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Titelseite

 

 

 

 

 

 

In Gedenken an meine Mutter Jill Sarginson

1

Wir sind nicht immer Zwillinge gewesen. Früher waren wir ein einziger Mensch.

Unsere Zeugung verlief ganz gewöhnlich, wie man es in der Biologiestunde lernt. Ihr kennt das ja: Ein besonders sportliches Spermium trifft auf ein Ei und schon bildet sich neues Leben.

Da waren wir also, ein einzelnes, stinknormales Baby. Nun aber kommt der außergewöhnliche Teil der Geschichte, denn dieses eine Ei hat sich geteilt, ist mittendurch in zwei Hälften gerissen und aus uns wurden zwei Babys. Zwei Hälften eines Ganzen. Komisch, aber wahr – am Anfang waren wir ein einziger Mensch, wenn auch nur eine Millisekunde lang.

Mummy sagte immer, Zwillinge seien das Letzte gewesen, was sie erwartet habe, obwohl ihr klar gewesen sei, dass es einen Grund dafür geben musste, warum sie bereits im vierten Schwangerschaftsmonat durch keine Tür mehr passte, geschweige denn ihre Jeans zubekam. Mummy war wunderschön. Das fanden alle. Sie sah aus wie eine Eiskönigin aus dem Märchenbuch. Eine Königin in Flipflops und troddelbesetzten indianischen Röcken und mit nikotingelben Fingern. Wer unser Vater war, wollte sie uns nicht verraten. Nicht, dass es wirklich wichtig gewesen wäre. Aber wir fanden es aufregend, Vermutungen darüber anzustellen, wer er wohl sein könnte, als wären wir dadurch in der Lage, die Geschichte unserer Geburt selbst zu bestimmen.

Es gibt einen griechischen Mythos, laut dem eine Frau, wenn sie am selben Tag mit einem Gott und einem Sterblichen schläft, zwei Kinder bekommt: von jedem Vater eines. So verdorben war jedoch selbst unsere Mutter nicht. Aber wenn wir mal wieder über den Fliederbaum bis aufs Dach des Schuppens geklettert waren, uns dort einen Apfel teilten und über mögliche Väter diskutierten, war die Vorstellung von einem Gott schon ziemlich befriedigend.

Die offensichtlichste Option war ein Gott der Rockmusik. Unsere Mutter war geradezu besessen von The Doors. Oft betrachtete sie seufzend Jim Morrisons Foto auf der Plattenhülle. Das Einzige, was wir über unseren Dad wussten, war, dass unsere Mutter ihn auf einem Festival in Kalifornien kennengelernt hatte. Bingo. Es musste Morrison sein. Auf jeden Fall wollten wir keinen der gruseligen, abgedrehten Typen zum Vater haben, mit denen wir in der Kommune in Wales gelebt hatten. Den Langen Luke zum Beispiel oder Eric, der so müffelte. Von denen hatte Mummy doch keinen geliebt. Einmal schrieben wir Mr Morrison heimlich einen Brief, unterzeichnet mit Viola und Isolte Love. Eine Antwort haben wir nie bekommen.

Am dritten Juli 1971 wurde Jim Morrison tot in seiner Badewanne in Paris aufgefunden. Die Ursache: Herzversagen, vermutlich aufgrund von schwerem Alkoholismus. Er hatte kein Rockmusik-Gott mehr sein wollen, sondern Dichter, und nur noch darauf gewartet, dass sein Plattenvertrag auslief. Als wir an dem Tag, als die Nachricht bekannt wurde, aus der Schule nach Hause kamen, fanden wir unsere Mutter vor, wie sie wieder und wieder Hello, I love you hörte und in ihr Rotweinglas schluchzte. Auch wir weinten oben in unserem Kinderzimmer, heulten lauthals in die Kissen. Zuerst war es lediglich gespielt, aber dann wurde daraus echte Verzweiflung. Kennt ihr das? Wie sich manchmal, wenn man richtig heftig lacht, plötzlich eine Art emotionaler Schalter umlegt und man anfängt zu weinen? So ungefähr war das. Nur dass es diesmal eben vorgetäuschtes Weinen war, das sich in echtes verwandelte, und mit einem Mal versanken wir in Tränen, japsten zittrig nach Luft und rieben uns den Rotz von den Wangen. Und dabei hatten wir keine Ahnung, weshalb wir überhaupt so schluchzten. Später, als Mummy wieder nüchtern war und wir alle hicksend durch geschwollene Augenlider blinzelten, erklärte sie uns, dass Jim Morrison definitiv nicht unser Vater gewesen war. »Ihr Dummerchen«, seufzte sie wehmütig. »Wie kommt ihr denn auf so was?«

Auch danach versuchten wir noch einige Male herauszufinden, wer unser Vater war. Aber damit verärgerten wir Mummy nur. Sie zuckte mit den Schultern, drehte sich langsam eine Zigarette und blies Rauchringe in die Luft, enttäuscht über unsere stumpfsinnigen Fragen. »Ich habe eine neue Dynastie gegründet«, verkündete sie. »Ich will, dass ihr euch eure Zukunft selbst aufbaut. Ihr braucht keine Vergangenheit.« Wir wussten, dass sie unsere Sehnsucht nach einem Vater für kleinlich und spießig hielt. Und das war das Schlimmste, was man auf der Welt sein konnte.

