Mörder werden ist
nicht schwer?

Mörder werden ist nicht
schwer?

Eine abgründige Geschichte

Michael Odo Hauck

Vorweg bemerkt:

Der Niederrhein liegt zwischen der Maas und dem Bergischen Land, zwischen der Voreifel und Westfalen. Ich bin am linken Niederrhein geboren und groß geworden. Es ist ein beschaulicher Landstrich, mit stillen Dörfern und geschäftigen Städten, einer unscheinbaren Landschaft und rechtschaffenden Menschen. Wenn beim Lesen der folgenden Seiten ein ganz anderer Eindruck entstehen sollte, so ist das allein meiner Phantasie geschuldet.

M.O. Hauck

 

06:00

Hinter den Hügeln des Bergischen Landes steigt die Sonne wie ein strahlender Kürbis aus dem Dunst. Mit jeder Minute wird sie kleiner und wechselt von orange zu einem fahlen Gelb. Licht wie ein Rinnsal aus flüssigem Metall, das sich den Weg über ausgetrocknete Erde sucht. Dörfer und Industrieanlagen tauchen aus dem grauen Morgen auf. Langsam färbt die Sonne den wolkenlosen Himmel bunt. Rot direkt am Horizont, verlaufend wie ein Regenbogen zu einem milden, tiefen Blau hoch oben.

Erik nimmt den Fuß vom Gas. Der schwarze Mercedes-Kombi reagiert darauf mit einem leisen Brabbeln aus den vier Auspuffrohren. Hier, von der höhergelegten Autobahn A44, hat man einen guten Blick auf das platte Land am Niederrhein. Und auf die dreckigen Drei. Die Kohlekraftwerke Friemersdorf, Neurath und Niederaußem reihen sich im Panorama aneinander. Vor dem fast schon kitschig schönen Himmel, gegen die aufgehende Sonne, stehen die drohenden, dunklen Rauchsäulen aus den Kühltürmen. Ein beeindruckender Anblick, der häufig zur Illustration von Reportagen über die Umweltverschmutzung durch die Braunkohle herangezogen wird. Erik kennt diese Szene auch von der anderen Seite. Wenn man von den Höhen des Bergischen Landes, mit der roten Morgensonne im Rücken, zur Kölner Bucht hinunterfährt, sieht der Wasserdampf aus den Kühltürmen in der Morgendämmerung, je nach Sonnenstand und Windrichtung, aus wie rosarote Wölkchen oder kleine orange Flämmchen. Und wenn man tagsüber auf den Rheinturm in Düsseldorf fährt, den man im Norden am Horizont sieht, und auf dem sich das Restaurant dreht, dann könnte man meinen, die Kraftwerke wären nur dazu da, weiße Wattebäuschchen an den blauen Himmel zu tupfen. Wie damals, vor über zwanzig Jahren, in glücklichen Tagen.

Kontaktlinsen

Auf Patenonkel Erich war eigentlich immer Verlass. Da reichte manchmal ein Telefongespräch oder ein kurzer Besuch in Köln, und Erik konnte auf seine Unterstützung rechnen. So auch, als er seinen ersten Motorroller haben wollte. Onkel Erich verdoppelte das Ersparte und bezahlte den Führerschein. Beim notwendigen Sehtest erfuhr Erik zum ersten Mal, dass er ein wenig kurzsichtig war. Bisher, und heute immer noch, kam er im Alltag gut ohne Brille zurecht, aber beim Autofahren, besonders nachts, beim Fernsehen oder auch im Stadion empfand er seine Brille als große Hilfe. Und jetzt sollte er sie aus beruflichen Gründen den ganzen Tag tragen. Da lag der Gedanke an Kontaktlinsen nahe.

Eine Kollegin, seit Jahren mit ihren Linsen zufrieden, empfahl ihm einen alteingesessenen Augenoptiker, der bequem zu Fuß nach Feierabend oder in der Mittagspause zu besuchen war. Dort arbeitete Martina, eine junge Augenoptikermeisterin, die all ihren Ehrgeiz hineinsetzte, dem netten jungen Mann perfekte Kontaktlinsen anzupassen. Aber das war nicht so einfach.

Erik Stoffels war ein forscher, junger Mann, Anfang zwanzig. Er machte einen selbstsicheren Eindruck, war aber ruhig und zurückhaltend. Obwohl er nur von mittlerer Statur war, hatte er ein beeindruckendes Auftreten. Er hatte braune Haare, sah gut aus, ohne schön zu sein, pflegte sich und kleidete seinen sportlich geformten Körper mit Geschmack und Sorgfalt. Ein wahres Mannsbild. Aber als die Anpasserin zum ersten Mal mit der Kontaktlinse kam und versuchte sein Auge aufzuhalten, um sie einzusetzen, da bekam er es doch mit der Angst zu tun. Er – und wahrscheinlich auch die junge Optikerin – merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Aber schließlich gelang es dennoch.

Das Sehen war prima, die Augenoptikerin kontrollierte sein Auge mit einer Art Mikroskop und war auch zufrieden. Blieb nur ein kleines, aber entscheidendes Hindernis: Er konnte sich nicht selbst ans Auge fassen, sich selbst die Linsen also nicht einsetzen, geschweige denn herausnehmen. Aber er gab nicht auf. Ein ums andere Mal lief er in der Pause herüber, um eine Viertelstunde zu üben. Martina, wie er sie inzwischen nannte, kümmerte sich rührend um ihn. Immer wieder kam sie dazu, beobachtete seine Bemühungen und half mit kleinen Tricks und Korrekturen. Er liebte es, wenn er ihr Haar und ihr Parfum riechen konnte sobald sie ihm nahekam. Beide verloren bei der Prozedur nicht den Humor, hatten sogar viel Spaß an seiner Ungeschicklichkeit.

„Also Erik, ich gebe Ihnen die Linsen erst, wenn Sie damit klarkommen. Hinterher rufen Sie mich sonst mitten in der Nacht an, damit ich sie Ihnen herausnehme. Das wollen wir doch beide nicht, oder?“

„Ooch, ich könnte mir Schlimmeres vorstellen, als von Ihnen mitten in der Nacht besucht zu werden. Aber klar, ich will die Linsen auch erst, wenn ich mich damit sicher fühle. Schließlich will ich die ja auch im Beruf den ganzen Tag tragen. Da darf nichts schiefgehen.“

Nach zwei Wochen war auch diese Hürde genommen. Der letzte Besuch beim Augenoptiker stand bevor.

