Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über www.dnb.de abrufbar.

Erstausgabe 2022

© Klaus Maria Fischer

Lektorat/ Korrektorat: Stefanie Höfling

Gestaltung: KMF

Herstellung und Verlag: BoD Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7562-7947-0

Inhalt

Verlaufen

Das Laufband ist ein seltsames Gerät. Die Menschen stellen sich darauf, um ihre Glieder in Bewegung zu bringen und dadurch die eigene Gesundheit zu befördern, ohne jemals vom Fleck zu kommen. Manche sehen das als Vorteil. Keine unerwarteten Steigungen, keine plagenden Mücken bei Hitze, keine irreführenden Weggabelungen, an denen man sich verlaufen könnte. So dachte auch Reinhold Pörtner, Seniorpartner des Unternehmens Strategisches Investment Kapital SIC, mit C, wie er gern betonte, des Angelsächsischen wegen, was sich globaler, weltoffener, ja schlicht erfolgreicher anhöre. Reinhold Pörtner begab sich seit nunmehr neun Jahren regelmäßig auf eines dieser Geräte, die weltweit in allen besseren Hotels zur Verfügung stehen; zweimal die Woche, um dadurch einen Ausgleich für jenen körperlichen Schwung zu schaffen, den seine sitzende Tätigkeit als Topmanager schmerzlich missen ließ.

Letzten Dienstag fühlte sich Reinhold Pörtner besonders gut in Form. Seine Geschäfte hatten ihn in jene Stadt geführt, in der einst der Protest gegen die eingeführte Teesteuer einen Unabhängigkeitskrieg auslöste. Am frühen Morgen, nach seiner inneren Uhr allerdings zur Mittagszeit, betrat er in Sportkleidung den Fitnessraum des Fünfsterne-Hotels, in dem er logierte, nahm sich ein bereitliegendes Handtuch und eine Flasche Wasser und stellte sich zwischen die beiden Handläufe eines Gerätes neuester Bauart. Ein großer Bildschirm mit Berührfunktion, vielfältige Darstellungs- und Kontrollmöglichkeiten, Konnektivitäts- und Vernetzungs-Schnickschnack, der Reinhold Pörtner zunächst irritierte. Doch nach erfolgreicher Bedienung einiger sensitiver Knöpfe setzte sich das Band unter ihm in Gang, und er fand Gefallen an der Vielseitigkeit der Maschine. Die Trainingseinheit begann in gemächlichem Trab und würde sich wie gewohnt langsam steigern, bis er sein Tagespensum von dreißig Minuten bei einer mittleren Geschwindigkeit erreicht hätte. So empfohlen von seinem Arzt, den er pflichtbewusst jährlich aufsuchte.

Das Treten auf der Stelle ist nicht jedermanns Sache. Manche sehen in Laufbändern die perfektionierte Weiterentwicklung des Hamsterrades. Bewegung suggeriert Fortkommen, auch in einem Käfig. Zur Vermeidung solcher negativen Assoziationen ersannen die Erbauer jenen Schnickschnack, in den sie die Bedieneinheit des modernen Apparates integrierten. So wäre während des stupiden Laufens maximale Ablenkung und Unterhaltung möglich. Neben einem Internetanschluss standen auch einige berühmte Laufstrecken als Videosequenz zur Verfügung, die den sich Abmühenden die Zeit scheinbar verkürzte. Reinhold Pörtner wählte zunächst den Weg zum Franz-Josef-Gletscher in Neuseeland, entdeckte dann jedoch die Seite mit den Statistikfunktionen und, das war das Besondere daran, die Darstellung derselben in Linien und Kreisen, ganz wie in Pörtners Verkaufsprospekten. Geschwindigkeit zehn, Steigung null, Zeit pro Kilometer sechs, Leistung hundertfünfundneunzig. So weit, so gut. Einer plötzlichen Eingebung folgend, kam der Sportler auf den Gedanken, dass sich das auch steigern ließe. Schon fünf Prozent brächten, auf die Distanz des Marathons gerechnet, zwölf Minuten. Er wählte die Geschwindigkeit zehn Komma fünf und fühlte sich dadurch sogleich seinem Unternehmen heimelig nahe. Fünf Prozent war eine Zahl für Zaghafte und Omas mit Sparstrumpf. Er blieb nie im einstelligen Bereich. Leben ist Wachstum. Und mehr Wachstum bedeutet mehr Leben. Auf diese verblüffend einfache Wahrheit konnte er alle seine Kunden einschwören, und noch während er schmunzelnd daran dachte, drückte er das Knöpfchen so lange, bis dort elf stand. Unter drei Stunden fünfzig für den Marathon, überschlug er. Eine Strecke, die er noch nie absolviert hatte. Sicherheitshalber kontrollierte er seinen Puls mithilfe der eigens dafür installierten Handsensoren der Maschine. Er war von hundertfünfunddreißig auf hundertfünfundfünfzig gestiegen. Geht doch.

