Richter ohne Gnade

Richter ohne Gnade

Ein Aachen Krimi

Hansens 4. Fall

 

 

 

Impressum

Texte: © Frank Esser
Cover: © NaWillArt Coverdesign / www.nawillart-coverdesign.de

Lektorat: © Christine Weber - www.textomio.de

Korrektorat © Marion Kaster / Heidemarie Rabe

Verlag: Frank Esser

Am Römerhof 1

52477 Alsdorf

aachenkrimi@gmx.de

 

 

1. Auflage, 2020

© Alle Rechte vorbehalten.

 

Prolog

Irgendetwas stimmte nicht. Als Jonas Behrend die Augen öffnete, war ihm das sofort bewusst. Er fühlte sich alles andere als ausgeruht, der Kopf schmerzte, und ihm war übel. Sein Mund war so trocken, als hätte er eine Wanderung durch die Sahara hinter sich, die Zunge klebte am Gaumen. Seltsam, er konnte sich beim besten Willen nicht an eine durchzechte Nacht erinnern. Nicht einmal bruchstückhaft. Er konnte sich an überhaupt nichts erinnern! Und noch etwas kam ihm sonderbar vor: Es war stockfinster. Dabei schlief er nie bei herabgelassenen Rollläden. Normalerweise konnte er den schwachen Lichtschein der Straßenlaterne sehen, wenn es Zeit war aufzustehen. Er musste dringend einen Schluck Wasser trinken und eine Kopfschmerztablette einwerfen.

Als er sich von seinem nächtlichen Lager erheben wollte, schien ihn eine unsichtbare Hand daran zu hindern. Auch das Signal seines Gehirns an beide Beine, sich aus dem Bett zu schwingen, verpuffte wirkungslos. Verdammt! Hatte er einen Unfall oder Schlaganfall gehabt und war gelähmt? Scheiße, das durfte doch nicht wahr sein. Noch einmal versuchte er aufzustehen, mit demselben Ergebnis. Allmählich dämmerte es ihm: Er war gefesselt!

Die Erkenntnis traf ihn bis ins Mark. Angst machte sich in ihm breit, die schnell in Panik überzugehen drohte. Schweiß trat ihm auf die Stirn, er begann zu hyperventilieren. »Reiß dich zusammen«, ermahnte er sich selbst, und es gelang ihm tatsächlich, die Atmung zu beruhigen. Wo war er? Dann tauchte plötzlich ein Erinnerungsfetzen vor seinem geistigen Auge auf. Er sah sich selbst die Wohnungstür öffnen, dann ein Blitz. Die Erinnerung entglitt ihm wieder. Er ballte die Fäuste, spannte seine Muskeln an und zerrte an den Fesseln. Zwecklos, sie saßen zu fest. Im nächsten Moment ging das Licht an, und der Raum, in dem er gefangen gehalten wurde, war schlagartig taghell. Es schmerzte unglaublich in den Augen, er musste sie wieder schließen. Irritiert blinzelte er gegen das Licht an, aber er konnte kaum etwas erkennen. Zwei Halogenstrahler, jeweils auf einem Stativ angebracht, waren auf ihn gerichtet. Er kannte solche Strahler von den Kollegen der Spurensicherung. Es gelang ihm, den Kopf ein wenig zu heben und sich umzublicken.

Er lag auf einer Massagebank, an Oberkörper, Händen und Füßen mit dicken Stricken gefesselt. Der Raum war fensterlos und die Wände mit Schaumstoff isoliert, ähnlich wie in einem Tonstudio. Angstschweiß strömte ihm aus allen Poren. Erst jetzt registrierte er, dass dort jemand stand. Oder spielten ihm seine Sinne einen Streich?

»Na endlich, ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf.«

Die Stimme des Unbekannten klang schneidend und emotionslos.

»Wo … wo bin ich?«, stammelte Behrend.

»Du bist Gast in meinem bescheidenen Heim.«

Was faselte der Typ da? »Warum bin ich hier?«

»Das wirst du gleich erfahren«, erwiderte der Mann und trat näher an die Liege.

Es war unmöglich, das Gesicht des Unbekannten zu erkennen, da das Licht stark blendete. Deshalb versuchte Behrend, andere Details wie Größe oder Körperstatur des Mannes einzuschätzen. Als Polizist wusste er, dass jede Kleinigkeit für eine spätere Identifizierung wichtig war. Jedenfalls wenn er lebend hier rauskam. Er schätzte den Unbekannten auf etwa eins achtzig bis eins fünfundachtzig. Trug der Kerl tatsächlich eine Richterrobe und eine Lockenperücke aus schlohweißem Haar, das zu einem Zopf gebunden war? Jetzt konnte er auch das Gesicht erkennen, allerdings kam es ihm nicht bekannt vor. Was zum Teufel ging hier vor? Er wagte jedoch nicht, den Gedanken laut auszusprechen.

»Ich werde dir jetzt eine einzige Frage stellen, Jonas. Wenn du wahrheitsgemäß antwortest, werde ich dich gehen lassen. Hast du das verstanden?«

Unfähig, etwas zu erwidern, starrte Behrend seinen Entführer an.

»Ob du das verstanden hast, habe ich dich gefragt?«, wiederholte der Unbekannte mit Nachdruck.

»Wenn ich die Wahrheit sage, darf ich wirklich gehen?«, fand Behrend seine Sprache wieder.

»Habe ich mich unklar ausgedrückt?«

Wieder diese Schärfe in der Stimme.

»Nein.« Behrend schüttelte energisch den Kopf. Er wusste nicht, was er von alledem halten sollte. Der Mann war offensichtlich ein Spinner. Aber er musste das Spiel mitspielen.

»Gut, dann können wir beginnen. Bist du bereit?«

Er nickte.