„Und jetzt sehen wir uns nie wieder?“, fragte Erik mit gespielter Enttäuschung. Tatsächlich stand er sich in solchen Situationen manchmal selbst im Weg. Er war so zurückhaltend, dass er bisweilen auf andere abweisend wirkte.

„Oh doch! Sie kommen brav alle halben Jahre vorbei, damit ich mir Ihr Auge ansehen und die Sehschärfe auf den letzten Stand bringen kann.“ Sie lächelte ihn an. Er würde ihr auch ein wenig fehlen. Sie hatten so viel Zeit miteinander verbracht, sie hatte mit ihm gelitten und sie hatten oft zusammen gelacht. „Natürlich können Sie auch sonst vorbeikommen, wenn es Probleme geben sollte – oder wenn Sie Sehnsucht nach mir haben…“ Martina wollte ihm die Tür ein bisschen aufmachen, ohne zu neckisch zu wirken. Sie sah, wie er seinen ganzen Mut zusammennahm.

„Martina, Sie haben sich so viel Mühe mit mir gegeben, und die ganze Prozedur hat mir letztendlich so viel Spaß gemacht, ich möchte mich revanchieren.“ Einen Moment überlegte er, ob er wohl nach ihren Vorlieben bei Wein und Sekt fragen sollte, da hatte er einen Einfall, auf den er noch Jahre später stolz sein würde.

„Wissen Sie, ich habe heute Frühdienst, das heißt ich habe schon Feierabend, und Sie haben doch gleich Ihre Mittagspause. Wenn Sie nichts anderes vorhaben, würde ich Sie gerne zum Mittagessen einladen. Und zwar schlage ich vor, wir gehen in das Drehrestaurant auf dem Rheinturm. Das Wetter ist heute ideal. Da sieht man bis hinter Köln, Wuppertal, Duisburg und Mönchengladbach.“

„Oh, das ist aber nett! Gute Idee. Ich wollte zwar etwas einkaufen, aber wenn ich jetzt zu Mittag esse, dann kann ich heute Abend sowieso fasten.“

„Das haben Sie doch wirklich nicht nötig.“ Martina war relativ groß gewachsen und schlank. Sie hatte wirklich eine gute Figur, einzig die Hüftknochen standen etwas hervor. Sie zog die Aufmerksamkeit auf sich, mit ihren rötlichen, leicht lockigen Haaren und den großen, grünen Augen, aber am meisten mit ihrer Fröhlichkeit. Sie hatte ein offenes, zugewandtes Gesicht, vermittelte Sympathie auf den ersten Blick und verbreitete in jeder Gesellschaft sofort Frohsinn im wahren Sinn des Wortes.

„Ich sage nur noch kurz meinem Chef Bescheid, dass ich eventuell etwas länger in der Pause bleibe.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Eine Runde dauert, glaube ich, schließlich schon eine Stunde.“

Erik fischte sein Mobiltelefon aus der Tasche und tippte auf der Tastatur die Nummer der Auskunft, ließ sich mit dem Restaurant verbinden und fragte nach einem Tisch am Fenster. Er hatte Glück. Mitten in der Woche waren noch Plätze frei. Und so saßen sie wenig später hinter den schrägen Glasscheiben und ließen den Niederrhein und das Bergische Land an sich vorbeiziehen. Die Landschaft musste aber in ihrer Aufmerksamkeit zurückstehen hinter dem gegenseitigen Interesse, den Kontakt über die Linsen auszudehnen. Sie redeten über Gott und die Welt, berichteten ein wenig aus ihrem privaten Umfeld und mussten feststellen, dass sie beide am linken Niederrhein, zwischen Neuss und Mönchengladbach aufgewachsen waren, in dieselben Kneipen und Diskos gegangen waren, sich eigentlich hätten schon früher begegnen müssen. Natürlich überzog Martina ihre Pause kräftig. Zusammen mittags zu essen, wenn auch nicht in so feinem Rahmen, wurde für beide bald zur schönen Gewohnheit. Nach gut einem Jahr hatten Sie die preiswerte, große Wohnung nahe Neuss gefunden und unternahmen alles, sie auch auszufüllen. Noch ein Jahr später richteten sie ein Kinderzimmer ein.

 

06:05

Erik beschleunigt wieder auf die linke Spur, als wolle er der Erinnerung davonfahren, die dieser liebliche Ausblick eben in ihm auslöst. Die sanfte Stimmung will so gar nicht zu diesem Tag passen, an dem er zum Mörder werden würde.

Auf der anderen Seite der Autobahn dagegen liegt das gigantische Loch des Tagebaus Garzweiler. Der weite Blick zeigt die Gewalt, die der Landschaft angetan wird. Soweit man sehen kann, ist das Dreieck zwischen Köln, Mönchengladbach und Aachen von Menschenhand umgestaltet worden. Die Höhenzüge sind Abraumhalden mit geometrisch gestaltetem Profil und künstlich angelegten Wegen und Anpflanzungen. Alle Bäume haben die gleiche Höhe. Wo die Tagebaue rekultiviert werden, entstehen geplante Landschaften und kleine Seen. Furchterregend liegen dazwischen die offenen Wunden der Bergwerke, die unterschiedlichen Farben der Erdschichten, von den Baggern freigelegt und von der Sonne erhellt. Die riesigen, häuserhohen Maschinen, mit denen dieser Raubbau seit Jahrzehnten betrieben wird, sehen in den gigantischen, bis zu fünfhundert Meter tiefen Löchern wie Spielzeuge aus. Dazwischen fließen noch die Erft und die Rur, an ihren Ufern die letzten gewachsenen, historischen Dörfer. Früher lebten hier gut katholische Bauern. Nach dem Weltkrieg blieben einige Zwangsarbeiter unterschiedlicher Nationen und Bekenntnisse wegen der Arbeitsmöglichkeiten im Lande. Vertriebene aus den östlichen Kohlerevieren kamen hinzu und mussten eingegliedert werden. Viele Ortschaften, die dem Bergbau weichen mussten, entstanden an anderen Stellen wieder, mit der Vorsilbe Neu.