Im Frühjahr 1972 kam Mummy angesichts des Bergarbeiterstreiks und der Drei-Tage-Woche zu dem Schluss, das ganze Land gehe vor die Hunde. Ted Heath sei ein konservativer Idiot und wir müssten auf das Schlimmste vorbereitet sein. Selbstversorger werden. Also riss sie im Garten die mickrigen Blumen aus, pflanzte stattdessen Gemüse an und kaufte außerdem zwei Ziegen, Tess und Bathsheba. Eine war braun, die andere schwarz, und beide hatten zuckende Stummelschwänze und gespaltene Hufe wie der Teufel. Wir bemühten uns wirklich, sie ins Herz zu schließen, aber sie taten den ganzen Tag nichts anderes als kauen. Unablässig mahlten ihre langen Zähne aufeinander. Selbst wenn wir uns vor sie auf den Boden kauerten und ihnen die Ohren kraulten, kauten sie weiter und starrten mit ihren Glubschaugen geradewegs durch uns hindurch. Oft rissen sie sich los und trampelten durch den Gemüsegarten, wo sie die Pflanzen mitsamt den Wurzeln ausrissen. Dann brachte Mummy morgens Stunden damit zu, mit grimmigem Blick schlappe Brokkolis und Möhren von Neuem einzupflanzen, bevor sie sich, den Kopf an die Ziegenflanke gelehnt, auf einen Hocker setzte und den beiden unter Fluchen über ihre Zappelei ein dünnes Rinnsal Milch abrang, die ranzig wie reifer Käse oder alte Socken roch.

Sie besorgte sich auch ein Buch, in dem stand, welche Wildpflanzen man unbesorgt essen konnte und wann und wie man sie erntete und zubereitete. Dieses Buch wurde nun unentwegt zurate gezogen, auf Spaziergänge mitgenommen, von denen es immer fleckiger und zerlesener zurückkehrte, und aufgeschlagen neben dem Herd aufgestellt, wo es wiederum jede Menge Spritzer abbekam. Das Hamstern wurde zu unserer neuen Religion. Beeren, Pilze und Äpfel zu sammeln, die über Hecken oder Zäune ragten – das zeugte, wie Mummy sagte, nicht nur von Freigeist, sondern brachte uns zudem Gratis-Lebensmittel ein. Beides Dinge, die sie sehr befürwortete.

Wir handelten uns Kratzer ein, als wir uns durch Brombeergestrüpp zwängten, um an Holzäpfel zu gelangen, während unsere Mutter barfuß danebenstand. »Ein Stück weiter oben, Viola. Ja, gut so.« Ungeduldig warf sie ihr Haar zurück. »Pflück auch die am Zweig darüber, Issy.« Aus den Äpfeln machte sie Gelee und Wein: herb und rosarot wie eine Zunge. Einmal bekamen wir schreckliche Magenkrämpfe von irgendwelchen gefleckten Pilzen, die sie in den Eintopf geworfen hatte. Aber Zitterling – oder Gehirnpilz, wie wir ihn wegen seines welligen, gummiartig bleichen Aussehens nannten – schmeckte uns, gebraten in Butter, Salz, Pfeffer und ein bisschen Currypulver, ziemlich gut. Wo immer wir ihn fanden, rissen wir ihn büschelweise ab. Und Boviste, dick und weiß, pflückten wir ebenfalls, wenn sie an Herbstmorgen wie verirrte Schneebälle im taubenetzten Gras leuchteten, und aßen sie in Scheiben geschnitten und in Backteig frittiert mit knusprigem Speck zum Frühstück.

* * *

Habt ihr schon mal richtig Hunger gehabt? Ich meine kein leichtes Magenknurren, das eine versäumte Mahlzeit anmahnt, oder das unangenehme Rumpeln und Gurgeln, wenn das Mittagessen später kommt. Sondern den tiefen, wehenähnlichen Schmerz echter Leere. Das hohle Ziehen des Nichts. Übergewicht ist ein rein menschliches Problem, denn nur Menschen werden dumm vor Gier. Vögel dagegen sind so leicht wie eine Handvoll Laub. Ich will die Leichtigkeit von Flügeln in mir spüren. Ich habe gelernt, wie ein Vogel zu essen, nicht mehr wie ein Mensch. Dort, wo ich jetzt bin, versuchen sie, mich mit jeder List zum Essen zu bringen, sie spielen Psychospielchen mit mir und stecken mir Schläuche in den Hals.

Natürlich tut Hungern weh. Aber diesen Schmerz kann man nutzen wie ein Messer, das das Böse in einem wegschält. Irgendwann wirst du regelrecht süchtig nach diesem Gefühl. Weil der Hunger dein Freund ist. Zusammen mit ihm kommst du schneller bis runter auf deine Knochen, als du glaubst. Ich kann sie mit den Fingern ertasten, wie sie dicht unter meiner Haut an die Oberfläche drängen, jeden Tag ein bisschen mehr: glatt und makellos und hart. Das sagt man doch über Knochen, oder? Dass sie rein sind. Sauber. Wenn ich ihre Linien nachfahre, ergibt sich eine Form: das Gerüst meiner selbst.

Am Ende sind wir doch alle nichts anderes. Und manchmal noch nicht einmal das. Manchmal bleiben als Nachweis eines Lebens nicht einmal Knochen übrig – nur Moleküle, die durch die Luft wirbeln, und ein paar Erinnerungen in deinem Kopf, vergilbt wie alte Fotografien.

Jetzt bin ich müde. Am liebsten würde ich schlafen gehen. Ich gerate ins Faseln, ich weiß. Issy würde das gar nicht gefallen. Sie hat mir auch damals befohlen, den Mund zu halten, als wir in dem kleinen Zimmer saßen und ein Mann und eine Frau uns ständig dieselben Fragen stellten, wieder und wieder.

Was hatten wir gemacht? Gesehen? Wann? Wo?

Ihr müsst wissen, die haben uns für böse gehalten. Sie dachten, wir hätten etwas Unverzeihliches getan. Ich weinte und rutschte auf dem harten Stuhl hin und her, bis plötzlich etwas beschämend Warmes meine Unterhose durchdrang. Die Flüssigkeit rann über das Plastik und lief auf dem Boden zu einer Pfütze zusammen. Irgendwann kam ein Polizist mit Eimer und Lappen. Ich schloss die Augen und bemühte mich, den stechenden Geruch des Urins nicht einzuatmen. Meine nackten Beine brannten.

