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Nachwort


Es ist idiotisch, sieben oder acht Monate an einem Roman zu schreiben, wenn man in jedem Buchladen für zwei Dollar einen kaufen kann. Mark Twain

Was der große amerikanische Erzähler Mark Twain hier in humoristischem Ton als Aphorismus augenzwinkert, hat er selbst nicht eingehalten. Und doch steht es hier als Zitat zu Beginn des Nachworts aus einem guten Grund.

Im Jahr 2002 befand ich mich noch ganz am Anfang meiner schriftstellerischen Publikationslaufbahn. Zuvor waren meine Kurzgeschichten in zahlreichen Anthologien erschienen, beispielsweise in m@usetot (vom unvergessenen Malte S. Sembten herausgegeben), 2000 (Hrsg. Gerald Meyer), Des Todes bleiche Kinder (Hrsg. Corina Bomann) oder Düstere Visionen (Hrsg. Ernst Wurdack). Diese Auswahl soll aufzeigen, wohin mein literarischer Weg wies – hin zur Kurzgeschichtensammlung.

Im selben Jahr trug ich Storys für die Anthologie ­Jenseits des Hauses Usher zusammen, die sich als ­Hommage an Edgar Allan Poe verstand. Während im deutsch­sprachigen Raum vermehrt Lovecraft im Blickfeld war, sollte damit der Blick auf dessen Vorbild (und auch dem vieler anderer Phantastikautoren) gelegt werden. Mit Beiträgen von Andreas Gruber, Boris Koch, Tobias Bachmann, Sören Prescher, Eddie Angerhuber, Michael Siefener, Malte S. Sembten, Christian von Aster und vielen mehr (u.a. auch ein Beitrag von mir) legte diese Anthologie ein profundes Zeugnis der Lebendigkeit der deutschen Phantastikszene ab, gekrönt von einem Beitrag des modernen Meisters des Horrors aus den USA: Thomas Ligotti.

Der Erfolg dieser Anthologie bewog den Inhaber des BLITZ-Verlages, mir die Veröffentlichung einer eigenen Kurzgeschichtensammlung anzubieten, die als ­Grausame Staedte im folgenden Jahr (2003) erschien.

Und mitten in dieses Jahr, das geprägt war von Arbeiten an den unterschiedlichsten Kurzgeschichten aus fremden Federn und der eigenen, platzte im Frühsommer eine kreative Inspiration. Eine Idee, die Elemente von Poe und Lovecraft vereinte. Ich spürte schon damals, dass diese Geschichte etwas länger werden könnte, rechnete mit dem Umfang einer etwas ausführlicheren Kurzgeschichte oder gar Novelle. Und legte am ersten August 2002 los.

Und schrieb jeden Tag, zu jeder Stunde, wann immer es mir möglich war.

Meine arme Familie und Freunde (gottlob habe ich noch welche) mussten mit ansehen, dass der etwas schräge Kerl jede Gelegenheit nutzte, um an seinem neuen kreativen Ding zu fabulieren. Ich saß rauchend auf Treppen, in Hinterhöfen und schrieb auf Servietten und Ikea-Notizzetteln; arbeitete nachts im Licht des PC-Monitors und tagsüber im Schatten der Bäume.

Mich hatte eine wahre Schreibwut erfasst (nicht zu verwechseln mit der Hypergraphie, einem krankhaften Schreibzwang). Diese Idee wucherte und wucherte, wuchs heran zu mehr als einer Kurzgeschichte, ohne dass ich das entgegen meiner sonstigen Arbeitsweise geplant hätte. Als ich schließlich nach zweiundzwanzig Tagen den Schlusspunkt setzte, war ich daher sehr skeptisch bezüglich des Ergebnisses. Ich war zu beschäftigt mit meinen anderen Publikationen, als dass ich Treibgut hätte überarbeiten können – und der Text wanderte somit in die berühmte Schublade.

Aus der wurde er im Sommer 2021 herausgeholt. Ich bin sehr froh, dass er nun im Jahr 2022 im BLITZ-Verlag erscheint. Damit schließt sich nach zwanzig Jahren ein Kreis und ich danke dem Verleger sehr dafür.

Ich hoffe, dass der geneigte Leser ebenso viel Freude am Roman empfunden hat, wie ich beim Schreiben in diesem heißen Sommer im Jahr 2002, als ich mich einem wahren furor scribendi hingegeben hatte, sodass ein Roman entstand, der hoffentlich das Geld wert war, auch wenn ich nicht – Mark Twain humoristisch umgedeutet – sieben Monate dafür aufgewendet habe.