Was einmal geht, geht auch zweimal, eine oft bewiesene Tatsache bei seinen Geschäften, und die erneute Steigerung um eine Einheit von elf auf zwölf sind streng genommen ja noch nicht mal mehr zehn Prozent, wohingegen das Ergebnis auf der klassischen Distanz bei nunmehr drei Stunden dreißig sich richtig sehen lassen könnte. Schon nach wenigen Minuten spürte Reinhold Pörtner ein Pochen an seinen Schläfen. Puls hundertsiebzig. Theoretisch zu viel, aber was bewies schon die Theorie? Die hatte ja auch noch keine Finanzkrise zuverlässig vorausgesagt. Zudem hatte sich der Schnürsenkel seines linken Schuhs gelöst. Ärgerlich. Er würde die Situation bereinigen wie 2008, als die Aktienkurse sich halbierten, als von Notprogrammen und Entlassungen die Rede war. Alles nicht mehr als das notwendige Übel einer längst fälligen Bereinigung, und danach, so lehrt die Erfahrung, ginge es nur umso steiler wieder bergauf. Etwas kürzertreten, sich sammeln und dann, wenn der Konkurrenz bereits die Luft ausginge, mit neuer Kraft und Vollgas an allen vorbeiziehen. Reinhold Pörtner nahm seine Geschwindigkeit auf sechs zurück, stellte sich links und rechts des Bandes auf die Brüstung der Maschine, schnürte beide Schuhe nach, trank einen Schluck Wasser, wischte sich mit dem Handtuch den Schweiß von der Stirn und stieg dann wieder ins Geschäft ein. So sehen Sieger aus. Schwitzen, ächzen, immer in Bewegung, das Ziel fest im Visier, unnachgiebig, stark. Zurück auf Geschwindigkeit zwölf.

Seit der kurzen Pause war ihm flau im Magen, das war nichts Neues angesichts der acht- und neunstelligen Summen, die er täglich bewegte. Aber sein Ziel stand ihm nun klarer vor Augen denn je: unter drei Stunden. Es wäre machbar. Der Puls von hundertsiebzig konnte ihm nichts anhaben. Er hatte sich schon einmal über zwanzig Prozent gesteigert. Er war fit wie kein anderer Achtundfünfzigjähriger. Und auch die Jungen haben es kaum besser drauf. Der Sieger stellte sich vierzehn Komma fünf ein. Er lief und schwitzte und schwitzte und lief und lief und schwitzte. Dann verschwamm der Bildschirm, und es wurde dunkel um ihn.

Als er wieder zu sich kam, konnte er sich kaum regen. Es fühlte sich an, als hätte er sich alle Knochen gebrochen. Der Schädel brummte. Eine Frau, die aussah wie die alternde Ella Fitzgerald, hatte sich über ihn gebeugt. Sie trug einen weißen Kittel und hantierte an dem Bett herum, in dem er lag. Sie bemerkte Pörtners Erwachen und sprach ihm Mut zu. Das wird schon wieder, Honey.

Schade, dachte ich, der kein Zurück kennt, der alle gleich macht, wirklich schade. Dann halt beim nächsten Mal.