Die Einwohner wurden frühzeitig und ausführlich vorbereitet. Sie wurden großzügig entschädigt und die meisten verbesserten sich durch die Umsiedlung, wenn man nur ihre Wohnsituation und die Infrastruktur betrachtet. Niederrheinische Straßendörfer wurden ersetzt durch Neubausiedlungen für Bergarbeiter. Aber auch nach vierzig, fünfzig Jahren will sich dort eine dörfliche Tradition nicht wieder einstellen. Nachbarschaften und familiäre Bindungen lassen sich nicht so einfach verpflanzen.

Es wurde laufend neues Bauland geschaffen, was die Lage zusätzlich verschlechterte. In der Nähe der Großstädte, durchzogen von Autobahnen und gut ausgebauten Landstraßen, ist es für junge, aufstrebende Familien allzu verlockend, im rheinischen Revier ein Häuschen mit Garten zu erwerben. Die Immobilienpreise stiegen ständig, manch ein Alteingesessener wird durch Spekulation reich. Andere können sich ihre Wohnung kaum noch leisten. Die öffentliche Verwaltung versucht, diesen Wildwuchs zu ordnen und zu beherrschen. Starre Strukturen, wie Kreise und Gemeinden, taugen dazu aber nur eingeschränkt. Also versuchen die Niederrheiner diese zersiedelte, zerrissene Gegend auf eigene Art zusammenzuhalten, ein eigenes Netz zu knüpfen, nicht geheim, aber ohne jedes Aufsehen. Ein Geflecht von Beziehungen und Bekanntschaften, das ihnen die nötige Sicherheit und Chancen bietet. Ohne alte Schulfreunde, Nachbarn, nicht mehr unter einem Dach mit der Familie, treten Vereine, Cliquen, Kneipen und Kollegen an deren Stelle.

Und nun? Die Kraftwerke würden verschwinden, die Tagebaue sollen der Einfachheit halber binnen Jahrzehnten zu Seen werden. Manche hoffen auf Tourismus, andere befürchten Klimaänderungen, wegen der großen, neuen Wasserflächen im Weststau des Bergischen Landes. Auf den Halden würden Windparks wachsen. Landwirtschaft wird zukünftig unmöglich sein. Wie werden die Niederrheiner dann ihren Lebensunterhalt verdienen?

Landwirtschaft

Ferdinand Bongards klagte selten. Für ihn war das Glas immer mindestens halb voll. Jede Veränderung sah er als Chance und er wusste immer schnell, wo sein Vorteil zu holen war. Als der Plan für den Tagebau Garzweiler II herauskam und er sah, dass der Bongertshof mittendrin lag, wurde er schon am nächsten Tag bei der Rheinbraun AG vorstellig. Er nahm sich einen guten, teuren Anwalt. Sein Vater, der schon dem Familiensitz nachtrauerte, obwohl er noch gar nicht angetastet war, hatte dafür weder Verständnis noch Geld übrig. So kam Ferdi auch noch frühzeitig in Kontakt mit der Bank. Bei Rheinbraun waren am Anfang die Mittel reichlich, das Bedürfnis groß, schnelle Erfolge vorweisen zu können. Sie warteten geradezu auf jemanden, der so positiv kooperierte wie Ferdinand Bongards. Als alles eingestielt war, saß er mit seinem Vater am Küchentisch.

„Schau mal Papa, wenn Du zurückguckst auf die alten Tagebaue, da hat am Ende Rheinbraun doch immer das bekommen, was sie wollten. Da haben viele Leute viel Energie und Geld in den Widerstand gesteckt, und dann haben sie doch nur ein paar Jahre Aufschub erreicht. Das wird jetzt wieder so sein.“

„Du hast ja recht, Junge, aber ich will hier nicht weg. Der Hof, den hat mein Großvater gebaut, so ein schöner großer Hof. Ich hab‘ den nach dem Krieg wieder aufgebaut. Das Land, das hat uns doch reich gemacht. Das kann man doch nicht aufgeben!“

„Papa, ich habe besprochen, dass Du und Mama hier bleiben könnt. Das dauert bestimmt noch zehn oder zwölf Jahre, bis die hierherkommen. Da habt Ihr viel Zeit, Euch einen schönen Alterssitz zu suchen. Und Du weißt, dass ich an den Viechern eh keinen Spaß habe. Die müssen sowieso weg. Ob ich dann von hier aus ackere, oder ob ich woanders eine moderne Halle hinstelle, das ist doch kein großer Unterschied. Ich will ja auch heiraten. Dann will ich aber auf keinen Fall mit meiner Frau und Euch unter einem Dach wohnen. Das gibt nur Ärger.“

„Wir sollen also ins Altersheim. Du willst Dich nicht um Deine alten Eltern kümmern. Es tut mir jetzt leid, dass ich Dir den Hof schon überschrieben habe. Aber hau bloß ab, dann sind wir geschiedene Leute.“

„Papa, wenn Du das nicht einsiehst, wenn Du nicht mit der Zeit gehen willst, dann verbaust Du mir auch meine Zukunft, und das mache ich nicht mit. Mir tut leid, dass wir uns jetzt streiten, aber wenn es so ist, dann ist es so.“

Ferdi kannte weder Freunde noch Verwandte, wenn es um seinen Vorteil ging. Er hatte sich am Rand von Rommerskirchen schon ein schönes Grundstück ausgesucht, wo er mit dem Rheinbraungeld eine eindrucksvolle Villa hinstellte. Auf der anderen Seite des neuen, großen Lochs hatte er sich über vierzig Hektar schönen, fetten Boden gesichert, die fast zusammenhingen und leicht zu bewirtschaften waren. Da stellte er noch eine Maschinenhalle hin, denn in Zukunft wollte er nur noch produzieren. Er hatte in den letzten Jahren schon einen guten Riecher bewiesen, welches Produkt gesucht war, wo die Preise steigen würden. Und da pfiff er auf nachhaltige, verantwortungsvolle, bäuerliche Landwirtschaft. Der Boden musste liefern, und wenn die Natur nicht mitkam, dann wurde gedüngt, bewässert, Schädlinge bekämpft. Wenn keiner Rotkohl anbauen wollte, oder liefern konnte, dann machte Ferdi das gerade. Dann guckte auch niemand so genau hin, welche Rückstände die Ware noch hatte, wenn sie entsprechend begehrt war.