Jene Tage verbrachten wir in apathischer Warterei, während die Leute hinter vorgehaltener Hand über uns redeten. Wir waren gefangen in diesem kahlen Raum, während sie uns anstarrten, ungeduldig mit ihren Bleistiften auf den Tisch tippten und sich Notizen machten. Ich merkte, wie sie die Narbe in meinem Gesicht betrachteten, und zog meine Haare darüber, um sie zu verbergen, aus Angst, sie könnten darin das Zeichen des Teufels erkennen.

Aber ich war nicht allein. Meine Schwester saß neben mir, wie immer stärker und mutiger als ich. Ihre Augen waren trocken und unter ihrem Stuhl gab es keine Pfütze.

»Sag kein Wort, Viola«, schärfte Issy mir ein. »Du musst überhaupt nichts sagen. Sie können dich nicht dazu zwingen.«

Und sie hält meine Hand fest zwischen ihren, ihre gekrümmten Finger so stählern wie ein Tellereisen.

2

1987. Aus der Stereoanlage dröhnt laut James Brown und die Musik dringt bis in die letzte Ecke des Fotostudios vor, schafft die richtige Arbeitsatmosphäre. Nur dass die Arbeit momentan ruht, weil Ben an den Leuchten herumfummelt und seinen Assistenten anweist, die Papierbahn, die als Hintergrund dient, anders zu arrangieren. Abseits des grellen Lichts und des weißen Papiers erinnert der von Echos durchdrungene Raum, eine alte Lagerhalle, an eine verlassene Höhle.

Durch eine Seitentür gelangt man in eine schmale Kammer, die gerade noch als Frisier- und Schminkzimmer durchgehen kann, obwohl man sich dort schon zu dritt kaum bewegen kann. Die Luft darin steht vor kaltem Zigarettenrauch. Auf dem Tisch vor dem Spiegel häuft sich ein Durcheinander aus Lidschattenpaletten, zusammengeknüllten Taschentüchern, leeren Imbisskartons, überquellenden Aschenbechern, Kaffeetassen, Lippenstiftpinseln und Wimpernzangen.

Isolte steht da und beobachtet Julio, den Visagisten, der sich über das Model beugt. Stirnrunzelnd blickt sie in den Spiegel und betrachtet darin das Gesicht des Models. Alle drei werden sie, zusammengequetscht wie sie sind, von einem Viereck nackter Glühbirnen eingerahmt. Mit einer schwungvollen Bewegung vollendet Julio eine goldene Linie und blickt dann, eine Augenbraue fragend hochgezogen, zu Isolte auf.

»Und? Reicht dir das, Isolte-Darling, oder hättest du es gern noch etwas dramatischer?«, erkundigt er sich.

Isolte mustert das Gesicht des Models mit zusammengekniffenen Augen und denkt nach. Die junge Frau blinzelt teilnahmslos durch schwere, orangefarbene Wimpern. Sie ist in ein Handtuch gewickelt, das das seidene Kleidchen darunter schützen soll. Als Isolte so über ihr steht, fällt ihr der feine Flaum auf, der wie bei einem Baby den Rücken des Mädchens bedeckt; ein zartes, blasses Fell, das auf seinem Rückgrat glitzert. Hieß es nicht von Marilyn Monroe, sie sei komplett behaart gewesen? Angeblich ging deswegen auf Fotos dieses Strahlen von ihr aus. Das hier jedoch ist die Art Flaum, die sich bei Unterernährten bildet. Den kennt Isolte nur zu gut.

Sie zuckt mit den Schultern. »Ist toll so. Aber machen wir doch am besten ein Polaroid, dann sehen wir, wie es wirkt.« Am Set positioniert sich das Model vor den Strahlern, die Beine gespreizt, die Hüften vorgeschoben. Sie starrt in die Kamera, die Lippen arrogant gekräuselt. Bens Assistent hat mittlerweile die Windmaschine eingeschaltet und feine Streifen bunter Seide umflattern das Model wie ausgerissene Schmetterlingsflügel.

Ben beugt sich bereits über das Stativ, eine Hand auf dem Auslöser. Er ist total vertieft und bündelt seine gesamte Energie in diesen einen Moment. Seine Jeans ist an den Hüften ausgebeult, sein dunkles Haar fällt nach vorn. Es ist das letzte Fotoshooting des Tages. Alle sind müde.

»Wunderbar.« Er drückt ab. Dann gleich noch einmal. »Leck dir über die Lippen. Guck mich an, Süße. Ja, genau so. Super.«

Ben ist ein wahres Chamäleon. Er weiß, wie er mit jedem Mädchen umzugehen hat, und sein Ton wechselt von Shooting zu Shooting. Isolte hat ihn schon öfter den forschen Macho spielen sehen, aber er kann genauso gut ein wenig tuntig tun oder ganz sanft und liebenswürdig sein, um das Beste aus einem Model herauszuholen.

»Wie schraubt James Brown eine Glühbirne ein?«, fragt er und das Model zuckt mit den Schultern.

»Er hält sie einfach an die Fassung – die Welt dreht sich schließlich um ihn.«

Das Mädchen wirft den Kopf in den Nacken und lacht. Ben drückt ab. Isolte kennt den Witz. Sie steht da, die Arme verschränkt, und stellt sich das Bild auf der Zeitschriftenseite vor; vor ihrem geistigen Auge formt sich bereits die Unterschrift. Es ist wirklich ein gutes Foto. Das Model wirkt fast transparent, sein kantiges Gesicht spielt mit den Schatten, sodass das Licht genau auf die richtigen Oberflächen fällt und das Mädchen in eine exquisite außerirdische Schönheit verwandelt. Vielleicht schafft sie es sogar aufs Cover.

