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VORWORT

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„Wenn du diese Familie findest, dann ist das deine Geschichte.“

 

Mit diesen Worten drückte mir mein Redaktionsleiter eine ausgedruckte E-Mail in die Hand. Da schrieb eine Manu aus Hamburg, dass sie mit ihrem Mann Konny und den Kindern Janina und Jason nach Gainesville auswandern wolle. Gainesville? Aha, das liegt in Texas in der Nähe von Dallas. Mir bisher nur bekannt in Verbindung mit der Southfork Ranch. Ein sprechender Papagei Erwin und Hund Murphy sollten auch mit auswandern. Englisch könnten weder die Eltern noch die Kinder besonders gut, hieß es in der E-Mail, Arbeit und ein Haus würden sie sich vor Ort suchen. Wohnen würden sie in Amerika dann erst mal im eigenen Wohnwagen, mit dem sie bereits zwei Sommerurlaube lang kreuz und quer durch Texas gereist waren. In einem USA-Forum hatte Manuela gelesen: RTL Extra möchte eine Auswandererfamilie bei ihrem Neustart in den USA mit der Kamera begleiten. Manuela schrieb, dass die Dreharbeiten ja nun leider nicht klappen würden, denn übermorgen früh um 5.00 Uhr würden sie Deutschland schon verlassen.

 

Diese E-Mail hielt ich am Abend des 5. Juli 2004 in der Hand. Genau 30 Stunden vor der Auswanderung einer Hamburger Familie, von der ich lediglich die Vornamen und eine E-Mail-Adresse hatte. Nachname? Telefonnummer? Ich konnte ja nun nicht bei der Auskunft anrufen und nach den Telefonanschlüssen von allen Manuelas und Konnys in Hamburg fragen.

In der Hoffnung, dass der Computer dieser skurril klingenden Familie noch nicht in Umzugskisten verpackt sein würde, antwortete ich auf Manuelas E-Mail. Ich wollte diese Familie unbedingt kennenlernen. Und am nächsten Tag klingelte mittags mein Telefon. Tatsächlich Manuela. Wir plauderten gleich drauflos, sie schickte mir ein paar Fotos von den Kindern, den Tieren und ihrer Hochzeit in Las Vegas. Ihr lag das Herz auf der Zunge. Und in einer Stunde erzählte sie mir die ganze Geschichte, vom ersten Texas-Kurztrip mit Konny über Pfingsten bis zu ihrem Glück, als plötzlich die Green-Card-Benachrichtigung im Schenefelder Briefkasten lag.

 

Auf unseren Auswanderer-Aufruf hatte sich Manuela gemeldet, weil sie fand, es sei eine schöne Erinnerung, die Bilder ihres größten Abenteuers auf einem Film für immer festzuhalten. Die Sache hatte nur einen Haken – Konny Reimann. Der hatte andere Dinge im Kopf, als die Fragen einer Redakteurin zu beantworten. Manuela und ich einigten uns trotzdem auf ein beiderseitiges Casting. So konnten Reimanns ausprobieren, ob sie sich mit ihrer Geschichte vor der Kamera wohlfühlen. Und wir würden bei ersten Interviews einen Eindruck von dieser Auswandererfamilie bekommen. Aufgrund der knappen Zeit bat ich einen Hamburger Kollegen, die ersten Dreharbeiten mit Reimanns zu übernehmen und mir das erste Tape nach Köln zu überspielen.

 

Der Hamburger Kollege rief mich dann aus Schenefeld an und beschrieb seinen ersten Eindruck so: Diese Reimanns, das sei eine sehr ungewöhnliche Familie, sehr sympathisch, und alle seien absolute Amerika-Fans. Im Garten sei eine riesige US-Flagge gehisst und das selbstgebaute blaue Blockhaus an Fenstern und Türen mit Stars & Stripes dekoriert. Ein riesiger amerikanischer Pick-up stünde auf dem Hof neben einer großen Halle, in der der Klimaanlagenmonteur Konny Karatekurse gab. Am Gartentor werde man von einem Holzschild im Western-Style mit „Konny Island“ begrüßt, und überhaupt habe man bei Reimanns das Gefühl, man sei eigentlich gar nicht in Hamburg-Schenefeld, sondern irgendwo auf dem Land in Amerika. Konny, der Familienvater, sei ein Hamburger Original mit starkem norddeutschem Slang, ein interessanter Typ, nein – eigentlich sogar ein Freak. Seine Frau sei eine ganz Nette. Großer Amerika-Fan, total aufgeregt vor dem langen Flug und vor diesem großen Schritt in die Zukunft. Vor diesem Schritt, den sie seit zwei Jahren mit viel Papierkram und zahlreichen Behördengängen vorbereitet hatte und der nun doch schon morgen sein sollte. Nur die Kinder. Die sagten nichts.

 

Bei der Überspielung nach Köln war dann aber irgendetwas schiefgegangen, die ersten gefilmten Bilder und Interviews der Reimanns waren komplett unscharf. Auch modernste Fernsehtechnik ist nicht 100 % fehlerfrei. Vermutlich passiert das bei einer von 10.000 Überspielungen. Trotzdem entschieden wir in der Redaktion, „das Risiko einzugehen“, diese Familie auch ungesehen in die USA zu begleiten. Ein Risiko angesichts der hohen Produktions- und Reisekosten.

Ich also hatte Familie Reimann gefunden, unsere Geschichte konnte beginnen.

 

Am nächsten Morgen saß ich mit meinem Kameramann Jens Lackmann, einem Tonmann und vier Kisten Equipment am Flughafen in Frankfurt. Dass wir in den nächsten vier Jahren 18 Mal gemeinsam nach Texas fliegen würden, darüber machten wir uns an diesem 7. Juli 2004 morgens um 8.30 Uhr keine Gedanken. Wir warteten auf „diese außergewöhnlichen“ Reimanns, die in wenigen Minuten mit der Maschine aus Hamburg landen würden, um dann gemeinsam mit uns weiter nach Dallas/Fort Worth zu fliegen.

