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© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2000

 

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Cover und Illustrationen von Silke Brix

E-Book-Umsetzung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin 2014

 

ISBN 978-3-86274-084-0

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So sieht die ganze Familie aus

Das ist Linnea, die ist fast fünf und das ist Magnus und das große Mädchen daneben ist Anna.

Die Frau ist natürlich Mama, das kann man sich ja denken, nur Papa ist leider nicht mit auf dem Bild.

Weil Papa in Bremen wohnt nämlich und nicht zu Hause bei Anna, Magnus und Linnea. Da hat Papa jetzt seine eigene Wohnung, weil er sich mit Mama nicht mehr so gut vertragen hat. Darum sind Mama und Papa jetzt nicht mehr verheiratet. Aber am Wochenende besuchen Anna, Magnus und Linnea Papa manchmal und dann machen sie Sachen zusammen.

Also gehört Papas Bild natürlich auch noch hierher.

Und das von Schwarzer Wuschel vielleicht auch. Obwohl der erst später kommt in der Geschichte.

Magnus zeigt Linnea ein Geheimnis

Als Magnus an diesem Morgen aus der Schule kommt, ist er wirklich schlechter Laune.

In der großen Pause musste er sich ein bisschen mit Nina beulen, weil Nina gesagt hat, sie ist, wetten, stärker als er. Das kann man ja schon sehen. Wenn Jungs eine Brille haben, sind das immer Schwächlinge.

»Selber Schwächling!«, hat Magnus da geschrien und Nina so eine gescheuert, dass sie fast umgekippt wäre. Und Nina hat zurückgeboxt, richtig doll, gegen Magnus’ Brust. Und da ist Magnus umgekippt, ganz richtig und nicht nur fast, und alle Mädchen haben geschrien: »Yeah, Nina, yeah!«

Und gerade als Magnus wieder aufgestanden ist und mit dem rechten Arm so viel Schwung geholt hat, dass Nina dieses Mal bestimmt im Zaun gelandet wäre, musste natürlich Herr Granzow kommen, der hatte Pausenaufsicht, und er hat gesagt, Prügeln ist verboten. Und noch dazu ein Mädchen! So kennt er Magnus ja gar nicht. Magnus soll sich mal schämen, und ganz schnell bei Nina entschuldigen soll er sich auch.

Das wollte Magnus aber nicht und darum war Herr Granzow böse auf ihn. Und den ganzen Morgen haben Nina und Hatice und Katja gekichert und mit dem Finger auf Magnus gezeigt. Bestimmt glauben die jetzt, dass Magnus wirklich ein Schwächling ist, und dabei könnte er sie mit dem kleinen Finger besiegen, wenn er das wollte. Er will nur nicht. Schließlich soll man Mädchen nicht hauen.

Aber Linnea vom Kindergarten abholen muss Magnus trotzdem, auch wenn er schlechte Laune hat. Mama kommt ja erst am Nachmittag nach Hause und Anna geht heute zu einer Freundin. Und um alleine zu gehen ist Linnea noch zu dumm.

Und wie dumm Linnea ist, merkt Magnus gleich, als er in den Gruppenraum kommt. Da steht Linnea mit einem Teesieb und einer Zahnbürste und spritzt Tusche über eine Hasenschablone.

»Nicht gucken, Mensch!«, schreit Linnea. »Das ist doch für Ostern!«

»Aber doch nicht für mich!«, sagt Magnus böse und guckt Linneas Sweatshirt an und Linneas Strumpfhose. Eigentlich soll Linnea beim Tuschen im Kindergarten immer einen Malkittel anziehen. Und jetzt sieht man ja mal, was passiert, wenn sie das nicht tut.

»Zieh dich an, Linnea«, sagt Magnus.

Da grummelt Linnea ein bisschen, weil Magnus wieder mal bestimmen will, aber dann legt sie ihr Bild doch zum Trocknen auf die Fensterbank und zieht ihre Jacke und ihre Hose an. Da sind manche Flecke schon nicht mehr zu sehen.

