Ines Draxl

Lebensfreude
jetzt! 

In 30 Tagen
zu neuer
Lust am Leben

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-7015-0571-5
Copyright © 2014 by Orac/Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Einbandgestaltung: Kurt Hamtil
unter Verwendung eines Fotos von iStockophoto.com/Simon Oxley
Lektorat: Doris Schwarzer
Typografische Gestaltung: Kurt Hamtil
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Inhaltsverzeichnis

Liebe Leserin, lieber Leser,

Gebrauchsanweisung für dieses Buch

1. Tag: Es kommt oft anders – und das ist gut so

Der Schlüssel des Herrn Hofrat

Die Botschaft des 1. Tages

2. Tag: Grenzen, Grenzen, Grenzen!

Die Zwillingsbrüder

Die Botschaft des 2. Tages

3. Tag: Ordnung ist das halbe Leben? –
Ordnung frisst das halbe Leben!

Der Schachliebhaber

Die Botschaft des 3. Tages

4. Tag: Nutzen Sie Ihre Kindheit – sie gehört Ihnen

Der kleine Mann

Die Botschaft des 4. Tages

5. Tag: Es gibt kein Schicksal!

Der verlorene Ohrring

Die Botschaft des 5. Tages

6. Tag: Anständigkeit ist gut – Lähmung schlecht

Der verstopfte Kamin

Die Botschaft des 6. Tages

7. Tag: Du sollst nicht stehlen! –
vor allem nicht die Probleme der anderen!

Der Mann aus Eis

Die Botschaft des 7. Tages

8. Tag: Lernen Sie loszulassen –
denn jedem Ende wohnt ein Anfang inne

Die Pilzsoße

Die Botschaft des 8. Tages

9. Tag: Der Zwang heiligt die Mittel der Selbstzerstörung

Die neuen Rosen

Die Botschaft des 9. Tages

10. Tag: „Der Mensch muss sich nicht alles gefallen lassen –
auch nicht von sich selbst“ (Viktor E. Frankl)

Der junge Geiger

Die Botschaft des 10. Tages

11. Tag: Leben oder gelebt werden –
stellen Sie sich diese Frage

Hund und Herr

Die Botschaft des 11. Tages

12. Tag: Problemlösen ist Lernen –
Probleme sind nützlich

Das Rezept

Die Botschaft des 12. Tages

13. Tag: Leben und spielen

Der Tapetenwechsel

Die Botschaft des 13. Tages

14. Tag: Kränken Sie sich nicht – heilen Sie sich

Der Kaktus

Die Botschaft des 14. Tages

15. Tag: Licht statt Schatten

Die Prinzessin und der Kalender

Die Botschaft des 15. Tages

16. Tag: Der Zauber des Entrümpelns

Der Erbe

Die Botschaft des 16. Tages

17. Tag: Mut zum Zuhören

Das hörende Haus

Die Botschaft des 17. Tages

18. Tag: Wer bin ich selbst eigentlich?

Der Bürgermeister

Die Botschaft des 18. Tages

19. Tag: Allen Menschen recht getan … nur sich selbst nicht?

Das Möbelhaus

Die Botschaft des 19. Tages

20. Tag: Ruhe bringt Heilung

1577

Die Botschaft des 20. Tages

21. Tag: Freude liegt in kleinen Dingen

Der liebe Gott und das Mikrofasertuch

Die Botschaft des 21. Tages

22. Tag: Mut zum Scheitern!

Der Steintaucher

Die Botschaft des 22. Tages

23. Tag: Die Genialität der Einfachheit

Verdis Geist aus der Frucade-Flasche

Die Botschaft des 23. Tages

24. Tag: Vergangenes darf ruhig vergehen

Der Scheideweg

Die Botschaft des 24. Tages

25. Tag: Erdung braucht nicht nur der Stromkreis

Der Boden unter dem Alltag

Die Botschaft des 25. Tages

26. Tag: Die Kunst des Ritardandos

Der schlafende Dirigent

Die Botschaft des 26. Tages

27. Tag: „Leben bedeutet für das Ich geliebt werden,
vom Über-Ich geliebt werden.“ (Sigmund Freud)

Licht und Schatten

Die Botschaft des 27. Tages

28. Tag: Schöpfung statt Erschöpfung

Der Brunnen

Die Botschaft des 28. Tages

29. Tag: Dacapo fürs eigene Leben

Die Rallye

Die Botschaft des 29. Tages

30. Tag: Die Lösung finden

Der Schatzsucher

Die Botschaft des 30. Tages

Für Felix

Mein herzlicher Dank gilt all jenen,

die mich zum Schreiben ermutigt haben:

Mag. Martin Scheriau

Dr. Birgit Wagner

Maria Jarecki

Mag. Reinhart Hosch

M. Sc. Peter Stöger

Dr. Silvia Längle

und natürlich meine Freundin Jeanette!