„Ach du meine Güte – das glaubt uns doch kein Mensch.“ Diese Worte raunte ich meinem Kameramann zu, als ich Reimanns am Gate zum ersten Mal sah. Eine eigentlich ganz normale Familie, angeführt aber von einem kleinen Mann mit Cowboyhut, Schnauzbart, Wildweststiefeln, engen Jeans mit riesiger silberfarbener ovaler Gürtelschnalle, auf der „TEXAS“ prangte, und einem hellgrauen T-Shirt, auf dem uns in großen Buchstaben ebenfalls „TEXAS“ ins Auge sprang. Ich war sprachlos. Jeder Zuschauer würde doch denken: Na klar, da wandert eine Familie nach Texas aus – und die Redakteurin (Kölnerin!) von RTL schleppt diese Familie erst mal in einen Kölner Karnevalsladen und stattet die Auswanderer ihrem Ziel entsprechend aus! Aber – wer weiß, was Reimanns vor vier Jahren dachten, als sie uns das erste Mal sahen ...

 

Übrigens, dass Manuela ihrem Mann Konny erst auf dem einstündigen Kurzflug von Hamburg nach Frankfurt beichtete, dass nun ein Kölner Kamerateam die ersten fünf Tage ihres Abenteuers in Gainesville filmen würde, das habe ich erst sehr viel später erfahren.

 

Hier in Frankfurt am Flughafen startete also am 7. Juli 2004 Reimanns erster von inzwischen über 100 Drehtagen. Und gleich ein 20-Stunden-Drehtag: 11 Stunden Flug, die Ankunft am Flughafen in Dallas, die Abholung ihres in der Pampa untergestellten Wohnwagens nebst rotem Pick-up mit Kühlerschaden. Plötzlich standen Reimanns im Niemandsland. Auf dem staubigen Parkplatz einer abgelegenen Ranch zwischen Feldern und Kühen. Keine Adresse. Keine Telefonnummer. Eine Bullenhitze. Grillenzirpen.

Der Stress und die Aufregung der vergangenen Wochen machten sich bemerkbar. Reimanns waren fix und fertig. Konny verschwand im Motor, der röhrende Pick-up musste für die verschwitzte, todmüde Familie irgendwie ans Laufen gebracht werden. Manuela sorgte sich um die aus Deutschland mitgebrachte Schokolade, die im Handgepäck vor sich hin schmolz. Die Kamera lief. Über zwei Jahre lang hatten Reimanns diese eigentlich planlose Auswanderung geplant. Und wie fühlten sich frisch ausgewanderte Deutsche in Texas? Müde. Müde und doch irgendwie glücklich. Und überwältigt. Denn dieses 45 Grad heiße Texas war ab sofort ihr neues Zuhause. Deutschland lag hinter ihnen. Das Leben in Hamburg war abgeschlossen, vorbei. Hier wollten sie sich nun eine von Grund auf neue Existenz aufbauen. Wo würden sie wohnen, wann endlich wieder Geld verdienen, und auf welche Schule würden Janina und Jason in einigen Wochen gehen? Reimanns fingen in diesem Moment in Texas noch einmal ganz von vorne an. An die Kamera und die netten Kamerajungs hatte sich die Familie auf dem Flug gewöhnt. Und meine Fragen beantworteten sie aus dem Bauch heraus und mit dem Herzen. Völlig verschwitzt und müde verschwendeten Reimanns keinen Gedanken daran, ob sie denn vor der Kamera auch gut wirken und auch ja das Richtige sagen würden. Sie waren von Anfang an so, wie sie sind: eine Hamburger Handwerkerfamilie mit dem Herz am richtigen Fleck. Uneitel und echt. Und hier auf diesem staubigen Parkplatz begannen sie, uns ihre Geschichte zu erzählen. Die Geschichte von der Hamburger Auswandererfamilie, die einen wahrlich abenteuerlichen Neustart in Texas wagt. Wir waren mit unserer Kamera dabei. Und erlebten dieses Abenteuer gemeinsam mit den Reimanns.

 

„Reimanns – die schaffen das!“ Nein, das dachte ich nicht. Zumindest einen Tag lang. Ich fand es ziemlich blauäugig von Konny Reimann, mit seiner Familie nach Amerika auszuwandern, obwohl er gar kein Englisch sprach. Das war doch waghalsig, ohne Haus und ohne Job gleich mit der ganzen Familie im Gepäck total unvorbereitet nach Gainesville zu kommen. Und ich fragte mich, warum sich Reimanns als ersten Anlaufpunkt in ihrem neuen Leben in der Fremde ausgerechnet einen Campingplatz direkt an einem mehrspurigen Highway ausgesucht hatten. Hier donnerten unermüdlich überdimensionale Trucks entlang. Risikobereitschaft und Selbstvertrauen – das haben Reimanns. Und das gab ihnen vor vier Jahren die Sicherheit, dass ihr neues Leben hier in Texas funktionieren würde.

 

Wir schauten Konny Reimann bei seinem ersten Vorstellungsgespräch als Klimaanlagenmonteur in Texas mit der Kamera über die Schulter. Das war an Tag zwei in Amerika. Konny und der Boss dieser Kältefirma, Robin Wilson, standen sich mit verschränkten Armen gegenüber. Alle technischen Fragen konnte Konny verstehen und mit Händen und Füßen, Nicken oder Kopfschütteln irgendwie auch beantworten. Aber an Smalltalk auf Englisch über Amerika und das Wetter war nicht zu denken.

Konny bekam diesen Job. Das muss man sich einmal vorstellen: Ein Jobinterview in Amerika mit drei Brocken Englisch – und der Kerl bekommt diesen Job auch noch! Für mich der Zeitpunkt, mich von meinen Vorurteilen zu verabschieden. Respekt, dachte ich, wenn es einer schafft, hier Fuß zu fassen, dann ist das Konny Reimann!

 

Sechs Monate später haben wir dieses unglaubliche, aber auch unglaublich unterhaltsame Vorstellungsgespräch ausgestrahlt. Natürlich musste jeder über Konnys englisches Kauderwelsch auch schmunzeln. Vor allem aber Konny selbst. Und dazu gehört eine Riesenportion Selbstbewusstsein, finde ich. „Ich kann halt kein Englisch“, sagte Konny mir immer. „Na und? Aber ich schaff das schon. Learning by doing – ich brauch auch keinen Englischlehrer. Wartet nur ab!“ Genauso war es.

