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Für Ilona

Kapitel 1 Die neue Klasse

»Ich heiße Max. Ich bin neun und wohne im Altersheim.«

HILFE!

So hat sich Max seiner neuen Klasse auf keinen Fall vorstellen wollen! Jetzt muss ihm blitzschnell was Cooles einfallen. Bloß: Zum blitzschnellen Denken braucht man einen Kopf, der funktioniert– und keinen, der gerade abgestürzt ist wie ein Computer. Max kann nur noch gucken. Und das macht alles noch schlimmer! Weil er sieht, dass die ganze Klasse grinst wie ein Haufen Breitmaulfrösche. Und Herr Brömmer sitzt an seinem Pult und sagt keinen Ton. Dabei werden Lehrer doch dafür bezahlt, dass sie was Kluges sagen!

Am liebsten würde Max zu seinem Platz gehen und sich hinsetzen, damit ihn nicht mehr alle anstarren können. Aber er kann nicht zu seinem Platz gehen, weil er noch gar keinen hat.

»Ähm …« Max holt tief Luft. »Wenn ihr … also, ähm … Wenn ihr eine Frage habt …?«

Das mit der Frage sagt seine Mama immer, wenn sie mit einem Vortrag für die Omas und Opas fertig ist. Weil das angeblich die Stimmung lockert. Und genau das könnte Max jetzt wirklich gut gebrauchen. Er vergräbt seine Hände in den Hosentaschen und versucht, nicht auf die grinsenden Gesichter zu achten. Besonders nicht auf das von dem großen blonden Jungen in der letzten Reihe. Der grinst nämlich plötzlich nicht mehr, der guckt so komisch konzentriert. Und schon streckt er einen Zeigefinger in die Luft und schnipst. Er macht ein freundliches Gesicht, doch Max weiß sofort: Jetzt kommt was Fieses.

»Ich hab ’ne Frage.« Der große Blonde grinst wieder. »Wie is’ es denn so im Mumienbunker, Opa?«

Platsch!

Max fühlt sich, als hätte ihm jemand den nassen Kreideschwamm mitten ins Gesicht geworfen. Natürlich lachen jetzt alle. Alle außer Herrn Brömmer. Max ballt seine Hände zu Fäusten und starrt auf seine Turnschuhe. Seine Wangen pochen und brennen, und er weiß, dass sein Gesicht mal wieder so knallrot leuchtet wie eine Tomate.

»Kannst du auch dein Gebiss rausnehmen?«, fragt der große Blonde.

Die Jungs in der hintersten Reihe biegen sich vor Lachen.

Na super.

Max kennt das schon aus seiner alten Klasse: Der Bandenchef hat einen Witz gemacht, da ist lachen Pflicht. Zum Glück merkt Herr Brömmer endlich, dass es Zeit wird, was Kluges zu sagen.

»OLE SCHRÖDER, DAS REICHT!«, sagt er.

Sofort schrumpft das Lachen zu einem leisen Kichern zusammen.

»Also, ihr habt’s gehört: Max ist euer neuer Mitschüler. Seine Mutter arbeitet im Seniorenheim Burg Geroldseck, und deswegen wohnt er seit einer Woche dort.« Herr Brömmer schaut Max an. »Richtig?«

Max kann jetzt nicht antworten. Er muss die Zähne zusammenbeißen, damit der fiese Riesenkloß verschwindet, der sich in seinem Hals breitgemacht hat. Also nickt er einfach so cool wie möglich. Trotzdem scheint Herr Brömmer etwas von dem Riesenkloß zu ahnen, denn er legt eine Hand auf Max’ Schulter. Die ist schwer. Und warm. Eine schöne, tröstende Wärme, doch Max schüttelt die Hand ab. Mit einem Riesenkloß im Hals muss man höllisch aufpassen. Manchmal reicht eine warme Hand, und er verwandelt sich in Tränen, die man nicht mehr zurückhalten kann. Egal, wie fest man die Zähne zusammenbeißt.