Liebe Leserin, lieber Leser,

Sie haben dieses Buch gekauft. Sie haben es geschenkt oder geliehen bekommen. Sie haben es geöffnet.

Sie haben den größten Schritt bereits getan.

Denn offensichtlich denken Sie darüber nach, Ihr Leben zu verändern. Ihr Nachdenken ist schon Bereitschaft zur Veränderung, denn sonst würden Sie Gedanken dieser Art nicht zulassen. Und es ist doch so viel leichter, Gedanken nicht zuzulassen …

Daher: Sie sind bereits auf dem Weg!

Sie werden in diesem Buch Vorschläge finden und Sie selbst werden daraus wählen. Denn Sie haben ja längst entschieden, in Zukunft für sich selbst zu entscheiden.

Ich werde Ihnen also Geschichten erzählen, kleine erdachte, bildreiche Geschichten, die Sie sich einverleiben können.

Ich werde Ihnen darüber hinaus konkrete Tipps und Anleitungen anbieten, die Sie ausprobieren können.

Der rote Faden zwischen den Geschichten ist Ihr eigenes Leben.

Das Patentrezept haben Sie, dieses Buch hilft Ihnen nur, es leichter zu finden, sollten Sie selbst noch nicht wissen, dass Sie es bereits besitzen.

Sollten Sie dieses Vorwort tatsächlich als Erstes gelesen haben, danke ich für Ihre Geduld. Sollten Sie es erst später gelesen haben, danke ich für Ihr Vertrauen. Sollten Sie es gar nicht gelesen haben, so haben Sie auch nichts versäumt.

Gebrauchsanweisung für dieses Buch

1. Vollständigkeit der Lektüre

Niemand wird Sie abprüfen, ob Sie alle Geschichten gelesen haben und ob Sie das der Reihenfolge nach und in voller Konzentration getan haben.

2. Dauer der Lektüre

Niemand wird fragen, ob die 30 Tage für Sie 30 Tage gedauert haben. Sie können auch viel länger brauchen, wenn Sie das wollen. Oder Sie können das ganze Buch in einem Zug lesen.

3. Art der Lektüre

Sie können das Buch unter Ihr Kopfpolster legen in der Überzeugung, die Botschaften so besser zu verinnerlichen.

Sie können es zwecks Affektablass gegen die Wand werfen.

Sie können es in der Handtasche, Aktentasche, Laptoptasche oder auch Wickeltasche mit sich herumtragen und sich von ihm beschützen lassen.

Sie können Kommentare hineinschreiben und die Lieblingsseiten mit Eselsohren markieren.

4. Wirkung der Lektüre

Was immer Sie mit diesem Buch tun, es wird gut sein.

Denn Sie werden es machen, wie Sie wollen, in genau Ihrer Weise. Die wird die richtige sein.

1. Tag

Es kommt oft anders – und das ist gut so

Der Schlüssel des Herrn Hofrat

Es war einmal ein älterer Herr, dem die Tatsache, dass er eigentlich bereits ein älterer Herr war, gar nicht aufgefallen war bis zu dem Zeitpunkt, als sich sein Leben zu verändern begann. Nachdem die Tage viele Jahre hindurch in gehorsam gleichbleibender Unauffälligkeit dahingegangen waren wie die Beine eines geduldigen, seit Jahren friedlich resignierten Kutschpferdes, tat sich auf einmal von einem Moment auf den anderen ein Hindernis auf. Die krisenuntauglichen Pferde scheuten und des Hofrats Lebenskutsche wurde völlig aus der Bahn geworfen. Was war geschehen?