 

Von Anfang an dokumentierten wir das Leben einer ganz normalen Familie in Amerika, die uns hier in Deutschland auf dem Bildschirm bewiesen hat, dass man auch mit weniger guten Englischkenntnissen Arbeit bekommt, ein Haus kaufen kann und eine vernünftige Schule für die Kinder findet.

Im Cowboystädtchen Gainesville waren nicht nur Reimanns, sondern auch das Kölner Kamerateam aus Germany bald bekannt. Da die meisten Texaner deutsche Vorfahren haben, mögen sie Deutschland und seine Menschen sehr. Wenn sie uns anfangs fragten, was wir denn ausgerechnet in Gainesville drehen wollten, dann schüttelten sie den Kopf und lachten. Wieso wandert eine deutsche Familie nach Gainesville aus? Was wollen die denn hier? New York oder Miami sind doch viel spannender. Das fanden wir eigentlich auch. Aber auch das macht den besonderen Reiz dieser Dreharbeiten aus: Gainesville ist ein Dorf in Texas. Und wir sind hier mit unserer Kamera und mit unseren Fragen im Supermarkt genauso willkommen wie in der Highschool oder beim alljährlichen Rodeo. Natürlich müssen wir auch hier überall nach einer offiziellen Drehgenehmigung fragen, aber das ist reine Formsache. Die Bewohner Gainesvilles wissen längst, dass Reimanns mit ihrer Auswandergeschichte in Deutschland sehr bekannt sind.

 

Vor allem dieser verrückte Hamburger im Blaumann mit dem Cowboyhut, der morgens in seinem gelben Schulbus zur Arbeit fährt. Das erzählen ihnen ihre Verwandten aus Deutschland. Und sie sind stolz darauf, dass ihr kleines Cowboystädtchen durch die Reimanns in Deutschland sogar ein bisschen berühmt geworden ist. So berühmt, dass viele deutsche Urlauber auf ihrer Tour durch den Wilden Westen Amerikas einen Abstecher nach Gainesville machen. Und in der Starbucks-Filiale in der California Street, der Hauptstraße, hat man sich längst an die Kaffeepausen dieser „German TV-crew“ und ihren „funny accent“ gewöhnt. Wir werden vermisst, wenn wir dort wochenlang mal keine „three Venti Latte“ durch das Mikrofon im „Drive Through“ bestellen. Irgendwie sind Jens Lackmann, Marvin Rodemann und ich – das immer gleiche Reimann’sche Kölner Kamera-Trio – während all dieser Texas-Reisen auch ein bisschen nach Gainesville ausgewandert ...

 

Janina war gerade 17 und Jason 14, als ich die beiden kennenlernte. Wenn man sich die ersten Reimann-Folgen heute ansieht, war Jason damals noch ein kleiner Junge im Stimmbruch. Die Kinder waren schüchtern, sehr zurückhaltend. Und es sollte einige Monate dauern, bis Janina und Jason zu uns Vertrauen fassten und die Aufregung und die roten Wangen vor der Kamera und bei den Fragen nach ihrem Leben in Amerika ablegten. Doch aus den deutschen Kindern wurden sehr bald amerikanische Teenager, die vor ihrer Haustür in Texas Basketball und Rugby spielten und bereits nach einem halben Jahr ziemlich gut Englisch sprachen. Jason sogar mit diesem typischen texanischen Akzent, der einem Nuscheln mit Wolldecke im Mund und verschluckten Vokalen gleicht. Aber die Texaner verstanden ihn gut. Und beim dritten Besuch der Gainesville High School mit Kamerateam im Schlepptau waren wir Janina und Jason auch gar nicht mehr peinlich. Im Gegenteil. Die Aufmerksamkeit ihrer Mitschüler wuchs – wow, ein Kamerateam aus Germany! Das fanden sie cool. Und fanden dann auch Janina und Jason cool.

 

Der Führerschein, das erste Auto, Jason backte Herzchenplätzchen für seine erste große Liebe, die er bereits nach drei Wochen gegen die nächste eintauschte. Reimanns haben uns mit der Kamera an ihrem ganz normalen Leben in der texanischen Kleinstadt Gainesville teilhaben lassen. Wenn Manuela wegen eines entzündeten Zahns eine dicke Backe hatte, haben wir das genauso dokumentiert wie die erste Reitstunde in Texas, die Manuela ihr Leben lang nicht vergessen wird.

 

Aber auch im Leben der Reimanns gab es trübe Tage, und die wurden auch vor uns bei den Dreharbeiten nicht versteckt. Nach den ersten sechs Monaten in Amerika reisten wir kurz vor Weihnachten zum dritten Mal nach Texas. Konny schraubte mittlerweile an Klimaanlagen in amerikanischen Haushalten, die Kinder lernten fleißig in der Highschool, und Manuela hatte ein bisschen zu viel Zeit zum Nachdenken. Ihre Jobsuche war bisher erfolglos, dementsprechend war sie tagsüber allein in dem Haus in der Buck Street. Und auf die Frage beim Interview im sonnigen Vorgarten, ob sie denn ihre Familie und Freunde in Deutschland vermisse, liefen Manuela plötzlich dicke Tränen über die Wangen. Kamera aus. Interview abgebrochen. Manuela ging ins Haus. Manuela kam zurück. Im ersten Moment waren ihr die Tränen vor der Kamera unangenehm. Aber sie kam zurück und wollte mir im Interview von ihrem Heimweh erzählen. Denn so einfach war es nicht, die Heimat und die Freunde zu verlassen. Heimweh und Tränen gehörten zum fast 10.000 Kilometer langen Schritt von Hamburg bis nach Texas für Manuela dazu. Und sie sind auch ein Teil ihrer Auswanderungsgeschichte in Amerika, den sie erzählen will.

