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Chaim Noll

Die Synagoge

Roman


Figuren und Handlung dieses Romans sind frei erfunden. 
Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen und deren Namen sind nicht beabsichtigt.

Impressum und Copyright

Erste Auflage
Verbrecher Verlag Berlin 2014
www.verbrecherverlag.de

© Verbrecher Verlag 2014

Lektorat: Kristina Wengorz
Satz und Ebook-Herstellung: Christian Walter

ISBN Print: 978-3-943167-77-1
ISBN EPUB: 9783943167924
ISBN Mobipocket: 9783943167931

Printed in Germany

Der Verlag dankt Steffi Gimmerthal, Sannah Jahncke
und Phillip Zöhrer.

Gegen zwölf Uhr mittags erhält der Beduinen-Forscher Gilad Kesselman einen Anruf in seinem Büro, er hört die Stimme seines Kollegen Christopher Cane, und diese sonst so beherrschte und gleichmütige Stimme hat heute etwas Flaches, Gehetztes, als wäre der Sprecher Asthmatiker oder auf andere Weise kurzatmig. Auch was ihm Cane mitteilt, ist ungewöhnlich: Er bittet ihn, in sein Haus zu kommen, er brauche Rat und Hilfe, außerdem einen Zeugen »wegen der Polizei«.

Kesselman fragt nicht groß, steht auf, schließt sein Zimmer ab, steigt auf sein Fahrrad, fährt den Betonweg an den Instituten lang, tritt ordentlich in die Pedale. Das Institut für Anthropologie ist bis heute in einer flachen Baracke untergebracht. Ein neues Gebäude, gestiftet von einer amerikanischen Familie namens Sonnenschein, befindet sich seit Jahren im Bau, sollte schon im vergangenen Jahr fertig sein, unterdessen sind rätselhafte Pausen eingetreten, manchmal steht die Baustelle wochenlang still. Gerüchten zufolge werden die von der Familie Sonnenschein für den Bau bestimmten Gelder von der Verwaltung der Universität zurückgehalten, vorübergehend veruntreut, wenn man so will, um dringende Verbindlichkeiten zu erfüllen, die durch Bauprojekte in der Stadt entstanden sind. Angeblich geschieht es auf Veranlassung des Präsidenten der Universität, eines im ganzen Land geschätzten Mannes. Auch der Präsident sitzt natürlich in der Stadt, eine Stunde Autofahrt von hier, falls er nicht im Ausland ist, um neue Gelder aufzutreiben. Versuche der Direktion des Wüsteninstituts, sich über die Verzögerung zu beschweren, hatten bisher eher negative Auswirkungen, etwa, dass die ferne Verwaltung dem Institut neue bürokratische Prozeduren auferlegte, bei der Bewilligung von Forschungsgeldern zum Beispiel, oder auf andere Weisen den Kollegen in der Wüste ihre Möglichkeiten demonstriert. Inzwischen haben sich Gilad und seine Kollegen daran gewöhnt, den Rohbau des neuen Institutsgebäudes als stumme Silhouette vor einem strahlend blauen Himmel zu bewundern, vor einem Himmel, der manchmal höhnisch zu lächeln scheint, und weiterhin in den engen Räumen ihrer Baracke zu arbeiten.

Der höhnisch lächelnde Himmel – er selbst muss jetzt lächeln über dieses anthropomorphe Bild. Ganz und gar unjüdisch. Der Himmel als belebter Ort, Gott als Gestalt mit lächelndem oder zornigem Gesicht – andere Völker glauben an derlei. Die Juden haben sich durch ihre Fixierung auf Gottes Gestaltlosigkeit um manche populäre Ausdrucksmöglichkeit ihres Glaubens gebracht, wie sie in anderen Religionen beliebt und selbstverständlich sind. Dabei wurde das Verbot der Verbildlichung, obwohl es mit ältesten Texten begründet wird, erst relativ spät durchgesetzt. Die Bet-Alpha-Synagoge aus dem sechsten Jahrhundert zeigt in ihrem ­berühmten, erst vor einigen Jahrzehnten ausgegrabenen Fußbodenmosaik zur Akedah-Geschichte eine Hand, die aus einer Wolke kommt, die Hand, die Abraham an der Opferung seines Sohnes hindert, offensichtlich doch »die Hand Gottes«. Später haben die Rabbiner durchgesetzt, dass auf solche Bilder verzichtet wurde. Wenn man die religiösen Gewohnheiten anderer Völker kennt, scheint diese Haltung nicht ganz unbedenklich. Sie hat, einfach durch das Verbot einer Verbildlichung und Vermenschlichung des Angebeteten, zu einer nicht ungefährlichen Isolation geführt …

Er tritt die Pedale mit einer Kraft, die man seinem ausgemergelten Körper nicht zutraut. Seit seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr, als er im Jom-Kipur-Krieg verwundet wurde, kämpft Gilad um sein Körpergewicht. Doch in einem anderen Sinn als die meisten Männer seines Alters: gegen seinen Hang abzumagern. Die ägyptische Granate kostete ihn Teile seines Magens und Zwölf-Finger-Darms, es galt als Wunder, dass er überlebte. Das Leben in der Wüste hat ihn geheilt, er hat in dieser Umgebung seine innere Ruhe gefunden, sein Körper ein Gleichmaß des Lebens, das er brauchte, um zu genesen. Seit fast dreißig Jahren bereitet ihm Elsbeth, seine Frau, gehaltvolle Gerichte, wie sie in ihrer dänischen Heimat üblich sind, nur dass sie die Unmengen Butter, die man dort verwendet, durch Olivenöl ersetzt. Chanan, der Arzt, wiegt ihn einmal im Monat und verordnet bei Bedarf Präparate zur Gewichtszunahme. Auf diese Weise ist er Mitte Fünfzig geworden, meist beschwerdefrei, in der Regel gesund.

Vor dem Haus seines Freundes Cane stehen ein Polizeiwagen und andere Autos, Gilad schiebt sein Fahrrad in den Eingang, lehnt es gegen die Mauer des Anbaus. Tritt in einen Raum, der von lauten Männerstimmen erfüllt ist, in dem Männer sitzen oder stehen, stämmige Männer in Uniform, mitten unter ihnen, blass und hager, der Hausherr. Wie kommt es, fragt sich Gilad, während er auf seinen Freund und Nachbarn zugeht und ihm die Hand gibt, dass man einem Menschen sofort ansieht, wenn er ins Unglück geraten ist? Gilad weiß nichts vom Feuer in der Synagoge, von der verbrannten Torah, vom explodierten Jeep, vermutet daher das Schlimmste, das, was leider hierzulande immer wieder vorkommt: Mit Adam ist was passiert. Jeder Vater, dessen Sohn bei der Armee ist, fürchtet diesen Tag. Ihm ist in diesem Augen­blick nicht gegenwärtig, dass Adam zwei Jahre älter ist als sein eigener Sohn und schon seit einiger Zeit aus der Armee entlassen.