„Gasgebrechen“, war die lakonische Auskunft bei der Hausverwaltung. In einem kurzen Telefonat erfuhr der ältere Herr das Ausmaß des „Gebrechens“ und den Umfang der nötig gewordenen Sanierungsarbeiten im ganzen Haus. Im Winter in einer Altbauwohnung im Hochparterre, ohne Heizung, mit kaltem Wasser, wenn überhaupt? Er begann zu zittern, und nicht nur wegen der beginnenden Kälte in seinem Vorzimmer. Er würde sich für beinahe einen Monat eine andere Bleibe suchen müssen. Erschöpft sank er auf die alte Holztruhe im Vorraum nieder, in der er Fotografien, Postkarten und alte Dokumente seiner Großeltern aufbewahrte. Ob es die kalte, harte Sitzunterlage war, die seine Gedanken in stets noch trostlosere Bahnen führte, oder ob es einfach die über viele Jahre eingeübte Gleichmäßigkeit im Denken war, ist schwer zu sagen, jedenfalls fuhren seine Gedanken, einmal auf ängstliche Geleise gestellt, auf diesen weiter. Kaum hatte er die Vorstellung akzeptieren müssen, seine Wohnung temporär zu verlassen, tauchte unverzüglich ein neues Schreckensbild auf. Er würde ja tagsüber im Büro und somit nicht anwesend sein, wenn die Arbeiter in seiner Wohnung wären. Wie also sein Eigentum, seine Privatsphäre schützen? Schnell wurde ihm klar, er würde die Möbel aus dem Vorraum ins Wohnzimmer schieben müssen und die alte Doppelflügeltür zum Wohnzimmer versperren. Der Gedanke schien dann doch recht tröstlich, dass damit gleich auch der Zugang zum Schlafzimmer mitversperrt war, da dieses nur über das Wohnzimmer zugänglich war. Die Eindringlinge würden somit nur Küche, Bad und Vorraum betreten können. Ein kleines Aufatmen strich über seine gedrückten Lungen und er erhob sich von der Truhe, um in ihrer Tiefe nach einem Schuhkarton zu suchen, in dem er diverse Gegenstände seiner Großeltern aufbewahrte. Tatsächlich fand er ein Stoffsäckchen mit gut 20 alten Schlüsseln. Doch welche Türen, Schränke, Gangtoiletten, Keller- und Dachbodenabteile auch immer diese Schlüssel einst gesperrt haben mochten, keiner, kein einziger von ihnen sperrte die Wohnzimmertür des verzagten Hofrats. Die Zeit drängte, er musste ins Büro, er ergriff also den Schlüssel, der noch am ehesten gepasst hatte, zeichnete den Umriss des Schlosses auf ein Blatt Papier und ging.

In der Mittagspause eilte er ungeduldig zu einem Altwarengeschäft, an dem er schon so oft vorbeigegangen war. Tatsächlich legte ihm der Besitzer des Ladens ein Tablett mit alten Schlüsseln vor, reagierte jedoch unwillig auf seines Kunden Erklärungen und Vergleiche mit dem mitgebrachten Schlüssel und meinte, auf diese Art werde man nie etwas finden. Doch die Hoffnung des Hofrats richtete sich schon bald auf einen der ihm vorgelegten Schlüssel, der seinem mitgebrachten in der Tat sehr ähnelte, doch an einer Stelle einen längeren Zahn hatte, der verheißungsvoll genau an der richtigen Stelle zu sitzen schien. Es entspann sich ein etwas zähes Gespräch zwischen Kunde und Verkäufer, jeder beharrte auf seiner Position, doch dann geschah etwas Unerwartetes. Der Besitzer des Geschäftes dachte an sein Mittagessen im nahe gelegenen Wirtshaus, wo er am Morgen schon den Tagesteller gelesen hatte. Während er den dampfenden Knödel in seiner Vorstellung mit der Gabel zerteilte und in die sämige Soße schob, verschoben sich auch seine Prioritäten und er sagte ungeduldig: „Wissen S’ was, ich schenk’ Ihnen den Schlüssel.“ Der Hofrat reagierte verdutzt, also gar nicht, und verfiel in Schweigen. Und da geschah es, die ganze Sache wurde dem Altwarenhändler zu dumm und er sagte recht laut: „Nimm dein’ Schlüssel und geh!“

Der Hofrat stolperte aus dem Geschäft hinaus in die kalte Wintersonne, in jeder Hand einen Schlüssel und in jeder Gehirnhälfte einen Aufruhr. In seinem Kopf hämmerte der Gedanke, wieso ihm dieser Satz so eigentümlich vertraut war. Ein Sonnenstrahl brach sich in der Auslage eines Geschäftes, traf das linke Auge des Hofrats und dieser dachte, wie lange ihm schon nicht mehr aufgefallen war, dass es auch im Winter so hell sein kann. Er beschloss, seine Mittagspause noch ein wenig auszudehnen und schlug das erste Mal seit vielen Jahren den erstbesten Weg ein, ohne Überlegung, wo genau dieser ihn hinführen würde. Er ging durch die Altstadt, die Stimmen der Menschen kamen ihm laut vor, der Himmel sehr blau, er versuchte den Geruch der Luft zu definieren und irgendwann tat er einfach gar nichts mehr. Er kam schließlich an der Stelle vorbei, an der die Fiaker auf Touristen warten, und während er vorüberging, wendete ihm ein Pferd den Kopf zu und scharrte mit dem linken Vorderhuf. Der Hofrat erschrak, und dennoch war es kein unangenehmes Erschrecken. Er fühlte sich auf einmal, als würde das Leben selbst in Gestalt dieses Tieres ihn anbetteln, dass er es endlich wieder sehen möge. Er schob die Schlüssel, die er immer noch mit seinen schon ganz kalten Händen umklammert hielt, in seine Manteltaschen und fand dabei in der rechten Tasche einen Apfel, den er am Morgen beim Verlassen seiner Wohnung als Frühstücksersatz mitgenommen hatte. Es gelang ihm mit einiger Mühe, den Apfel zu zerbrechen und er hielt dem Tier, wie er es vor Ewigkeiten als Kind gelernt hatte, die erste Apfelhälfte ruhig auf der flachen Hand entgegen. Als er bereits die zweite Hälfte nach erneutem Hufscharren darbot und die samtweichen, warmen Nüstern des Pferdes sie geschickt entgegennahmen, fiel ihm plötzlich ein: „Die Bibel, mein Gott, die Bibel!“, und er musste sehr lachen. Das Pferd warf den Kopf in die Höhe, vielleicht erschrak es über sein Lachen, vielleicht lachte es aber auch mit ihm.