 

Familie Reimann – und im speziellen Konny Reimann – ist so ziemlich das Verrückteste, was ich in meinem Autorenleben bisher erlebt habe. Eine wahre Geschichte, die man bunter, lustiger und spannender in einem Drehbuch nicht hätte schreiben können. Drei- bis viermal im Jahr besuchen wir die Hamburger Auswanderer nach wie vor. Und die Drehtage sind immer vollgepackt. Ob Janina einen neuen Job hat, Konny mal wieder ein neues Gästehaus baut, Jason im Liebeskummer taumelt oder Manuela ein Minischwein mit nach „Konny Island“ bringt – bei Reimanns gibt es einfach immer Geschichten zu erzählen!

Diese Hamburger Auswandererfamilie hat uns von Anfang an an ihrem abenteuerlichen Leben in Texas teilhaben lassen. Wir sehen ihnen schon vier Jahre lang dabei zu, wie sie sich mit viel Arbeit und viel Fleiß immer mehr Lebensqualität in dem Land schafft, in dem sie unbedingt leben wollte. Reimanns haben sich eine idyllische Existenz aufgebaut und zwei Gästehäuser für die Menschen aus Deutschland, die bei ihnen den Urlaub verbringen wollen.

 

Neidlos zieht man den Hut vor Konny, der einfach ein Arbeitstier ist und ganze Häuser bauen kann. Und ein Kumpeltyp ist der Cowboy im Blaumann, mit dem jeder gerne mal ein Bier trinken würde. Reimanns wären auch tolle Nachbarn, mit denen man am Wochenende Koteletts und Würstchen grillen könnte. Die Feriengäste nutzen die Gelegenheit, denn auf Konny Island gibt’s Reimanns „live und zum Anfassen“. Und die meisten Urlauber reisen mit der Skepsis nach Texas, ob diese Hamburger Auswanderer denn in Wirklichkeit genauso sind wie im Fernsehen. Ja, das sind sie. Reimanns sind einfach so, wie sie sind. Eine ganz normale Familie. Und vermutlich ist genau das das Geheimnis ihrer Beliebtheit in Deutschland.

 

Dagmar Vetter, 7.8.08

 

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EINLEITUNG

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s wird der einzige sein. Der einzige Leuchtturm der Welt, der nicht am Meer steht. Vielleicht wird er aussehen wie eine merkwürdige Rakete. Vielleicht wie eine große Figur, wie ein überdimensionales Holzbein, das im Berg feststeckt, ein Ausrufezeichen oben am See. Auf jeden Fall wird es ihn geben, meinen Leuchtturm oben auf dem Hang, an dem ich mit meiner Familie lebe, hier am Moss Lake in Gainesville, Texas, Amerika.

 

Mein Name ist Konny Reimann. Die meisten von euch werden mich kennen, wie ich aus Fernsehern heraus grüße, wie wir – meine Frau Manu, meine Kinder Janina und Jason und ich – alle zusammen hierher gezogen sind, in Schnappschüssen vor den Augen von Millionen Menschen. Seit unserer Auswanderung von Hamburg nach Texas bin ich vielen Menschen begegnet, viele haben uns besucht. Die meisten meinen, uns zu kennen, was sie in gewisser Weise auch tun, selbst wenn sie uns nur regelmäßig in einem Kasten in ihrem Wohnzimmer sehen. Und dennoch gibt es da noch mehr zu erzählen. Es gibt Geschichten hinter den Geschichten, es gibt Vorleben, vergangene Abenteuer, Anekdoten und Erlebnisse, verwirklichte Träume und kleine Dramen, alles zusammen ein Leben, das in Scheiben geschnitten auch für ein Dutzend Menschen reichen würde. Aber erstaunlicherweise reicht es gerade so eben für meine Familie und mich. Seit langer Zeit schon schnitzen wir die Realität, die wir tagtäglich leben, aus der Vielzahl unserer absurden Ideen. Denn in meinen Kopf passen mehr Träume als in eine große Turnhalle. Keiner dieser Träume bettelt darum, möglichst lange aufgehoben zu werden, keiner ist von vornherein zu krank, um jemals laufen zu können, und bisher ist keiner von ihnen wirklich geplatzt. Wenn mal ein Traum nicht ganz in Erfüllung geht, wird er eben einfach von einem anderen abgelöst.

 

In diesem Buch werde ich erzählen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass wir jetzt an diesem wunderbaren See sitzen, inmitten selbstgebauter Häuser, an einem Steg, neben einer Hafenkneipe. Ich werde erzählen, wie ein einfacher Junge aus einer Baracke in der Nähe vom Hamburger Hafen durch aufregende Wirrungen und Wendungen, auf verschlungenen Pfaden und mit einer Menge Spaß hierher finden konnte. Es war ein langer Weg, der aber noch lange nicht zu Ende ist. Dies ist nur eine Zwischenetappe. Wen würde es wundern, wenn ich irgendwann auf einem Surfbrett die Welt umrunde? Mich am allerwenigsten. Aber das ist eine andere Geschichte.

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1. DIE ERSTEN JAHRE

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ellblechbaracken. Das erste Bild meiner Kindheit, an das ich mich erinnern kann, sind Wellblechbaracken. In Hamburg-Harburg standen damals kurz nach dem Krieg diese eilig errichteten Lager für Amerikaner und Engländer, in denen nun, in den fünfziger Jahren, deutsche Familien wohnten, bis ihnen irgendwann Neubauten zugewiesen werden sollten. Ich war ungefähr vier Jahre alt, als sich mir das Bild dieser Kolonie ins Gedächtnis brannte – zweihundert Baracken, Wellblech, so weit das Auge reichte.

 

Ich wurde geboren, als meine Mutter sechzehn war, der erste männliche „Nachkomme“ seit Generationen, eine kleine Reimann’sche Sensation. Meine Eltern trennten sich, als ich drei war, und ich wohnte fortan bei meiner Mutter. Ein Stiefvater, der vorher zur See gefahren war und dann seiner neuen Familie wegen, uns zuliebe also, dieses Leben aufgab und bei uns blieb, folgte kurz danach. Ich kann nicht sagen, dass wir wohlhabend waren. Ich erinnere mich, dass meine Mutter einmal an Weihnachten einen sehr kleinen Weihnachtsbaum besorgte, ein kleines grünes Kerlchen, das den Namen „Baum in viel zu kleinen Klamotten“ trug. Eines Nachmittags – keine Ahnung mehr, wie es passierte – fiel der Baum von seinem Podest auf den Boden, und einige von seinen spärlichen Zweigen brachen ab. Es war undenkbar, dass meine Mutter einen neuen Baum besorgte, also nahm sie die Zweige und nähte sie mit Nadel und Faden wieder an den ramponierten Rest des Baumes. Wen wundert es da, dass ich schon im zarten Alter von etwa fünf Jahren anfing, Eisenschrott zu sammeln, um ihn für ein bisschen Klingelgeld zum Eisenhändler zu bringen?