Draußen ist Frühling. Ein typischer Londoner Regentag. Aber Isolte steht hier in einem Raum ohne Fenster und erschafft Bilder, die erst für Juli gedacht sind. Sie mag es, immer drei Monate in die Zukunft zu arbeiten und sich so durchs Jahr ziehen zu lassen, als hätte die Zeit in den sechsten Gang geschaltet. »Ich würde sagen, das war’s.« Ben richtet sich auf, applaudiert kurz in den Raum und hebt dann die Hände. »Gut gemacht, Leute. Wir haben’s im Kasten!« Ziemlich abgedroschen, was er da macht, aber er kann es sich erlauben. Von seinen wuscheligen dunklen Haaren bis hinunter zu den ausgeblichenen roten Chucks strahlt er eine mühelose Coolness aus, die es ihm erlaubt, unsichtbare gesellschaftliche Grenzen zu überschreiten und sich selbstbewusst durch die Welt zu bewegen. Natürlich schaden dabei weder sein sinnliches Gesicht mit den markanten Wangenknochen, noch seine geschwungenen Augenbrauen, die ihn je nach Stimmung wie Groucho Marx oder Lord Byron aussehen lassen, oder die vollen Lippen, die sich von Natur aus zu einem Schmollen zu formen scheinen. Isolte fällt auf, wie die Haarstylistin Ruby errötet und sich abwendet, um ihre Sprays und Bürsten einzusammeln.

Die Windmaschine und die gleißend hellen Lampen werden ausgeschaltet. Das Model reibt sich die Augen und nimmt sein Handtuch. Das Studio ist fast leer und ohne die Musik düster und trist. Julio, seinen Schminkkoffer im Schlepptau, ist bereits gegangen und Ruby packt gerade im Hinterzimmer ihre Sachen. Das Model schiebt seine knochigen Schultern in einen alten Tweedmantel und zündet sich eine Zigarette an; im Gehen winkt es und blättert in seinem Terminkalender. Ben ruft seinem Assistenten zu: »Bring schon mal die Kameras in mein Auto, ja? Und dann halt da Wache, bis ich komme.«

»Na, Lust, noch was trinken zu gehen?« Er wendet sich lächelnd Isolte zu. »Orangensaft natürlich.«

Sie zieht eine bedauernde Grimasse. »Ich kann nicht.«

»Schade.« Plötzlich ist er ganz nahe und sie spürt seine Hand auf ihrem Oberschenkel, seine Finger, die über ihre Strumpfhose gleiten. Sein Mund ist an ihrem Ohr, heißer Atem und gemurmelte Worte. Tief in ihrem Inneren spürt sie, wie sich ein Schalter umlegt, Verlangen sie ergreift. Ihr Atem geht schneller. Sie schluckt, presst sich einen Augenblick lang an ihn und flüstert dann: »Vergiss es, du Lustmolch«, und schlüpft aus seinem Griff.

»Einen Versuch war es wert.« Er grinst. »Ich hab den ganzen Tag drauf gewartet, dich endlich in die Finger zu kriegen.«

»Da wäre ich nie drauf gekommen … Trotzdem, ich muss los.« Isolte schiebt ihn von sich und muss wider Willen lächeln. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich zu Viola will.«

Dann überlegt sie es sich anders, tritt noch einmal auf ihn zu und küsst ihn. Darauf hat sie selbst den ganzen Tag gewartet – auch wenn sie es ihm nicht zeigen will. Sie hat sich schon immer sicherer in der Rolle des zurückhaltenderen Parts gefühlt, desjenigen, der nicht so sehr liebt. Seine Lippen sind weich, etwas trocken; Zähne treffen auf Zähne. Sie atmet tief ein, riecht den Schweiß des Tages, den Hauch von Metall und Plastik an seinen Fingern. Dann weicht sie wieder zurück, streicht ihre Kleider glatt und wirft einen Blick in den Spiegel, wie um nach verräterischen Spuren des Kusses zu suchen.

»Frauen.« Ben schüttelt den Kopf, leckt sich nachdenklich die Lippen. »Seid ihr eigentlich alle so durchgeknallt?« Er zieht seine Lederjacke über.

»Tja, sag du’s mir«, entgegnet Isolte. »Du bist doch der Experte.«

Er umfasst ihre Taille und zieht sie an sich. »Du denkst nur das Schlimmste von mir, stimmt’s, du ungläubiger Thomas?«

Sie wehrt sich und reißt sich schließlich atemlos lachend los. »Nenn mich nicht so.«

»Wie?« Er hebt die Augenbrauen. »Ungläubig?«

»Nein, du Idiot, Thomas.« Sie schüttelt den Kopf. »Jetzt muss ich aber wirklich.« Sie wirft sich ihre Handtasche über die Schulter. »Du weißt ja: Termine, Termine.«

Unten wartet bereits ihr Taxi.

»Heißt das, du kommst heute Abend vorbei?«, ruft er.

Isolte wird weich. »Ja. Bis später.« Sie lässt den Aufzug Aufzug sein und nimmt stattdessen die Treppe; ihre Absätze klappern auf dem Beton.

»Sag Viola schöne Grüße.« Seine Stimme dringt als hohles, waberndes Echo durch das leere Treppenhaus.

Taxis sind ein Luxus, den Isolte sich gönnt. Meistens kann sie die Fahrten als Spesen abrechnen, aber wenn es sein muss, bezahlt sie selbst die horrendesten Tarife, um zur Rushhour dem Schmutz der U-Bahn und dem Gedränge und Gerangel an den Bushaltestellen zu entgehen.

Isolte lehnt sich zurück und blickt hinaus auf die dämmrigen Straßen. Der Verkehr schiebt sich zäh und ungeduldig voran. London wimmelt vor Menschen, die von der Arbeit kommen oder schon wieder ausgehen. Ein unversiegbarer Strom gestresster Pendler ergießt sich auf die Straßen, vorbei an Touristen, die sich mit gereckten Hälsen und Kameras an den Ecken versammeln. Es hat aufgehört zu regnen, doch überall stehen ölig glänzende Pfützen und auf dem feuchten Asphalt spiegeln sich die Lichter der Stadt.

Der Fahrer beugt sich über das Lenkrad. Am Rückspiegel baumeln ein schlichtes Kreuz, ein Foto eines dunkeläugigen Kindes und eine Plastik-Mickymaus. Ab und zu wandert sein Blick zum Spiegel, zu ihr. Sie zieht ihren Mantel fester um sich und sieht aus dem Fenster. Das Radio gibt nur Stottern und Rauschen von sich.