Der Hofrat machte sich auf den Rückweg ins Büro. Der Gedanke, ob der Schlüssel nun tatsächlich passen würde oder nicht, war auf einmal völlig belanglos. So oder so würde sich eine Lösung finden. Er hatte mehr geschenkt bekommen an diesem Tag als nur einen alten Schlüssel.

Er hatte den Schlüssel zu seinem Wohnzimmer gesucht und den zu seinem Herzen gefunden.

Die Botschaft des 1. Tages

Erweitern Sie Ihren Blickwinkel

Geben Sie dem Leben eine Chance, Sie positiv zu überraschen

Das Leben kann sich noch so bemühen, Ihnen interessante, schöne, herausfordernde, belebende Dinge zu servieren, wenn Sie gerade woanders hinsehen, verpuffen diese Angebote. Haben Sie Mitleid mit dem Leben, mit Ihrem Leben!

Die wichtigste Frage lautet also: Wo sehe ich eigentlich hin?

Sehen ist ja etwas automatisch Ablaufendes, zum Glück.

Doch diesen automatischen Ablauf beeinflussen wir unter Umständen schon. So wie das Sehvermögen durch Verkrampfungen, Verspannungen und Müdigkeit der Augenmuskulatur schlechter wird, so schränken wir auch unsere emotionale Wahrnehmungsfähigkeit ein, wenn wir uns durch Ängste, Enttäuschungen, unerfreuliche Erfahrungen dahingehend einstellen, dass genau von diesen mehr auf uns zukommen wird. Dieser Gedanke ist Ihnen wahrscheinlich schon das eine oder andere Mal gekommen.

Es gibt allerdings noch einen anderen Weg, seinen Blickwinkel einzuschränken, und der ist bei Weitem nicht so evident. Hier liegt die selbstgewählte Blockierung darin, von einer glücklichen Erfahrung in der Vergangenheit gefangen zu sein. Wer erwartet, dass das Gute, das ihm im Leben widerfährt, in genau derselben Gestalt daherkommt wie schon einmal, wird ewig warten. Während dieses fruchtlosen Wartens wird er die schönen Angebote des Lebens nicht als solche erkennen. Er hat sie ja nicht in seinem Erwartungsfilter.

Es kommt im Leben immer wieder Neues auf uns zu. Ob wir dieses Neue als gut oder schlecht einstufen, hängt in hohem Ausmaß von unserer Einstellung ab.

In dieser Erkenntnis liegt nicht nur eine tiefe Wahrheit, sie ist auch ein Tor zu neuer Freiheit.

Im Erwachsenenleben geht es dauernd um Verantwortung. Ja, ganz genau! – Dann übernehmen Sie doch sicherheitshalber die Verantwortung für Ihr Glück. Die Verantwortung für dieses eine Leben, das Sie haben. (Ob Sie nachher noch weitere haben werden, können Sie ja nicht mit letzter Sicherheit wissen.)

Erwachsensein, Reife, Vernunft sind nicht Synonyme für Stillstand, Dulden und Weiterwurschteln. Der Versuch, die Lebendigkeit zu reduzieren, um möglichen Schmerz zu vermeiden, bringt – neuen Schmerz.

Sperren Sie die Augen Ihrer Seele auf, nur einen Tag stellen Sie Ihr ganzes Sein probeweise auf Empfang und sehen Sie, wie viele Dinge passieren, die Sie nicht erwartet haben. Und dann geben Sie vor sich selbst zu, was für ein hoher Anteil davon positive Überraschungen waren, wie viele „Schlüssel“ Ihnen das Leben geschenkt hat.