»Jonas Behrend, dir wird zur Last gelegt, in Ausübung deines Dienstes als Polizeibeamter deine Kollegen hintergangen, Beweismittel gefälscht und mehrfach Bestechungsgeld angenommen zu haben. Durch dein verabscheuungswürdiges Verhalten sind unschuldige Menschen zu Schaden gekommen, während sich einschlägig bekannte Verbrecher der Hand der Justiz entziehen konnten. Bekennst du dich schuldig?«

Behrend glaubte, sich verhört zu haben. Woher wusste der Typ von seinem kleinen Geheimnis? War das Ganze am Ende ein makabrer Scherz und der Kerl ein Schoßhündchen von Kluge, der seine Loyalität auf perfide Art und Weise auf die Probe stellen wollte? Wenn das zutraf, konnte es ihn den Kopf kosten, wenn er die Wahrheit sagte. Kluge kannte noch weniger Erbarmen als sein Vorgänger Roland Borowski, der ermordete Drogenbaron von Aachen, dessen Geschäfte er übernommen hatte. Andererseits konnte er sich hinterher immer noch rausreden, wenn das hier nur ein Test war. Sollte er es mit einem durchgeknallten Irren zu tun haben, konnte es durchaus sinnvoll sein, sich zum Schein auf dieses dämliche Spiel einzulassen.

»Ich warte, Jonas«, riss der Unbekannte ihn aus den Gedanken. »Schuldig oder unschuldig im Sinne der Anklage?«

Behrend wägte seine Optionen ab. »Schuldig«, sagte er schließlich in der vagen Hoffnung, dass sich der Kerl nun als Kluges Mitarbeiter zu erkennen gab und er sich erklären konnte.

»Gut. Das ist gut! Ich weiß deine Ehrlichkeit zu schätzen, Jonas. Das Strafmaß wird in Kürze festgelegt.«

»Aber ich hab die Wahrheit gesagt! Sie haben versichert, dass ich hier rauskomme, wenn ich mich schuldig bekenne«, schrie Behrend. Panisch bäumte er sich auf und zerrte an den Fesseln, während ihm Tränen der Verzweiflung in die Augen schossen.

»Oh. Da habe ich wohl gelogen.« Aus der Kehle des Fremden drang das Lachen eines Wahnsinnigen. Noch ehe der Polizist etwas erwidern konnte, hatte der Robenträger den Raum auch schon verlassen.

 

1. Kapitel

 

Tag 1, Montag

Die grünen Digitalziffern des Radioweckers zeigten 05:11 Uhr. Verschlafen richtete sich der Leiter der Mordkommission Aachen auf und seufzte. Ein Anruf um diese Zeit verhieß nichts Gutes, schlaftrunken ging Hansen ans Diensthandy. Bereits nach wenigen Augenblicken wurde seine Befürchtung zur Gewissheit und er war sofort hellwach, als der Kollege des Kriminaldauerdienstes im besten Öcher Platt einen Leichenfund erwähnte. Die sterblichen Überreste eines Mannes waren gefunden worden, und es lag eindeutig Fremdverschulden vor.

Auf Hansens Frage, wo genau sich denn der Fundort befand, erwiderte der KDDler lediglich: »Am Eäzekomp«. Kaum dass er es ausgesprochen hatte, schob er die Frage hinterher, ob Hansen wisse, was damit gemeint sei.

Ausgerechnet ihm stellte er die Frage, dachte Hansen beleidigt – dabei war er berühmt-berüchtigt für seine Vorträge über die Aachener Stadtgeschichte auf dem Revier. Natürlich wusste er, dass der Beamte vom Karlsbrunnen sprach, Aachens ältestem Brunnen. Wegen der rundlichen Form seiner Bronzeschale, in deren Mitte die kaiserliche Statue Karls des Großen thronte, wurde er im Volksmund »Eäzekomp« genannt, was nichts anderes als »Erbsenschüssel« bedeutete. Am liebsten hätte Hansen dem Mann sein Wissen entgegengeschmettert, doch er beließ es bei einem einfachen Ja, bedankte sich und legte auf. Na wunderbar, die Nachtruhe war mal wieder viel zu früh beendet.

»Was ist denn los?«, fragte Christine mit verschlafener Stimme.

»Leichenfund am Eäzekomp. Schlaf weiter«, erwiderte er und hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.

Seine Frau kam der Aufforderung nur allzu gerne nach. Längst hatte sie sich an derartige Anrufe gewöhnt und ließ sich davon nicht mehr aus der Ruhe bringen. Sie kuschelte sich in die warme Decke und schlief weiter. Beneidenswert, zu gerne hätte er seinen müden Knochen auch noch etwas Ruhe gegönnt. Leise holte er eine Jeans und ein Polohemd aus dem Schrank und schlich aus dem Schlafzimmer. Dabei stolperte er fast über das neueste Familienmitglied. Nera, die schwarze Labradorhündin, war gerade erst mit ihnen im Bungartsweg eingezogen. Die letzten Wochen waren turbulent gewesen: Christine hatte den Wunsch geäußert, die Stadtwohnung aufzugeben, und er war dem auch allzu gerne nachgekommen. Endlich raus aus dem Mief der Großstadt. Und kaum dass sie in der Wohnung nahe dem Orsbacher Wald eingezogen waren, hatten sie den Entschluss gefasst, sich einen Hund anzuschaffen. Als sie die zweijährige pechschwarze Hundedame mit den bernsteinfarbenen Augen im Tierheim entdeckt hatten, war es gleich um sie geschehen gewesen. Mittlerweile genoss Hansen die ausgedehnten Spaziergänge mit Nera im nahe gelegenen Wald. Vor allem in Zeiten wie diesen, wenn er wieder einmal endlose Überstunden schieben musste. Außerdem bewegte er sich viel mehr, seit Nera da war – und das erleichterte seinen Kampf gegen den angefutterten Wohlstandsspeck.