Markus K. Korb im Januar 2022


Markus K. Korb
Treibgut




In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 William Meikle Das Amulett

2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens

2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume

2104 Jörg Kleudgen & Uwe Vöhl Stolzenstein

2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig

2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde

2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur

2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu

2109 Rainer Zuch Planet des dunklen Horizonts

2110 K. R. Sanders & Jörg Kleudgen Die Klinge von Umao Mo

2111 Arthur Gordon Wolf Mr. Munchkin

2112 Arthur Gordon Wolf Red Meadows

2113 Tobias Reckermann Rückkehr nach Gotheim

2114 Erik R. Andara Hinaus durch die zweite Tür

2115 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo

2116 Adam Hülseweh Das Vexyr von Vettseiffen

2117 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 2

2118 Alfred Wallon Salzburger Albträume

2119 Arno Thewlis Der Gott des Krieges

2120 Ian Delacroix Catacomb Kittens

2121 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 3

2122 Tobias Reckermann Gotheims Untergang

2123 Michael Buttler Schatten über Hamburg

2124 Andreas Zwengel Finsternacht

2125 Silke Brandt (Hrsg.) Feuersignale

2126 Markus K. Korb Treibgut


Markus K. Korb


Treibgut






Als Taschenbuch gehört dieser Roman zu unseren exklusiven Sammler-Editionen 
und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.
Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt.
Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.

© 2022 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Björn Craig
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Vignette: Jörg Kleudgen
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-936-2



Für meine Familie und Freunde –

ihr wisst, warum.

In memoriam

Edgar Allan Poe

und

Howard Philips Lovecraft



1. Kapitel 


Die Brecher, die gegen die Steilküste anliefen, waren gut und gerne zehn Meter hoch. In breiter Front, gleich einer heranstürmenden Soldatenreihe warfen sich die Wellenberge in die Schlacht und es war ein erstaunlich anzusehendes Gleichnis vom Kampf zwischen den gegensätzlichen Kräften Meer und Land, wenn sie mit geballten Riesenfäusten gegen die glattgeschliffenen Felsen der Merry Men schlugen. Diese beiden Felstitanen standen als hohe Steinnadeln hundert Meter vor der eigentlichen Küste, die an dieser Stelle eine kleine Bucht mit Kieselstrand aufwies. Und doch war das Fleckchen Erde gut genug durch diese steinernen Wächter geschützt, sodass die Auswirkungen der Wellen weit weniger verheerend waren, als man annehmen müsste.

Die Merry Men schirmten den Küstenstreifen ab und nahmen das Wüten des Wassers und des peitschenden Sturmwindes scheinbar gleichmütig und kraftstrotzend hin. Waren sie auf der einen Seite Hilfe, so bedeuteten sie andererseits aber eine tödliche Gefahr für die Handels­schiffe, welche die Küste New Englands auf dem Weg zurück nach Cornwall passieren mussten. Etliche Kohle­frachter und Schoner waren schon gegen die Fels­nadeln geschleudert worden. Das vom Kampf gegen die unnachgiebigen Steinwächter enttäuschte Meer nahm die Schiffe, ihre Ladung und ihre Besatzungen als Ersatzopfer, verdaute alles in seinen dunklen Eingeweiden und spie letztendlich einen Teil dessen auf den groben ­Kieselstrand der Küste, wie um seine Verachtung gegen alles Leben zu zeigen.

Genauso musste es auch mit der verkrümmten Gestalt passiert sein, die am Strand lag, die Beine noch umleckt von der Gischt, die verzweifelt an ihnen saugte, um den Menschen vielleicht doch wieder hinab in das feuchte Dunkel zu ziehen.

Das schwarze Haar des Mannes hing ihm wie Medusenfäden vor dem Gesicht, die Kleidung war zerrissen und durchnässt. Die über ihm kreisenden Möwen entdeckten nahezu kein Leben in ihm und wäre da nicht das unablässige Zittern der bleichen Arme gewesen, hätte man ihn für tot halten können.