 

Trotzdem war es keine schlechte Zeit. Ich versuchte früh, mein Glück in meine eigenen Hände zu nehmen, mich in der Gegend auszutoben. Ich mochte unsere Umgebung, eine Vergleichsmöglichkeit hatte ich ja nicht. Nach und nach wurden den Familien in unserer Nachbarschaft neue Wohnungen zugewiesen, man konnte das Ausdünnen der Siedlung langsam verfolgen, und ich wartete darauf, dass auch wir umziehen würden. Tatsächlich waren wir aber am Ende die Letzten, die das Barackenfeld verlassen durften.

 

Wie man unschwer erkennen kann, bin ich ein Original-Hamburger, aufgewachsen in Harburg, mit vier Jahren umgezogen nach Bramfeld, wo ich auch eingeschult wurde. Später wohnten wir in der Nähe vom U-Bahnhof Uhlandstraße, Hamburg-Hohenfelde, direkt um die Ecke vom Kuhmühlenteich. Als Kind, ungefähr sieben oder acht Jahre alt, lief ich oft mit meinem jüngeren Bruder und manchmal auch mit meiner noch jüngeren Schwester an der Alster entlang zur Elbe. Ich liebte das Wasser, ich liebte die Flüsse und das Meer. Die täglichen zwanzig Kilometer waren für uns schnell ein normales Pensum. Oft stand ich schon um vier Uhr früh auf und lief zum Fischmarkt, wollte gucken, wo man Enten und Hühner kaufen konnte. Nicht, dass ich jemals selbst etwas erstanden hätte, aber das Gefühl, dabei zu sein, dort zu sein, wo das Federvieh den Besitzer wechselte, wo die Schiffe vorbeifuhren, wo etwas los war, das alles brachte täglich kleine Abenteuer, die durch nichts zu ersetzen waren. In den Sommerferien waren wir Kinder praktisch sechs Wochen ununterbrochen im Wasser. Schlauchboottouren, schwimmen gehen, am Wasser entlanglaufen und spielen, reinspringen: unsere ganz persönliche kleine Welt aus Wellen und Wind. Hier wehte immerhin ein wenig vom Geruch der großen Welt, von der wir natürlich noch nicht sehr viel ahnten, die man hier aber schon förmlich schmecken konnte.

Mein „Zimmer“ zu Hause war das komplette Gegenteil von diesem Freiluftabenteuer ohne Grenzen. Ich lebte in einer Art Speisekammer, in der gerade eben ein Bett ganz hineinpasste und damit ebenso knapp der, der darin zu liegen hatte. Das Zimmer war etwa 2,20 Meter lang und 80 cm breit. Aber es war meins. Das war alles, was für mich zählte. Erstaunlich, dass außer dem Bett noch irgendwo ein 80-Liter-Aquarium hineinpasste. Obwohl ich schon nicht der Größte war, musste ich, wenn ich seitlich auf meinem Bett saß, also mit den Füßen auf dem Boden, immer etwas die Beine anziehen, ausstrecken war nicht möglich. Die Wand beendete jedes Minimum an Gemütlichkeit. Hier kam mir mein Körper etwas entgegen, denn wäre ich ein angehender Basketballer gewesen, hätte ich auf meinem Bett gesessen wie ein Harlem Globetrotter in einem Trabbi. Aber ich war klein (und bin es noch). Doch schon in jungen Jahren kompensierte ich das durch Kraft.

Ich war so klein und so kräftig, dass ich einmal in der Schule sogar hochspringen musste, um einem älteren Mitschüler, der mich traktiert hatte, einen Kinnhaken zu geben. An eine weitere derartige Begebenheit kann ich mich aber nicht erinnern, denn es sprach sich schnell herum, dass ich der falsche Ansprechpartner für Schlägereien jeglicher Art war. Die Chancen, gegen mich einen glorreichen Sieg davonzutragen, standen nicht besonders gut, ganz egal, wer antrat.

Ganz abgesehen davon, war schon damals Prügeln nichts für mich. Meine Gegner haben mir immer viel zu leid getan, wie überhaupt die Verlierer solcher Kämpfe. Ich sah keinen Sinn darin, jemanden körperlich zu demütigen, viel lieber hatte ich Spaß mit anderen Kindern. Ernste Kämpfe waren nicht meine Sache.

 

Dennoch habe ich früh gelernt, dass man Rückgrat zeigen muss, sich „gerademachen“ muss, wenn es notwendig ist. Allerdings weniger, um jemanden zu Boden zu schicken, als vielmehr, um Haltung zu zeigen, dem Gegenüber zu verstehen zu geben, was die eigene Meinung ist. Vor einigen Jahren wurde mein Sohn Jason in Schenefeld in der Schule von einem notorischen Schlägertyp verprügelt, der auch schon viele andere Kinder angegangen war und belästigt hatte. Der Junge trieb eine Weile sein Unwesen, und niemand schien sich darum zu kümmern oder auch nur das Geringste dagegen zu unternehmen. Ich war bei all den vielen Eltern der Einzige, der bei einem Elternabend aufstand und sagte: „So geht es nicht, wir müssen auf dieses Kind aufpassen.“ Andere Eltern schlossen sich meiner Meinung an, und so machten wir das dann – wir kamen selbst zur Schule und behielten den Störenfried im Auge. Mehr war gar nicht nötig, und nach einer Weile hatte sich das Problem erledigt. Man muss für seine Prinzipien einstehen und auch den Mund aufmachen können. Wenn mir etwas nicht passt, sage ich das. Es nützt nichts, sich aus Angst, Scham oder um des lieben Friedens willen zurückzuhalten. Meinung auf den Tisch, basta, aus. Auch wenn das manchmal unangenehme Konsequenzen nach sich zieht. Ich stand damals an jenem Abend auf und zeigte mit dem Finger auf die Lehrerin und sagte ihr auf die Nase zu, dass sie mit der Situation nicht klarkäme. Sie hatte ihre Klasse nicht im Griff, und jeder wusste das. Zunächst versuchte sie, die Situation mit dem Schlägerkind herunterzuspielen. Außer mir traute sich niemand, der Lehrerin die Wahrheit zu sagen. Sie war überfordert und hilflos. Kurz nachdem ich der Lehrerin erklärt hatte, sie habe pädagogisch versagt und die Situation nicht im Griff, bekam ich Schulverbot. Ich hatte mir erlaubt, die Lehrerin zu maßregeln, und derlei Kritik war nicht erwünscht. Mir war’s egal. Die Situation war geklärt, und ich hatte mich nicht versteckt.