»Max wird diesen letzten Schultag nutzen, um euch schon mal ein bisschen kennenzulernen«, sagt Herr Brömmer zur Klasse. Dann schaut er wieder Max an. »Sicher findest du in den Sommerferien einen neuen Freund, neben dem du im nächsten Schuljahr sitzen willst.«

Einen neuen Freund?

Herr Brömmer scheint nicht nur der Mathe-, sondern auch der Religionslehrer zu sein, so wie der an Wunder glaubt. Aber Max nickt trotzdem.

»Dann setz dich für heute bitte auf den freien Platz neben Laura.« Herr Brömmer zeigt auf ein Mädchen mit roten Locken, das in der ersten Reihe sitzt. Max nimmt seinen Ranzen und geht zu dem leeren Stuhl hinüber. Er ist heilfroh, dass er sich endlich verkrümeln kann. Außerdem sieht diese Laura ganz nett aus. Und wie gut, dass sie nicht in der letzten Reihe sitzt! Denn dort hockt Ole Schröder und formt mit seinem Mund immerzu dasselbe Wort: O. P. A.

»Hallo«, flüstert Max und setzt sich neben Laura. Doch die antwortet nicht. Sie starrt stur geradeaus und rutscht von ihm weg, als ob er eine ansteckende Krankheit hätte.

Das kann Max auch! Im Stur-geradeaus-Starren ist er unschlagbar.

»So.« Herr Brömmer klatscht in die Hände. »Lasst uns anfangen!«

Wenn Max bloß diesen bescheuerten letzten Schultag noch mal von vorne anfangen könnte! Dann würde er sich so vorstellen, wie er es zu Hause geübt hat: Hallo, ich heiße Max. Ich bin neun und wohne in einer echten Ritterburg.

Da wären die anderen bestimmt neugierig geworden. Und dann hätte er mit all den tollen Sachen angeben können, die es in seinem neuen Zuhause gibt. Mit den echten Schwertern und Rüstungen im Waffensaal. Mit den Wehrtürmen, dem Burggraben und der Zugbrücke. Und dann hätten die anderen Max cool gefunden – und dann wäre es auch nicht schlimm gewesen, dass auf seiner Burg außer ihm und seiner Mama nur Omas und Opas wohnen. Wenn Ole Schröder dann die Nase gerümpft und »Mumienbunker« gerufen hätte, dann hätte Max einfach ganz schnell von dem Verlies erzählt. Und von den Geheimgängen, die er in den Sommerferien unbedingt entdecken will. Vielleicht hätten die anderen dann sogar Lust bekommen, ihn zu besuchen. Und vielleicht hätten sie dann gemeinsam –

»He, pennst du?« Laura schiebt ein aufgeschlagenes Buch in die Tischmitte. »Kannst mit reingucken. Aber ich blätter um!«

Pfhhhh.

Soll Laura doch allein in ihr blödes Buch gucken! Max schüttelt den Kopf und starrt mit seinem Stur-geradeaus-Blick aus dem weit offen stehenden Fenster. Da draußen wartet ein herrlicher Sommertag auf ihn. Die Sonne scheint, und es ist genau richtig heiß. Und wie um Max noch mehr Sehnsucht zu machen, weht ihm ein sanfter Wind den Geruch von Chlor und Pommes in die Nase. Und dann bringt dieser sanfte Wind auch noch die Schwimmbadgeräusche mit! Max hört das helle Klatschen von den Bademeisterlatschen, die auf den Fliesen hin und her laufen. Das laute Prasseln vom Wasserschlauch, mit dem jemand die Plastikstühle abspritzt. Das klirrende Rasseln der Ketten, die von den Leitern der Sprungtürme gezogen werden. Wenn Max könnte, würde er sich auf der Stelle nach draußen beamen.

Kann er aber nicht.

»Alles klar, Max?« Herr Brömmer sieht ihn über den Rand seiner Brille hinweg fragend an. Da hat Max wohl ein bisschen zu laut geseufzt.