Gilad hält sich im Hintergrund, schweigt, behelligt seinen Nachbarn Cane nicht mit Fragen, nicht mal mit einem fragenden Blick. Der Polizist am Tisch, ein beleibter Mann mit zwei silbernen Sternen auf den blauen Schulterstücken, füllt ein mehrseitiges Formular aus, stellt dann und wann eine Frage, die von den jüngeren Polizisten beantwortet wird. Ein Mann in Jeans und T-Shirt läuft durchs Haus, macht Fotos von Räumen, Türen, Treppen, schließlich von Gegenständen, die auf dem Esstisch in der Küche ausgebreitet sind, darunter zerdrückte, leere Pillenschachteln, die ein anderer Mann, der weiße Gummihandschuhe trägt, aus dem Mülleimer gefischt hat. Einer von Hollys jungen Hunden kommt in die Küche, sieht die Fremden, verschwindet wieder. Um Gilad kümmert sich niemand. Sein Freund Cane hat ihn kurz vorgestellt: »Professor Kesselman, ein Kollege aus der Universität.«

Im Obergeschoss laute Männerstimmen, offenbar aus Hollys Zimmer, dessen Tür offen steht. Ein Ruf: »Hier! Unterm Bett!« Schritte poltern die Stufen hinab, ein Polizist erscheint, der einen Gegenstand in den Armen trägt wie eine Mutter ihr Kind, eine Torah-Rolle, groß, schwer, in einem Mantel aus Silber. Es ist wirkliches Silber, nicht versilbertes Blech, reines, massives Silber, stellenweise, in den Vertiefungen der Reliefs, schwarz angelaufen. Gilad weiß von dieser Rolle, alle im Ort wissen von ihr, und er kennt wie alle die Gerüchte über ihren Wert. Ihm stockt der Atem, er versteht sofort. Drogen, ewige Geldprobleme, niemand hat gern Schulden bei Beduinen. Er geht einen Schritt auf Christopher zu, als er sieht, wie sich dessen graues Gesicht verzerrt. Der Offizier am Tisch hebt den Blick, schaut erst auf die Rolle, dann auf den alten Cane. Fragt: »Willst du dich nicht setzen?«

Cane setzt sich auf das Sofa in seinem Wohnzimmer und seufzt. Es ist das Seufzen eines Menschen, der seit Langem an etwas leidet und keine Abhilfe fand, Schweigen für das Klügste hielt und nun erlöst ist, weil das Schweigen ein Ende hat. Weil alles offen liegt, mit einem Schlag. Gilad geht in die Küche, gießt Wasser in ein Glas, bringt es seinem Freund Christopher, der mit seiner welken Altmännerhand danach greift, es in einem Zug leertrinkt, nochmals seufzt. Die Torah-Rolle wird behutsam in den blauen Sessel gesetzt, als sei sie lebendig, dem Sofa gegenüber, auf dem der Offizier und der Hausherr Platz genommen haben, jeder an einem Ende, zwischen ihnen eine schwarze Aktentasche.

Auch der Offizier seufzt. Langt nach der Aktentasche, holt ein weiteres Formular heraus, legt es vor sich auf den Couchtisch. Seinen Bewegungen ist anzusehen, wie wenig Lust er hat, von Neuem mit dem Ausfüllen und Schreiben zu beginnen.

»Wir erstatten dann noch Anzeige wegen Diebstahls«, sagt er mit einer Stimme, die überraschend sanft klingt. Stumm sitzt der alte Cane auf dem Sofa und starrt die Torah-Rolle an, als sähe er so etwas zum ersten Mal. Was durchaus möglich ist, nach Gilads Dafürhalten. Er kann sich schwer vorstellen, aus welchem Anlass Christopher je in einer Synagoge gewesen sein sollte. Solange er ihn kennt, hat er alles Jüdische gemieden, Schriften, Bräuche, Gegenstände. Obwohl er seit Jahrzehnten hier lebt. Und nun kommt die Synagoge sozusagen zu ihm ins Haus …

Der Polizeioffizier hat begonnen, mit einem blauen Kugelschreiber das Formular auszufüllen, wobei er ein früheres, bereits ausgefülltes als Vorlage benutzt.

»Und das haben wir noch gefunden, in seinem Rucksack …⁠«, ruft ein Polizist auf der Treppe und hält ein graues, flaches Päckchen hoch, eine Videokassette. Der Offizier wendet sich an den Mann am anderen Ende des Sofas: »Hast du einen Video-Rekorder im Haus, Professor?«

Cane nickt.

»Dürfen wir ihn benutzen?«

»Bitte.«

Auf dem Bildschirm zeigt sich nach einigem Geflacker ein weiter, schwach beleuchteter Raum, ein heller Steinfußboden, der in Stufen übergeht, die Stufen führen zu einer schmalen Plattform, dahinter eine mit rotem Samt ausgeschlagene Nische zwischen hölzernen Halbsäulen. Mit einer Bestürzung, die kurz seinen Herzschlag aussetzen lässt, erkennt Gilad den Torah-Schrank der hiesigen Synagoge. Er geht einmal im Jahr dorthin, am Versöhnungstag, wenn fast alle Bewohner der Siedlung in die Synagoge gehen, um ihre Kinder das Schofar hören zu lassen, das Widderhorn. Und da die Synagoge inzwischen drei oder vier Jahre alt ist, war er mindestens drei-, viermal dort, dazu kommen zwei Bar Mizvot, an die er sich erinnert, und die Torah-Lesung von Jerry Weissgolds ältestem Sohn, als er geheiratet hat. Elsbeth ist nie mitgekommen, sie fand, es genüge, wenn einer von ihnen hingeht, das tue der Höflichkeit vollauf Genüge, und mehr sollte es nicht sein.

Das Video zeigt die drei Rollen im Torah-Schrein, dann zerrt eine Hand die rechts stehende, weniger kostbare, im hölzernen Mantel, stellenweise mit dünnem Silber plattiert, zieht sie aus der Nische, über den Rand, die schwere Rolle fällt kopfüber ins Bild, schlägt auf die Stufen vor dem Schrein, mit einem schlimmen Geräusch, das der tonlose Film nicht wiedergibt und das der Zuschauer dennoch zu hören meint. Dann sieht man eine Hand aus dem aufgerissenen Mantel das Pergament herausziehen, auch dieses Geräusch glaubt der Zuschauer zu hören: Rascheln, Reißen, Knistern dünner Ziegenhaut. Das Bild gleitet weg, Unterbrechung. Als der Film wieder einsetzt, ist die Rolle bereits am Brennen. An mehreren Stellen hat der unsichtbare Akteur Bündel flammender Buchseiten auf die Pergamentfläche gesetzt, in die sie sich langsam hineinfressen.

»Genug«, sagt der Offizier. Der Bildschirm wird dunkel. Die im Raum verteilten Männer beginnen, sich wieder zu rühren. Gilad wagt einen Blick auf das Gesicht seines Freundes Christopher. Es ist ganz ausdruckslos. Nur der Atem des alten Mannes geht heftig, als wäre er schnell gelaufen. Der Offizier steht auf, beugt sich über den Couchtisch, klaubt seine Papiere zusammen, setzt die Mütze auf. Andere Männer tragen Taschen aus dem Haus. Die Torah-Rolle soll, wie der Offizier zum Abschied sagt, gleich in die Synagoge zurückgebracht werden, man habe sie fotografiert und ein Protokoll über ihren Fund im Zimmer des Verdächtigen angefertigt, das genüge.

Gilad geht als Letzter, nachdem er Christopher versichert hat, er könne ihn jederzeit anrufen und auf seine Hilfe zählen. Auf dem Weg in sein Haus, das Fahrrad am Lenker schiebend, denkt er an Holly, an die Geschichte damals, an seine erste Verhaftung und seine lange Reise nach Europa. Für einen so schwierigen und labilen Jungen war Europa mit seinem tief verwurzelten Judenhass kein gutes Klima.