 

Neben meiner Mutter kümmerte sich vor allem meine Oma viel um mich. Ich habe kaum eine Erinnerung an sie, aber meine Mutter sagte mir einmal, dass meine Großmutter mich im Grunde etwas verzogen hätte. Ich bekam, was ich wollte. Während meine Mutter und auch später mein Stiefvater zu Hause eine – nennen wir es mal vorsichtig „recht robuste“ Gangart an den Tag legten, versuchte sie, es mir immer recht zu machen. Dementsprechend gut kamen wir miteinander aus. Es war allerdings kein Wunder, dass die alte Dame auf Harmonie aus war: Meine Oma war im Krieg mehr als ein Mal ausgebombt worden. Das erste Mal, als Bomben auf ihr Haus fielen, war sie im Keller, wie man es den Menschen damals beigebracht hatte. Die oberen Etagen wurden schwer getroffen, das Fundament knickte ein, als wäre es aus Salzstangen gebaut, und im Keller stürzten Balken und die Decke auf die Schutzsuchenden ein. Ein paar Meter neben meiner Oma wurde ein Mann derart schwer von einem Eisenträger getroffen, dass er wenig mehr als das angsterfüllte Jammern eines Sterbenden herausbrachte. Er starb vor ihren Augen, sie selbst konnte ihm nicht helfen, war sie doch ebenfalls derart verschüttet und lädiert, dass es ihr unmöglich war, Hilfe zu leisten. Es war schlimm, einen Menschen auf diese Art und Weise sterben zu sehen, viel schlimmer jedoch war die Tatsache, dass meine Oma mit ansehen musste, wie der Mann langsam neben ihr verfaulte. Unfähig, sich selbst aus den Trümmern zu befreien, musste sie neben dem Getroffenen ausharren, bis – viel später erst – Hilfe kam. Immer wenn später Bombenalarm war, blieb sie stoisch im oberen Teil des Hauses und wartete, bis der dröhnende Spuk vorbei war.

Die einzige bildhafte Erinnerung, die ich an meine Großmutter habe, ist die, wie wir sie im Krankenhaus besuchten. Am Ende ihrer Tage war sie durchgedreht. Die Vergangenheit hatte sie eingeholt und überfahren wie ein schwerer Laster, und Körper und Geist waren schließlich zu schwach, um noch eine vernünftige Gegenwehr zu leisten.

 

Mein Stiefvater war im Gegensatz zu meiner Großmutter kein Mann, der ein Übermaß an Empathie verströmte. Ich weiß nicht, ob das raue Leben auf See ihn zu dem grobklotzigen Typen gemacht hatte, der sich mir oft genug in den Weg stellte, oder ob es das Leben an anderer Stelle nicht gut mit ihm gemeint hatte. Er trank und kanalisierte seine stets darauf folgende Übellaunigkeit handfest in meine Richtung. Vermutlich ist bereits in jungen Jahren daher eine Abneigung gegen übermäßig viel Alkohol in mir gewachsen. Selbst wenn ich später mal ein Bier trank, so tat ich das lange Zeit nicht vor meinen eigenen Kindern.

Obwohl ich nie wirklich adoptiert wurde, trug ich trotz allem bis zu meinem 16. Lebensjahr doch den Nachnamen meines Stiefvaters: Nothmann. Damals war es noch üblich, dass man als Kind mit einem von den Eltern ausgestellten Krankenschein zum Arzt ging. Immer wenn ich mich auf den Weg zu einem Arzt machte, hatte ich genau so einen Krankenschein bei mir, allerdings gaben meine Mutter und mein Stiefvater mir diesen immer in einem Kuvert mit. Ich kam zu den Ärzten, händigte ihnen den Umschlag aus und machte mir nie viele Gedanken darüber. Irgendwann, ich muss ungefähr fünfzehn Jahre alt gewesen sein, überkam mich aber auf einmal die Neugier. Auf dem Weg zu einem meiner Arztbesuche öffnete ich den Umschlag und sah mir den darin befindlichen Zettel zum ersten Mal an. Ich war mehr als überrascht, auf diese Art zu erfahren, dass ich mehrere Jahre den Krankenschein eines anderen mit mir getragen hatte. Konrad Reimann wurde auf diesem Wisch zum Arzt geschickt, nicht ich. Zu Hause erzählten sie mir dann, dass ich eigentlich Reimann hieße und einen anderen Vater hätte. Ich weiß noch, dass ich das damals relativ gelassen aufnahm. Die Neugier, den Mann, der mein Vater sein sollte, dennoch zu treffen, wuchs aber stündlich und wurde bald so groß, dass ich sie nicht mehr ignorieren konnte.

Ein Treffen wurde arrangiert, um mir die Chance zu geben, meinen richtigen Vater kennenzulernen. Dazu gab es dann aber nicht wirklich Gelegenheit, denn meine Mutter und der erstmals für mich auftauchende Herr Reimann hatten sich schneller in den Haaren, als ich „Papa“ sagen konnte. Erst ein Jahr später verabredete ich mich alleine mit meinem leiblichen Vater. Zu dem Zeitpunkt lebte ich schon nicht mehr zu Hause.

 

Ich beendete die Volksschule mit sechzehn und fing sofort eine Lehre an. Im zweiten Lehrjahr schmiss mich meine Mutter dann raus. Es war 1972, und ich war erst siebzehn Jahre alt. Ich zog um ins Arbeiterwohnheim und war ehrlich gesagt froh, von zu Hause weg zu sein.