»Ja«, sagt er schnell, »alles klar.«

»Gut«, sagt Herr Brömmer und dreht sich zur Tafel.

Doch Max weiß, dass nichts gut ist. Er muss bloß an die große Pause denken, und schon fühlt er sich elend. Ole Schröder und seine Kumpels werden sich bestimmt ein paar fiese Opa-Sprüche einfallen lassen. Und dann werden wieder alle lachen, und Max’ Gesicht wird wieder knallrot leuchten, und ganz sicher wird es nicht lange dauern, bis sie ihn auch hier wieder so nennen wie in seiner alten Klasse: Tomate.

Max beißt sich auf die Lippen. Beinahe hätte er noch einmal laut geseufzt. So unauffällig wie möglich dreht er sich um und wirft einen Blick auf Ole Schröder. Und genau in dem Moment schaut der von seinem Buch auf und guckt zurück. Ganz freundlich guckt er. Und jetzt lächelt er Max sogar zu, als ob sie die besten Freunde wären.

Aber darauf wird Max nicht reinfallen!

Für wie doof hält ihn dieser Ole Schröder denn? Max wird megamäßig auf der Hut sein!

Kapitel 2 Ein gebrauchter Tag

Wenn das mal nicht verdächtig ist!

Jetzt hat schon die vierte Stunde angefangen – und es ist NICHTS passiert. Selbst in der großen Pause haben Ole Schröder und seine Kumpels Max in Ruhe gelassen. Nicht ein einziges Mal sind sie ihm auf die Pelle gerückt. Nicht einen fiesen Opa-Spruch haben sie ihm hinterhergerufen. Als ob Max mit einem Schlag unsichtbar geworden wäre.

Eigentlich könnte er jetzt erleichtert sein und sich entspannen.

Eigentlich.

Aber er ist kein bisschen entspannt. Ganz im Gegenteil. Max fühlt sich, als hätte er statt seinem Pausenbrot einen Ameisenhaufen gefuttert. So heftig kribbelt der Verdacht in seinem Bauch. Denn Max weiß: Fiese Typen wie Ole und seine Kumpels lassen einen nicht so schnell in Ruhe.

Da kommt noch was.

Ein lautes Seufzen reißt Max aus seinen Gedanken. Doch dieses Mal hat nicht er geseufzt – sondern Herr Brömmer.

»Eure Ohren sind ja schon längst in den Ferien.« Herr Brömmer klingt sehr streng. Aber dann lächelt er. »Wisst ihr was? Ihr könnt jetzt gehen. Ab in die Sommerferien mit euch!«

Die 3b bricht in wildes Freudengeschrei aus. Blitzschnell werden die Stühle auf die Tische gestellt. Die Fenster geschlossen. Die Tafel gewischt und die Kreide aufgefüllt. Jeder will der Erste sein, der aus dem Klassenzimmer in die Sommerferien stürmt.

Nur Max hat es nicht eilig. Er stellt als Letzter seinen Stuhl hoch und verlässt als Letzter das Klassenzimmer. Die große Treppe geht er im Schneckentempo hinunter, und in der Aula bleibt er immer wieder stehen, um sich seine Schuhe neu zu binden.

Als Max auf dem Pausenhof in die Sonne tritt, sind die anderen schon alle fort. Trotzdem schaut er sich zur Sicherheit um. Er schaut zum Fahrradständer hinüber. Zur Schulmauer mit dem dichten Efeu. Zu den Tischtennisplatten. Nirgendwo ist jemand zu sehen. Nur der alte Hausmeister, der den Pausenhof fegt und Max so garstig anguckt, als hätte der den ganzen Dreck allein gemacht.

Puh!

Dieser letzte Schultag wäre überstanden. Erleichtert winkt Max dem garstigen Hausmeister zu und schiebt sein Rad vom Pausenhof. Wenn er sich beeilt, kann er sich vor dem Mittagessen vielleicht noch die Schwerter und Ritterrüstungen in der Waffenkammer genauer ansehen.