Das Zeug, was er auf seinen Äckern verspritzte, konnte man natürlich nicht im Raiffeisenmarkt kaufen. Aber in Südosteuropa, zum Teil auch in Belgien oder Irland bekam man noch das eine oder andere. Es gab in Europa durchaus Hersteller, die Produkte im Katalog hatten, die eigentlich nur für Afrika oder Asien gedacht waren. Und was hergestellt wird, ist auch zu kaufen. Der eine oder andere Kollege zeigte ebenfalls Interesse an der Chemie. So gesellte sich bald parallel zur Produktion von pflanzlichen Lebensmitteln ein schwungvoller Chemikalienhandel, dem fast zwangsläufig eine Sparte mit Tierarzneimitteln – genauso illegal – folgte. Gerade plante Ferdi den Bau eines eigenen Labors. Das alles brachte ihm richtig viel Geld ein, und bald Ärger mit den Behörden und den Gesetzeshütern.

*

Auf dem Geflügelhof der Familie Krings breitete sich die Rote Kükenruhr unter den armen Tieren aus. Die Parasiten liebten es, wenn die Vögel unter natürlichen Bedingungen lebten. Es war mühsam, aber erfolgsversprechend, dagegen vorzugehen, im Wesentlichen reichte eine Medikamentengabe sowie gründliche und regelmäßige Desinfektion der Ställe. Der Tierarzt kam und brachte das Antibiotikum und das Desinfektionsmittel gleich mit.

„Doktor, dat is äwwer e Jebrassele. Jitt et da nix angeres, irjendwat dat schneller wirkt un leischter anzewende is?“

„Herr Krings, ich verschreibe Ihnen jetzt das, was bei uns üblich und erlaubt ist. Das wird Ihre Bestände sanieren und Sie können sicher sein, dass die Tiere keinen Schaden nehmen. Ja, Sie haben recht, es ist ein bisschen Arbeit, aber der Gesetzgeber legt Wert auf Unbedenklichkeit und Nachhaltigkeit. Der Faktor rationelles Arbeiten spielt da keine Rolle. Ich weiß aber sehr wohl, dass es früher Anwendungen gab, die weniger Mühe machten. Wenn Sie solche Mittel vorziehen, dann kann ich nicht damit dienen.“

„Sondern wer, wenn nisch Sie?“

„Das sage ich Ihnen natürlich auch nicht, das müssten Sie schon selbst rausbekommen …“

Kaum dass der Arzt vom Hof war, rief Krings seine jüngere Schwester.

„Bella, Du könnst misch mal e bittske helfe.“

Melanie, in der Grundschule meistens „Mella“ gerufen, was sich mit dem Fortschreiten Ihrer Entwicklung zu „Bella“ wandelte, war der Hof nach der Schule ein bisschen zu wenig, und da sie damals die Fernsehjournalistin Bettina Tietjen so gut fand, hatte sie in Dortmund Journalismus und Kommunikation studiert. Aber Großstadt war nichts für sie, sie war immer nur das Landei, und so kam sie wieder zurück. Nicht allein. Melanie war kein Kind von Traurigkeit und hatte die Partyszene in vollen Zügen genossen. Vielleicht war es Schicksal, vielleicht mangelnde Vorsicht, fünf Monate nach ihrer Rückkehr kam Paul zur Welt. Ein Vater wäre nur schwer zu ermitteln gewesen, eine Abtreibung stand am katholischen Niederrhein außer Frage. Paul wuchs auf dem Hof in der Großfamilie auf. Melanie hatte aber ihre Lektion gelernt. Sie wollte fortan Situationen immer vollständig selbst kontrollieren. Das galt auch für ihren Beruf. Der Ausrutscher schmerzte umso mehr.

Sie hatte nach der Geburt bei der Neuss-Grevenbroicher Zeitung angefangen. Und dann: Immer nur Betriebsjubiläum und neunzigster Geburtstag, Bürger stehen auf gegen Fluglärm, Neubau Kunstrasenplatz und als Höhepunkt mal ein Interview mit einem Landtagsabgeordneten, das hatte sie sich anders vorgestellt. Also kümmerte sie sich wieder um das Geflügel, und nebenbei hatte sie sich selbständig gemacht. Sie machte in ländlichem Rahmen Public Relations für kleine Betriebe in der Nachbarschaft. Das lief nach einiger Zeit fast wie von selbst. Natürlich schrieb sie, wenn gewünscht, weiter für die örtliche Presse. Sie kannte ja so viele Leute und kam so viel herum, da erfuhr man schon einiges. Vor allem hatte sie, aus der Schulzeit und dem Verein, ein paar Freunde bei der Polizei und bei der Feuerwehr. Dann pflegte sie noch eine Verbindung zur Anmeldung im Krankenhaus. So wusste sie Bescheid, was in der Gegend so passiert.

Melanie war schön, das war ihr klar. Sie war sich ihrer naturgegebenen Qualitäten bewusst, aber sie war nicht eitel. Sie verstand, dass es nicht ihr Verdienst war, wusste aber auch, wie sie es zu ihrem Vorteil einsetzen konnte. Zwei Merksätze hatte sie sich während der Ausbildung wirklich zu Herzen genommen. „Es gibt keine zweite Chance für den ersten Eindruck“ und „Kleider machen Leute“. Sie erlebte, wie ihre Kollegen in Jeans, ausgebeulten Jacketts und T-Shirts zu jedem Termin gingen. So waren sie schon optisch immer Fremdkörper, bei Beerdigungen ebenso wie beim Kindersportfest. Kein Wunder, dass nur die mit ihnen sprachen, die sich einen Vorteil davon versprachen, in der Zeitung zu stehen. Die interessanten Informanten wichen ihnen aus. Melanie trug meistens schwarze Designerjeans. Dazu hatte sie immer ein gedecktes und ein farbiges Oberteil dabei, ein Paar Business-Schuhe und ein Paar Sneaker. Sich im Volk zu bewegen, wie ein Fisch im Wasser, das forderte schon Mao.