Als ich meinen richtigen Vater traf, war ich erstaunlicherweise nicht sauer auf ihn. Die Frage, warum er uns verlassen und vor allem all die Jahre keinen Kontakt gesucht hatte, ergab sich nicht – die Antwort hatte das erste, von meiner Mutter arrangierte Treffen gegeben. Hätte sich mein Vater in unser Leben eingemischt, wäre nur Mord und Totschlag dabei herausgekommen. Ich hätte zwar zwei Väter gehabt, aber auch viel Verwirrung und weit mehr Streit mitbekommen. Es war sicher nicht einfach für meinen Vater, die Füße stillzuhalten und zu wissen, dass er an unserer Entwicklung keinen Anteil haben konnte. Aber vielleicht war es trotzdem die beste Entscheidung seines Lebens. Ich empfand auf jeden Fall tiefen Respekt vor seinem Entschluss und hegte nicht den geringsten Groll ihm gegenüber. Ich merkte zudem sehr schnell, dass Blut dicker ist als das Tränenwasser, das mich dürftig mit meinem Stiefvater verband.

In den kommenden Jahren traf ich mich immer wieder mit meinem Vater, und aus einer puren Verwandtschaft wurde irgendwann eine Freundschaft. Während der Draht zu meinem Stiefvater sich auflöste wie ein Kondensstreifen, steht die Verbindung zu meinem wirklichen Vater heute fester denn je. Ob das auch meine Mutter und ihr Freund so im Sinn gehabt hatten, als sie mich alleine großzogen? Irgendwie finden sich die Personen, die zueinander gehören, dann scheinbar doch. Is’ so. Mein Vater wird uns bald besuchen kommen hier in Amerika. Das erste Mal. Ich freue mich drauf.

 

Als ich im Frühjahr ’72 meine Berufsausbildung bei der Werft Blohm & Voss begann, war eine gewisse Manu gerade mal vier Jahre alt. Während sie sich vermutlich noch mit Puppen und Ponys beschäftigte, bekam ich es mit Schiffsmaschinenbau zu tun. Blohm & Voss war damals die größte Werft in Hamburg, und man konnte dort mehr lernen als anderswo. Hier bekam ich den Grundstock dessen an die Hand, was man benötigt, um in der Welt Fuß zu fassen. Ich durchlief alle Abteilungen, die notwendig sind, um ein Schiff zu bauen, und wurde so zu einem Schweißer, Blechschlosser, Maschinen- und Rohrschlosser, Schiffsmaschinenbauer, Turbinenbauer, Schmied und Dreher. Ich lernte metallverarbeitende Verfahren und Gewerke kennen, wurde zum Fräser und technischen Zeichner ausgebildet, absolvierte die Abteilungen der Arbeitsvorbereitung, erfuhr etwas über Arbeits- und Sicherheitsschutz, und selbst die Holzverarbeitung kam irgendwann dran. Nichts Handwerkliches blieb mir verborgen.

 

Ich blieb dreieinhalb Jahre bei Blohm & Voss. Die Ausbildung war mit das Wertvollste, was ich in meinem Leben gemacht habe. Es gab danach kaum

eine bautechnische Aufgabe, die mich vor große Rätsel stellte. Ich hatte das Rüstzeug, und wo ich auch ging und stand, fiel der Name Blohm & Voss, und schon war alles klar. Meine Lehre dauerte bis 1975, und direkt im Anschluss arbeitete ich ein halbes Jahr, bevor ich mich entschloss, zur Bundeswehr zu gehen. Dort blieb ich zwei Jahre, also länger als üblich. Das hatte einen einfachen Grund: Die Ausbildung und auch die anschließende Arbeit hatten meine Taschen nicht eben zum Bersten gefüllt, und wenn man sich damals für eine längere Zeit als vorgeschrieben beim Bund verpflichtete, gab es weitaus mehr Geld. So konnte ich mir auf einmal locker eine Wohnung und ein Auto finanzieren. Ein neues Stück von der heißersehnten Freiheit. Die Aufgaben, die bei der Bundeswehr auf mich warteten, stellten für mich, im Gegensatz zu einigen anderen, kein Problem dar. Im Gegenteil, ich mochte selbst die langen Märsche, war ich es doch von Kindesbeinen an gewohnt, lange und viel zu laufen und mich auch sonst fit zu halten.

Seit ich sieben Jahre alt war, ging ich zum Kunstturnen. Ich liebte den Sport. In der Schule bekam ich stets erste Preise, und auch überregional machte ich auf mich aufmerksam. Mit siebzehn fing ich zudem mit Karate an und gelangte auch dort schnell auf ein hohes Niveau. Der Sport bestimmte also schon früh in meinem Leben einen guten Teil meiner Freizeit, und auch während der Zeit beim Bund war dies nicht anders. Man kann also sagen, dass mein Körper jegliche noch so schwierige Betätigung dort als reine Fortsetzung des Bisherigen ansah.

Den Ideologien meiner Vorgesetzten konnte ich nicht immer folgen, aber zu diesem Zeitpunkt interessierte mich das auch noch nicht so. Das Sportliche und auch die Kameradschaft waren mir wichtiger. Ich entsinne mich, dass wir dort viel Spaß gehabt haben, erinnere mich zum Beispiel an Gewaltmärsche, bei denen ich am Ende nicht nur mein eigenes, sondern stattdessen gleich vier Gewehre auf dem Rücken hatte. Es waren die Waffen von anderen Soldaten, denen die Last nach einiger Zeit zu viel geworden war. Natürlich ging auch mir das Autoritätsgehabe mancher Leute gegen den Strich. Bereits zu diesem Zeitpunkt lehnte ich mich gegen jegliche Art der Bevormundung auf, zumal wenn es sich um kodierten Schwachsinn handelte, den kein Mensch nachvollziehen konnte. Ich wusste, dass man bei der Bundeswehr logischerweise Befehle befolgen musste, und wenn diese von gescheiten Personen kamen, die einen respektierten – kein Problem. Brenzliger wurde es bei ein, zwei Vorgesetzten, die auf den ersten Blick keine allzu großen Leuchten waren. Da fragte ich mich schon das ein oder andere Mal, wieso ich jetzt ausgerechnet von solchen Pfeifen Anweisungen entgegennehmen musste. Aber auch das habe ich überstanden.