Aber was leuchtet dort zwischen den Zweigen der Hecke?

Ist das nicht Oles blondes Haar?

Und kichert da nicht wer?

Alarmstufe Rot!

Blitzschnell springt Max auf sein Rad. Und das keine Sekunde zu früh. Denn schon brechen Ole und seine Kumpels mit lautem Gejohle aus der Hecke und sprinten zu ihren Rädern. Noch einmal tief Luft geholt, und – zack! – schießt Max los, dass die Steinchen nach allen Seiten wegspritzen. Er beugt sich weit über den Lenker und tritt so stark in die Pedale, wie er kann.

Doch die Verfolger sind ihm dicht auf den Fersen.

Ein Motorrad! Das bräuchte Max jetzt! Dann könnte er aufs Gas drücken und Ole und seine Kumpels in null Komma nichts abhängen. Aber leider muss er selber strampeln. In Max’ Ranzen scheint sich ein Känguru versteckt zu haben, so heftig hüpft er auf seinem Rücken auf und ab. Irgendwo hat Max mal gelesen, dass man viel schneller und viel stärker ist, wenn man große Angst hat. Das hier ist der Beweis: So schnell war Max noch nie.

Er rast und rast.

Aber genau das tun seine Verfolger auch. Und als ob die Kacke nicht schon genug am Dampfen wäre, kündigt sich bei Max auch noch das allerschlimmste Seitenstechen an. Und mit dem allerschlimmsten Seitenstechen kann man nicht mehr rasen. Egal, wie viel Angst man hat.

Max wirft einen Blick über die Schulter.

Oh nein!

Wie von Ole und seinen Kumpels bestellt, fährt ausgerechnet jetzt der Schulbus an ihnen vorbei – und die Hälfte der 3b klebt an den Fenstern und schaut zu, wie Max sich abstrampelt!

Sie haben es also alle gewusst.

Wenn Max nicht so mit Rasen beschäftigt wäre, würde er vor Wut platzen. Aber was macht Laura denn da am Rückfenster? Drückt sie ihm wirklich gerade beide Daumen? Oder spielen bloß seine Augen verrückt? Doch Max kann nicht länger zu Laura schauen, denn plötzlich taucht Ole neben ihm auf. Er ist so nah, dass er schon eine Hand nach Max ausstreckt.

Vollbremsung!, befiehlt Max’ Kopf, und sofort treten seine Beine volle Pulle die Rückbremse durch. Sein Hinterrad schlittert über den Asphalt, und ehe Ole und seine Kumpels kapieren, was los ist, sind sie an ihm vorbeigeschossen. Max reißt sein Rad herum und biegt in einen kleinen Seitenweg ab. Hoffentlich hat Laura seinen coolen Stunt gesehen! Aber wieso denkt er überhaupt an sie? Erst hat sie ihn in der Schule wie Luft behandelt. Und dann hat sie ihn nicht gewarnt, die blöde Zicke, da nützt das Daumendrücken jetzt auch nichts mehr!

Max biegt von dem Seitenweg wieder auf die Hauptstraße ab – und erstarrt vor Schreck.

Ole und seine Kumpels haben ihn umzingelt.

Er sitzt in der Falle.

Verdammter Kackmist! Vor lauter Raserei hat Max ganz vergessen, dass Ole und seine Kumpels sich hier viel besser auskennen als er. Wie soll er aus dieser Falle bloß wieder rauskommen?

»Nicht so schnell, Opa! Sonst kriegst du noch einen Herzinfarkt.« Ole Schröder macht sein Grinse-Gesicht. Und natürlich lachen seine Kumpels, als hätte er den besten Witz aller Zeiten gerissen.

Ha-ha-ha.

Leider ist an Flucht sowieso nicht mehr zu denken. Max ist völlig k.o. Trotzdem: Er wird sich Ole Schröder und seinen Kumpels nicht ergeben.

Niemals!

Und Max wird auch nicht warten, bis sie ihn noch enger eingekreist haben. Er wird ihnen zeigen, dass er Mut hat. Er wird ihnen entgegenfahren!