Noch auf dem Weg ins Badezimmer verständigte er seinen Partner Stefan Riedmann und zitierte ihn zum Fundort der Leiche. Da sein Stellvertreter praktischerweise mit der Leiterin der Spurensicherung zusammenlebte, konnte er so gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Anschließend informierte er noch die Kollegen Markus Beck und Jens Marquardt. Es war besser, wenn sie gleich in voller Besetzung beim alten Kaiser auftauchten. Nach einer Katzenwäsche verließ er die Wohnung und brauste kurz darauf mit seinem Opel in Richtung Innenstadt.

Zwanzig Minuten später erreichte er den Aachener Marktplatz, wo er zwei Einsatzfahrzeuge der Polizei und einen Krankenwagen entdeckte. Laura Decker – die Leiterin der KTU – und ihr Team hatten bereits die Arbeit aufgenommen. Hansen war kaum ausgestiegen, als Riedmann auch schon auf ihn zusteuerte. Eigentlich kaum verwunderlich, da er in der Nähe des Fundortes wohnte. Riedmann sah auch nicht gerade taufrisch aus, unrasiert und ungekämmt sah man den Kollegen, der ansonsten penibel auf sein Äußeres achtete, sonst so gut wie nie.

»Ihr wohnt zwar um die Ecke, aber mit euch habe ich hier noch nicht gerechnet«, begrüßte Hansen seinen Partner.

»Laura war ohnehin schon wach, sie konnte kaum schlafen wegen der Affenhitze im Schlafzimmer. Kennst sie ja: Kaum hattest du aufgelegt, hat sie mir ganz schön Dampf gemacht, um so schnell wie möglich herzukommen. Wir sind aber auch erst seit ein paar Minuten da.«

»Man sieht, dass sie dir Dampf gemacht hat.« Grinsend deutete Hansen auf Riedmanns Füße. Der Kollege hatte im Eifer des Gefechts zwei verschiedenfarbige Sneaker angezogen – einen dunkelblauen und einen schwarzen.

»Mist«, erwiderte Riedmann, als er an sich hinunterschaute.

»Hier ist ja schon ganz schön Betrieb«, versuchte Hansen, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.

»Kein Wunder, wenn man bedenkt, was passiert ist. Immerhin ist ...«, doch weiter kam Riedmann nicht.

»Was macht denn der Wassenhoven vom Drogendezernat hier?«, meinte Hansen. Was hatte der Leiter der Abteilung für Betäubungsmittelkriminalität hier zu suchen?

»Das wollt ich dir ja gerade erklären, als du mich unterbrochen hast.«

»Entschuldige, Stefan. Also?«

»Der Tote ist ein Kollege von uns. Jonas Behrend. Oberkommissar des Drogendezernats. Wassenhoven war sein Chef.«

»Scheiße!« Hansen kannte den getöteten Kollegen flüchtig. »Wissen wir schon, was passiert ist?«

»Schau’s dir am besten selbst an. Um das schon mal vorwegzunehmen: Der Fundort der Leiche ist nicht der Tatort.«

Ohne darauf einzugehen, stapfte Hansen los. Er begrüßte einen der uniformierten Kollegen, die den Bereich rund um den Brunnen bereits großräumig mit dem rot-weißen Absperrband abgeriegelt hatten. Auch wenn es noch früh am Morgen war, tauchten bereits die ersten Schaulustigen auf dem Marktplatz auf. Polizeipräsenz stieß immer auf reges Interesse einiger Passanten. Die Kollegen der Schutzpolizei hatten alle Hände voll zu tun, die Meute vom Geschehen fernzuhalten. Herbert Wassenhoven und Laura Decker waren in ein Gespräch vertieft, als Hansen an ihnen vorbeiging.

»Morgen zusammen«, meinte er nur, als er die ersten beiden Treppenstufen des Brunnens erklomm.

Der Tote saß auf der obersten Stufe an den Beckenrand gelehnt. Fast hatte es den Anschein, als würde er schlafen. Behrends Kinn war auf die Brust gesunken. Hansen musste in die Hocke gehen, um dem Mann ins Gesicht blicken zu können, und erschrak im selben Moment.

»Kein schöner Anblick«, meinte Laura Decker. Die Leiterin der Spurensicherung stand mit verschränkten Armen hinter Hansen und verzog keine Miene. Obwohl auch sie garantiert nicht allzu viel Schlaf abbekommen hatte, sah sie frisch und ausgeruht aus. Die lange braune Mähne hatte sie wie gewöhnlich zu einem Zopf zusammengebunden.
Hansen war heilfroh, dass sie sich vor drei Jahren für einen Wechsel von Köln nach Aachen entschieden hatte, obwohl er zugegebenermaßen damals recht skeptisch gewesen war. Die Entscheidung, die Stelle mit ihr zu besetzen, hatte zunächst nach typischem Öcher Klüngel ausgesehen, da Lauras Vater ein guter Freund von Hansens Chef, Kriminalrat Hellhausen war. Im Nachhinein stellte sich die Neubesetzung als ein absoluter Glücksgriff für die Aachener Polizei heraus, insbesondere für die Mordkommission. Laura Decker war blitzgescheit und hatte durch kluge Schlussfolgerungen maßgeblich zur Aufklärung einiger zurückliegender Fälle beigetragen. Außerdem trug ihr loses Mundwerk immer mal wieder zur Erheiterung des Teams bei. Sehr zum Leidwesen von Hellhausen, der angesichts ihrer flapsigen Art hin und wieder die Nase rümpfte.

»Nein! Ganz und gar kein schöner Anblick. Ihr hättet mich ruhig mal vorwarnen können«, meinte der Hauptkommissar, als er sich erhob.