Große Teile der Gesellschaft im Braunkohlerevier waren außerdem noch sehr traditionell, um nicht zu sagen von religiösem und männlichem Chauvinismus geprägt. Wenn man das wusste, konnte man als selbstbewusste Frau damit spielen. Ein ausgeprägtes Parfüm oder ein tiefes Dekolletee zeigte noch Wirkung bei bestimmten Männern. Kitschiger Schmuck, oder eine unmögliche Bluse zum sonst perfekten Outfit, irritierten Frauen. Und irritierte Menschen verlieren den Fokus auf ihr Handeln und erzählten manchmal mehr, als sie ursprünglich vorhatten.

Für Melanie war es nicht schwer, eine Quelle für verbotene Tierarzneien aufzutun, und kam so an die Adresse von Ferdinand Bongards. Ihr Bruder bekam auf diese Weise einfach anzuwendende und schnell wirksame Mittel gegen die Geflügelkrankheit. Ein paar hundert Tiere gingen zwar drauf, und Krings vertraute darauf, dass Eier vom Bauern auf dem Wochenmarkt nicht auf Rückstände geprüft werden würden. Melanie hatte einen Ansatzpunkt für eine gute Story. So war allen geholfen.

Das Zusammentreffen

„Bongards.“

„Guten Tag, Herr Bongards, hier ist Melanie Krings. Ich freue mich, dass ich Sie sofort am Telefon habe.“

Wohlbedacht hatte Melanie den Samstagmorgen für Ihren Anruf gewählt. Die Wahrscheinlichkeit, sich erst, wenn auch telefonisch, an einer Sekretärin vorbei drängeln zu müssen, war so viel geringer. Und das hatte funktioniert.

„Herr Bongards, hätten Sie einen Moment Zeit für mich?“, fragte sie mit der sanftesten Stimme, die ihr möglich war.

„Ja, wer sind Sie denn?“

„Melanie Krings, aus Mönchengladbach. Wir haben uns bisher noch nicht kennengelernt. Ich arbeite als freie Journalistin und ich interessiere mich vor allem für lokale Themen. Und Sie sind ja eine lokale Prominenz.“

„Na ja, wenn Sie meinen. Schießen Sie mal los.“

„Also: eins meiner augenblicklichen Projekte ist eine Reportage über Unternehmer, die den Strukturwandel durch den Kohleabbau am besten gemeistert haben und was deren Ansichten darüber sind, wenn jetzt der Kohleausstieg wieder zu Veränderungen in der Region führen wird.“

„Ja, da haben sie wohl recht. Das hat ja vieles verändert und wenn RWE jetzt den Laden zumacht, dann wird sich mancher wieder umsehen.“

„Ja, da sind wir also schon einer Meinung. Und darüber würde ich mich gerne mal mit Ihnen unterhalten. Es ist noch nicht klar, ob das etwas für die Printmedien wird, oder ob ich den WDR da mit ins Boot hole. Je nachdem würde ich mir nur ein paar Notizen machen wollen, oder wir machen ein richtiges Interview. Das wäre auf jeden Fall aber auch ein Forum für Sie, falls Sie etwas in die Öffentlichkeit transportieren wollten.“

Melanie kam sich selbst etwas seltsam vor, so auf den Putz zu klopfen. Aber es schien zu wirken.

„Frau Krings, da kann ich Ihnen natürlich einiges dazu erzählen.“

„Das hoffe ich. Wann hätten Sie denn Zeit für mich?“

„Da muss ich mal in meinen Kalender gucken, meine Sekretärin ist ja heute nicht da. Aber das geht ja heute alles am Rechner. Passt es Ihnen besser vormittags oder nachmittags? Wie wäre es am nächsten Donnerstag?“

„Ja, Donnerstag wäre gut, und gerne am Nachmittag, so gegen vier Uhr. Ich komme dann in Ihren Betrieb.“

„Gut. Donnerstag dann. Wissen Sie, wie Sie zu mir kommen? Ist ganz einfach. Wenn Sie von Erkelenz über die Landstraße nach Lövenich fahren, dann sehen Sie ein großes Schild „Bongertshof“. Da biegen Sie links ab und dann sehen Sie die Hallen schon, die stehen ganz alleine.“

„Ok, vielen Dank, und dann sehen wir uns am nächsten Donnerstag. Ich freue mich.“

„Gleichfalls und auf Wiedersehen.“

*

Melanie sah das Hinweisschild von weitem und erschrak. Ihr war klar, dass der Bongertshof, der sie erwartete, kein niederrheinischer Vierkanthof aus dunklen Ziegeln sein würde. Was sie jetzt sah, hatte mit bäuerlicher Wirtschaft schon äußerlich nichts mehr gemein. Jeder Gedanke an Drei-Felder-Wirtschaft, Fruchtfolge und Nachhaltigkeit schwand sofort angesichts dieses Industriekomplexes aus großen Hallen, Silos, Tanks, Kühl- und Fördertechnik. Hier wurden Lebensmittel hergestellt. Fast schon zynisch mutete da der breite Blühstreifen an, der die planierten Areale auch optisch von der Landstraße trennen sollte. Melanie lenkte ihren Polo vor die Halle und die Tür mit dem Schild „Büro“. Die Sekretärin öffnete ihr und brachte sie zu Ferdinand Bongards. Wenig später servierte sie noch Kaffee und Gebäck.

Bongards war ein großer, fast schon massiger Mann, mit kurzen, rotgrauen Haaren, triefblauen Augen, glattrasiert und mit gepflegten Händen, gekleidet in feinste Landhausmode. Er kam hinter seinem riesigen Schreibtisch hervor und begrüßte Melanie mit übertriebener Freundlichkeit. Hinter dem Schreibtisch raschelte es und sie hörte ein heiseres, leises Bellen. Ein kleines, schwarzes Gesicht mit verkniffenen Augen lugte zwischen den Tischbeinen durch.

„Frau Krings – wie schön! Willkommen auf dem Bongertshof.“

Sie drückte ihm ihre Karte in die Hand und schaute sich in dem Büro um.