Plötzlich erhebt sich ein Hupkonzert und irgendjemand ruft etwas Ärgerliches. Ein Betrunkener torkelt zwischen den Autos umher, die Hände vor sich ausgestreckt, als wäre er blind. Ein Radfahrer muss einen hastigen Schlenker fahren, um ihm im letzten Moment auszuweichen; der Mann auf dem Sattel dreht sich um, sein Mund formt ein empörtes O. Isolte macht sich ganz klein in ihrem Sitz, als der Betrunkene an ihrem Taxi vorbeiwankt. Doch ihre Augen wandern unwillkürlich zu seinem Gesicht und sie beobachtet, wie sein ausdrucksloser Blick sie streift. Er hat die stumpfen Züge eines Obdachlosen. Aus dem Augenwinkel nimmt sie eine abrupte Bewegung wahr, dann hört sie, wie seine knochigen Finger auf Glas donnern. Er schlägt mit der Faust an ihr Fenster. Isolte zuckt zusammen und beißt sich auf die Lippe. Der Fahrer dreht sich um und flucht, dann legt er einen anderen Gang ein und fährt weiter.

Vorsichtig betastet Isolte ihre Lippe; sie schmeckt Blut. Der verlorene Blick des Betrunkenen hat sich in ihren Kopf eingebrannt, sein stieres Gesicht eine verschwommene Karikatur seiner selbst. Sie selbst trinkt keinen Alkohol. Sie hat nie den Wunsch verspürt, in dieser Art von Vergessen zu versinken. In ihrer Erinnerung gibt es keine Lücken. Sie mag das Gefühl, die Kontrolle über sich selbst zu behalten, während die anderen um sie herum lockerer werden und ihre Worte immer ungehemmter fließen. Sie kann sich an Partys erinnern, auf denen ihr Menschen, die sie kaum kannten, Geheimnisse anvertraut, sexuelle Vorlieben zugeflüstert und Fehltritte gebeichtet haben. Diese Art von Verwundbarkeit macht ihr Angst. Wie können Menschen das freiwillig in Kauf nehmen?

»Sie hat heute viel geschlafen«, warnt die Krankenschwester Isolte. Kopfschüttelnd deutet sie auf das Bett in der Ecke, unter dessen Decke sich eine kleine Erhebung abzeichnet. Eine schlafende Gestalt. So schmal, dass sie mehr einem durch einen Pflug aufgeworfenen Erdkamm ähnelt.

Als Viola zum ersten Mal ins Krankenhaus kam, glaubte Isolte, nun würde sie geheilt. Inzwischen, neun Jahre später, hat Viola mehrmals den Therapeuten gewechselt und einen Monat in einer psychiatrischen Klinik verbracht; zunächst ging es ihr besser, dann wieder schlechter. Dies ist ihr dritter Krankenhausaufenthalt. Viola arbeitet schon seit langer Zeit an ihrem Vorhaben, sich in Luft aufzulösen.

Langsam geht Isolte auf das Bett zu. Die ältere Patientin gegenüber von Viola liegt von Kissen gestützt auf der Decke und müht sich mit ihrem Strickzeug ab. Schlaufen violetter Wolle hängen über die Bettkante. Sie blickt zu Isolte auf und lächelt. Isolte erwidert das Lächeln und bemerkt dann peinlich berührt, dass die Frau, die mit angezogenen Beinen dasitzt, keine Unterwäsche trägt. Warum hat keine der Schwestern sie darauf aufmerksam gemacht? Warum hat ihr nicht einfach jemand die Decke übergelegt? Hastig wendet Isolte sich ab und zieht einen Stuhl ans Bett ihrer Schwester.

Viola liegt kerzengerade auf dem Rücken, die Augen geschlossen, die Decke sorgfältig über der Brust umgeschlagen. Sie gibt durch nichts zu erkennen, ob sie Isoltes Anwesenheit registriert hat.

»Viola, ich bin’s. Ich hatte ja gesagt, dass ich nach der Arbeit vorbeikomme. Weißt du noch?« Keine Reaktion. Isolte beugt sich vor und betrachtet das Gesicht ihrer Schwester. Ein dünner gelber Schlauch führt von Violas linkem Nasenloch über ihre Wange bis hinters Ohr. Er ist mit mehreren Streifen klaren Klebefilms befestigt, unter denen die Haut zusammengedrückt wird. Durch diesen Schlauch werden flüssige Kalorien direkt in Violas Magen geleitet.

Mit einem Mal regt sich Viola und wendet abrupt den Kopf zur Seite, als fühle sie etwas auf ihrer Wange, einen peitschenden Zweig vielleicht oder ein verirrtes Insekt. »Viola, hörst du mich?« Doch Viola bleibt in ihren Träumen gefangen. Ihre geballten Fäuste liegen auf der Decke. Die Handgelenke lugen unter blauen Pyjamaärmeln hervor, nichts als Knochen, schmerzvoll anzusehen. Isolte streckt die Finger aus, um sie zu berühren, und zögert. Faltet die Hände in ihrem Schoß.

Das Krankenhaus ist eine fremde Welt. Hier scheint die Zeit anders zu vergehen, endlos ziehen sich die Stunden in dieser wetterlosen Zone hin. Violas Station befindet sich im vierten Stock des alten, viktorianischen Gebäudeteils. Die Räume haben hohe Decken und Fenster, aus denen man nur nach draußen sehen kann, wenn man sich auf einen Stuhl stellt. Die Wände sind in kränklichem Anstaltsgrün gestrichen; die Farbe erinnert Isolte an ihre Grundschule. Sie kann sich nichts Schlimmeres vorstellen, als wochenlang hier festzusitzen. Kein Wunder, dass Viola andauernd schläft.