»Du hast mir ja nicht die geringste Möglichkeit dazu gegeben«, erwiderte Riedmann mit ernstem Gesicht.

»Stimmt«, musste Hansen einräumen.

»Man hat ihm beide Augen entfernt und sie durch Zwei-Euro-Münzen ersetzt. Schlimm genug, dass Jonas ermordet wurde. Aber warum verstümmelt ihn jemand auf diese Weise?« Herbert Wassenhoven, der hagere Mittfünfziger, schüttelte angewidert den Kopf.

»Könnte ein symbolischer Akt sein, der schon in der römischen und griechischen Mythologie bekannt war. Die Seele des Verstorbenen musste mithilfe eines Fährmannes den Fluss Styx überqueren, um in die Unterwelt zu gelangen. Als Entgelt legten die Menschen den Toten eine Münze auf jedes Auge«, erklärte Hansen.

»Die Sache hat nur einen gewaltigen Haken, Herr Geschichtsprofessor«, erwiderte Decker trocken. »Man legte die Münzen auf die geschlossenen Augen. Man hat die Augen vorher nicht herausgeschnitten und durch Geldstücke ersetzt!«

»Das stimmt natürlich. Es war nur das Erste, was mir in den Sinn gekommen ist, als ich die Münzen sah. Einen offensichtlichen Hinweis auf die Todesursache scheint es nicht zu geben.«

»Da müssen wir wohl oder übel auf Bode warten. Mir ist allerdings aufgefallen, dass Behrend eine frische Einstichstelle am rechten Unterarm hat. Ob das mit der Todesursache zusammenhängt, kann ich natürlich nicht sagen«, erwiderte Decker, bevor sie sich an die Untersuchung des Leichenfundortes machte.

 

Riedmann begann mit der Befragung des Mannes, der den Toten gefunden hatte, und Hansen nutzte die Gelegenheit, um mit Herbert Wassenhoven über den Toten zu reden. Die beiden Ermittler hatten sich zu den Treppenstufen des Aachener Rathauses etwas abseits des Geschehens zurückgezogen, um sich in Ruhe unterhalten zu können.

»Wie lange war der Kollege schon in Ihrer Truppe?«, begann Hansen.

»Ziemlich genau vier Jahre. Einer meiner besten Männer mit einer beeindruckenden Aufklärungsquote. Jonas hatte einen guten Draht zu seinen Informanten aus der Drogenszene«, erklärte Wassenhoven.

»Wie heißt sein Partner?«

»Klaus Siebert.«

Ja, ich erinnere mich an den Mann, dachte Hansen. Im Rahmen der Ermittlungen im Racheengel-Fall hatte Siebert ihnen wichtige Informationen geliefert, die zur Aufklärung der Morde beigetragen hatten. Am Ende hatte sich herausgestellt, dass sie ihren eigenen Kollegen gejagt hatten: Paul Mertens, den ehemaligen Leiter der KTU und Lauras Vorgänger. »Wir müssen so schnell wie möglich mit ihm sprechen. Vielleicht hat Behrends Tod ja mit einem aktuellen Fall zu tun.«

»Kann ich mir nicht vorstellen. Aktuell sind die beiden an keiner größeren Sache dran.«

»Was nicht unbedingt etwas bedeuten muss.«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Wassenhoven. »Ich rufe Klaus an und richte ihm aus, dass er sich mit Ihnen in Verbindung setzen soll.«

»Danke. War Behrend verheiratet, hatte er Kinder?«

»Weder noch. Soweit ich weiß, hatte er derzeit auch keine Freundin. Dazu kann Ihnen Klaus aber sicherlich mehr sagen.«

»Dann bleibt es uns wenigstens erspart, einer Ehefrau die traurige Nachricht zu überbringen. Schlimm genug, den Eltern kondolieren zu müssen«, stellte Hansen fest. Es war der schwerste Teil des Jobs, wie er fand. »Sie leben doch noch?«

»Ja, in Eschweiler, soweit ich weiß.«

»Hatte Behrend Feinde?«

»Wir sind Polizisten. Da sollten Sie doch am besten wissen, dass wir nicht nur Freunde haben!«

»Haben Sie jemanden Konkretes im Sinn?«, hakte Hansen nach.

»Nein. Ich hab nicht die geringste Ahnung, wer Jonas so was Furchtbares antun konnte.«

»Ich denke, dann sind wir hier auch erst mal fertig.«

»Gut. Dann fahre ich jetzt ins Präsidium, um mein Team persönlich zu informieren. Herr Siebert wird sich dann schnellstens mit Ihnen in Verbindung setzen«, erwiderte Wassenhoven und verabschiedete sich.

»Behrend hatte übrigens kein Handy dabei«, meinte die Leiterin der SpuSi, als Hansen auf sie zusteuerte. Riedmann hatte die Befragung des Zeugen bereits beendet, der den Leichnam entdeckt hatte, und beobachtete sie nun bei der Arbeit. »Seine Brieftasche und ein Schlüsselbund steckten in der Hosentasche.«

»Dann sehen wir uns nachher auf jeden Fall in Behrends Wohnung um. Und vielleicht bringt uns eine Handy-Ortung weiter?«

»Schon vermerkt.« Riedmann reckte sein Smartphone in die Höhe. Im Gegensatz zum Chef, der immer noch alle Informationen in einem klassischen Notizbuch festhielt, bevorzugte er digitale Aufzeichnungen.