 

Eine wichtige Sache, die ich in dieser Zeit lernte: Wenn es mal Ärger gibt, schlaf eine Nacht drüber! Ich weiß, das ist kein allzu neuer Grundsatz, aber einer, den die wenigsten beherzigen. Und er ist absolut wahr, denn egal, was für eine Wut du im Bauch hast, egal, was für einen Streit du mit jemandem ausfichtst – am nächsten Tag hat sich die Welt oft von einem lodernden Rot in ein mildes Hellblau verwandelt, und der Rauch vom Vortag hängt nur noch am Rand deiner Nasenlöcher. Diese fast schon buddhistische Maxime hat sich seit dieser Zeit in mir festgesetzt und ist mir seitdem mehr als einmal in schwierigen Situationen noch rechtzeitig in den Sinn gekommen.

 

So verging auch die Zeit in Lübeck-Blankensee, wo ich stationiert war, und das Jahr 1977 war noch nicht vorüber, als eine neue Zeitrechnung für mich begann. In den kommenden Jahren galt es, die eigene Freiheit auszukosten und weitere Teile der Welt kennenzulernen. Außerdem wollte ich testen, was es im Spaßsektor noch alles zu erleben und zu entdecken gab.

 

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ine Sache, die mich mein Leben lang begleitet hat wie meine Schultern und mein Kopf, ist der Sport. Schon in der Kindheit fing ich damit an und habe bis heute nicht damit aufgehört. Ich werde in diesem Buch immer mal wieder darauf zurückkommen. Denn die Sportarten, die ich ausprobiert habe, ergaben nicht nur zu der Zeit einen Sinn, in der ich mit ihnen begann. Sie ermöglichten mir auch und vor allem Tonnen von Spaß und gaben mir die Kraft, die ich später beim Ausprobieren von Unmöglichkeiten hatte und brauchte. Ohne sie wären die Dinge, die ich mit meinen Freunden im Laufe der Jahre durchzog, nicht möglich gewesen. Fast all der Unsinn, den wir im Kopf hatten, involvierte körperliche Höchstleistungen, und ihr dürft dreimal raten, wer am Ende immer derjenige war, der als Proband herhalten musste und, seien wir ehrlich, das auch wollte ...

 

Nach der Bundeswehr arbeitete ich als Kältemechaniker. Diesen Beruf gab es damals erst seit kurzer Zeit, noch wenige Jahre vorher hatte man das gar nicht gekannt. Für mich war die Arbeit, Blohm & Voss sei Dank, kein Problem. Im Gegenteil, es machte Spaß, und ich genoss die erste Zeit, in der ich mein eigenes Geld mit eigener Leistung verdiente.

jetzt jetzt

Ein weiterer Unterschied zu heute war, dass Rømøs Strände damals noch weitgehend leer waren. Das Urlaubsland Dänemark wurde nur zaghaft entdeckt. Viele Strände lagen fast jungfräulich für uns da und bettelten um ein wenig Aufmerksamkeit. Sie schienen förmlich nach uns zu rufen.

Anfangs gab es dort noch kleine Holzbuden, es war, als hätte Astrid Lindgren unsere Wochenendtrips und die langen Urlaube geplant. Idyllisch, liebenswert und individuell konnten wir die Dänen und ihr goldenes Eigentum genießen. Später kamen immer mehr kommerzielle Steinhäuser an die Strände, immer mehr Läden eröffneten, schließlich mündete das Ganze in Massentourismus. Man kann es den Dänen nicht verübeln – sie wollten natürlich ihre Ufer in klingende Münze verwandeln. Die zumeist deutschen Urlauber entdeckten nach und nach, was wir Jahre vorher noch fast alleine staunend begrüßt hatten.

Zum Teil waren wir, speziell ich, an dieser touristischen Entwicklung sogar selbst beteiligt und nicht ganz schuldlos. Ich warb damals so sehr in meinem Umfeld für diese Länder und Orte, pries Dänemark und auch das Surfen an wie Sauerbier. Ich erzählte von dem wilden Wochenend- und Urlaubsleben in Rømø und Frankreich, schwärmte überall, wo ich ging und stand. Schließlich brach wenige Jahre später in meinem Umfeld und darüber hinaus fast schon eine Art Surfeuphorie aus. Die Surfbretthersteller hätten meinen Kumpels und mir eigentlich eine kleine Prämie ausloben können.

 

Irgendwann war an „unseren“ dänischen Stränden alles ziemlich überlaufen, sie wurden sogar teilweise gesperrt, weil der Andrang zu groß war. Aber auch meine Bedürfnisse hatten sich geändert. Nicht dass ich mit steigendem Alter ein Luxushotel und gemütliche Kissen am Ende eines Tages erwartet hätte; die Unternehmungen, meine Spaß-Expeditionen, wurden nur immer größer. War ich anfangs noch mit einem Ein-Mann-Zelt unterwegs gewesen, wuchs dieses zunächst zu einem Zelt für mehrere Personen, bis ich am Ende mit einem Wohnwagen herumfuhr, der von Jahr zu Jahr mit immer neuen Gimmicks ausgerüstet wurde.

Aus dieser Zeit habe ich heute noch zwei, drei gute Freundschaften, die, wie ich schätze, auch noch eine Weile länger halten werden. Denn auch wenn es zwischendurch mal Streit gab, haben wir doch immer alles offen angesprochen. Selbst über Wochen und Monate andauernden Zwist konnten wir am Ende immer bereinigen und uns wieder in die Augen schauen. Es gibt nicht viele Menschen im Leben, mit denen so etwas gelingt. Leute, die auch Kritik annehmen, selbst wenn sie schonungslos ist. Im gleichen Atemzug muss man aber auch selbst offen für Kritik sein und es einstecken können, wenn andere einem den Spiegel vorhalten. Ich hoffe sehr, dass meine Familie und Freunde das in den kommenden Jahren genauso weiterhin beherzigen werden, wie ich es tun werde.

 

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