„Sehr geschmackvoll – und sehr groß. Ich freue mich, dass es geklappt hat.“

Melanie sah mit einem Blick, dass es keinen Besucherstuhl gab. Mit großer Geste geleitete Bongards sie zu einer schwarzen Ledergarnitur und bot ihr einen tiefen Clubsessel an. Sie trug ein dunkelgraues Kostüm mit einem geschlitzten Rock. Jetzt wusste sie, dass die Spitzenstrümpfe wohl die falsche Wahl gewesen waren, eher wunde Stelle als Wucherpfund. Melanie war verunsichert. Zum Glück kamen der Kaffee und Kekse. Leider hatte sich aber auch der Hund aufgerafft. Ein alter, schwarzer, wurstförmiger Kurzhaardackel schleppte sich trippelnd und japsend quer durch den Raum. Sein hellbraunes Feuchtglied schleifte fast über den Teppich.

„Das ist Nero. Nero mag junge Damen.“

Melanie ließ eine Hand aus dem Sessel hängen und streichelte das Tier. Nero reagierte mit einem „Wuff“ und machte sich dann an Melanies Bein zu schaffen, das sie in ihrer Position kaum wegziehen konnte. Sie spürte, wie die Laufmasche ihre Wade hochlief.

„Sag‘ ich doch.“, grinste Bongards. Dann nahm er den Hund mit einer Hand zur Seite und belohnte ihn mit einer Handvoll Gebäck. Um die Peinlichkeit zu überspielen, tauschten Bongards und sein Gast Höflichkeiten aus, sprachen über Belanglosigkeiten und die augenblickliche energiepolitische Lage. Nach dem Vorgeplänkel bemühte sich Melanie um eine würdige Haltung in dem Sessel. Sie zog ihr Brillenetui und den Notizblock aus der Tasche hervor, setzte die dünne Hornbrille auf, legte ihr Telefon auf den Tisch und schaltete es auf Aufnahme.

„Herr Bongards, bevor wir zu Ihrer Sicht der Zukunft kommen, will ich mal skizzieren, was von Ihnen bekannt ist. Sie waren einer der ersten – heute kann man sagen weitsichtigen – Unternehmer in der Braunkohlegegend, die von der Umstrukturierung aktiv profitiert haben.“ Bongards lehnte sich selbstgefällig zurück. Melanie mühte sich in eine gerade Sitzhaltung, bis sie nur noch auf der vorderen Kante des Sessels hockte. „So weit, so gut. Wo ich noch Informationsbedarf habe, ist Ihr anderer Geschäftszweig. Sie handeln und vermitteln auch Agrochemie und Tierarzneimittel, abseits und jenseits des normalen Angebots. Was wollen Sie mir dazu erzählen?“

Das Lächeln wich sofort aus Bongards Zügen.

„Frau Krings, oder darf ich sagen Melanie, wir waren doch bis jetzt auf einer Wellenlänge, haben uns gut verstanden. Ich höre jetzt zwischen den Zeilen Ihrer Frage, dass Sie eigentlich Absichten haben, die Sie mir bisher so nicht offen gezeigt haben. Ich denke, dass wir das Interview jetzt mal sein lassen. Wenn wir wirklich zusammen einen Beitrag erstellen wollen, der für andere interessant, um nicht zu sagen wertvoll ist, dann müssen wir erst einmal uns selbst besser kennenlernen. Ich mache Ihnen den Vorschlag, Sie besuchen mich mal am Wochenende auf meiner Jagd in der Eifel. Da wären wir ganz für uns, könnten die Natur genießen, und hätten viel Zeit zu reden. Was halten Sie davon?“

„Herr Bongards, nehmen Sie mir es nicht übel, aber: Was bilden Sie sich ein? In bin keine Escort Dame. Ich erwarte Informationen, keine Affäre. Ich recherchiere ein brisantes Wirtschaftsthema. Da können Sie sich einbringen, oder nicht. Das ist Ihre Entscheidung, Ihre Chance. Meine Arbeit ist aber unabhängig davon, und Sie werden sie dadurch nicht beeinflussen.“

Bongards schwieg. Er lief am großen Fenster, das ein Panorama des Niederrheins zeigte, auf und ab. Dann wandte er sich wieder an Melanie, zeigte auf ihr Telefon.

„Machen sie mal das Ding da aus!“ Melanie gehorchte.

„Melanie, ich bin ein verträglicher Mensch, aber ich weiß mich zu wehren. Ich habe in dieser Gegend Sachen begriffen, die sind für andere noch böhmische Dörfer. Das, was ich tue, nutzt allen hier. Es ist vielleicht nicht nach den Regeln, aber hier macht ja auch nicht der Staat die Regeln, sondern erst Rheinbraun, heute ja RWE, und jetzt die Grünen. Wenn man die Zeitung aufschlägt, dann steht da nur etwas über die Knilche in Düsseldorf, Berlin und Brüssel. Aber hier gibt es Beheimatete, die sagen, was am linken Niederrhein Phase ist. Die muss man kennen.

Und in meinem Bereich mache ich die Regeln und meine Leute passen auf. Sie sind noch jung. Ich will Ihnen nicht schaden, weil ich Sie irgendwie mag. Ich könnte Sie kaputt machen, glauben Sie mir. Wirtschaftlich sowieso. Wenn ich wollte – da könnt Ihr Eure Vögel in den Goldspeicher von Onkel Dagobert sperren - kriegen die dermaßen die Seuche, dass die Familie Krings nie wieder ein Huhn oder ein Ei verkauft. War nicht Ihr Bruder vor kurzem hier? Aber auch Ihre Persönlichkeit, Ihren Ruf, könnte ich unreparierbar beschädigen. Will ich aber nicht.“

Er setzte sich Melanie gegenüber auf die Armlehne der Ledercouch, beugte sich vor, und blickte sie fest und bestimmend an. Nero knurrte aus seiner Ecke.