Gilads Vater kommt aus Berlin, ist zum Glück beizeiten weg, mit der Jugend-Aliyah, und nie wieder hingefahren. Obwohl man ihn mehrmals eingeladen hat. In den Neunzigerjahren fingen sie dort an, die »jüdischen Stätten« wiederzuentdecken, die zerstörten Synagogen zu restaurieren und all das. Dann haben sie, ohne dass man es so richtig mitbekam, heimlich und hintenrum, wie sie alles tun, Hunderttausende russische Juden zu sich ins Land geholt, regelrecht gekauft, arme Leute aus der früheren Sowjetunion. Sie gaben ihnen Arbeit, den alten Leuten Rente, viel Geld für ihre Verhältnisse, gutes Geld, deutsches Geld, und füllten mit ihnen die verwaisten Gemeinden auf. Heute brüsten sie sich vor aller Welt mit dem »jüdischen Leben« in ihrem Land. Sein Vater hat darüber nur den Kopf geschüttelt. Seine Familie ist zum größten Teil von den Deutschen ermordet worden, Eltern, Großeltern, zwei seiner Geschwister, nur Gilads Vater, damals elf oder zwölf, und seine ältere Schwester entkamen. Weil sie mutig genug waren auszuwandern. Man vergisst das heute: Es gehörte mehr Mut dazu, sich für das Weggehen und Weiterleben zu entscheiden, als für Bleiben und Sterben. Gilad weiß, dass es unter jungen Israelis Mode ist, nach Europa zu fliegen, zu tun, als sei es ein normaler Ort, als sei nichts gewesen, und wirklich, heute ist es kein Problem, keine wirkliche Gefahr mehr, mit dem Staat Israel im Rücken, mit dem Pass in der Tasche, eine andere Situation als jemals in den vergangenen zweitausend Jahren.

Jeder Anthropologe weiß, dass ein Volk ohne Land von den sesshaften Völkern verachtet und verdächtigt wird. Das ist einfach menschlich, elementar menschlich. Es gibt Juden, die reden sich ein, sie brauchten kein Land, sie wären kein Volk – sie haben einfach keine Ahnung vom Sozialverhalten menschlicher Gruppen. Die Verachtung hat sich über Jahrhunderte verfestigt, davon bleibt das europäische Bild von den Juden geprägt. Man gibt ihnen Geld, baut ihnen schöne Synagogen und Gemeindezentren, man lockt sie ins Land, weil Juden aktiv, geistig beweglich, in allen Schicksalsschlägen erfahren sind, weil sie der Wirtschaft eines Landes gut tun wie eine Frischzellenkur, doch tief im Innern überdauert die alte Verachtung. Die meisten Deutschen haben von ihren Vätern und Vorvätern gelernt, dass Juden schwache, feige, verächtliche Leute sind, die ihre Schwäche durch ihre Skrupellosigkeit kompensieren. Dass sie machtgierig sind und internationale Netzwerke bilden, zur gnadenlosen Durchsetzung ihrer Interessen. Kultur und Medien der Länder, in denen sie leben, auf verstohlene Weise beeinflussen, unterwandern, die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten manipulieren …

Er und Elsbeth haben – noch nicht lange her – ein Jahr in Frankfurt gelebt, eine Gastprofessur an der Universität. Die Deutschen, mit denen sie in Berührung kamen, erwiesen sich als aufgeschlossen, jeder Art von Judenhass abgeneigt, sogar etwas übereifrig in diesem Punkt. Doch wenn es um Israel ging, war ein Befremden spürbar, das sich rasch zu massiver Ablehnung auswuchs, wenn sie etwas, was hier geschah, nicht verstanden. Nun war es nie eine besondere Stärke der Deutschen, etwas schnell zu verstehen. Und hier in Israel entwickeln sich die Dinge sehr schnell. Es gibt vieles bei uns, was sie nicht durchschauen, deshalb liegt immer »Kritik« in der Luft, Verärgerung über eine Realität, die sich ihrer vermeintlichen Gescheitheit entzieht. Trotzdem kann man mit ihnen auskommen. Am besten, indem man nicht auf sie hört. Sie nicht allzu ernst nimmt. Sie gehen oft in die Irre und haben hinterher alles vergessen. Was sie auch immer tun, sie tun es ohne Zweifel an sich selbst, mit einer Attitüde größter Selbstgewissheit. Auf schwache Menschen macht das Eindruck. Holly war seit der Rückkehr aus Europa verändert, sagt Gilads Sohn Danny, der ihn von klein auf kennt. Auch Elsbeth hat sich darüber geäußert, nach einem langen Telefonat mit Samantha Cane, die sich Sorgen machte, weil sie ihren Sohn »nicht mehr erreichte«. Holly hat in den letzten Wochen mit kaum jemandem am Ort gesprochen, außer mit Chanan, um sich Medikamente zu holen, und das Haus nur noch nachts verlassen. Nun zeigt sich, dass es schlimmer war, als alle dachten. Er war hier, aber nur mit dem Leib, nicht mehr mit der Seele. Er hat sich in Europa infiziert: Europa ist voller Judenhass, nach wie vor. Sie nennen es heute anders, »Kritik« oder »Sorge um den Frieden«, doch es ist der alte Neid, das alte Übelwollen. Die Krankheitserreger sind in der Luft, die Leute atmen sie ein, täglich, ohne es zu wissen. Holly hat viel zerstört, er hat vor allem – was Gilad ihm besonders übel nimmt – das Leben seiner Eltern zerstört und in gewisser Weise auch das ihrer Freunde. Dennoch fühlt Gilad eher Mitleid mit Holly, Mitleid wie gegenüber einem Kranken. Sie alle hätten besser aufpassen müssen. Sie hätten sehen müssen, dass Holly Hilfe brauchte. Auch mangelnde Anteilnahme ist eine Form von Schuld.

Beim Kaffee stellt sich heraus, dass er mit dieser Sichtweise in seiner Familie nicht gut ankommt. Sein Sohn Danny, letztes Jahr Wehrdienst bei der Luftwaffe, unweit von hier stationiert, ist über Shabat zu Hause wie meist. Obwohl erst vor einer halben Stunde eingetroffen, hat er schon »davon gehört«. Empfindet aber, für Gilad überraschend, kein Mitgefühl mit seinem früheren Freund.

»Warum soll ich Holly bemitleiden?«, fragt er, Kuchen kauend. »Er hatte auch kein Mitleid. Mit niemandem. Du scheinst nicht alles zu wissen, was er letzte Nacht getan hat.«

Gilad glaubt sogar mehr zu wissen als die anderen, weil er dabei war, als in Hollys Zimmer die gestohlene Torah-Rolle gefunden wurde.