Es ist überaus erwachsen, sich die kindliche Freude am Leben erhalten oder zurückerobern zu wollen!

Was meinen Sie, hat das Pferd gelacht? Genau. Jetzt haben Sie es verstanden.

2. Tag

Grenzen, Grenzen, Grenzen!

Die Zwillingsbrüder

Es war einmal ein eineiiges Zwillingspaar, zwei kleine Buben. Wer sie sah, war von ihnen bezaubert. Stets umgab sie wie ein Fleck Sonnenschein ihre Fröhlichkeit. Wenn sie ihre Köpfe zusammensteckten und flüsterten, war ihr bald darauf folgendes Gelächter so hell wie ihr blondes Haar und so klar wie ihre wasserblauen Augen.

Von ihrer ungetrübten, unerschütterlichen Verbundenheit miteinander ging ein besonderer Zauber aus. Obwohl sie einander glichen wie ein Ei dem anderen, war es doch möglich, sie voneinander zu unterscheiden, wenn man sie einmal besser kannte. Derjenige Bruder, der als zweiter auf die Welt gekommen war, hatte ein kleines Grübchen in der Wange, nur in einer, nämlich der linken. Man musste schon recht genau hinsehen und es musste zumindest der Anflug von einem Lächeln auf seinem kleinen Gesicht stehen, aber dann konnte man ihn eindeutig von seinem Bruder unterscheiden. Wollten die beiden ihre Umwelt zum Narren halten, bemühten sie sich, todernste Mienen aufzusetzen, um die Entstehung des verräterischen Grübchens zu unterbinden. Es waren die Lieblingsminuten ihrer Mutter, die Kinder zu beobachten, wenn Besuch kam. Da standen die zwei gleich aussehenden Buben nebeneinander, die Köpfe gleich hoch gehalten, die Stirn beide in völlig gleich aussehende Falten gelegt, in dem angestrengten Versuch, die Lippen und damit die untere Gesichtshälfte stabil zu halten. Wenn sie den Kampf gegen ein aufsteigendes Grinsen zu verlieren begannen, begegneten sie dieser Situation durch eine rasche, synchron ausgeführte Linksdrehung, sodass der nun erst recht verdutzte Besucher nur die unverfänglichen rechten Gesichtshälften zu sehen bekam.

Es gab auch eine kleine Legende zur Entstehung des Grübchens im Gesicht des zweitgeborenen Zwillingsbruders. Es ließ sich nie klären, ob die Ereignisse tatsächlich so stattgefunden hatten, doch alle Beteiligten schworen, dass es genau so gewesen war: Als der erschöpften Mutter nach Entbindung das zweite Kind in den Arm gelegt wurde, löste sich eine ganz besonders große Freudenträne aus ihren Wimpern und fiel auf das Gesicht des Neugeborenen. Die Hebamme – so geht die Geschichte – sah dies und sagte: „An dieser Stelle wird man dich nun immer erkennen.“

Das Verwirrspiel mit der Umgebung verlor für die Brüder allmählich an Bedeutung, als ihre ersten Schuljahre vorüber waren, sie das Gymnasium besuchten und stets erwachsener wurden. Doch ihre gegenseitige Verbundenheit war unverändert stark zu spüren, selbst noch in der Hochschulzeit, als sie sich, wiewohl an derselben Fakultät, doch für unterschiedliche Studienrichtungen entschieden.

Beide waren immer gute Schüler gewesen und so erreichten sie auch ihren Studienabschluss ohne besondere Schwierigkeiten und zu gleicher Zeit. Was niemand bemerkt hatte, war ein in der Tat nach außen nicht sichtbarer Tempoverlust im Studienfortgang des zweiten Bruders, der sich während der Studienjahre immer wieder in der Situation sah, Mitstudierenden helfend viel Zeit zu widmen, selbst aber gelegentlich zu wenig Durchsetzungsvermögen im Umgang mit den universitären Strukturen an den Tag legte. Was niemand wusste, war, dass ihm der erste Bruder in der Endphase des Studiums geholfen hatte, andernfalls hätte der jüngere Zwilling wohl zumindest ein Semester mehr für seinen Studienabschluss benötigt.

Beiden Brüdern gelang rasch der Einstieg ins Berufsleben und sie schienen auch in diesem Lebensabschnitt so gut zurechtzukommen, wie es ihre Umgebung stets von ihnen erwartet hatte. Kaum ein Jahr später allerdings wurde dem älteren Zwilling angeboten, beruflich für einige Zeit nach Asien zu gehen und nach gründlicher Überlegung und vielen Gesprächen mit seinem Bruder nahm er diese Herausforderung an.