„Melanie, Sie schreiben mir jetzt Ihre Kontonummer auf Ihren Block da. Ich zahle ihnen ein sehr gutes Beraterhonorar und Sie vergessen das Thema. So machen wir das. Es gibt so viele andere Sachen, über die Sie noch schreiben können.“

Melanie fühlte sich überfahren. Dieser große Mann, der fast oberhalb von ihr saß. Sie kauerte starr in einer Ecke des Sessels, nicht nur wegen der mangelhaft bedeckten Schenkel. Das war alles eine Nummer zu groß für sie. Sie war sprachlos und es herrschte eine bleierne Stille. Bongards hatte alles gesagt. Sie kritzelte ihre IBAN auf ein Blatt Papier. Dann stand sie auf, klemmte ihre Tasche unter den Arm und ging ohne Gruß. Als sie in ihrem Auto wieder auf der Landstraße war, dachte sie, dass sie das alles später noch korrigieren können würde. Tat sie aber nicht.

*

„Volkhard? - Ferdinand hier. Es gibt da eine kleine Journalistin, Frau Krings, die verdient Beobachtung. – Jawohl, mache ich. – Und Du denkst bitte an den Schnüffler? - Jawohl. Glück Auf!“

 

06:08

Erik konzentriert sich aufs Fahren. Morgens ist die Autobahn leer. Der Mercedes schafft zweihundertfünfzig. Geschwindigkeitsbegrenzungen interessieren Erik morgens nicht. Mit über hundertachtzig Stundenkilometern nimmt er die nächste Ausfahrt, bremst den Kombi an der ABS-Regelgrenze zusammen, sodass die Warnblinker automatisch angehen. Dann lenkt er energisch in die Kurve und zirkelt das schwere Auto im Drift bis vor die Ampel. Schnelles Fahren muss geübt werden, sonst kann man es nicht, wenn man mal muss. Zum Glück ist er ja jetzt wieder allein unterwegs. Bernie, dieser Trottel, den er für ein paar Wochen auf dem Beifahrersitz hatte, hätte sich vor Angst schon wieder in die Hose gemacht. Schnelles Fahren macht aber auch Freude. Erik weiß, dass er sich damit auch etwas abreagieren kann. Zurzeit ist es fast etwas zu viel Aufregung, zu viele Baustellen, zu viel zu tun. Am meisten belastet ihn, dass er weiß, dass und was er tun muss, tun wird. Es wird grün und er biegt links auf die Landstraße ab, noch zweimal rechts und er wäre fast zu Hause. Stattdessen fährt er geradeaus weiter und macht einen kleinen Umweg, um Brötchen zu holen.

Dat Jröne Eck

Der Pützhof bestand seit Jahrhunderten, ebenso wie die Straßenkreuzung. Von Süden nach Norden, parallel zum Rhein, waren hier schon die Römer unterwegs. Ebenso in Richtung Westen, wo man, über das Römerbad in Aachen, vom Rhein ins Limburgische kam. Zum Schutz vor marodierenden Horden von Söldnern war an dieser markanten Stelle mit der Zeit ein gewaltiger Vierkant-Wehrhof entstanden. Dicke, dunkle Backsteinmauern, fast ohne Fenster zur Straße, ein hohes und breites Hoftor in einem Torhaus lag hinter einem schmiedeeisernen Pendant mit gewaltigen Sandsteinpfeilern. Zwischen den Toren gab es seinerzeit eine Zugbrücke und einen wahrhaftigen Wassergraben, gespeist durch den Pütz, die namensgebende Quelle, deren römischer Name „puteus“ einen Hinweis auf das Alter des Hofes gab, und die noch heute im Brunnen mitten im Hof sprudelte. Seit ein paar Dutzend Jahren war der Graben zugeschüttet, das Eisentor stand etwas sinnlos in der Gegend herum, mitten auf einem großen, asphaltierten Parkplatz. Das Hoftor war traditionell grün gestrichen.

Als die europäische Landwirtschaftspolitik überhandnahm, hatte der alte Pütz einen Großteil seiner Felder an seinen Nachbarn verpachtet. Er hatte kurz nach dem Krieg angefangen, seinen Betrieb zu mechanisieren, und fand bald Freude daran, die Maschinen auch zu reparieren. Es folgte die Vertretung und Werkstatt für die grünen Deutz Traktoren. Das Ganze ergänzte eine Tankstelle genau an der Ecke – natürlich BP. Seitdem hieß der Pützhof nur noch „dat Jröne Eck.“ Dabei blieb es auch, nachdem der alte Pütz nicht mehr war. Stefan Pütz, der Junior, führte die Werkstatt fort, für normale Autos und in letzter Zeit mehr und mehr für Oldtimer. Dazu handelte er mit Reifen. Seine Schwester Helga hatte auf dem verbliebenen, angrenzenden Land ein paar Gewächshäuser gebaut und in einem Seitentrakt einen florierenden Gartenmarkt aufgebaut, und als die Tankstelle geschlossen werden musste, blieb das, was man am Niederrhein ein Büdchen nennt, ein Kiosk, in dem es Brötchen, Bockwurst, Bier, Bild und Blumen gab. Und der Bus hielt vor dem Eingang, sodass am Jrönen Eck von morgens bis abends Betrieb war. Die Geschwister waren reich und sorgenfrei, aber einsam.

Die Pütz standen früh auf, meistens mit dem Sonnenaufgang. Noch vor dem Frühstück sah Helga nach ihren Pflanzen, Stefan machte mit Norbert, dem Hund, eine Runde um den Hof. Wie jeden Morgen scharrte Norbert lange und umständlich neben der Wiese im Erdreich, bis er sich endlich abhockte. Stefan schaute sich derweilen um. Vor dem grünen Tor, an der Werkstattseite, stand zu seiner Überraschung ein großer Anhänger mit einer unscheinbaren, schmutzigen, grauen Plane, der ihm aber sehr bekannt vorkam. Stefan nestelte mit den Fingern an einem Spalt der Plane, sodass er mit einem Auge hineinblicken konnte. Er musste grinsen. Der Tag fing gut an.

 

06:12

Erik hält den Wagen auf dem Vorplatz des Kiosks an. Es ist um diese Zeit das einzige Auto. Vorsichtig späht er durch die Scheiben, ob der junge Pütz hinter der Theke steht. Dem möchte er nicht begegnen. Ein junges Mädchen, eine Schülerin, die sich vor der Schule noch ein paar Euro verdienen will, steht an der Kasse. Er betritt den Laden. Es riecht nach dem gesamten Sortiment, das die Tankshops so zu bieten haben, überlagert von dem Geruch der Bockwürste, die gerade im Dampftopf warm wurden. Norbert begrüßt Erik mit einem Schwanzwedeln.