»Interessant«, sagt sein Sohn. »Da bricht ja eure ganze Theorie vom spontanen Ausraster zusammen … Er hatte seine Sinne also doch ganz gut beisammen. So ein Sefer Torah ist einiges wert, oder? Umso weniger kann ich dir folgen, Abba, dass wir ihn bedauern müssen.«

Als er die betretene Miene seines Vaters sieht, fügt er hinzu: »Und dann scheinst du nicht zu wissen, dass er anschließend ein Armeefahrzeug in die Luft gejagt hat. Überleg mal, was die Jungs, die mit dem Jeep unterwegs waren, für Ärger bekommen. Da wird eine Untersuchung eingeleitet. Sie müssen sich verantworten. Jede Menge Stress. Was würdest du sagen, wenn ich derjenige wäre?«

»Davon wusste ich nichts.«

»Wenn du nicht genau Bescheid weißt, solltest du dich da raushalten. Mal abgesehen davon, was so ein Jeep kostet. Ein amerika­nischer, ein großer, fünf Türen. Mit Ausrüstung. Zündet er einfach so an. Er kann froh sein, dass er nicht gleich mit in die Luft geflogen ist.«

Elsbeth erlöst ihren Mann aus dem wenig angenehmen Gespräch, indem sie ihren Sohn auffordert, ein weiteres Stück Kuchen zu essen, dänischen Zuckerkuchen, goldbraun, mit Butterkruste, auch Gilad könne es nicht schaden. »Du hast wieder abgenommen. Ein halbes Stück wenigstens!« Während die Männer gehorsam kauen und am Reden gehindert sind, erzählt sie von Orits Anruf und ihrer Einladung, zur Kabalat Shabat in die Synagoge zu kommen. Man wolle heute, »an diesem schrecklichen Tag«, seine Verbundenheit zeigen.

Gilad schluckt, fragt: »Hat sie das wirklich so ausgedrückt: an diesem schrecklichen Tag?«

»Wie ich es sage.«

»Sie meint den neunten November«, wirft Danny ein.

»Der war schon gestern.«

»Also, ich gehe hin«, sagt Elsbeth.

Ihr Mann kann einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken: »Du?«

»Ja, warum denn nicht? Sind Frauen dort nicht erwünscht?«

»Was heißt: nicht erwünscht … Die Ablehnung ging von dir aus. Du warst nicht ein einziges Mal in der neuen Synagoge. Du bist nicht mal mitgekommen, als Doron geheiratet hat.«

»Das ist nicht korrekt. Ich war in der Synagoge. Zur Einweihung. Als ich gesehen habe, dass dort Männer und Frauen getrennt sitzen müssen, habe ich beschlossen, nicht mehr hinzugehen.«

»Das ist in allen Synagogen so«, sagt ihr Sohn. »Auch bei uns in der Basis. Wenn das nicht so wäre … Ich meine, wenn Jungs und Mädchen zusammen sitzen würden wie im Kino …⁠« Er grinst vielsagend.

»Ja, was wäre dann?«, fragt seine Mutter und hebt ihr Doppelkinn.

»Dann wär nicht mehr viel mit Beten …⁠«

Seine Mutter stellt die Kuchenteller übereinander, legt klirrend die Teelöffel dazu, nimmt das Tablett, sagt im Aufstehen: »Der Gottesdienst beginnt um fünf. In zehn Minuten. Ich habe Orit versprochen zu kommen. Tut mir leid, ich muss gehen.«

Zu Gilads Überraschung erklärt sein Sohn, er wolle mitkommen. So, wie er ist, in Uniform. Wenige Minuten später findet sich Gilad mit Frau und Sohn auf der Straße wieder, auf dem Weg zur Synagoge. Er ist zu verblüfft, um ein Wort zu sagen. Sie laufen schweigend auf der schnurgeraden Straße zwischen dem Viertel Wüstenblick und dem »Zentrum«. Einmal gibt es eine lärmende Begrüßung, als Lior Lachman aus dem Haus seiner Mutter tritt, das an der Straße liegt, der Highschool gegenüber. Von da an geht Danny mit Lior zusammen, mehrere Schritte vor seinen Eltern, die er vergessen zu haben scheint. Die jungen Männer sprechen mit lauten Stimmen, brechen in Gelächter aus. »Mein Gott«, sagt Elsbeth an Gilads Seite, »wie groß er geworden ist …⁠«

Von ferne sieht Gilad andere Paare auf dem Weg zur Synagoge, die Sternblaus und Strassburgers, Boncourts, Ben-Gavriels, Familien, die dieses Haus sonst meiden, möglichst nicht erwähnen, und die es plötzlich dorthin zieht, als wäre es das tabuisierte, geheime Zentrum ihres Lebens. Wie es das Wort Tabu zum Ausdruck bringt, auch seine hebräische Entsprechung tamé, eine tiefe, seit Urzeiten überlieferte Ambivalenz, »heilig« und »unberührbar« in einem. Wobei das »Unberührbare« unter Umständen das Verpönte, Verachtete, aus dem täglichen Leben Verbannte meint, sodass, schon sprachlich, im Bewusstsein des Volkes dem »Heiligen« zugleich etwas Abstoßendes, zumindest Abstand Gebietendes anhaftet, etwas, womit man lieber nicht unnötig in Berührung kommt. Die Anziehung des tamé bleibt dennoch bestehen, seine geheime Faszination. Suchen uns erschütternde Ereignisse heim, besinnen wir uns seiner überlieferten Rolle im Zentrum unseres »kollektiven Bewusstseins«.

Die Synagoge ist eigentlich nichts anderes als ein Versammlungshaus, Bet haKnesset, und das steht in allen Mienen geschrieben, als man sich am Eingang begegnet, begrüßt, in die Halle tritt. Nichts weiter dabei, der Lage angemessen, wenn wir uns heute hier treffen. Für die nächste Stunde ist das, was uns sonst von hier fernhält, suspendiert. Wenn dieser Ort sonst Anlass unserer Entzweiung ist, soll er jetzt, für die Dauer einer Stunde, sein, wozu er eigentlich gedacht war: der Ort, der uns eint. Als Gilad eintritt, ist die Synagoge voller Menschen. Zusätzlich zu den blauen Samtsesseln wurden Plastikstühle aufgestellt, neben und hinter den Sitzreihen, auch im breiten Gang in der Mitte, in der Frauenabteilung. Doch Gilad findet weder hinten Platz noch am Rand, muss ganz nach vorn gehen, was ihm nicht angenehm ist, er liebt es nicht, im Blickfeld so vieler Menschen zu sein. Vorn sitzen die Männer, die immer zur Synagoge gehen, der Arzt Chanan, die Russen Danilovich und Zylberberg, Jerry, Paul, Saki Shalev und der Deutsche, auf der anderen Seite des Ganges die sieben oder acht Jungs von der Jeshivah in Jerucham mit ihrem Lehrer. Gilad wirft einen misstrauischen Blick hinüber. Die Jungs sehen ganz normal aus, obwohl sie alle weiße Hemden angezogen haben. Der Deutsche und Shalev sind im Jackett, sonst überwiegt Alltagskleidung. Eine Gruppe Soldaten in grün, Infanteristen aus der Basis draußen am Tor, sie haben die Waffen dabei, und Danny in seiner hellen Luftwaffenuniform.

In der Frauenabteilung, um einige Stufen erhöht, doch schon seit dem Eröffnungstag durch keinen Vorhang mehr getrennt, sieht es festlicher aus: Orit Weissgold, die Deutsche und einige andere tragen Hüte, man sieht glänzende Kleiderstoffe, blitzenden Schmuck. Zum Eindruck des Festlichen trägt auch die Beleuchtung bei, der Raum ist taghell erleuchtet, die Strahler an der Decke, viele Reihen, elegant in die mattweißen Platten der Lärmisolation versenkt, sind heute allesamt eingeschaltet. Während sonst immer nur jede dritte Reihe unter Strom gesetzt wird, aus Sparsamkeit. Die Lichtflut ist zweifellos das Werk von Sally Benvenisti. Er steht vorn bei den Jeshivah-Studenten und ihrem Lehrer, fest auf seinen stämmigen Beinen, den Bauch vorgeschoben, und bespricht mit ihnen, was jetzt zu tun ist.