Die Brüder hielten trotz der großen räumlichen Distanz Kontakt so gut es nur irgendwie ging, doch der jüngere litt unter der Trennung. Und diesmal war bald auch den Menschen, die ihn kannten und liebten klar, dass etwas nicht stimmte. Er verlor langsam seine Fröhlichkeit und seinen Schwung, er wechselte nach unerfreulichen Vorkommnissen den Arbeitsplatz. Doch auch an seiner neuen Arbeitsstelle fühlte er sich bald nicht so recht wohl. Er arbeitete sehr viele Stunden, gab seine ganze Kraft und dennoch hatte er nach einigen Monaten keine gute Basis in seinem beruflichen Umfeld. Er klagte über Mangel an Respekt, unfaire Bedingungen, ungerechte Behandlung und zuletzt natürlich über seine zunehmende Erschöpfung. Als er aufhörte zu klagen und einen nicht mehr aufhaltbaren Rückzug in erstarrte Traurigkeit und tiefe Einsamkeit antrat, bekam seine Mutter große Angst. Sie begriff, dass ihr jüngerer Zwilling nie gelernt hatte, seiner Umwelt Grenzen zu setzen. Sie machte sich bittere Vorwürfe, diese Verwundbarkeit in ihm nicht gesehen zu haben, weil sie all die Jahre durch die Symbiose mit dem Bruder nicht zutage getreten war.

Zehn Tage nach einem verzweifelten Telefonat seiner Mutter kehrte der ältere Zwillingsbruder aus Asien zurück. Er sagte: „Es gibt viele gute Jobs, aber ich habe nur einen Bruder.“ Und er begann unverzüglich, sich um seinen Bruder zu kümmern, so wie damals im letzten Studiensemester. Doch diesmal hatte er gelernt, nicht die Arbeit für den anderen zu tun, sondern diesen selbst wachsen zu lassen. Dieser Vorgang dauerte freilich viel länger. Sie übten und übten, sie sprachen miteinander, sie weinten miteinander, sie stritten das erste Mal, sie holten Hilfe von Ärzten und lebensklugen Menschen ein. Alle bestätigten ihnen, wie wichtig es ist, seine eigenen Grenzen zu verteidigen, um nicht in völlige Erschöpfung zu geraten und zum Dank auch noch den Respekt der anderen zu verlieren.

Der jüngere Bruder begriff, zuerst mit dem Verstand, später auch mit dem Herzen, dass er einfach nie nach außen Grenzen hatte setzen müssen, weil dies der Bruder für ihn getan hatte, ohne dass einem von ihnen beiden dies aufgefallen wäre. So war unbemerkt eine Lücke stets weiter gewachsen.

Es vergingen einige Wochen und der jüngere Bruder kehrte langsam aus seiner Traurigkeit zurück. Schließlich meinte er von sich aus, die Krise wäre vorüber. Der ältere war ein wenig skeptisch und traute der Sache noch nicht so ganz.

Doch schließlich, fast ein halbes Jahr später, geriet der ältere Bruder in eine peinliche Situation. Er war der ehemaligen Klavierlehrerin, einer sehr strengen, auf Formen bedachten alten Dame nach Jahren durch Zufall auf der Straße begegnet und sie hatte daraufhin die Brüder für den darauf folgenden Sonntagnachmittag zum Kaffee eingeladen. Wie ein folgsamer kleiner Junge hatte er zugesagt, obwohl er gar nicht wollte. Sein Unbewusstes aber war nicht so folgsam und ließ ihn die Begegnung einfach völlig vergessen.

Am Abend des besagten Sonntags rief seine Mutter an und erzählte, sie habe einen Anruf von der Klavierlehrerin bekommen, die sich über die Ungezogenheit ihrer ehemaligen Schüler beschwert habe. Er erschrak ganz gehörig und wusste sofort, eine Entschuldigung bei der alten Dame war unerlässlich. Er griff zum Telefon, da stieg in ihm ganz plötzlich ein altes Gefühl wieder hoch, und er sah sich und den Bruder, zwei gar nicht so fröhliche kleine Gestalten, wie sie mit den schwarzen Notenmappen in der Hand den kleinen Vorgarten zum Haus der Lehrerin durchquerten und schließlich langsam die gewendelte Treppe hinaufschlichen, wie zwei kleine, ängstliche Hündchen auf dem Weg zum Tierarzt. Der einzige Trost beim Betreten des großen Raumes mit dem glänzenden schwarzen Flügel mit den dicken, sich nach unten verjüngenden, schinkenförmigen Beinen, war ihnen stets der Anblick einer lilafarbenen Milkaschachtel aus Karton, in der eine stets wieder nachgefüllte Mischung diverser Bonbons und Pralinen aufbewahrt wurde. Denn am Ende der Stunde durfte jedes Kind ausnahmslos, auch wenn zuvor mit ihm geschimpft worden war, in diese Schachtel greifen und ein Stückchen zur Belohnung auswählen.