Max nimmt Anlauf – da knattert plötzlich ein Mofa aus einer Seitenstraße und hält neben ihm. Den silbernen Helm mit den roten Streifen kennt Max! Das muss Raphael sein. Der Neffe vom Seniorenheim-Chef.

»Hallo, Kleiner. Sind die hinter dir her?« Die Stimme gehört tatsächlich Raphael!

Wie immer, wenn Max besonders aufgeregt ist, kriegt er keinen Ton heraus. Er kann nur nicken.

»Dann halt dich fest. Denen zeigen wir’s!«

Zögerlich greift Max nach Raphaels Jacke.

»Richtig festhalten, Mann!« Raphael packt Max’ Hand und presst sie fest auf seine Schulter. Und schon geht ein Ruck durch Max’ Arm, und er spürt, wie sein Rad ganz von allein schneller und schneller wird. Zusammen sausen sie an Ole vorbei, der mit offenem Mund dasteht und glotzt wie eine Kuh, wenn’s donnert.

Na, wer kriegt jetzt gleich einen Herzinfarkt?

Zu schade, dass Max sich nicht umdrehen und dem verblüfften Ole und seinen Kumpels noch etwas zurufen kann. Aber er muss nach vorne schauen und sich aufs Lenken konzentrieren. Mit nur einer Hand zu lenken ist nämlich gar nicht so einfach, wenn man so dahinsaust wie Raphael und Max. Wie schnell die Häuser und Läden an ihnen vorbeirasen!

Bald sind da nur noch Wiesen und Felder.

Doch gerade als Max Raphael zurufen will, dass sie jetzt bestimmt langsamer fahren können, schaltet Raphael noch einen Gang höher. Jetzt knattert das Mofa nicht mehr, jetzt röhrt es wie ein Motorrad. In Max’ Ohren rauscht und braust der Fahrtwind, und sein Rad rattert und scheppert so sehr, dass er es bis in die Zähne spürt. Gleich wird es in tausend Stücke zerspringen!

Hilfe!

Was ist bloß in Raphael gefahren? Hat der einen Stich unter der Haube, oder warum rast er auf einmal wie ein Irrer? Lange kann Max sich nicht mehr an der Schulter festklammern, seine Finger sind schon ganz taub. Und auch das Einhändig lenken wird immer schwieriger. Aber loslassen kann Max auch nicht! Denn wenn er das tut, wird er in hohem Bogen auf die Straße krachen. Hat er sich nicht eben noch gewünscht, er wäre so schnell wie ein Motorrad? Nein danke! Diese Raserei ist viel schlimmer als alles, was Ole und seine Kumpels mit ihm hätten machen können!

»Raphael!«, ruft Max, und der Fahrtwind schießt ihm wie ein Schluck kaltes Wasser in den Mund. »Halt an!«

Doch das Mofa wird nicht langsamer.

Gleich ist alles aus!

Gleich wird Max als lebendiger Mofa-Anhänger sterben.

 

Der Burgberg!

Nie hätte Max gedacht, dass er sich mal so über ein steiles Stück Straße freuen würde. Aber jetzt zwingt der Burgberg das Mofa, mit jedem Meter langsamer zu fahren. Und endlich. Endlich hält es an!

Zuerst kann Max Raphaels Schulter gar nicht loslassen, obwohl sein Kopf seiner Hand das Loslassen ganz dringend befiehlt. Doch dann gehorchen seine Hände und seine Arme und seine Beine wieder, und er steht neben seinem Rad, und nichts saust und braust und rauscht mehr. Alles steht so still wie Max.

»Hast die Hosen voll gehabt, was?« Raphael hängt seinen Helm an den Lenker und grinst Max an. »Kein Wunder, mein neuer Superbock hat ein paar PS mehr! Ich hab ihn gestern erst frisiert.«

Ein paar PS mehr?!