»Was hat die Befragung des Mannes ergeben?«

»Bringt uns nicht weiter. Er hatte nur das Pech, den Leichnam zu finden.«

»Leider taugt der alte Karl auch nicht als Zeuge«, meinte Hansen in Anspielung auf die Kaiserstatue in der Mitte des Brunnens, nachdem er den Blick einmal rund um den Marktplatz hatte schweifen lassen. »Aber wir sollten uns unbedingt sämtliche Videoaufnahmen der umliegenden Geschäfte besorgen. Unter Umständen hat eine der Kameras erfasst, wie Behrends Leiche hier abgelegt wurde. Dauert ja nicht mehr lange, bis die Geschäfte öffnen«, murmelte er und sah auf seine edle Festina-Armbanduhr, ein Geschenk seines Vaters zum letzten Weihnachtsfest. Seit dem Tod seiner Mutter vor zwei Jahren versuchte er, seinen alten Herrn so oft wie möglich zu besuchen, was nicht immer einfach war, da der Senior in Hamburg lebte. Sören Hansen hatte nicht weiter in Aachen wohnen wollen, er war ja all die Jahre nur der Liebe wegen in der Kaiserstadt geblieben. »Einmal Fischkopp, immer Fischkopp« pflegte sein Vater zu sagen und musste sich deshalb auch damit abfinden, dass sie sich nicht regelmäßig sehen konnten.

»Die Aufnahmen von der zentralen Überwachungskamera könnten uns da eher weiterhelfen.« Laura Decker deutete auf den Mast, an dessen Spitze sich die Kamera befand. »Nach der letzten Weihnachtsmarkt-Überwachung haben die beschlossen, sie weiter in Betrieb zu lassen. Das Ding filmt zwar nur von oben, erwischt aber dafür den gesamten Bereich vor dem Rathaus. Glaube kaum, dass die Kameras in den Geschäften hier mithalten können und den Bereich vor dem Brunnen erfassen.«

»Trotzdem sollten wir auch diese Aufnahmen überprüfen«, hielt Hansen dagegen. »Darum können sich Markus und Jens kümmern, wenn sie sich endlich auch mal die Ehre geben. Ich frag mich, wo die beiden schon wieder bleiben.«

»Berechtigte Frage«, erwiderte Riedmann. »Aber wenn mich nicht alles täuscht, biegt da hinten gerade der Smart unseres allseits geschätzten Gerichtsmediziners um die Ecke.«

»Wird auch langsam mal Zeit. Ich bin gespannt, ob Bode schon was zur Todesursache sagen kann«, erwiderte Hansen.

 

»Ich würde Ihnen liebend gern etwas über die Todesumstände erzählen«, erklärte der sportlich-schlanke Gerichtsmediziner, nachdem er den Leichnam des ermordeten Polizisten ausgiebig untersucht hatte. Hansen und Riedmann hatten ganz in der Nähe gestanden und ihn bei der Arbeit beobachtet, jetzt gesellte er sich zu ihnen. »Aber in diesem Fall müssen Sie definitiv das Ergebnis der Obduktion abwarten. Wegen der bläulichen Hautverfärbung vermute ich zwar, dass es sich um eine Vergiftung handelt. Wirklich eindeutig lässt sich das aber erst nach dem Toxscreening sagen. Die Kopfwunde, die seitlich zu sehen ist, war jedenfalls nicht tödlich.«

»Können Sie denn wenigstens den Todeszeitpunkt eingrenzen?«, wollte Hansen wissen, der wenigstens auf einen kleinen Anhaltspunkt hoffte.

»Unter Berücksichtigung der Lebertemperatur und der noch nicht völlig ausgeprägten Totenstarre würde ich sagen, zwischen Mitternacht und ein Uhr in der Nacht.«

»Wäre auch ein früherer Zeitpunkt denkbar? Immerhin besteht die Möglichkeit, dass der Leichnam schon einige Stunden unter freiem Himmel gelegen hat«, hakte Hansen nach.

»Die Nacht war tropisch warm, typisches Juliwetter halt. Das ist annähernd mit den Bedingungen vergleichbar, die man unter Zimmertemperatur vorfände. Deshalb hat die Außentemperatur kaum Einfluss auf den Verwesungsvorgang gehabt. Im Winter – oder tagsüber bei mehr Sonneneinstrahlung – wäre das natürlich etwas anderes gewesen. Aber unter den gegebenen Umständen hat das keine Rolle gespielt. Nach der Obduktion kann ich diesbezüglich mehr sagen.«

»Wurden die Augen Ihrer Meinung nach fachmännisch entfernt?«, wollte Laura Decker wissen.

»Eine berechtigte Frage, die ich mir durchaus auch stellte«, gab Bode zurück. »Deshalb habe ich mein Augenmerk - verzeihen Sie, das war unangebracht -, den Fokus meiner Untersuchung auf die Überprüfung der Wundcharakteristika der Augenhöhlen gelegt. Wer auch immer dafür verantwortlich war, hat eine sogenannte Enukleation durchgeführt. Dabei wurde die Bindehaut vom Hornhautrand abgetrennt und sodann die Augenmuskeln sowie der Sehnerv abgeschnitten. Anschließend wurde der Augapfel herausgezogen. Soweit ich das beurteilen kann, war das kein Fachmann, da die Schnitte sehr grob ausgeführt wurden. Trotzdem vermute ich, dass sich hier jemand mit medizinischen Vorkenntnissen ausgetobt hat.«

Hansen drehte sich angesichts dieser Ausführungen der Magen um. Zum Glück hatte er noch nicht gefrühstückt.

»Der Täter hat offenbar zu viel Fitzek gelesen«, witzelte Riedmann und fing sich umgehend einen tadelnden Blick von Hansen ein.

»Ich würde gerne Ihre Meinung zu den Münzen hören, Doktor Bode. Könnte das eine Botschaft des Täters für uns sein?«, wollte der Leiter der Mordkommission wissen.