»Und außerdem hab ich eine Überraschung für dich«, sagt Magnus, als sie Frau Dieckmann »Auf Wiedersehen« gesagt haben und sie ihnen die Kindergartentür aufgemacht hat. Eigentlich ist Magnus natürlich ein Schulkind, aber so groß, dass er innen an den Kindergarten-Türgriff kommt, ist er doch noch nicht. »Wir gehen einen Geheimweg.«

»Einen Geheimweg, Magnus, einen Geheimweg?«, sagt Linnea und schlenkert mit ihrem Rucksack.

»Warum denn, Magnus, du, sag mal? Warum ist der geheim?«

»Weil!«, sagt Magnus und hält Linnea an der Schulter fest. Jetzt muss sie sich erst mal ihren Rucksack aufsetzen.

Linnea guckt ihn böse an. »Du weiß das wohl selber nicht, Dummi!«, sagt sie. »Warum das geheim ist. Ätschi-bätschi.«

Aber das weiß Magnus leider genau. Nur Linnea kann er es nicht sagen.

Wenn Magnus jetzt nämlich mit Linnea den ganz normalen Weg nach Hause geht, dann kommen sie an einem Haus vorbei, da wohnt Nina. Und Katja wohnt da auch, gleich im nächsten Eingang, und wenn die beiden ihn sehen, kommen sie vielleicht rausgerannt und kichern wieder so gemein, und dann müsste Magnus ihnen natürlich richtig eine scheuern. Auch wenn man das bei Mädchen nicht soll.

Aber heute hat er ja Linnea dabei, und die ist noch so klein und so dumm. Nachher fängt sie womöglich an zu heulen, wenn Magnus sich beult. Da geht er heute lieber mal einen anderen Weg. Schließlich hat er Mama versprochen, dass er gut auf Linnea aufpasst.

»Das merkst du schon selber«, sagt Magnus darum. »Das Geheimnis ist ein Geheimnis.«

Geheimnisse findet Linnea gut, das weiß Magnus, und wirklich hüpft sie jetzt auch schon wieder ganz vergnügt auf den Gehwegplatten, ohne auf den Strich zu treten. Wenn Kinder noch so klein und dumm sind, glauben sie einem ja einfach alles.

Aber natürlich muss Magnus jetzt für Linnea auch noch ein echtes Geheimnis finden, sonst fragt sie nachher und fragt und fragt, und dann muss er ihr vielleicht doch das von Nina und der Prügelei erzählen. Und vielleicht glaubt Linnea dann sogar, dass Magnus wirklich nicht stärker ist als Nina, kann doch sein. Sie versteht ja so viele Sachen nicht richtig.

»Guck, da ist es!«, ruft Magnus darum aufgeregt, als sie an das rummelige Grundstück kommen. »Aber keinem verraten!«

Das rummelige Grundstück liegt mitten zwischen den großen Häusern. Da, wo die gelben großen Häuser aufhören und die roten großen Häuser anfangen, steht mitten dazwischen ein winziges weißes Haus, mitten in einem wunderschönen rummeligen Garten.

»Das ist das Geheimnis«, flüstert Magnus. »Guck doch mal!« Und er fühlt sich auf einmal so froh, weil er nun doch ein richtiges Geheimnis für Linnea gefunden hat.

Weil der Garten nämlich wirklich ein besonderer Garten ist, das sieht man ja schon von weitem. Wunderbare Zwerge aus Plastik stehen überall zwischen den Büschen und halten kleine Laternen und Gießkannen, und nur bei ganz wenigen ist schon ein bisschen die Nase ab oder ein Arm. Neben einem Schuppen liegt ein Tier mit einem abgebrochenen Ohr, das sieht vielleicht aus wie ein Reh und ist auch schon ganz alt, und daneben steht ein Schneewittchen und lächelt Magnus zu.

»Oh, geil, Magnus, toll«, flüstert Linnea und hat wohl ganz vergessen, dass man geil nicht sagen soll.

»Hab ich dir doch gesagt!«, sagt Magnus zufrieden. »Ein Geheimnis.« Und er guckt ganz glücklich über den Zaun. Fast muss er jetzt ja froh sein, dass Nina heute Morgen so blöde war. Sonst wäre er doch den normalen Weg nach Hause gegangen. Und der ist nun wirklich langweilig.