Am liebsten würde Max Raphael vor Wut eine reinhauen. Aber natürlich haut er Raphael keine rein. Er ballt nur die Fäuste. Und natürlich bemerkt Raphael das überhaupt nicht. Stattdessen fragt er: »Krieg ich kein Danke?«

Geht’s noch? Da wäre man beinahe gestorben, und jetzt soll man sich auch noch dafür bedanken?!

»Danke«, murmelt Max und starrt auf seine Turnschuhe.

»Na, denn. Bis zum nächsten Mal, Kleiner.« Raphael lässt das Mofa an und knattert gemütlich zum Burgtor hinauf. Eine stinkende schwarze Auspuffwolke nebelt Max ein. Trotzdem holt er tief Luft.

Was für ein bescheuerter letzter Schultag!

Max möchte nur noch eines: sich schleunigst in sein Bett verkriechen, sich die Decke über den Kopf ziehen und erst morgen früh wieder aufstehen. Dieser Tag ist eindeutig einer von der Sorte, die seine Mama »gebrauchte Tage« nennt. Weil die sich so anfühlen, als hätte die schon mal jemand benutzt. Alle guten Momente sind dann schon weg, und man bekommt bloß noch den doofen Rest. Deswegen geht an gebrauchten Tagen alles schief, was nur schiefgehen kann.

Oh, oh: Von diesem gebrauchten Tag ist ja noch jede Menge übrig! Was bedeutet: Es kann auch noch jede Menge schiefgehen!

Max stößt einen lauten Seufzer aus. Dann trottet er langsam los und schiebt sein Rad das letzte, allersteilste Stück vom Burgberg hinauf.

Kapitel 3 Willkommen im Alte-Knacker-Heim

Gleich.

Gleich ist Max auf der Burg. Und weil Raphael gerast ist wie ein Irrer, hat Max vor dem Mittagessen tatsächlich noch Zeit für einen Abstecher in die Waffenkammer. Wenigstens etwas Gutes nach all der Aufregung!

Aber zuallererst braucht er was zu trinken, denn die Sonne scheint nicht mehr, sie brennt. Und es ist auch nicht mehr genau richtig heiß, sondern viel, viel zu heiß. Besonders, wenn man wie Max die Burgbergstraße hinauftrottet, auf der es weit und breit keinen Schatten gibt. Seine Hände sind schon ganz glitschig vor lauter Schweiß. Und irgendjemand hat Beton in seine Füße gegossen, so schwer und klobig fühlen sie sich auf einmal an.

Jetzt bloß nicht auf die Straße gucken! Denn die sieht bei jedem Schritt gleich aus: nämlich grau. Und Max weiß, dass man von dem immergleichen Grau das Gefühl kriegt, auf der immergleichen Straßenstelle zu laufen. Also guckt er auf die beiden Wehrtürme.

Wie hoch die in den knallblauen Sommerhimmel ragen.

Wie düster die Schießscharten aussehen.

Und erst der schwarze Wehrgang zwischen den beiden Türmen!

Wenn dort plötzlich silberne Ritterrüstungen im Sonnenlicht aufblitzen würden, wenn ein Horn tröten und ein Bogenschütze mit seiner Armbrust auf ihn zielen würde – Max wäre nicht besonders überrascht. Denn auch wenn hier schon viele Hundert Jahre lang keine Raubritter mehr leben: Burg Geroldseck sieht immer noch total echt aus! Und sie könnte das coolste Zuhause aller Zeiten sein, wenn … ja, wenn dort nicht die alten Knacker wohnen würden.

Aber das darf Max niemals laut sagen!

Laut sagen muss er: Senioren. Und Seniorenheim. Da versteht seine Mama keinen Spaß! Wenn sie gehört hätte, wie Max vor der neuen Klasse aus Versehen »Altersheim« gesagt hat, wäre sie bestimmt ziemlich sauer geworden und hätte ihm wieder einen langen Vortrag über Höflichkeit gehalten. Zum Glück können Mütter nicht in Köpfe gucken. Denn in seinem stellt Max sich jedes Mal ein riesiges Begrüßungsschild über dem Burgtor vor – und auf dem steht: Willkommen im Alte-Knacker-Heim.