»Es erinnert mich ein wenig an die Charonmünze. Der Fährlohn – oder wie wir Lateiner sagen: das Viaticum – diente dem Sterbenden als Zahlungsmittel, damit der Fährmann Charon dessen Seele über den Unterweltfluss Styx bis zur Pforte des Totenreichs bringt. Allerdings hätte der Täter dann die Symbolik falsch interpretiert. Die Münzen werden nämlich entweder auf die Zunge oder aber auf die geschlossenen Augen des Toten gelegt – und nicht in leere Augenhöhlen.«

Laura Decker, die ihre Arbeit wieder aufgenommen hatte, grinste angesichts Bodes neunmalkluger Erklärung, wie Hansen aus dem Augenwinkel heraus erkannte. Sie ersparte sich jedoch einen Kommentar.

»Wenn es sich um eine Botschaft des Täters handeln sollte, habe ich nicht die geringste Ahnung, was er damit zum Ausdruck bringen wollte. Glücklicherweise ist es aber auch nicht meine Aufgabe, das herauszufinden. Für den Anfang dürfte es schon genügen, die Todesursache Ihres Kollegen zu bestimmen. Und dafür muss der Mann so schnell wie möglich in die Rechtsmedizin gebracht werden.« Bode streifte sich die Gummihandschuhe ab, zog den Kittel aus, den er bei der Untersuchung getragen hatte, und faltete ihn wie immer penibel zusammen.

»Wir brauchen nicht mehr lange, dann sind wir mit der Tatortuntersuchung fertig«, meinte Decker.

»Gut, dann war’s das erst einmal für mich.« Bode nickte zum Abschied, und mit dem Kittel über dem linken Arm und der Instrumententasche in der rechten Hand steuerte er zielstrebig auf seinen Smart zu.

»Selbst um diese Zeit sieht er in seinem Anzug schon wie aus dem Ei gepellt aus«, stellte Riedmann grinsend fest, als er dem Arzt hinterherschaute.

»Jetzt weißt du, warum er mich immer an den Boerne aus dem Tatort erinnert«, gab Hansen grinsend zurück. »Selbst die Frisur kann mithalten: Bodes beneidenswert dichte dunkle Haarpracht lichtet sich so langsam, was? Verpass ihm noch das richtige Auto, und er kann den Boerne demnächst doubeln.«

Jetzt musste auch Riedmann unwillkürlich schmunzeln.

 

2. Kapitel

 

Hansen und Riedmann stiegen vor dem Präsidium in ihren Dienstwagen und machten sich auf zu Behrends Wohnung in die Raafstraße unweit der deutsch-belgischen Grenze. Sie hatten gerade den Parkplatz der Dienststelle verlassen, als Klaus Siebert, der Partner des ermordeten Polizisten, bei Hansen anrief. Sie vereinbarten, sich vor der Wohnung zu treffen. Der Ermittler des Drogendezernats erwartete sie bereits, als die beiden eintrafen.

»Morgen«, sagte Siebert, als Hansen aus dem BMW stieg. Der Drogenfahnder zog noch einmal an seiner Zigarette, bevor er die Kippe auf den Bürgersteig warf, um sie mit der Spitze seines Cowboystiefels auszutreten. Er trug einen Bart, hatte meerblaue Augen und die schulterlangen dunkelblonden Haare lagen strähnig auf den Schultern.

Als Erstes fiel Hansen die markante Narbe über der rechten Augenbraue des Drogenfahnders auf, die hatte er damals noch nicht gehabt.

»Mein herzliches Beileid«, erwiderte Hansen. Der Kollege der Drogenfahndung nickte kurz, sagte aber nichts, sondern starrte ins Leere. »Danke, dass Sie gekommen sind. Schade, dass unser Wiedersehen unter solch tragischen Umständen zustande kommt.«

»Mein Partner wurde ermordet, und jemand hat ihm die Augen herausgeschnitten. Das sind mehr als nur tragische Umstände, finden Sie nicht?«, grollte Siebert.

»Da haben Sie selbstverständlich recht.«

Zum Glück passte der Schlüssel, den sie in Behrends Hosentasche gefunden hatten.

»Jonas wohnte im zweiten Stock«, meinte Siebert und ging voraus. »Also, was wollen Sie wissen?«

»Was war Behrend für ein Mensch?«

»Die Frage ist jetzt nicht sonderlich einfallsreich. Auch wenn mir natürlich klar ist, dass Sie sie stellen müssen.« Als er den ersten Treppenabsatz erreicht hatte, wandte er sich um. »Bevor ich darauf antworte, schlage ich vor, dass wir uns duzen. Dieses alberne Sie unter Kollegen finde ich unpassend«, fuhr Siebert fort und reichte Hansen und danach auch Riedmann die Hand.

»Jonas war ein Einzelgänger, hatte kaum Freunde und lebte in erster Linie für seine Arbeit. Trotzdem war er für mich nicht einfach nur ein Kollege, mehr ein guter Kumpel. Kein Wunder, ich hab mehr Zeit mit ihm verbracht als mit meiner Frau. Scheiße, Mann, ich kann immer noch nicht glauben, dass er tot ist … wir sind da«, meinte Siebert und deutete auf eine Tür.

»Hatte Behrend eine Freundin?«

»Nichts Festes. Er lebte allein in der Wohnung.«

Die drei Ermittler zogen sich Handschuhe an, bevor Riedmann die Tür öffnete. Hansen begann seine Suche in der Küche. In der Spüle stapelte sich schmutziges Geschirr, auf dem Tisch lag eine Ausgabe der aktuellen Super Sonntag, daneben ein Schreiben der Telekom und eine Mitteilung der Hausverwaltung. Aber nichts, was für ihn auf Anhieb von Interesse gewesen wäre. Er brauchte nicht lange, um die Küche zu inspizieren. Gerade hatte er die letzte Schublade geschlossen, als Riedmann den Raum betrat.