Er rief an diesem Abend die alte Dame nicht zurück. Als er am nächsten Tag seinen Bruder sah, fiel ihm die Sache wieder ein und er musste daran denken, wie er einmal vor der Klavierstunde den jüngeren Bruder gebeten hatte: „Spiel’ heute du als Erster, du hast mehr geübt!“ Er vergaß, aus seinen Kindheitsbildern zurückgekehrt, völlig, dass er seinen Bruder ja noch schützen wollte und bat den Bruder, ob dieser nicht statt ihm bei der alten Dame anrufen und ihm so aus der Patsche helfen könne. „Könntest du sie nicht anrufen und sagen, es tut uns leid, wir haben das Treffen einfach verschwitzt?“ Er sah seinen Bruder erwartungsvoll an. Und da geschah es: „Nein“, sagte der jüngere Zwilling klar und deutlich, „das musst du schon selbst tun!“ Und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und ließ sein Grübchen erblühen wie einst in Kindheitstagen.

Da lachte der ältere Zwilling befreit. Alle Peinlichkeit war nicht mehr von Bedeutung, denn er wusste jetzt, sein Bruder war gesund!

Die Botschaft des 2. Tages

Verteidigen Sie Ihre Grenzen

Treten Sie für sich selbst ein, denn sonst tut es keiner

Seien Sie Ihr eigener beschützender Zwilling

Nehmen Sie sich selbst bei der Hand und passen Sie gut auf sich auf. Und dann geht’s los: Viel Spaß beim Anecken! Keine Angst vor blauen Flecken, wenn Sie für sich selbst eintreten. Sie werden diese blauen Flecken zu Beginn nicht verhindern können. Wer das erste Mal für sich selbst eintritt, darf dafür leider keine Belohnung von außen erwarten, eher das Gegenteil. Besonders wenn die anderen gewohnt waren, ihren Willen zu bekommen.

Und das soll es wert sein? Ja!! Denn wenn Sie die Abgrenzung vor lauter Angst, die anderen würden Sie dann nicht mehr mögen, nicht tun, sind wieder Sie selbst die- oder derjenige, die/der auf der Strecke bleibt. Blöderweise noch mit einem zusätzlichen Schaden, nämlich dass Sie sich dieses Auf-der-Strecke-Bleiben selbst angetan haben. Sie haben ja gar nicht versucht, für sich selbst einzutreten. Sie werden also mit gewisser Wahrscheinlichkeit nicht nur auf die anderen böse sein, sondern auch auf sich selbst, weil Sie sich in den Rücken gefallen sind. Den Respekt und die Zuneigung der anderen ernten Sie auf diese Weise übrigens auch nicht. Unfairerweise eher noch deren Misstrauen und Eifersucht, weil Sie immer so toll funktionieren.

Hinter dieser Sucht zu funktionieren steht auch eine Gier, nämlich die nach Anerkennung. Gerade derjenige, der die Anerkennung so sehr will, weil er sie so sehr braucht, wird sie jedoch wahrscheinlich nicht bekommen. Denn die anderen werden den drängenden, fordernden Untergrund dieser Sehnsucht spüren und sich meist gerade deswegen wehren, das so sehr Eingeforderte zu geben.

Was also tun?

Finden Sie den Mut und die Neugier, Neues auszuprobieren. Wagen Sie, Ihre Grenzen zu verteidigen und bleiben Sie dabei! Finden Sie Ihr Grübchen in der Wange, Ihr Pünktchen hinterm Ohr, was auch immer, das zumindest eine, einzige Zeichen, das Ihnen immer beweisen kann und wird, dass Sie unverwechselbar sind. Legen Sie Ihren Zeigefinger darauf und denken Sie: „An dieser einen Stelle werde ich mich immer spüren, selbst dann noch, wenn ich in Gefahr bin, mich selbst zu verlieren, weil ich nur noch tue, was die anderen von mir wollen.“ Berühren Sie diese Stelle, wenn Sie das nächste Mal von einer anderen Person überfahren werden, wie eine Schachfigur „verwendet“ werden sollen, respektlos behandelt werden. Machen Sie einen tiefen Atemzug und sagen Sie das „Nein“, das schon so lange in Ihrer Magengrube brannte. Sagen Sie das „Ich will das nicht“, das Sie schon so oft gedacht haben, das „Heute nicht“ und das „Das ist mir zu viel“, das Ihr Zwerchfell zusammenpresst.