Max schaut zum Burgtor und muss grinsen. Eigentlich hat er nichts gegen die Omas und Opas. Denn auch wenn sie alte Knacker sind: Sie sind bloß ein bisschen schuld, dass Burg Geroldseck nicht das coolste Zuhause aller Zeiten ist.

Am meisten schuld ist die Oberschwester Cordula.

Die will nämlich nur eines: dass auf Burg Geroldseck immer und überall RUHE herrscht. Damit die Omas und Opas in Frieden noch älter werden können. Und Kinder mag die Oberschwester Cordula deswegen ungefähr so gut leiden wie Mäuse. Oder wie Fußpilz. Oder wie Mäusefußpilz.

Obwohl Max erst seit ein paar Tagen auf Burg Geroldseck wohnt, hat die Oberschwester Cordula schon so viele Verbote für ihn erfunden, dass er gar nicht weiß, was überhaupt noch erlaubt ist.

Max darf nicht singen. Max darf nicht schreien. Max darf sich nicht in einen leeren Rollstuhl setzen (und schon gar nicht damit herumrasen). Max darf auf den engen Wendeltreppen nicht rennen (und schon gar nicht drängeln). Max darf nicht in den Burggraben fallen (und schon gar nicht reinspringen). Max darf der Oberschwester Cordula nicht widersprechen (und schon gar nicht, wenn sie sich irrt, denn dann wird sie erst recht fuchsteufelswild).

Max’ Mama hat alle Oberschwester-Cordula-Verbote auf Zettel geschrieben und an die Kühlschranktür geklebt. Damit Max sie sich gut merken kann. Denn wenn er zu oft gegen sie verstößt, darf er nicht mehr auf Burg Geroldseck wohnen. Und dann kann seine Mama nicht mehr als Nachtschwester arbeiten. Und wenn sie nicht als Nachtschwester arbeiten kann, wird das Geld wieder knapp. Und dann wird seine Mama wieder tiefe Falten auf der Stirn kriegen. Und das will Max auf gar keinen Fall!

Nun ja. Allein machen all die Sachen, die verboten sind, auch gar keinen Spaß. Dafür bräuchte man jemand, der mitmacht. Aber auf Burg Geroldseck gibt es leider nur ein Kind: Max. Und –

»Hast du das hier verloren?«

Max fährt so heftig herum, dass ihm beinahe der Lenker aus den Händen glitscht. Hinter ihm steht eine der Omas mit ihrem Rad und streckt ihm ein orangefarbenes Katzenauge entgegen. Tatsächlich: Zwischen den Speichen seines Hinterrads fehlt eines. Max will sich gerade bedanken, da erschrickt er noch mehr. Erst jetzt sieht er so richtig, wer da vor ihm steht.

Langes weißes Haar.

Hellgrüne Augen.

Und trotz Superhitze ein flattriger, feuerroter Mantel.

Das kann nur die verrückte Oma von der Wilden Sieben sein!

Na, super. Die hat Max gerade noch gefehlt. Wenn er das letzte, allersteilste Stück vom Burgberg doch bloß schneller hochgelaufen wäre! Betonfüße hin oder her, mit der Wilden Sieben ist nicht zu spaßen. Vor der hat sogar die Oberschwester Cordula Angst! Weil die Wilde Sieben verrückt ist und lautstark gegen alles protestiert, was ihr nicht passt.

Zum Glück sind Max und seine Mama gleich von den anderen Schwestern gewarnt worden. Auf den ersten Blick sieht die Wilde Sieben nämlich total harmlos aus. Wenn man neu ist und im Rittersaal zum Tisch Nr. 7 schaut, dann denkt man zuerst: Hä? Diese eine Oma und diese zwei Opas, die sollen die gefürchtete Wilde Sieben sein?

»Hallo? Jemand zu Hause?« Die verrückte Oma schaut Max an, als ob er