»Nix Auffälliges im Bad«, meinte der Kollege, als er einen flüchtigen Blick auf die Briefe warf, die auf dem Tisch lagen.

»Dito, was das Schlafzimmer angeht. Glaubst du ernsthaft, dass wir hier was finden, das mit seinem Tod zu tun hat?«, fragte Siebert, der nun ebenfalls hereinkam.

»Meiner Meinung nach hat er einfach nur das Pech gehabt, irgendeinem Psychopathen in die Hände zu fallen«, meinte Riedmann ungefragt.

»Möglich. Aber wir sollten in Erwägung ziehen, dass Behrend kein zufälliges Opfer war. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht unbedingt danach aussieht. Was kannst du uns noch über ihn erzählen, Klaus? Ich würde gern mehr über ihn erfahren.« Hansen ging voraus ins Wohnzimmer, wo sie die Suche zu dritt fortsetzten.

»Zuverlässig, ehrgeizig, loyal, hilfsbereit. Jonas hatte einen guten Draht zu den Informanten aus der Drogenszene. Das hat uns den einen oder anderen brauchbaren Tipp eingebracht, sodass wir in den letzten Jahren ein paar erfolgreiche Razzien und Ermittlungserfolge erzielt haben.«

»Das sind durchweg positive Eigenschaften.«

»Deshalb glaube ich ja auch nicht, dass Jonas gezielt ausgewählt wurde«, meinte Siebert, der eine Schublade des Wohnzimmerschranks durchsuchte.

»Keine voreiligen Schlüsse … Du sagtest, dass ihr einige Ermittlungserfolge eingeheimst habt. Damit habt ihr euch sicherlich nicht nur Freunde gemacht. Was mich zur nächsten Frage bringt: Hatte Behrend Feinde?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Denk noch mal in Ruhe nach. Fällt dir wirklich keine Person ein, die ihn mal bedroht hat?«, ließ Hansen nicht locker, während er damit begann, die Schränke der vierteiligen nussbaumfarbenen Wohnwand zu durchsuchen.

»Karl, du kannst mir glauben, dass ich seit Wassenhovens Anruf heut Morgen über nichts andres nachgedacht habe. Natürlich wird’s irgendwo da draußen Leute geben, die uns auf dem Kieker haben. Aber trotzdem fällt mir da niemand ein.«

»Die Handyortung können wir uns schon mal sparen«, unterbrach Riedmann die beiden. »Es lag unter der Fernsehzeitung auf dem Tisch hier. Leider ist das Teil passwortgeschützt.« Er hielt ein Smartphone in die Höhe.

»Versuch’s mal mit: 1900TSV«, meinte Siebert.

Riedmann schaute seinen Kollegen fragend an.

»Er war großer Alemannia-Fan. Er benutzte das Passwort auch bei seinem PC im Büro.«

Riedmann tippte das alphanumerische Passwort ein und bestätigte den PIN. »Der Alemannia sei Dank, du hattest recht!«, rief er dann triumphierend.

»Überprüf doch mal die letzten Gespräche«, bat Hansen.

Sofort ging Riedmann die Anruferliste durch. »Seit gestern Mittag nur drei, alles Leute aus seiner Kontaktliste. Klaus, ein andrer Kollege und ein gewisser Tobias Borchert«, erklärte er nach wenigen Sekunden.

»Ein guter Freund seit Jonas´ Schulzeit. Er besitzt eine kleine Kfz-Werkstatt in Stolberg«, meinte Siebert.

»Dann sollten wir uns unbedingt mit ihm unterhalten. Irgendwelche anderen Nachrichten auf dem Handy?«, wollte Hansen wissen.

»`ne ganze Menge, aber du willst jetzt nicht ernsthaft, dass ich das alles lese?«

»Nur die letzten Nachrichten, vielleicht findet sich da ein Hinweis auf ein Treffen oder sowas«, ließ der Chefermittler nicht locker.

»Nein«, meinte Riedmann schließlich kopfschüttelnd, nachdem er die Nachrichten gecheckt hatte.

»Okay, dann warten wir mal ab, was die Jungs von der Computerforensik noch entdecken«, sagte Hansen und zog einen Beweismittelbeutel aus der Hemdtasche, um das Handy einzutüten.

Während die beiden anderen den Raum inspizierten, setzte sich Riedmann an den Wohnzimmertisch und fuhr Jonas Behrends Laptop hoch. Schon kurze Zeit später kam ihm ein lautes »Bingo!« über die Lippen.

»Was gefunden?« Hansen sah auf.

»Es ist eher das, was ich nicht gefunden habe.«

»Du sprichst in Rätseln, Stefan. Kannst du das präzisieren?«

»Auf der Festplatte sind keine Daten. Und wenn ich sage, keine, meine ich auch: keine. Ich bin zwar alles andere als ein Computerexperte, aber wenn du mich fragst, wurde das Ding gelöscht!«

»Seltsam. Warum sollte Behrend das tun?«

»Wer sagt, dass er das war?«

Siebert sah auf. »Willst du damit andeuten, Jonas´ Mörder hätte ...«

»Wäre eine Möglichkeit. Vielleicht befand sich etwas auf dem Rechner, das wir nicht finden sollten.«

»Wenn das zutrifft, würde das bedeuten, dass der Täter hier in der Wohnung war«, stellte Hansen fest. »Wird Zeit, dass Laura hier aufkreuzt, damit sie hier alles mal genau unter die Lupe nimmt. Dachte eigentlich, dass sie es kaum erwarten kann, hier alles auf links zu drehen«, flachste Hansen, dem durchaus klar war, dass der Einsatz am Eäzekomp noch dauern konnte. Aber er wollte unbedingt, dass sie Behrends Wohnung untersuchte – und nicht die B-Schicht, wie er immer scherzhaft sagte, obwohl die Kollegen genauso gute Arbeit leisteten. Aber Laura war nun mal die Beste!