Sally scheint den Abend zu genießen. Die Ereignisse haben ihm Recht gegeben – was auf manche Menschen euphorisierend wirkt. Während Chanan, der Arzt, erschüttert ist, blass unter seiner Bräune, stumm. Noch nie, bei keiner Krankheit, keiner Diagnose, hat ihn Gilad so tief ergriffen gesehen. Chanan starrt auf den angesengten Torah-Schrank, an dem der Samtvorhang fehlt, auf dessen Holz schwärzliche Spuren der Flammen zu sehen sind. Gilad hat es bisher vermieden, auf den Schrank zu schauen, jetzt folgt er Chanans Blick und betrachtet die schwarzen Male des Feuers. An der Wand neben dem Podium für die Kohanim ist ein Stück Wand frisch übertüncht. Jemand hat die verkohlten Talmud-Bände in die verglasten Bücherschränke zu beiden Seiten des Podiums gestellt, wo sie zur Geltung kommen wie in den Vitrinen einer Ausstellung. Was noch stärker wirkt, wahrhaft bedrückend, ist der Brandgeruch. Der ganze weite, viele Meter hohe Raum ist davon erfüllt. Ein beißender Geruch nach schwelendem Holz, brennendem Papier, Feuer, Asche. Obwohl die Flügeltüren offen stehen, auch zwei der seitlichen Fenster. Dennoch überall der Geruch, der sengende, mörderische Odem des Feuers.

Gilad ist im Stillen erstaunt über die angeregte Stimmung ringsum, trotz der sichtbaren Spuren der Untat. Der Raum brodelt von Stimmengewirr wie der Zuschauerraum eines Theaters, ehe sich der Vorhang hebt. Als freuten sich alle, die heute Abend den Weg in das sonst unberührbare Haus gefunden haben, über die Gelegenheit, einander zu begegnen. Alle Völker kennen die Zusammenkunft, die Versammlung als heilsames Ritual. Um sich ihrer Kraft, ihrer Vielzahl zu versichern, um Rat zu halten, Beschlüsse zu fassen. Immer neue Besucher finden sich ein, die Plätze werden knapp, einige junge Leute lassen sich auf dem Fußboden nieder. Vorn, unter den Jeshivah-Studenten wird etwas ausgetragen, eine Diskussion, ein Wortwechsel, der damit endet, dass einer der Jungs von den anderen in Richtung Bimah geschoben wird, von einem seiner Freunde einen leichten Schubs in den Rücken erhält. Worauf er den Schritt aufs Podium macht, einen dort liegenden Gebetsschal umlegt und, ohne die Stimme zu heben, die ersten Worte des Psalms spricht, mit dem der Gottesdienst beginnt: »Ashrej joshvej bejtejcha …⁠«

»Glücklich sind, die in deinem Hause wohnen …⁠«, wiederholt Gilad in Gedanken. Wieder geht es um ein Haus. Der Glaube wird mit einem Haus verglichen. Einer Heimat. Hinter ihm das Brodeln der Stimmen, nur allmählich verebbend, nicht alle bekommen gleich mit, dass der Gottesdienst begonnen hat. Der Gottesdienst ersetzte die Heimat, zweitausend Jahre lang. Und das symbolische Haus hat gehalten. Das ist das Wunder. Die Synagoge symbolisiert die unzerstörbare Hoffnung auf das Land. Allein dafür muss man sie lieben. Was wären wir ohne das Land? Er, Gilad, wäre nicht am Leben, sein Vater der Gaskammer nicht entkommen. Für manche mag die Synagoge Bedrückung verkörpern, Repression, Verbote – wie jedes Haus Verlust von Freiheit ist, Mauer und Wand, Geschlossenheit. Man trifft sich, um zu beten, in Wahrheit, um gemeinsam in diesem Haus zu sein. Ritu­ale stehen stellvertretend für anderes. Der Junge vorn auf dem Podium spielt den Vorgang eher herunter. Ihm ist das tägliche Beten zur Routine geworden. Gilad jedoch, der höchstens mal ein Stoßgebet gen Himmel sendet, wenn irgendwas schief läuft, eröffnet sich in diesem Augenblick sein Sinn, seine Funktion. Alle sind verwirrt eingetreten, mit dem Gefühl, dass etwas Dummes geschehen ist, man fühlt Schuld, Scham und andere hinderliche Regungen, und indem wir nun gemeinsam hier sitzen und lauschen, löst sich die Verspannung, wird das Unbehagen allmählich von uns genommen. Wodurch? Nicht durch ein blutiges Opfer wie bei den frühen Völkern, nicht durch Spektakel, Kampf oder Tanz. Nur die Wirkung des Wortes. »Nahe ist der Ewige allen, die ihn rufen, die ihn anrufen in Wahrheit«, sagt der Junge auf dem Podi­um und schüttelt mit einer nervösen Bewegung sein lockiges Haar. Gilad steht auf, macht zwei Schritte zum Regal, greift sich ein Gebetbuch. Er will den Text mitlesen. Dort ist das Geheimnis verborgen.

Beim Aufschlagen des Buches schwindet seine Aufmerksamkeit für das, was ringsum geschieht. Er liest die Amidah, das Achtzehn-Segen-Gebet, von vorn bis hinten mit, im Stehen wie alle. Für einen Anthropologen ein aufschlussreicher Text. Der Prozess der Identitätsfindung lässt sich in klassischer Klarheit, im Sinne der Thesen Émile Durkheims herauslesen: innere Stabilisierung zur Festigung der Gruppenstruktur, Schaffung eines conscience collective, eines kollektiven Gewissens, das Durkheim ein »umgrenztes System« nannte, folglich – wie bei jeder Systembildung – Vereinheitlichung und Abgrenzung gegen andere. Besonders deutlich im dreizehnten Segen, der eigentlich in der Chronologie der neunzehnte ist, weil er erst später hinzukam, nach dem Fall des Jerusalemer Tempels, und dazu gedacht war, die in ihrem Selbstgefühl erschütterte Entität gegen ihre eigenen Sekten, gegen Sadduzäer, Boethusianer, Essener und Christen zu schützen. Was weitgehend funktioniert hat. Im Sinne der Bewahrung von Struktur und Gedächtnis war das rabbinische Judentum erfolgreich.