Von den Betten geht eine ständige Unruhe aus: Husten, Räuspern, Deckengeraschel. Ein Mann wischt lustlos den Boden, in langsamen Halbkreisen schiebt er den Mopp vor sich her. Isolte kann zusehen, wie sich das Schmutzwasser zwischen den dünnen Stoffstreifen sammelt. Sie findet sich damit ab, nichts tun zu können, lehnt sich einfach zurück und studiert das Gesicht ihrer Schwester. Dabei fühlt sie sich seltsam indiskret. Viola anzusehen, war früher wie der Blick in einen Spiegel, der sie aus allen Winkeln zeigte. Ihre Schwester zu betrachten, zählte nicht als Gaffen, es war vielmehr, als kritisierte oder bewunderte sie ihre eigenen Züge. (Aha, dachte sie zum Beispiel, so sieht also meine Nase von der Seite aus, wenn ich lache.)

Viola liegt wieder reglos da. Ihre Nase und Wangenknochen stechen scharf hervor, in den Vertiefungen sammeln sich Schatten. Unter ihren schlaffen Lippen sind die Umrisse ihrer Zähne zu erkennen. Isolte kann hinter dem Gesicht ihrer Schwester den Schädel erahnen, seine ebenen Flächen und Krümmungen, die klaffenden Augenhöhlen – die Formen werden langsam schärfer wie bei einem sich entwickelnden Foto. Sie kann sich einfach nicht daran gewöhnen, ihre Schwester so zu sehen. Es fällt ihr immer schwerer, sich an die Viola ihrer Kindheit zu erinnern, mit runden Wangen und einem breiten Lächeln. Dafür aber weiß Isolte ganz genau, wann die Veränderung eingesetzt hat: als sie bei ihrer Tante Hettie in London wohnten, als ihr Leben im Wald vorüber war.

* * *

Die Haustür öffnet sich und gewährt dem Verkehrslärm auf der Fulham Road schlagartig Einlass, bevor sie zufällt und die Geräusche von der Straße wieder gedämpft sind. Einer der Hunde bellt zur Begrüßung, Hettie blickt stirnrunzelnd auf die Uhr. »Wo in aller Welt ist sie gewesen?«

Hettie und Isolte sehen vom Abendessen auf, als Viola sich, die Hände in den Taschen vergraben und einen zerschlissenen Beutel über der Schulter, in die Küche schiebt. Die Spaniel schnüffeln in blinder Begeisterung an ihren Füßen und hecheln vor Freude, als sie ihnen über die seidigen Ohren streicht.

Isolte erinnert sich an den Geruch gebratenen Lamms, die warme, gemütliche Küche, deren zugezogene Vorhänge den Herbstabend aussperrten. Und Viola, hager und abweisend, die schweigend in der Tür stand, als brächte sie es nicht über sich, den Raum zu betreten. Schon damals hätten ihre Alarmglocken schrillen müssen. Isolte hätte wissen müssen, dass ihre Schwester Hilfe brauchte.

Viola steht vor ihrer Tante und ihrer Schwester, die vormals langen Haare abrasiert wie eine Gefängnisinsassin. Die verbliebenen dunklen Stoppeln heben die Blässe ihres Schädels hervor. Misstrauisch fährt sie sich mit der Hand über die Kopfhaut, als sei sie selbst überrascht, sie unter den Fingern zu spüren.

Hettie gibt ein ersticktes Keuchen von sich und hüstelt dann, um es zu übertünchen.

Viola starrt sie aufsässig an. »Sind doch meine Haare.« Ihr Nasenring glitzert. Auch dieser ist eine neue Errungenschaft und die Haut um das Silber leuchtet noch rot und wund.

»Na ja, jetzt nicht mehr«, kann Isolte sich nicht verkneifen.

Doch trotz ihrer scherzhaften Bemerkung verspürte Isolte einen besorgten Stich. Sie sah das hervorstechende Schlüsselbein ihrer Schwester, ihre Hände, die wie Vogelkrallen unter den zu langen Ärmeln hervorlugten, die Nägel bis aufs Fleisch heruntergekaut. Es war vier Jahre her, dass sie Suffolk verlassen hatten, und ganz offensichtlich hatte Viola sich nicht an das Stadtleben gewöhnt. Sie hatte sich nicht einmal Mühe gegeben, an der neuen Schule Freunde zu finden.

Doch unter die Sorge mischte sich auch Verärgerung. Isolte konnte nichts dagegen tun; manchmal hatte sie einfach den Eindruck, dass Viola es ihnen mit Absicht so schwer machte. Sie wanderte durchs Haus wie ein Geist, schweigsam und abwesend. Sie ließ ihre Vorhänge den ganzen Tag geschlossen und der penetrante Geruch von Raucherstäbchen erfüllte ihr dunkles Zimmer, in dem sie sich stundenlang verbarrikadierte. Und fast nie setzte sie sich mit ihrer Tante und ihrer Schwester an den Esstisch, sondern fand immer wieder neue Ausreden.

»Wie wär’s mit Abendbrot?« Isolte springt auf und geht zum Backofen, als könne sie Viola mit ihrer bloßen Energie dazu bewegen, Ja zu sagen.

»Wir haben dir extra Kartoffelpüree und ein Kotelett aufgehoben, Liebes«, fügt Hettie hinzu. »Mussten es richtig gegen diese Höllenhunde verteidigen.«

Die Spaniel zappeln erwartungsvoll in ihren Körbchen vor der Heizung und starren Hettie mit hängenden Zungen an.

Viola schüttelt den Kopf. »Hab schon gegessen.«

»Zum Nachtisch gibt es Eis.« Isolte bemüht sich, ihre Stimme fröhlich und einladend klingen zu lassen und den Widerwillen, der sich beim Anblick des rasierten Schädels in ihr regt, zu überspielen.

Aber Viola ist bereits halb aus der Tür.

Isolte erinnert sich daran, wie sie Hettie ansah, während sie Violas Schritten auf der Treppe lauschten, vereint in ihrem Frust. Doch das Ausmaß des Problems begriffen sie nicht – noch nicht. Durch ihre weiten Kleider verbarg Viola, wie viel sie tatsächlich abgenommen hatte. Isolte hat ihre Schwester niemals nackt gesehen.