»Ich ruf sie an und frag mal, wann wir mit ihr rechnen können«, erwiderte Riedmann und zog sein Handy aus der Hosentasche, um die Leiterin der SpuSi anzurufen. »Du hast eben davon gesprochen, dass ihr bei der Drogenfahndung über ein ziemlich gutes Netz an Informanten verfügt. Fällt dir da spontan jemand aus Behrends Dunstkreis ein, mit dem wir uns mal unterhalten könnten?«

»Puh, lass mich mal kurz nachdenken«, meinte Siebert.
»Laura macht sich gleich auf den Weg. Sie haben den Einsatz auf dem Marktplatz gerade beendet«, meldete sich Riedmann wieder zu Wort. »Sie packen nur noch ihr Zeug zusammen und machen sich dann gleich auf den Weg.«

Hansen nickte.

»Der Schneemann!«, rief der Drogenfahnder plötzlich. »Dennis Schneider, alle in der Szene nennen ihn den Schneemann. Der hat seine Augen und Ohren überall.«

»Kannst du den Kontakt herstellen?«

»Werd mein Glück versuchen. Das wird allerdings nicht ganz einfach, Schneider hat keinen festen Wohnsitz.«

»Du wirst ihn schon finden«, ermunterte Hansen seinen Kollegen.

»Hast du noch Fragen? Falls nicht, mach ich mich jetzt auf die Socken und zapfe meine eigenen Quellen an. Irgendwie werd ich Schneider schon ausfindig machen. Ich melde mich bei euch«, meinte Siebert.

»Fahr ruhig. Wir warten noch auf die SpuSi und widmen uns der ganzen Routinearbeit: Du weißt schon, Befragung der Hausbewohner, ob ihnen gestern Abend was Ungewöhnliches aufgefallen ist und so weiter …«

»Klar. Man sieht sich.« Siebert nickte ihnen zu und verließ dann die Wohnung.

Zehn Minuten später traf Laura mit ihrem Team ein. Hansen und Riedmann berichteten kurz von dem Laptop und befragten anschließend die Nachbarn des ermordeten Kollegen. Doch ohne neue Erkenntnisse mussten sie sich auf den Weg nach Eschweiler machen, um Jonas Behrends Eltern die traurige Nachricht vom Ableben ihres Sohnes zu überbringen.

 

3. Kapitel

 

»Wie ich das hasse.« Hansen atmete einmal tief durch, als sie das kleine Reihenhaus verließen.

Behrends Mutter war sofort in Tränen ausgebrochen, während der Vater wortlos vor sich hingestarrt hatte. Die beiden Ermittler hatten hilflos dagesessen. Eine Befragung der Eltern war unter diesen Umständen unmöglich gewesen, nach zehn Minuten hatten sie es schließlich aufgegeben. Einen Arzt oder psychologische Trauerbegleitung hatten Karl-Heinz und Elfriede Behrend abgelehnt.

»Daran werde ich mich auch nie gewöhnen«, erwiderte Riedmann, als er die Wagentür öffnete.

»Vorsicht bei der Berufswahl – hat mein alter Herr schon immer gesagt. Bevor wir zurück ins Präsidium fahren, würde ich gern noch mit diesem Borchert sprechen, dem Freund von Behrend. Ist ja nur ein Katzensprung von Eschweiler nach Stolberg. Haben wir schon seine Adresse?«

»Nein. Sollte aber nicht allzu schwer sein, die rauszufinden. Siebert hat doch erwähnt, dass der Borchert eine Autowerkstatt in Stolberg betreibt.« Und tatsächlich: Nach wenigen Sekunden hatte Riedmann mit dem Handy die Adresse gefunden.

 

»Jonas ist tot?« Borchert sah die Beamten ungläubig an. Im selben Augenblick fiel ihm ein Maulschlüssel aus der Hand und landete scheppernd auf dem Boden. Der Werkstattbesitzer war dünn wie eine Bohnenstange und ebenso lang geraten. Sein langes schwarzes Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In seinen Augenwinkeln standen Tränen, gegen die er ankämpfte. »Wann? … Wie?«, stammelte er.

»Er wurde letzte Nacht ermordet. Die Todesursache kennen wir noch nicht. Laut Anrufliste von Jonas Behrends Handy haben Sie gestern Abend gegen 18 Uhr mit ihm telefoniert. Worüber haben Sie gesprochen?«, fiel Hansen mit der Tür ins Haus. Er hielt nicht viel davon, sich mit langen Vorreden oder Erklärungen aufzuhalten, wenn es die Situation nicht unbedingt erforderte. So wie in diesem Fall.

»Seine alte Rostlaube verliert wohl wieder mal Öl. Jonas hat gefragt, wann er den Wagen vorbeibringen kann. Ich habe ihm gesagt, wann immer er will.«

»Hat Herr Behrend zufällig erwähnt, ob er gestern Abend noch eine Verabredung hatte?«

»Nein, tut mir leid.«

»Hatte er vielleicht Probleme, die er Ihnen gegenüber in letzter Zeit einmal angesprochen hat?«

»Probleme?« Borchert hob die rechte Augenbraue. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, keine Ahnung.«

»Fühlte er sich bedroht oder hatte er Feinde?«

»Echt jetzt? Jonas war Polizist – zudem ein sehr guter, wenn’s stimmt, was er über seine Ermittlungserfolge erzählt hat. Ich muss Ihnen doch wohl kaum erzählen, dass man da nicht nur Freunde hat!«

Es war nicht das erste Mal, dass Hansen das heute zu hören bekam.

»Auch im privaten Umfeld macht man sich schon mal Feinde«, stellte Riedmann lakonisch fest und sah den Mann herausfordernd an.