Durkheims Schüler Maurice Halbwachs hat das Konzept vom »kollektiven Gewissen« auf ein »kollektives Gedächtnis« zurückgeführt, wobei er die Wechselwirkung dieses Gemeinschaftsspeichers mit den Gedächtnissen der Individuen untersuchte: Wie diese ihre Erinnerung mit Hilfe sozial vermittelter Kriterien werten, könne sich vice versa das »kollektive Gedächtnis« nur in den Einzelgedächtnissen verwirklichen und offenbaren. In Gilads persönlichem Gedächtnis ist der Name Halbwachs unlösbar mit dessen Tod im Konzentrationslager Buchenwald verknüpft, wo­hin die Deutschen den fast Siebzigjährigen verschleppten. Dass er gerade dieses Detail erinnert, wenn er an den berühmten Gelehrten denkt (denn Tod und Todesort eines Menschen sind nicht unbedingt das, was man zuerst mit seinem Namen assoziiert), ist mit seiner, Gilads, individuellen Erfahrung zu erklären, mit den fehlenden Großeltern, verschwundenen Onkeln und Tanten, nie geborenen Cousins oder Cousinen. Die aus der Welt Gegangenen hinterlassen weiße Flecken in der Topografie unseres Denkens – sind sie also wirklich tot? Kein menschliches Gedächtnis bewahrt Vergangenheit unreflektiert, ohne subjektive Akzentuierung und Auslese, die von der Wahrnehmung der Gegenwart beeinflusst werden, sodass letztlich das im Gedächtnis bleibt, was die Gesellschaft der jeweiligen Epoche in ihren Bezugsrahmen einzuordnen vermag. Wie ist es heute? Kann die Information, die dieses Buch übermittelt, die hier in der Synagoge regelmäßig in Erinnerung gerufen wird und ohne jeden Zweifel »gesellschaftliches Gedächtnis« darstellt, in die Bezugssysteme unserer Tage eingefügt werden? Was soll eine moderne Gesellschaft mit dieser Erinnerung anfangen?

Noch immer treffen Nachbarn ein, suchen Sitzplätze, unter ihnen Doktor Augstein, der sich neben Gilad niederlässt, auch er mit spürbarem Unbehagen, weil es so weit vorn ist. Er lächelt schief, als Gilad vom Buch aufblickt und ihn ansieht, das Lächeln ist, soweit Gilad Gesichter lesen kann, abwiegelnd gemeint. Augstein gilt als unzugänglich, manche nennen ihn verrückt. Studenten erzählen, er bekäme kaum die Lippen auseinander, verkehre mit ihnen am liebsten schriftlich, per E-Mail. In seinem Büro soll es nur einen einzigen Stuhl geben, den hinter seinem Schreibtisch, Besucher sollen stehen, damit sie nicht zu lange bleiben. Wenn der deutsche Millionär Teichberg zu ihm kommt, der die ersten Labors für seine Algenzucht gespendet hat, leiht sich Augstein Stühle von seinen Kollegen. Er wohnt am Kraterrand, in einer der Hütten mit Wänden dünn wie Pappe, die vor zwanzig Jahren von der Universität gebaut wurden, um ausländische Wissenschaftler unterzubringen, für ein oder zwei Semester, doch Augstein bewohnt die provisorische Unterkunft bereits seit zwanzig Jahren und zeigt keine Absicht, ein eigenes Haus zu bauen. Dabei sind seine Wüsten-Algen weltweit erfolgreich, er bringt der Universität Millionen ein, von ihm entwickelte Zuchtanlagen, gespeist aus Sonnenlicht, werden nach China und Afrika verkauft. Gilad hat kaum je mit Augstein zu tun, sieht ihn fast nie, obwohl ihre Baracken nur hundert Meter auseinander liegen. Er streckt ihm die Hand hin und fragt: »Wie geht es deiner Tochter?«, denn er hat wie jeder am Ort davon gehört, dass Augsteins ältere Tochter zurückgekehrt ist, nach langer Trennung, nachdem Frau Augstein vor fünfzehn Jahren mit den beiden kleinen Mädchen zurück nach Deutschland gegangen war.

Als Anthropologe weiß Gilad einiges über die nachhaltigen Folgen mangelnder Verständigung. Blockierte Kommunikation kann Krieg auslösen. Auch zwischen einzelnen Menschen. So war es mit Holly: Sie haben zu wenig mit ihm gesprochen. Das geschah nicht mal mit Absicht, eher aus Nachlässigkeit. Weil alle mit sich zu tun haben. Augstein ist von der freundlichen Anrede durch Gilad so überrascht, dass er errötet. Gleich darauf muss er aufstehen, weil alle aufstehen, um den Psalm Havu la’adonaj zu singen, der die »Stimme des Ewigen« preist, die voller Kraft und Schönheit ist, doch zugleich die Zedern des Libanon zerbrechen lässt, die Wüste erbeben, des Feuers Flammen zerstieben. Es folgt das Lied von der Prinzessin Shabat, bei dessen letzter Strophe sich das gesamte Auditorium von Neuem erhebt und zur Tür umdreht, der sehnlichst Erwarteten entgegen. Für Gilad, auf seinem blauen Sessel weit vorn, ist das Umdrehen Gelegenheit, den Saal zu überblicken. Unglaublich, wer alles gekommen ist. Alle, die irgendwie »dazugehören« wollen. Es verhält sich rätselhaft mit dem »Dazugehören«: Über Nacht kann es das Gegenteil von dem verlangen, was noch gestern galt. Bis heute Morgen war Nicht-zur-Synagoge-Gehen unerlässliches Kriterium für die Zugehörigkeit zu ihrer Gruppe. Bis Holly es durch seinen Overkill außer Kraft gesetzt hat.

Heute Abend sieht man die schärfsten Gegner der Synagoge und ihre Anhänger friedlich vereint. Er weiß von solchen Momenten aus der Literatur: Friedensschluss, Aufgabe der gruppenweisen Verabredungen, Vermischung der Zugehörigkeiten. Doch in vivo erlebt hat er dergleichen noch nie. Nechama Strempel, in Jeans und stachliger Wolle wie immer, sitzt neben Livia, die ganz in Weiß ist, in einem seidig schimmernden Stoff, drei oder vier Reihen Perlen am Hals, Gold an den Handgelenken, mit großem Hut. Gilad hat eine Schwäche für diese blonde, grünäugige Frau, die, wenn sie Deutsch spricht – Gilad versteht Deutsch noch immer ganz gut – ungeniert berlinert und Scherze macht wie Gilad sie von seiner Großmutter in Erinnerung hat. Ihre andere Nachbarin ist Ayala Berenson, eigentlich strikte Gegnerin der Syna­goge. Neben dieser sitzt, klein, blass, betont unauffällig, Debby Himmelfarb, die fast jeden Shabat für eine Stunde in die Synagoge kommt, als Unterbrechung in ihrem Morgenspaziergang, um ein wenig zu lesen und zuzuhören, obwohl sie betont, nicht an Gott zu glauben. Dann Denise, die junge Frau von Paul Drabkin, der zu den Fürsprechern der Synagoge gehört, während sie selbst dieses Haus möglichst nie betritt.

Das Lied von der Prinzessin Shabat hat eine aufgeräumte, bewegte Stimmung hinterlassen, das einzige Lied, das auch die Gegner der Synagoge mitsingen können, weil sie es aus der Kindheit in Erinnerung haben, womöglich Gedanken an verstorbene Väter oder Großväter damit verbinden. Gleich darauf liest einer der Jeshivah-Studenten mit lauter Stimme eine Passage aus dem Talmud, die eine eher ernüchternde Wirkung hat: Sie beschäftigt sich mit Problemen des Lichtanzündens und Lichtlöschens am Shabat, mit Öllampen, Dochten und Feueranzündern, die erlaubt oder verboten sind, mit der drohenden Strafe für Frauen, die am Shabat die Lichter anzuzünden vergessen (das Anzünden der Shabat-Lichter ist Privileg der Frauen, folglich trifft sie auch die Strafe bei Unterlassung), und einen Abschnitt lang mit Gründen, aus denen dann doch getan werden darf, was eigentlich verboten ist, zum Beispiel das Lichtlöschen am Shabat: aus Furcht vor Judenfeinden oder Einbrechern, im Fall von Krankheit oder »Melancholie«. Rabbi Jose ben Chalafta plädiert für Nachsicht sogar dann, wenn es aus Sparsamkeit geschieht, »um die Lampe oder das Öl zu schonen«.

