sagt, einige Tiere in dieser Welt können es.« Mückes Stimme klang dunkel und traurig. »Bestimmt kannst du es lernen und ihr erzählen, dass es dir hier gut geht. Das wird sie trösten.«

»Ist das wahr?«, fragte Mystery. »Ich kann ihr Traumbilder schicken, damit sie weiß, wie es hier aussieht und was ich alles erlebe?«

»Ja, es ist möglich – jedenfalls theoretisch«, antwortete Mücke. »Ich kann es leider nicht. Ich glaube, man muss ein sehr enges Band zu seinem Menschen haben. Wenn man dann noch viel übt und … keine Ahnung, was alles noch. Dann funktioniert es … vielleicht.«

»Warum kannst du es nicht? Haben deine Menschen dich denn nicht lieb gehabt?«

Mücke zuckte mit den Schultern. »Ich war nur ziemlich kurz in der Alten Welt, vielleicht ist das der Grund. Meine Menschen haben mich sehr lieb gehabt. Das weiß ich und daran werde ich auch niemals zweifeln.«

Er streckte seine Hinterbeine bis weit über den Rand der Liegemulde, bevor er sich auf den Bauch rollte und die Vorderpfoten einschlug.

»Ganz ehrlich, hier zu sein ist die bessere Alternative. Zu Hause hättest du furchtbare Schmerzen und könntest nicht fressen, nicht spielen, gar nichts mehr. Und außerdem – irgendwann, wenn die Zeit gekommen ist, dann kommen sie und holen dich. Ihr werdet euch wiedersehen und gemeinsam weiter über den Regenbogen gehen.«

Mystery hob seinen Kopf. Mit der Pfote wischte er sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

»Ehrlich? Sie kommen hierher und holen mich? Wann?«

Mücke seufzte. »Puh, das kann dauern. Ich bin schon sehr lange hier. Manchmal geht es auch schneller. Du musst verstehen, die Menschen kommen ja erst, wenn sie dort drüben in der Alten Welt nicht mehr leben können. Also zum Beispiel, wenn sie schwer krank sind und sterben. Wir wollen ihnen ja auch nicht wünschen, dass sie eher gehen müssen, als es für sie Zeit wäre, oder?«

Mystery schluckte. »Nein«, sagte er und ließ den Kopf hängen. »Natürlich nicht. Nur wäre es schön, wenn ich nicht allzu lange warten müsste. Ich habe keine Ahnung, was ich hier soll.«

»Ach was, das wird schon«, sagte Mücke. »Du kannst das Leben hier wirklich genießen. Es gibt irre viel zu entdecken. Morgen machen wir einen ersten Rundgang. Es wird dir gefallen, da bin ich mir sicher.«

»Ich bin so furchtbar müde. Ich glaube, ich schlafe einfach, bis sie kommen und mich holen.« Mystery gähnte wieder und es fiel ihm schwer, die Augen offen zu halten. »Hmmm, die Unterlage ist unglaublich weich. Ich habe das Gefühl einzusinken. So muss es sein, wenn man auf einer Wolke liegt. Und nichts tut mir weh – das ist sooo schön.« Er drehte sich auf seine linke Seite, legte den Kopf auf die Vorderpfoten und drückte die Hinterbeine fest gegen den Muldenrand. »Und es war definitiv eine Maus«, wisperte er fast unhörbar in seine Schnurrhaare.

»Du hast seidenweiches Fell«, schwärmte Mücke und strich vorsichtig über Mysterys Rücken. »Es ist so warm und weich, wie früher die Wäsche, wenn sie gerade aus dem Trockner kam. Und diese goldene Farbe mit den dunklen Tupfern ist phänomenal.«

Mystery hörte ihn nicht mehr. Er war eingeschlafen und pendelte im Traum zwischen beiden Welten hin und her.

Mystery spürte, wie jemand an seiner Schulter rüttelte. Er drehte sich auf die andere Seite und legte sich eine Vorderpfote auf sein Gesicht. Das Rütteln hörte nicht auf. Widerwillig öffnete er die Augen einen Spalt. Ein schwarz-weißer Schatten stand über ihm und schüttelte ihn. Es dauerte einen Moment, bis Mystery realisierte, wo er war. Das Moos unter ihm war platt gedrückt und genauso feucht vom Schweiß wie sein Fell. Er zitterte.

Mücke sah ihn mit wissendem Blick an. »Du hast geträumt? Von deinen letzten Stunden?«

Mystery nickte. »Es war furchtbar. Ich wusste zwar, dass ich träume, aber ich kam da nicht weg. Irgendetwas hielt mich fest, ließ mich nicht los.«

»Das ist das Band zwischen deiner Mama und dir – je enger es ist, desto schwerer fällt es einem zu gehen. Ihr habt euch wirklich sehr lieb gehabt.« Sorgfältig leckte er Mysterys Fell trocken, bevor er das feuchte Moos aus der Mulde scharrte.