Mit jeder Minute kehrte das Leben in den vom Meer geschundenen Körper zurück. Der Mann begann sich zu regen. Zögerlich betasteten seine Hände den Kopf, strichen die langen Haarsträhnen zurück, die früher wohl von einem Zopf gebändigt worden sein mussten und deren Berührung des Gesichts dem Mann unwohl war. Die Finger glitten hinab zu seinem Hals, kneteten ihn vorsichtig und wandten sich danach der Brust zu, die sich bärtig durch das zerschlissene Hemd hervorwölbte. Der Mann presste sich mit den Händen vom Kies ab und hob seinen Oberkörper, sodass er in eine sitzenden Position kam. Er musste würgen. Den Kopf zur Seite drehend erbrach der Schiffbrüchige Meerwasser auf die Steine, wo es sofort versickerte. Die Haare wurden vom Sturmwind umhergeschleudert und erschwerten dem schwer Keuchenden die Sicht, als er hustend die Knie anzog und taumelnd auf die Beine kam. Mit einer Hand stützte er sich auf einen Felsen ab, sodass er zitternd stehen konnte.

Das Heulen des Sturmes fauchte vom Meer her und blies Flocken von Meerschaum um die niedrigen Felsen auf den Strand, wo sie sich in den angeschwemmten Algenbergen verfingen. Einige Schaumkronen wirbelten hoch in die Luft und strömten den Talkessel hinauf zum Klippenrand, wo ein herrschaftliches Anwesen seine Krallen in den Fels geschlagen hatte, um nicht in die Tiefe zu stürzen.

Als der Schiffbrüchige den Kopf in den Nacken hob, mit einer Hand seine Haare im Genick bändigend, da erkannte er, dass dieses Haus seine Rettung war. Der Erbauer des Anwesens musste ein stolzer Herr gewesen sein, so mutmaßte er, da das Haus mit der Giebelseite zum Meer blickte und ihm so selbstbewusst den tosenden Elementen die Stirn bot. Fast erschien es dem Mann am Strand so, als ob das Herrenhaus arrogant das Kinn dem Ozean entgegenreckte. Ein Eindruck, der durch einen kleinen Balkon in Kombination mit zwei darüber liegenden Fenstertüren erweckt wurde, auf deren Glasflächen sich die dahinrasenden Wolkenmassen spiegelten.

Es gab nur die beiden hohen Fenster und den Balkon auf der Meeresseite, der Rest der Front wurde von sich überlappenden Holzschindeln bedeckt. Diese waren von ungesund grünlichen Schlieren überzogen, was der Mann auf Algen- und Moosbewuchs zurückführte. Dennoch wirkte das Haus nicht schäbig oder gar unbewohnt. Für letzteren Eindruck sorgte ein steinerner Schlot, der unablässig eine Rauchsäule ausspie, die vom Wind in alle Richtungen verwirbelt wurde.

Der Schiffbrüchige tastete sich mehr kriechend als gehend über den Kies, wobei er an den groben Felsen links und rechts seines Weges Halt fand. Einige Male sackte er auf die zerkratzten Knie, biss jedoch die Zähne zusammen und kämpfte sich wieder hoch. Auf der rechten Seite des Felsentales erkannte er in die Steine gehauene Stufen. Sie wurden von einem im heulenden Wind hin und her schwankenden Seil flankiert, das als Geländer diente und sich wie eine braune Schlange durch Eisenringe in der Felswand nach oben wand.

Als er auf der untersten Stufe angekommen war, sah sich der Mann noch einmal um. Draußen bei den beiden Felsbrocken im Meer schaukelte noch der zerschmetterte Rumpf der einst so stolzen Brigg Mary Dayne. Ihr Mast war zu einem Spielball des nach Salz riechenden Windes geworden, der ihn immer wieder gegen die Felsnadeln krachen ließ bis er nur noch ein geknickter Halm war. Wenn der Schiffbrüchige die Augen zusammenkniff, vermeinte er auf den Wellen tanzende Schatten wahrzunehmen, die im Todeskampf mit den Armen wedelten. Doch im nächsten Moment waren es nur Fässer und Kisten, die kostbare Fracht der Brigg, die nun als Treibgut in Richtung Strand trudelte. Er fragte sich, ob überhaupt einer seiner Matrosen oder Passagiere den gnadenlosen Wellen entkommen waren, so wie er.

Der Mann wandte sich um und machte sich an den Aufstieg, während der Wind an seinen nassen Kleidern riss und ihn torkeln ließ. Oftmals strauchelte sein Schritt und er schlug sich die Schienbeine auf, aber ans Aufgeben dachte der Mann nicht. Sein stählerner Wille hatte ihn zum Kapitän der königlichen Handelsmarine geführt, nun sollte er ihm das Überleben sichern helfen.