Während Gilad über den eben gehörten Text nachdenkt, das Wechselspiel aus Fordern und Zurücknehmen, Gebieten und Gewähren, dieses clevere System der Umgehung, steht Sally Benvenisti vorn an der Bimah und kündigt eine Rede des Jeshivah-Lehrers an. Er nennt sie Drasha, Torah-Auslegung, wie es üblich ist am Shabat, nichts Aufregendes, doch alle spüren, dass nun die Sprache auf das kommen wird, was seit heute Morgen wie ein Schatten über dem Ort liegt. Gilad sieht den Lehrer nach vorn gehen, blass, linkische Bewegungen, dunkler Anzug, schwere, dicksohlige Schuhe, seinem Gesicht ist etwas wie unterdrückter Ekel anzusehen, als er den gesenkten Kopf hebt, als müsse er sich dazu überwinden, hier zu sprechen, überhaupt hier zu sein. Irgendwann am Vormittag hat er einen Anruf bekommen … Er ist nicht ganz so jung, wie es auf den ersten Blick schien, vielleicht Mitte Dreißig. Spricht frei, beginnt etwas konfus. Viel Zeit zur Vorbereitung hatte er nicht, wahrscheinlich hat er die Talmud-Stellen, die er zitieren wird, noch mal kurz nachsehen können, mehr nicht. Dazu muss er sie ungefähr im Kopf haben, wo sie stehen in dem Riesenwerk von mehreren Tausend Seiten …

Er spricht über den Torah-Abschnitt dieser Woche, Chayeh Sarah, »Das Leben Sarahs«, auch hier geht es um ein Haus, genauer um ein Grabmal, das erste feste Gebäude, das Abraham von den Hetitern, den Söhnen Chets, in Hebron erwarb, und mit ihm das erste Stück Land. Auch bei den nomadisch lebenden Beduinenstämmen ist der Begräbnisplatz der feste Ort in einem sonst in Bewegung befindlichen Leben. Gilad sieht den Beduinen-Friedhof auf der anderen Seite des Tals, in der Weite des steinigen Plateaus, das sich oberhalb der Oase erstreckt, weit ins Land, bis zur ausgegrabenen Nabatäerstadt, etliche Generationen liegen dort, meist in unbeschrifteten Gräbern, die ältesten Gräber sind die von Gefallenen der großen Beduinenschlacht vor hundert Jahren, in der die Azazma eine blutige Niederlage erlitten. Die schwachen Stämme blieben hier in der Gegend, blieben sozusagen »hängen«, am Abwandern gehindert, deshalb können ihre Kinder heute die Universität besuchen, während ihre früheren Feinde auf dem Sinai immer noch leben wie vor hundert Jahren. Als seine Aufmerksamkeit zum Redner zurückkehrt, hat dieser das Thema gewechselt und zitiert eine Stelle aus dem Talmud-Traktat Ta’anit: »Fünf schreckliche Ereignisse trafen unsere Vorfahren am siebzehnten Tamus, und fünf am neunten Av. Am siebzehnten Tamus wurden die Gesetzestafeln zerbrochen, wurde das permanente Tempel­opfer eingestellt, wurde Bresche in die Stadt geschlagen, wurde die Torah durch Postumus verbrannt und ein Götzenbild im Tempel aufgestellt …⁠«

Wer ist Postumus? Ein römischer Feldherr? Der Talmud weist immer die schlimmsten Übeltaten Römern zu. Ist der Name historisch belegt? Ein Synonym? Für »Römer« schlechthin? Die Römer zu beschuldigen – ein Fall von kollektivem Gedächtnis. Und aus Sicht der Wissenschaft unbestreitbar ein historiografisches Verdienst: Überliefert wurde der Blick auf Rom aus der Sicht eines unterdrückten Volkes. Als Gegenstück zu all der apolo­getischen, Rom verklärenden Geschichtsschreibung. Klar ist, dass die Verbrennung einer Torah-Rolle zu den größten Freveln gehört, die unser »kollektives Gedächtnis« kennt. Auch der nächste Fall einer verbrannten Rolle, den der Rabbi anführt, geht auf die Rö­mer ­zurück, die Ermordung von Rabbi Chanania ben Teradion, einem der aseret harugej malchut, der »zehn Märtyrer«. Haben diese Männer tatsächlich existiert? Wer fragt danach, wo es doch Schwarz auf Weiß seit Jahrhunderten »in den Büchern« steht. Das Geschriebene bildet eine eigene Wahrheit, einfach aus dem Grund, weil es länger lebt als die Objekte seiner Darstellung, die Verhältnisse, die es beschreibt. »Als die Römer entdeckten«, zitiert der blasse Lehrer, »dass er entgegen ihrem Verbot die Torah lehrte, umwickelten sie ihn mit einer Torah-Rolle, häuften Bündel von Zweigen um ihn herum und bevor sie ihn in Brand steckten, umhüllten sie ihn mit feuchten Kleidungsstücken, um seine Qual beim Verbrennungstod zu verlängern. Als die Flammen ihn umloderten und er am Rauch zu ersticken begann, fragten seine Schüler: ›Meister, was siehst du?‹ Rabbi Chanania entgegnete: ›Ich sehe die Rolle brennen, aber die Buchstaben erheben sich in den Himmel.‹«

Die Wirkung auf die Versammelten ist schwer zu erkennen. In Gilads Nähe bleiben die Gesichter verschlossen wie die von Kindern während einer Strafpredigt, die sie anstandshalber über sich ergehen lassen. Die Schriftzeichen sind im Himmel, wo sie Ewigkeit erlangen und damit Wahrheit. Eine Torah verbrennen, heißt die Botschaft dieses Buches stärken. Wie es manchmal vorkommt bei symbolisch gemeinten Taten: Sie erreichen die gegenteilige Wirkung der erhofften. Weil die dumme, brutale Untat unser Gedächtnis aktiviert. Und alles, was in unserem Gedächtnis bleibt, lebt. Der blasse junge Rabbi ist mit seiner Auslegung fertig, einen Augenblick scheint er unschlüssig, was er als Nächstes tun soll. Er macht einen halben Schritt, als wolle er zurück zu seinem Platz. Zögert. Hebt den Kopf, beginnt noch einmal zu sprechen. »Die Verbrennung einer Torah-Rolle, das ist so ungefähr … Offen gesagt, ich habe von so was hier im Land überhaupt noch nie gehört. Das ist etwas … Als ich es hörte, heute Morgen, habe ich mich gefragt: Was ist das für ein Ort? Was sind das für Leute?«

Gilad sitzt, ohne sich zu rühren, sieht den jungen Rabbi an wie alle. In der Synagoge ist es vollkommen still.