Kurz darauf ertönte das Klicken der sich schließenden Tür und Hettie verzog das Gesicht. »Gleich geht’s wieder los …«

Ein paar Augenblicke später dröhnte hämmernde Musik durch die Decke.

Dort oben saß Viola, allein, und zog mit ihren dünnen Fingern Schallplatten aus den Hüllen: Sex Pistols, The Clash, die Ramones.

Isolte konnte sich absolut nicht erklären, was ihre Schwester an diesem Krach fand.

»Ich glaube, in Wirklichkeit mag sie diese Musik auch nicht«, überlegte Hettie. »Sie will damit wahrscheinlich nur ihre Haltung zum Ausdruck bringen. Macht ihr jungen Leute das heutzutage nicht so?«

Aber Isolte wusste schon lange nicht mehr, was Viola überhaupt wollte.

* * *

Viola in ihrem Krankenbett hat sich nicht noch einmal bewegt und zeigt auch keinerlei Anzeichen dafür, dass sie es tun wird. Isolte steht auf und zieht ihren Mantel an. Die Frau gegenüber merkt, dass Isolte aufbrechen will; sie hält mit dem Stricken inne und winkt sie eindringlich an ihr Bett. Höflich lächelnd geht Isolte auf sie zu.

Das Gesicht der Frau verzieht sich, vor Aufregung oder vor Schmerz. Sie schiebt ein verheddertes, violettes Knäuel beiseite und krallt sich mit ihren hutzeligen Fingern in Isoltes Ärmel. »Tun Sie mir einen Gefallen?«, röchelt sie, als sich Isolte zu ihr hinunterbeugt. »Wissen Sie, ich erwarte Besuch von meinem Sohn und seinen Kindern. Wenn Sie sie sehen, würden Sie ihnen wohl bitte sagen, wo ich bin?«

Die Stimme der Frau überrascht Isolte; ihre geschliffene Aussprache lässt sie an Jagdpartien und Teesalons denken. Isolte hört den Atem in der Brust der Frau rasseln.

Sie nickt und schluckt, befreit ihren Ärmel aus dem Griff der Frau. »Ja. Natürlich, das mache ich.«

Dann geht sie hastig zwischen den Betten hindurch, den Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen, voll schlechtem Gewissen und gleichzeitig froh über ihre Freiheit.

Plötzlich verspürt sie den Drang, Ben zu sehen, bekommt Sehnsucht nach seinem gesund federnden Schritt und seiner männlichen Lässigkeit. Ben kann einen ganzen Raum mit seinen Bedürfnissen, seinen Ansichten und seinen Witzen erfüllen. Manchmal stört sie das, oft aber ist es auch das Tröstlichste, was sie sich vorstellen kann. Sie sind nun schon seit über einem Jahr zusammen und sie hat Ersatzunterwäsche, Schminkutensilien und eine Kosmetiktasche in seiner Wohnung deponiert. Sie muss also nicht erst nach Hause, sondern kann direkt zu ihm fahren. Energisch drückt sie den Aufzugknopf. Sie kommt sich vor, als sei sie auf der Flucht.

Isolte hat vor, Ben von seinem Telefon und dem Fernseher abzulenken, ihn davon abzubringen, sie mit in eine Bar zu irgendwelchen Freunden zu zerren, die in seiner Gesellschaft Wodka Martinis kippen wollen. Sie könnten doch zu Hause bleiben, nur sie beide, den Rest der Welt aussperren und Essen beim Inder bestellen. Noch so ein angenehmer Charakterzug an Ben – seine gedankenlose, unkomplizierte Beziehung zum Essen. Und später, in seinem Kingsize-Bett, wird sie sicher in seinen Armen liegen. Sie liebt es, wenn Ben sie so fest an sich drückt, dass ihr die Luft aus den Lungen gepresst wird. Ihr ist, als könne sie bereits den scharfen Currygeschmack auf ihrer beider Lippen schmecken.

3

Mummy lag schlafend auf der Seite, einer ihrer langen Füße lugte unter der Decke hervor. Ihr zerzaustes Haar quoll aus der Lücke zwischen Decke und Kissen wie ein Spinnennest. Wir ließen sie sabbernd dort liegen. Der Morgen erwartete uns, die Tauben im Wald riefen. Mit frühstücken hielten wir uns gar nicht erst auf, sondern stopften uns die Taschen mit Keksen für später voll und zogen leise die Küchentür hinter uns zu.

Der Kiefernwald erstreckte sich meilenweit, durchzogen von sandigen Pfaden. Niemand sah uns auf unseren Fahrrädern. Die Männer von der Forstwirtschaftsbehörde fuhren immer in Geländewagen durch die Gegend, die wir schon lange hörten, bevor sie in Sicht kamen. Und zum Campen war es für die meisten Leute noch zu früh im Jahr. Beim ersten Anzeichen dafür, dass sich jemand näherte, warfen wir die Räder unter irgendwelche Büsche und tauchten ab ins Unterholz. Im Wald wurden wir biegsam wie junge Schösslinge, verschmolzen mit den Schatten wie Indianer und bewegten uns völlig lautlos. Wir rieben uns die Wangen mit krümeliger Erde ein und spalteten Kiefernzapfen, deren scharfer grüner Geruch an unseren Fingerspitzen haftete.

Andere Leute fanden uns seltsam. Sie starrten uns an und stellten dumme Fragen wie: »Und wer von euch beiden ist die Klügere?« oder »Wer ist die Stillere?« Wenn ich allein war, flüsterten meine Klassenkameraden hinter vorgehaltener Hand: »Welche von beiden ist es jetzt?« Aber was will man auch von Menschen erwarten, die nur die Hälfte ihrer selbst sind? Issy sagte immer, sie seien bloß eifersüchtig, und ich wusste, dass sie recht hatte. Sie mussten schließlich spüren, dass ihnen etwas fehlte, dass es jemanden gab, der einfach nicht da war.