Nach einer geraumen Zeit trat er auf die letzte Stufe und stolperte auf das Plateau hinaus, das zum Haus gehörte. Seine Augen hatten kaum mehr die Kraft die Eindrücke des herrschaftlichen Vorgartens mit seinen Laub­bäumen, Kieswegen und Wasserspielen aufzunehmen. Mehr tot als lebendig schleppte er seinen müden Körper über Rasen und Kies, bis er vor einer mächtigen Eichenholztür zusammenbrach. Er nahm nur noch halbbewusst wahr, wie sich die Türe öffnete, ihn kräftige Arme aufnahmen und hineintrugen. Dann verließ ihn sein Bewusstsein und er sank in die gnädigen Tiefen einer heilenden Ohnmacht.



2. Kapitel


Das auf- und wieder abschwellende Jaulen des Windes war das erste Geräusch, das seine Ohren hörten, als sein Geist aus dem Dämmerzustand der Lähmung herauskroch.

„Willkommen in meinem bescheidenen Zuhause, Mr. Scott!“

Die heiser klingende Stimme drang wie ein rostiges Schwert in sein Hirn und machte ihm schlagartig klar, wo er sich befand. Auf dem Körper fühlte er den hauch­dünnen Stoff eines fremden Nachtgewandes. Mit flatternden Lidern öffnete der Schiffbrüchige die Augen.

Er lag in einem großen Himmelbett, dessen Vorhänge zurückgezogen waren. An den Wänden hingen schwere Gobelins, deren Webereien die Jagdszenen eines vergangenen Jahrhunderts auf dem Kontinent wiedergaben. Zum größten Teil lagen die Figuren auf den szenischen Tableaus jedoch im Dunkeln, da man darauf verzichtet hatte eine Lichtquelle im Raum zu entzünden. Der Mann auf dem Himmelbett musste mit dem Licht auskommen, das durch zweiflüglige Türfenster hereinschien. Ein Luftzug drang durch die Ritzen und bewegte die leichten Gardinen. Eine schwarze Sil­houette stand davor.

„Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl in meinem Gästezimmer. Leider ist es das mit dem Blick aufs stürmische Meer, dessen Tosen sie glücklicherweise gerade noch entkommen sind. Ich kann Ihnen aber keinen besseren Raum anbieten, denn dies ist das einzige noch halbwegs bewohnbare Zimmer des Hauses, das frei ist. Die übrigen sind entweder durch das Gesinde besetzt oder werden durch mich und meine Schwester beansprucht. Ich bitte um Verständnis.“

Die Gestalt mit der heiser flüsternden Stimme trat näher an das Bett. Das Tageslicht fiel nun auf ihre Gesichtszüge und Mr. Scott konnte eingefallene Wangen und eine Adlernase erkennen. Die Augen lagen in schwarz­umrandeten Höhlen, sodass der Schiffbrüchige ihre Farbe nicht erkennen konnte. Das lange weiße Haar fiel dem Gastgeber schütter über die Schultern und wirkte ungekämmt. Der Mann war in einen Morgenrock altmodischer Schnittart gekleidet, der von der Größe her seinen Körper in einer unvorteilhaften Proportion erscheinen ließ. Zu weit war das Kleidungsstück, der Körper darunter wirkte dadurch ausgezehrt. Zwei zerfasernde Pantoffel lugten unter dem Mantel hervor. Bei jedem Schritt gaben sie ein patschendes Geräusch auf dem Holzboden von sich.

„Mein Name ist hier in der neuen Welt wenig von Bedeutung, doch wird man sich in England wohl an die Familie Ravenloft erinnern. Ich bin der letzte Nachfahre der Barone von Ravenloft. Edgar Anton Ravenloft.“

„Howard Peter Scott. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, hätten Sie mir nicht Ihr Haus geöffnet!“

Ravenloft nickte langsam, dann setzte er sich auf das Bett.

Howard Scott mühte seinen Oberkörper empor und lehnte sich seufzend gegen das Kopfende des Bettes. „Ich bin Offizier der Handelsmarine, meines Zeichens Kapitän der Brigg Mary Dayne. Jedenfalls war ich das bis zu diesem furchtbaren Sturm ...“ Die Erinnerung setzte bei Scott ein und er konnte nicht mehr weitersprechen, da er fürchtete, dass all seine Kameraden und Freunde bei dem Schiffsuntergang ertrunken waren. Doch noch gab es Hoffnung. Wenn er es geschafft hatte, warum dann nicht auch andere? „Haben Sie weitere Überlebende gefunden?“, wollte Scott wissen.