»Und jetzt, wo ich euch gegenüberstehe«, sagt der Rabbi, »finde ich, ihr seht wie Juden aus. Wie ganz normale Juden. Und die Synagoge … Ein schönes Haus. Aber irgendwas stimmt hier nicht. Ihr müsst herausfinden, was. Falls ihr Hilfe braucht … Ihr müsst es selbst wissen. Ich wünsche euch alles Gute.« Und im Abgehen, als fiele es ihm erst jetzt ein: »Shabat shalom.«

Ein Augenblick Stille. Womöglich hätten seine Worte eine spürbare Wirkung im Raum hinterlassen, eine Bewegung, Erschütterung, herrschte nicht auch an diesem Abend die Unerbittlichkeit eines Rituals, das keine Pause kennt. Noch ehe sich der Rabbi gesetzt hat, ruft Sally Benvenisti dem jungen Gal, einem Doktoranden vom Herzl-Institut, quer durch den Raum ein Wort zu: »Kadish!« Worauf Gal weit hinten von seinem Plastikstuhl aufsteht, mit einem schauderhaften Geräusch, als der Stuhl über den Steinfußboden schrammt, und mit lauter Stimme das Totengebet spricht. »Erhoben und geheiligt werde dein Name …⁠« Er sagt es jeden Shabat für seinen Großvater, der vor einigen Monaten gestorben ist und keinen anderen männlichen Nachkommen hat als ihn, weshalb Gal, obwohl er ein moderner junger Intellektueller ist, die Sache ernst nimmt. Von den Jeshivah-Studenten drehen sich einige mit erstaunten Gesichtern um, als hätten sie an diesem Ort niemanden vermutet, der fließend und fehlerlos das Kadish d’rabanan vortragen kann, die Langfassung des alten aramäischen Gebets. Rasch geht es weiter, das Ritual ist lückenlos dicht, auf das Kadish-Gebet des Trauernden folgen die Segen vor dem Shma Israel, dann das Shma selbst, gleich darauf nochmals die im Stehen zu sprechende Amidah, und als Gilad aufsteht wie alle ringsum, um den Text im Buch mitzulesen, sieht er Chanan, den Arzt, ein paar Schritte entfernt an einem der hohen, schmalen Fenster nach Norden stehen, hinaus ins Dunkel starren und weinen.

Einen anderen Mann weinen zu sehen, stürzt Gilad in Verlegenheit. Das unterdrückte Schluchzen eines Mannes zu hören. Er erinnert sich, es schon einmal erlebt zu haben, auf einer Beisetzung während des Jom-Kipur-Krieges. Obwohl man sich damals viel mehr zusammennahm als die jungen Männer heute. Fotos weinender Soldaten sind fast täglich in den Zeitungen zu sehen, und Gilad ist nicht sicher, ob dieses offene Bekennen von Schmerz und Verzweiflung der allgemeinen Stimmung zuträglich ist. Sein Sohn ist darüber anderer Meinung, er hat, als Gilad solche Bedenken anmeldete, die Schultern gezuckt und gefragt: »Warum soll man nicht traurig sein, wenn ein Freund getötet wird?« Chanan versucht, seine Schwäche zu verbergen, indem er sich zum Fenster umdreht, doch die spiegelnde Scheibe, aus einem mattgrau bedampften, stark reflektierenden Glas, zeigt allen, die in der Nähe stehen, Gilad, Abi, Danilovich, Augstein, in aller Deutlichkeit Chanans vom Weinen verzerrtes Gesicht. In Gilad, der seit Jahren Chanans Sprechstunde aufsucht, sich dort untersuchen, wiegen, Blut abnehmen lässt, dem Arzt seine Probleme anvertraut und seinen Rat einholt, löst Chanans Schwäche eine ihm selbst unerwartete Bewegung aus. Als begriffe er erst in diesem Augenblick, was geschehen ist. Abi, einen Sitz weiter, wegen seiner Erkältung selbst seit Stunden von unkontrollierbaren Sekreten irritiert, flüchtet sich, wie schon mehrmals während des Gottesdienstes, in sein Taschentuch und schnäuzt sich mit einem wütenden Geräusch. Er hat ein Päckchen solcher Tücher in der Tasche seines Jacketts, greift danach und reicht es Chanan, als er dessen nasse Wangen sieht. Chanan, ohne Abi anzuschauen, nimmt eines der weißen Einwegtücher und wischt sich die Augen.

Ein weiterer Psalm, dann das letzte Gebet, Alejnu. Als die Ersten aufstehen, um zu gehen, wird noch ein Lied angestimmt, von Rafi Malul, Professor für Politikwissenschaft, einem rotgesichtigen, derben Mann, den Gilad flüchtig kennt. Malul beginnt, mit durchdringender Fistelstimme das Lied »Jigdal Elohim Chai« zu singen, nur wenige singen mit, und Gilad, der nicht weiß, dass Malul dieses Lied in Erinnerung an seinen aus Marokko eingewanderten, vor zwei Jahren verstorbenen Vater jeden Freitagabend singt und deswegen regelmäßig zur Synagoge geht, vermutet eine Demonstration aus Anlass des Anschlags. Weshalb er still, mit respektvoller Miene stehen bleibt. Auch andere scheinen von Maluls unerwartetem Bekenntnis beeindruckt, die Stimmung ist feierlich. Nochmals rezitiert der junge Gal in großer Stille das Trauergebet. Dann, nach einem kurzen Zögern, löst sich alles auf, alle laufen, reden durcheinander, und auch Gilad tut, was alle tun, schüttelt seinen Nachbarn die Hände, Chanan, Abi und Doktor Shalev, Augstein, Danilovich und Zylberberg, lächelt, wünscht »Shabat shalom«. Chanan und Abi entfernen sich rasch, beide mit tränenden Augen, es spielt keine Rolle, ob vom Schmerz oder vom Schnupfen.

Abi muss an der Tür auf seine Frau warten, die einige Zeit braucht, die zwei Stufen aus der Frauenabteilung zu nehmen, da sie immer wieder angesprochen wird. »Man sieht dich so selten!«, ruft Ayala Berenson und umarmt ihre Nachbarin. Orit Weissgold, nach einem sekundenschnellen, prüfenden Blick auf die Perlen an Livias Hals, nennt sie »Malkah«, Königin, zeigt beim Lächeln ihre kleinen, breiten Zähne, doch Gilad findet, dass es falsch klingt. Auch Orits Versuch, Livia einzureden, »ein Religiöser, der aussteigen wollte«, müsse den Anschlag verübt haben. »Die Schrift zeigt es«, erklärt sie. »Sie haben sie schon übertüncht. Doch ich habe es gesehen, als ich heute Morgen hier war. Er hat Elokim geschrieben, nicht Elohim. Nur jemand, der von einer Jeshivah kommt, kennt die Schreibweise Elokim

»Aber wir wissen doch längst«, antwortet Livia strahlend, »dass es Holly war.«

Als sie bei Abi angelangt ist, legt der den Arm um sie. Gilad versteht die Geste, auch er sieht, wie angreifbar sie wirkt, trotz Perlen und Gold. Schon, weil sie hergekommen ist. In das bedrohte, fremde Land. Sie und Abi hätten bleiben können, wo sie waren. Und sich all die Mühen, Aufregungen, Enttäuschungen erspart.

Gilad steht neben ihnen. Er spricht stockend, leise, als Kind hatte er eine Neigung zum Stottern, die erfolgreich therapiert wurde. Abi, mit seinem dumpfen Kopf, versteht nicht gleich, was er sagt. »Wenn ihr mal wieder einen zehnten Mann braucht«, sagt Gilad, »betrachtet mich als milo’im, als Reserve. Wie bei der Armee.«

III.

Das Haus