Fuitina

Zerzaustes Haar, zwei Wochen altes graues Gestrüpp am Kinn. So stand ich vor dem Schaufenster des Geschäftes. In der verschmutzten Scheibe spiegelte sich mein Gesicht in der Nachmittagssonne. Ränder und Falten um Augen und Mund. Eine Laune, die mich im Lauf des Tages niedergeschlagen hat wie eine Nebelbank, feuchtkalt übers Land gelegt. Ich hatte die Trampelpfade der Besuchermassen in der portugiesischen Hauptstadt verlassen, nachdem mich die schiere Menge der Menschen zu überfluten drohte, und befand mich in einer wenig belebten Seitengasse der Altstadt. Keine Chance, auch nur einen Palast, eine Kirche oder den Turm von Belém in Ruhe zu betrachten. Ja, es war noch nicht einmal möglich, sich in der Stadt der Seefahrer, von der ich mir so viel versprochen hatte, gefahrlos zu bewegen. Kurz zuvor hatte mich eine Gruppe Engländer an der Tür der Tram der Linie achtundzwanzig überrannt und gefährlich zum Taumeln gebracht, als gelte es, ein Fußballstadion schnellstmöglich zu räumen. Das hatte meinen jetzigen Ärger wohl ausgelöst. Vor allem aber versetzten mich die in der Stadt verstreuten Installationen von Fotoplakaten in Unruhe. Schwarz-weiße, lebensgroße Aufnahmen vom Tag des Protests. Bilder von Menschen, die sich stumm um Panzer scharten. Ein ängstlich-neugieriges Kind, das sich an das Bein eines Mannes klammert. Eine Blume im Gewehrlauf eines Soldaten, der erleichtert in die Kamera schaut. Erinnerungen an jenen schicksalhaften Tag, der als Nelkenrevolution in die Geschichte einging – an den Originalschauplätzen. Betroffenheit. Entsetzen. Ein Gefühl, als wäre man dabei gewesen, verstärkt noch durch die Ignoranz der meisten Touristen gegenüber dem Dargestellten, das bei einem Palast-Selfie nur stört. Kritische Kunst taugt nicht als Hintergrund für die Unkultur des Überflüssigen. Wie konnte es sein, dass ich von diesen Umstürzen mitten in Europa, und zu einer Zeit, als ich bereits zur Schule ging, nichts wusste?

Ich tauge nicht zum Touristen, fragte mich nicht zum ersten Mal, warum ich mir das überhaupt antue, eine Städtereise, allein. Die Antwort darauf fiel seit Wochen gleich aus: Missmutig in einem kleinen Appartement im Berliner Osten aus dem Fenster auf Baustellen zu starren, ist keine Lösung für einen wie mich, einen Weltumsegler ohne Heimathafen, ohne Boot. Also raus. Unter Leute.

Das Fenster, vor dem ich jetzt stand, ging indes nach innen. Ein Plakat klebte an seinem linken Rand, eine Art Preisliste, wie ich aufgrund der übereinander notierten Eurobeträge am rechten Rand schloss. Ein Barbiershop. Eine Erinnerung an Kindheitstage, die meine unsortiert vor sich hintreibenden Gedanken in eine ganz andere Richtung lenkten: Alte, teilweise vergilbte Fotos, die mir meine Mutter oft gezeigt hatte. Darauf war ein Mann mit einem gezwirbelten Schnurrbart zu sehen, der neben einem Drehsessel mit Arm- und Fußlehnen posiert. Im Hintergrund eine Kommode mit Spiegel, auf der ein Rasierpinsel neben einer Seifenschale liegt. Und ein Rasiermesser. Früh lehrte mich meine Mutter die korrekte Bezeichnung dieser Utensilien, die ich selbst nie benutzt habe. Ich rasiere mich trocken. Mein Großvater kehrte nicht aus dem Krieg zurück, hieß es damals, und danach gab es keinen Barbierladen mehr. Auch meine Mutter verließ mich früh.

Ich war nicht bereit, mit meiner Vergangenheit auf diese Weise konfrontiert zu werden. Ich bin es vermutlich nach wie vor nicht. Aber immerhin, ich darf hoffen, aus dieser Sache mit einer Narbe davonzukommen.