Ravenloft senkte den Kopf. „Gleich nachdem Sie vor unserer Tür zusammengebrochen sind, habe ich meine Dienstboten damit beauftragt, den Strand kilometerweit abzulaufen. Es fanden sich Unmengen an Treibholz, intakte Fässer und Kisten, aber kein Überlebender. Es tut mir aufrichtig leid.“

Howard Scott schluckte schwer, dann antwortete er: „Das muss Ihnen nicht leid tun. Sie haben alles getan, was in Ihrer Macht steht, und dafür danke ich Ihnen.“

Der Baron winkte mit einer schwachen Bewegung seiner feingliedrigen Hand ab. „Es ist meine Pflicht als Christ mich in Nächstenliebe um diejenigen zu kümmern, die bedürftig sind. Seien Sie mein Gast und erholen Sie sich, bevor Sie aufbrechen. Die offiziellen Stellen sind informiert. Man ließ mich wissen, dass Sie zunächst in meinem Hause bleiben sollen, bis sich Ihr körper­licher und seelischer Zustand soweit verbessert hat, dass man Sie in ein Lazarett überführen kann. Man gab mir die Verfügungsgewalt, um über den richtigen Zeitpunkt zu entscheiden. Seien Sie unbesorgt, Mr. Scott, es soll Ihnen bei uns an nichts mangeln. Ich habe meinen Leibarzt schon verständigt, er wird sie bald untersuchen. Ah, ich höre ihn schon an der Pforte.“

Scott lauschte intensiv, nahm aber nur das Tosen des Windes und den auf die Fensterscheiben prasselnden Regen wahr. Nach einigen Minuten ertönten Schritte und ein Pochen erschreckte Howard. Es kam von einer Tür, die links von ihm zwischen den Gobelins eingebettet war.

„Kommen Sie nur herein, Doktor Livotti“, flüsterte der Baron.

Die Tür öffnete sich und ein Mann mittleren Alters betrat das Zimmer. Er trug einen schwarzen Regenmantel von dessen Rockschößen das Wasser zu Boden tropfte. Sein Gesicht schien eine Maske zu sein, derart unbeweglich war sein Mienenspiel. Daran änderte sich auch nichts, als er den hohen Hut abnahm, den Arztkoffer ans Bett stellte und Scott die fleischige Hand reichte. „Guten Tag, Mr. Scott. Ich hoffe, Sie fühlen sich etwas besser?“

Die unnatürliche Fragestellung verwirrte Howard. Er konnte nur nicken.

„Gut. Bitte lassen Sie uns einen Moment alleine, Herr Baron. Ich werde in wenigen Minuten mit der Unter­suchung fertig sein und Ihnen das Ergebnis selbstverständlich mitteilen.“

Der Baron nickte schläfrig und stand langsam auf. Dabei knackten seine Gelenke hörbar und seinem Mund entrang sich ein leiser Seufzer. Er trottete mit schlurfenden Schritten davon und schloss die Tür hinter sich.

Der Doktor wartete mit unbewegtem Gesicht auf das Schließen der Tür, dann wandte er sich dem Bett­lägerigen zu. „Herr Scott. Sie sollten einige Dinge über das Haus und seine Bewohner wissen, damit es nicht zu unangenehmen Szenen kommt.“

Scott zog die Stirn in Falten, sagte aber nichts.

„Die Familie Ravenloft hat auf der britischen Insel einen klangvollen Namen, ist aber durch eine alte Geschichte in Verruf geraten, weshalb sie als Clan kurz nach den Pilgervätern hierher in die neue Welt übersiedelte. Die Familie ist sehr alt und ihr Stammbaum besitzt kaum Nebenzweige, was in den Adelsgeschlechtern Europas aber keine Seltenheit ist, ging es doch vornehmlich darum, den finanziellen Besitz und die Ländereien zusammenzuhalten. Doch hat diese Konzentration der Heirat auf den engsten Umkreis negative Folgen gehabt, wie sie sich sicher vorstellen können. Während man bei den russischen Zaren der Romanoffs häufig das Krankheitsbild eines Bluters feststellen kann, ist es bei den Ravenlofts etwas anderes. Ihre Krankheit hat noch keinen Namen, doch ich bin überzeugt davon, dass sie erblich ist. Sie überträgt sich vor allem an die Söhne, doch auch die Töchter sind davon betroffen, allerdings in einem weit weniger gravierendem Maße.“ Dr. Livotti sprach sehr langsam und setzte seine Worte ganz bewusst, während er dem Patienten den Puls fühlte und mit einem Hörrohr die Herztöne kontrollierte. „Kennen Sie eine Krankheit, die sowohl Körper als auch Gehirn angreift und diese dabei schwächt, gleichzeitig aber die Sinne in herausragender Weise zu ungeahnten Kräften der Feinheit beflügelt?“