Es kann sein, dass Sie durch diese mutige Veränderung in sich selbst mit der einen oder anderen Person in Ihrem Umfeld den Kontakt verlieren oder aufgeben werden. Mit Menschen, die echte Zuneigung für Sie empfinden und umgekehrt, werden Sie sich in der Folge sogar noch besser verstehen. Deswegen, weil Sie besser verstehbar für die anderen sind, wenn Sie die eigenen Grenzen verteidigen, eigene Bedürfnisse und Wünsche klar zum Ausdruck bringen können. Sie werden wahrscheinlich auch die faszinierende Beobachtung machen, dass sich für Sie von Beginn weg eine ganz neue und positive Dynamik mit jenen Menschen ergibt, die in Ihr Leben treten, nachdem Sie eine Persönlichkeit mit definierten und spürbaren Grenzen geworden sind.

Grenzen zu setzen ist so wichtig, weil man dies braucht, um sich selbst spüren zu können, wissen zu können, wer man ist. Das Kind beginnt erst zu ahnen, wer „ich“ ist, wenn es sich das erste Mal verweigert, das erste „Nein“ durch Bewegungen oder Worte zum Ausdruck bringen kann. Sie werden doch können, was ein Kleinkind, ja ein Säugling kann! Eben.

Und falls Ihnen jetzt vor lauter Freiheits- und Selbstautonomiegefühlen schwindlig werden sollte, noch eine kleine Beruhigung: keine Angst, dass Sie durch Ihre neue Selbstabgrenzung rasend egoistisch werden. Ganz im Gegenteil.

Wer sich selbst liebt, ist auch zu den anderen gut. Wer seine eigenen Grenzen spüren lernt und verteidigt, respektiert in der Folge auch die der anderen.

3. Tag

Ordnung ist das halbe Leben? –
Ordnung frisst das halbe Leben!

Der Schachliebhaber

In einer großen Stadt lebte einmal ein recht hübscher und eher stiller Mann. Er hatte als Jurist in der Rechtsabteilung eines Konzerns eine mittlere Karriere gemacht. Nach der Scheidung von seiner Frau lebte er nun schon nicht wenige Jahre allein. Er hatte die eine oder andere Freundschaft oder auch mehr mit einer Frau begonnen, doch stets hatte nach einigen Wochen seine Irritation über die andere Person seine Sehnsucht überwogen und er war wieder in sein ungestörtes Alleinsein zurückgekehrt. Er behauptete seinen wenigen Freunden gegenüber – genau genommen waren es nur drei –, mit dieser Situation sehr zufrieden zu sein. Alle drei Freunde bezweifelten dies nicht, sei es, weil sie die manchmal durchscheinende Traurigkeit im Freund nicht sehen wollten, sei es, weil sie einfach auf die gemeinsamen Rituale konzentriert waren. Mit dem ersten Freund, einem ehemaligen Hochschulprofessor, pflegte der Jurist zweimal im Monat Schach zu spielen. Mit dem zweiten, gleichaltrigen Freund, einem Arbeitskollegen, traf er sich einmal in der Woche zum Joggen. Den dritten Freund hatte er beim Warten in der Ordination eines Orthopäden kennengelernt. In der Folge hatte er sich überreden lassen, zum Bowling mitzugehen und dies hatte somit einen weiteren Fixtermin pro Monat in sein Leben gebracht. Wobei gesagt werden muss, dass die uhrwerkartige Regelmäßigkeit der Treffen vom Juristen ausging, denn der Schachpartner war Pensionist und terminlich leidenschaftslos, die Bowlinggruppe traf sich durchaus auch öfter als einmal pro Monat, ja und wenn der Joggingpartner verhindert war, dann lief der Alleingelassene dieselbe Strecke genauso ab.

So gingen die Wochen dahin und der ordnungsliebende Mann bekämpfte kurze Momente der Einsamkeit und Leere oder auch ein diffuses Gefühl von Angst und Bedrückung durch eine noch straffere Organisation seiner Lebensabläufe. Wenn ihm doch einmal der Gedanke kam, dass es vielleicht gerade seine Bekämpfungsmethoden waren, die das Gefühl der Beengtheit erst erzeugten und dass seine ritualisierten Ablenkungsstrategien kläglich scheiterten, seine Angst zu bannen, dann würgte er diesen Gedanken unverzüglich durch eine weitere Drehung an der Ordnungsspirale ab. Körperliche Erschöpfungssymptome erklärte er vor sich selbst als völlig normal für einen Mann in der Mitte seines Lebens.