»Komm her, ich kuschel mich an dich. Wenn du etwas Warmes neben dir spürst, wirst du besser schlafen. Die Träume hören nach ein paar Nächten auf, jedenfalls war es bei mir so. Bald kannst du mit größerem Abstand zurückblicken und dann tut es auch nicht mehr so weh.«

Dieses Mal rollten sich die beiden Kater eng ein, Mystery lag innen und Mücke wärmte ihm den Rücken. Er schnurrte beruhigend vor sich hin und es dauerte nicht lange, bis Mystery mit einstimmte. Das sonore Brummen erfüllte die Höhle und übertönte das leise Seufzen einer kleinen Maus, die vorsichtig über den Rand einer benachbarten Schlafmulde zu den beiden Katern hinübersah.

Rita

»Hey, du Faulpelz, wie wäre es mit einem kleinen Frühstück und einer Erkundungstour?« Mückes helle Stimme durchdrang die letzten Fetzen eines Traums, den Mystery mit aller Macht festzuhalten versuchte. Er glaubte noch immer die wohltuende Wärme der Heizdecke in seinem Körbchen zu spüren, als ihn einige Spritzer Wasser trafen. Entrüstet öffnete er die Augen.

»Hey, lass das, sonst komme ich da hoch und tunke dich mal richtig unter!«, fauchte er und nutzte die Feuchtigkeit auf seinem Fell zu einer raschen Katzenwäsche.

»Hihi, das wird nicht klappen. Diese Pfütze ist zu klein. Dazu musst du schon raus an die frische Luft kommen und mich zum See begleiten«, erwiderte Mücke keck von oben herab.

Mystery dehnte sich vorsichtig, schob seinen Körper erst weit nach vorne und streckte dann genüsslich den Rücken zu einem gewaltigen Katzenbuckel Richtung Decke.

»Oh, wie schön«, schnurrte er so laut wie eine Hummel an einem lauen Sommermorgen. »Ich kann mich wieder strecken und recken, ohne dass es an allen Ecken und Enden ziept.« Er setzte sich aufrecht hin und sah sich aufmerksam in der Höhle um.

»Können wir erst was futtern? Ich habe mordsmäßigen Kohldampf und wenn ich nicht schnurstracks etwas zu fressen bekomme, dann sterbe ich gleich ein zweites Mal, fürchte ich.«

Mücke lachte. »Bloß nicht. Allerdings wirst du in Zukunft mit unserem Superwasser vorliebnehmen müssen.«

»Ähm.« Mystery runzelte die Stirn. »Das Superwasser, wie du es nennst, ist zwar ausgesprochen schmackhaft, trotzdem wäre eine Maus oder etwas anderes Handfestes doch schon ganz nett zwischen den Zähnen.«

»Wir fressen hier keine Mäuse!«

»Oh, ein Vögelchen ist auch nicht zu verachten, obwohl es auf Dauer etwas einseitige Kost wäre.«

»Nein, wir fressen weder Mäuse noch Vögel – wir fressen gar keine Tiere. Wir trinken nur dieses Wasser«, erklärte Mücke. »Es ist kein gewöhnliches Wasser, musst du wissen. Es enthält alles, was wir so brauchen, und man wird definitiv pappsatt davon. Den großartigen Geschmack kennst du ja schon.«

Kaum gesprochen, wandte sich Mücke um und schlabberte wie wild Superwasser in sich hinein.

Mystery zögerte. »Also, Wasser ist enorm wichtig und okay, über den Geschmack müssen wir uns nicht streiten. Allerdings fällt es mir schwer zu glauben, dass man davon satt wird. Reicht das wirklich aus?«

»Logo, sonst hätte ich hier ja nicht überlebt. Ich bin echt schon eine ganze Weile hier und der Geschmack ist mir nie langweilig geworden.«

»Hm, ich habe gestern eine Maus über den Boden huschen sehen. Da kannst du sagen, was du willst. Ich bin vielleicht noch etwas wackelig auf den Beinen, aber nicht blind. Wieso fängst du sie nicht?«

»Nun«, sagte Mücke. »Ich fange sie. Allerdings lasse ich sie dann auch gleich wieder laufen. Wir spielen zusammen. Wenn du mir versprichst, dass du sie nicht jagst, dann rufe ich sie. Rita ist meine beste Freundin und ich würde es mir nie verzeihen, wenn ihr etwas passiert. Sie wartet in sicherer Entfernung, bis klar ist, dass sie dir nicht als Frühstück zur Verfügung steht.«

»Deine beste Freundin ist eine Maus?«, fragte Mystery konsterniert.

»Ja. Rita ist klasse. Niemand ist so fröhlich und gut gelaunt wie sie.«

»Na, dann trinke ich besser erst mal euer Superwasser, damit ich nicht vor lauter Hunger einen Fauxpas begehe und die gute Rita verspeise.« Mystery legte den Kopf schief und fokussierte einen dünnen Mäuseschwanz, der neben Mückes Tatze entspannt über die Felskante hing.

»Du bist anscheinend nicht nur fröhlich, sondern auch ziemlich neugierig, kleine Maus. Kann es sein, dass dein Sicherheitsabstand geringer ist als geplant?«

Mücke schob Ritas Schwanz behutsam hinter seinen Rücken.

»Ich erinnere mich zwar noch dunkel an die eine oder andere Maus in der Alten Welt, aber nichts schmeckt so fabelhaft wie unser Superwasser.«

»Was soll das heißen, du erinnerst dich an die eine oder andere Maus?«, piepste es hinter Mückes Rücken hervor. »Du hast immer gesagt, du hättest nie eine Maus verspeist.«