„Morgen. Zwei normale Brötchen, bitte. Und eine Neuss-Grevenbroicher.“

„Macht zwei-neunzig.“ – „Danke. Und Tschüss“

Kaum hat Erik den Laden verlassen, kommt Stefan Pütz aus dem Lager nach vorne. Nach seiner Runde macht er gewöhnlich den Kiosk auf und verbringt dort den frühen Morgen, bevor die Werkstatt öffnet. Das lässt er sich nicht nehmen. Schließlich gibt es hier nicht nur alles, was man um diese Zeit brauchen könnte, sondern es ist auch die regionale Drehbühne, Treffpunkt und Nachrichtenzentrale, aktueller und informativer als die Zeitungen, die verkauft werden, oder das Radio, das Tag und Nacht spielt.

„Wor dat nit dä Stoffels von Eikenrath?“

„Ich weiß nicht, Herr Pütz. Ich kannte den Herrn nicht.“

„Schad. Dä wär misch jetz zurecht jekomme! Äwwer ejal, isch treff‘ em nämlich hück nomiddach. Dem han isch jet zu verzälle, do wird de Oore machen, die dumm Sau, dumme!“

„Na, dann ist es ja nicht so schlimm. Dann können Sie ja heute Nachmittag mit ihm reden.“

Stefan Pütz ist eine bemerkenswerte Erscheinung. Sehr groß, stämmig, nicht dick, aber auch kein Muskelprotz. Meist trägt er Arbeitskleidung, also Arbeitshose und T-Shirt oder – im Winter – Sweatshirt, manchmal auch Zivil, dann tauscht er die Arbeitshose gegen eine Jeans. Auf dem Körper sitzt ein passender Kopf, mit einem offenen, jungenhaften Gesicht und kurzen, blonden Haaren. Stefan ist im besten Alter, wobei er sich nicht sicher ist, ob er das Beste noch vor, oder schon hinter sich hat. Manche denken, dass Stefan etwas langsam sei, weil er bei Sticheleien nicht kontert, bei Witzen nur schmunzelt. Aber er zeigt seine Gefühle nur nicht so offen, er ist die Ruhe selbst. Er geht zum Kaffeeautomaten und zapft sich einen großen Becher voll, dann greift er sich ein belegtes Brötchen, das seine junge Angestellte gerade fertiggemacht hat. Er beißt herzhaft hinein, sieht das Mädchen an.

„Sehr lecker, die Fleischwoosch, mit e bitzke Knobblauch, ne? Un auch mit dem Salatblatt. Juut!“

„Das ist Mortadella, Herr Pütz.“

„Och ejal, jedenfalls lecker.“

Mit seinen fettigen Fingern fischt er sich ein Automagazin aus dem Regal und setzt sich, wie jeden Morgen, auf einen Stuhl der kleinen Gästeecke, um die Ankunft seiner Mitarbeiter zu erwarten. Norbert macht einen Katzenbuckel, streicht um seine Beine und jault seltsam, bis er seinen Teil des Brötchens abbekommt. Stefan muss wieder an seinen Kunden aus dem Nachbarort denken, den er nur knapp verpasst hat. Lange war es her, fünf Jahre oder so, dass Erik Stoffels mit der alten Karre zu Stefan kam. Damit fing der ganze Ärger an. Damals sah es im Jröne Eck noch anders aus, aber es waren gute Zeiten.

 

06:17

Erik passiert leise, und mit höchstens dreißig, das Ortsschild von Eikenrath. Am Ende des Ortes biegt er in das Sträßchen „Am Feldrain“ ab, fährt bis zum Ende, wendet und parkt – stets abfahrbereit – vor seinem Kombi und Hannas Smart Cabrio.

Er drückt den Start-Stopp-Knopf, der Motor bleibt stehen. Die Nacht war lang und langweilig. Zuerst hat er sich in rauchigen Kneipen und zugigen Tankstellen rumgedrückt, dann kam der Anruf und er musste noch in diesen Holländerpuff, und schließlich hat er zu lange im Auto gesessen und gewartet. Er dehnt und reckt sich etwas im Fahrersitz, atmet kräftig ein. Jetzt in den Whirlpool und dann ein gemütliches Frühstück mit Hanna. Er steigt aus und umrundet den grünen Kleinwagen und sein Privatauto, einen 10 Jahre alten Ford Kombi. Das ist für ihn zur Routine geworden, auch jetzt, nachdem er die Kameras montiert hatte. Die Reifen sind anscheinend in Ordnung, an den Radbolzen sind keine Werkzeugspuren zu erkennen. Zehn Schritte sind es bis zur Haustür, er schließt auf. Aus dem Badezimmer scheint Licht unter der Tür durch und das kleine Radio plärrt EinsLive. Also erst Frühstück, dann Badewanne. Erik benutzt die Gästetoilette und wäscht sich wenigstens Gesicht und Hände. Etwas erfrischt geht er in die offene Küche, nimmt Butter, Marmelade, Aufschnitt und Käse aus dem Kühlschrank, und stellt alles auf den Tisch, startet die Kaffeemaschine. Er holt die Brötchen aus der Tüte, legt sie auf den Toaster, um sie noch etwas anzurösten. Dann holt er den Behälter mit dem Obst, schält einen Apfel und eine Banane, schneidet sie in kleine Würfel, fügt ein paar Beeren dazu und füllt alles mit Haferflocken, Joghurt und Milch in eine Schüssel. So mag Hanna ihr Müsli, und es ist eine liebe Routine, dass er ihr das so oft wie möglich zubereitet. Das tägliche, gemeinsame Frühstück sorgt für die Fixpunkte in ihrem Leben.

Die Kaffeemaschine gurgelt, der Toaster verströmt seinen typischen Geruch. Er wartet auf Hanna. Zum Zeitvertreib zieht er sein Mobiltelefon aus der Tasche. Im Kalenderwidget liest er: 17:30h Geburtstag Jana Verhoven.