Scott schüttelte den Kopf.

„Sehen Sie? Der Welt dort draußen ist Derartiges unbekannt. Doch hier im Haus ist dies gewöhnlicher Alltag. Seien Sie nicht überrascht, sollten Sie sich einer Türe scheinbar lautlos nähern und der Baron im Zimmer dahinter ruft Ihnen schon von Weitem zu, dass Sie eintreten mögen. Seien Sie weiterhin nicht erstaunt darüber, dass selbst der winzigste Funke Lichts, wenn er das Auge des Barons oder seiner Schwester trifft, einen Schmerz ungeahnter Dimension hervorruft, den nur absolute Dunkelheit zu lindern vermag.“

Howard Scott wurde es unbehaglich zumute. „Das alles ist doch ein Fluch für die Familie Ravenloft. Wie kann man hierbei von Kräften der Feinheit sprechen?“

Der Doktor beendete seine Untersuchung und verstaute das Hörrohr im Koffer.

„Nun, es ist die eine Seite der Medaille, dass eine Überreizung der Sinne entstehen kann. Die andere ist es, dass die Krankheit den Träger dazu befähigt, im Dunkeln sehen zu können und geradezu hellsichtige Voraussagen über kommende Besucher zu machen. Das letztere mag für einen diplomatisch versierten Baron durchaus von Vorteil sein. Aber Baron Ravenloft ist auf keiner diplomatischen Mission hier in Amerika, demnach muss ich Ihnen Recht geben. Es ist ein Fluch, der seinen Körper zerstört. Ich schätze seine Lebenserwartung auf noch rund zehn Jahre. Wenn er stirbt wird er Ende Zwanzig sein!“

Howard schluckte. Er selbst war Mitte Dreißig und hatte demnach den Baron auf Grund seines Aussehens auf mindestens Vierzig geschätzt.

In diesem Moment ertönte ein Klingeln hinter der Tür.

„Ah, der Baron bittet zu Tisch. Dann werde ich mich mal wieder auf den Nachhauseweg machen. Die Familie Ravenloft hat eine starke Affinität zu Fischgerichten, was ich jedoch nicht für mich behaupten kann.“

In den Augen des Doktors glomm für einen Moment etwas auf, was Scott für den Anflug eines Lächelns hielt. Erfreut über die Wendung des Gesprächs meinte er: „Ich liebe Fisch! Was bleibt einem als Kapitän der Handelsmarine denn anderes übrig?“ Er lachte leise über seinen eigenen Scherz, den er schon hundertmal in Gesellschaft erzählt und der seine Wirkung noch nie verfehlt hatte.

Doktor Livottis Gesicht blieb weiterhin reglos. „Ich werde morgen wieder nach Ihnen sehen. Leben Sie wohl, Mr. Scott und nehmen sie das Essen bitte hier im Bett zu sich. Sie werden erst am Morgen wieder bei Kräften sein, um das Bett verlassen zu können, wie ich annehme.“ Mit diesen Worten deutete der Doktor eine Verneigung an, schwang sich in seinem langen Regenmantel herum und verließ das Zimmer.

Bald darauf klopfte es erneut und ein Dienstmädchen brachte eine dampfende Schüssel voller ­Fischsuppe, in der ein Löffel klapperte. „Mit den besten Wünschen des Barons zu Ihrer baldigen Genesung“, hauchte sie und stellte die Terrine auf das Nachtkästchen.

Scott bedankte sich und begann nach dem Verlassen des Mädchens mit dem Verzehr des Gerichts. Es schmeckte wunderbar. Scott meinte spüren zu können, wie seine Kräfte zurückkehrten. Alsbald wurde er schläfrig und sank in die Kissen, wo er nur einen Moment lang die Augen offen halten konnte.