Und dann merkt Magnus plötzlich, dass er das richtige Geheimnis noch gar nicht gesehen hat: Das richtige Geheimnis sind nämlich gar nicht die vielen Figuren, die auf dem Rasen stehen und aussehen, als ob sie auch jetzt im kalten April kein bisschen frieren. Das richtige Geheimnis läuft zwischen ihnen herum und pickt auf dem Boden und macht komische, ruckige Bewegungen mit dem Kopf und hebt die dünnen Beine beim Laufen. Das richtige Geheimnis ist ein Huhn.

»Und da ist noch eins!«, schreit Magnus so laut, dass das Huhn vor lauter Schreck hinter den Zwergen verschwindet. »Und da! Guck mal, Linnea!«

Linnea lehnt sich zufrieden gegen den morschen Zaun.

»Tausendhundert«, sagt sie und nickt. »Dreiundzwanzig. Das ist aber ein gutes Geheimnis, Magnus.«

»Klar«, sagt Magnus und streckt seine Hand aus, damit das Huhn zu ihm kommen soll. »Hab ich dir doch versprochen.«

Aber einfach so will das Huhn doch nicht kommen und die anderen Hühner wollen das auch nicht. Die picken lieber wieder auf dem Boden herum, da liegen lauter Körner, und daran kann man sehen, dass die Hühner einem gehören, der sie füttert, und dass sie leider keine Waisenhühner sind.

»Aber was anderes mögen die auch mal«, sagt Magnus und nimmt seinen Ranzen vom Rücken. »Halt mal, Linnea.«

Dann holt er seine Frühstücksdose heraus, da ist noch ein Klappbrot drin mit nichts dazwischen. Die Wurst musste Magnus in der Schule schon essen, das war die hellrosa mit dem Clownsgesicht, die mag er immer so gerne. Richtigen Hunger hat Magnus in der Schule eigentlich nie, und darum bleibt das Brot meistens übrig. Da könnte Mama ihm auch gleich nur die Wurst mitgeben.

Aber jetzt ist es doch mal gut, dass Mama immer sagt, nur Wurst ist schrecklich ungesund. Weil die Hühner das Brot nämlich viel lieber mögen als Magnus, das sieht man sofort. Alle kommen sie an den Zaun gerannt, als Magnus die ersten Bröckchen in den Garten schmeißt, und Linnea schreit: »Ich auch! Gib mir auch was ab, Magnus!«

Und da gibt Magnus ihr auch ein paar winzige Brocken. Wenn man ihr größere Stücke gibt, schmeißt sie die doch nur unzerbröselt über den Zaun, und das wäre doch Vergeudung.

»Guck mal, die haben aber Hunger!«, sagt Linnea, als sie auch das letzte Stückchen Brot in den Garten geschmissen haben und die Hühner sich hinter dem Zaun so doll darum streiten, als wäre es mindestens ein Schokoriegel.

Tausendhundert Hühner sind es vielleicht nicht gerade und bestimmt nicht mal dreiundzwanzig, aber dafür, dass sie hier mitten in der Stadt wohnen, sind es schon eine ganze Menge.

»Hast du auch noch was für sie, Linnea?«, fragt Magnus, als das Brot aufgepickt ist und die Hühner sich schon wieder umdrehen und zu den Zwergen zurückmarschieren.

Linnea denkt nach. »Ich bin ja immer so hungrig«, sagt sie und wühlt in ihrem Kindergarten-Rucksack. »Ich muss ja noch wachsen.«

Und wirklich liegt in ihrem Rucksack nur noch eine Packung Taschentücher und das zusammengeknüllte Butterbrotpapier, in das Linneas Frühstück eingewickelt war. Eine Brotdose hat Linnea nämlich leider nicht mehr. Weil sie im Kindergarten schon zweimal Marienkäfer darin sammeln musste mit viel Gras, damit sie es schön haben. Und damit sie nicht ersticken, musste Linnea natürlich Löcher in den Deckel piksen. Da hat Mama nach dem zweiten Mal gesagt, das wird ihr langsam zu teuer, und ein Kind, das seine Brotdose sowieso hauptsächlich zur Tierzucht nutzt, kann von jetzt an sein Brot in Papier mitnehmen. Auch wenn das ja nicht so gut für die Umwelt ist.