Egal, wie wir uns anzogen, niemand konnte uns je auseinanderhalten – obwohl ich immer das größere Baby und dann das rundlichere Kind gewesen war. »Knuddelig« nannte Mummy mich. Manchmal, wenn Isolte und ich nebeneinanderstanden, zeigte jemand auf mich und rief, als habe er soeben eine außergewöhnliche Entdeckung gemacht: »Aha! Du bist also die Stabilere von euch beiden!«

Stabiler. Wie ich dieses Wort hasste.

»Sind sie nicht clever?«, flüsterte Issy dann vernehmlich.

An diesem Tag trugen wir beide Jeans und ich hatte unter dem Anorak mein gelbes T-Shirt mit einem Einmachglas voller Autos an. Die bunten Autos waren fein säuberlich, Stoßstange an Stoßstange, in dem Glas aufgeschichtet. Darunter stand Traffic Jam. Ich liebte dieses Oberteil. Mummy hatte es mir vom Glastonbury Festival mitgebracht. Issy bekam ein blaues, auf dem sich ein dicker Regenbogen wölbte. Mummy zwang uns nie, uns gleich zu kleiden; manche Sachen tauschten wir untereinander aus, aber unsere Lieblingsteile behielten wir für uns. Issy beäugte neidisch mein T-Shirt und kaute auf der Unterlippe. Sie wusste, dass ich es niemals mit ihr teilen würde.

Wir schlugen den Pfad Richtung See ein. Zu beiden Seiten erhoben sich hohe, gerade Bäume. Um ihre Wurzeln schlang sich Dornengestrüpp und dazwischen breiteten sich Farne aus wie glänzende Schirme. Tiefer im Wald verdichteten sich die Schatten. In dem Dunkel dort wuchs nichts mehr. Tote Äste verrotteten auf einem Bett abgefallener Kiefernnadeln und die Überreste umgestürzter Bäume waren voll mit glitschigen Pilzen, bleich wie Pergament.

Als der Pfad sich bergauf zu schlängeln begann, wurde das Radfahren schwieriger, nicht wegen der Steigung, sondern weil der Sand dort tiefer war und weich wie Zucker. Meine Beine waren müde. Ich stemmte mich in die Pedale und gab noch einmal mein Bestes. Doch trotz meiner Mühen verdrehte sich mein Vorderreifen und blieb stecken.

Issy hatte ihr Fahrrad mitten auf dem Pfad liegen lassen, die Reifen rotierten. Sie hockte am Wegesrand und stupste etwas an, das sie im langen Gras entdeckt hatte. »Guck mal«, sagte sie und schob die grünen Halme beiseite, »schnell, Viola, ein Kaninchen. Es ist krank.«

Das Kaninchen erzitterte unter unseren Blicken, die Ohren ganz flach an den mageren Rücken gepresst. Sein Fell wirkte stumpf und trocken. Mit zuckender Nase erschnupperte es die Gefahr unter der Tarnung aus Harz an unseren Fingern. Sehen konnte es uns nicht, denn sein Gesicht war völlig zugeschwollen. Wo eigentlich die Augen hätten sein müssen, saßen dicke, triefende Eiterblasen. Auf dem klebrigen Fell ringsum drängten sich fette Fliegen.

Ich streckte die Hand aus und strich dem Kaninchen über den Rücken. Seine Wirbelsäule war scharf wie eine Klinge. Das kleine Wesen zuckte zusammen und drückte sich noch tiefer ins Gras. »Was machen wir denn jetzt?« Meine Stimme bebte und überschlug sich, obwohl mir klar war, dass Issy wissen würde, was zu tun war. Das wusste sie immer.

»Wir müssen es zum Tierarzt bringen.« Sie war blass unter ihrer Sonnenbräune und hatte die Lippen zu einem dünnen, entschlossenen Strich zusammengekniffen.

Wir rissen büschelweise Wiesenkerbel aus, verdrehten Farnwedel, bis die dicken Stiele splitterten und brachen, und legten mein Fahrradkörbchen damit aus, als wären es Palmblätter. Das Kaninchen versteifte sich, als ich es hochhob. Ich spürte, wie sein Herz schneller schlug, und dann ein kaum wahrnehmbares Kribbeln auf meiner Hand. Verständnislos starrte ich für einen Moment auf die Unmenge schwarzer Punkte auf meiner Haut, dann quietschte ich: »Flöhe!«, und drosch mit den Handrücken auf meine Jeans.

Das Kaninchen im Korb schien das Fahrrad kein Gramm schwerer zu machen, als ich es zurück durch den tiefen Sand schob. Die Fliegen folgten uns in einer trägen Wolke. Ich verscheuchte eine von ihnen von meinen ausgetrockneten Lippen. Das würde eine lange Fahrt in die Stadt werden. Und wir würden über die Hauptstraße müssen, an den Kasernen vorbei durchs Dorf. Es war ein Schultag. Man würde uns sehen.

* * *

Ich kann noch andere Geräusche hören außer dem grün duftenden Wind und dem Sirren unserer Fahrradreifen: Stimmen, die aus einer fremden Welt in meine vordringen, Füße, die über einen glänzenden Boden eilen, und das Keuchen und Pumpen eines Beatmungsgeräts.

Ich will nicht zurück. Ich weigere mich, diesen Moment zu verlassen. Solange ich die Augen nicht aufmache, bin ich in Sicherheit.

»Viola?«

Jemand ruft meinen Namen.

»Können Sie mich hören?«

Verärgertes Schnaufen. Ein Schatten, der sich wegbewegt.

Meine Hände ballen sich zu Fäusten, als umklammerte ich die Griffe eines Fahrradlenkers. Ich will wieder dort sein, zwischen den Bäumen, wo die Morgensonne mir warm auf den Rücken scheint. Ich will nicht in meinen anderen Körper zurückkehren, in seine scharfen Kanten und leeren Aushöhlungen. Im Wald ist es 1972 und wir sind zwölf Jahre alt. Stirnrunzelnd lecke ich mir Salz von den Lippen. Meine Stirn ist schweißnass. Ich will bei meiner verlorenen Schwester bleiben, bei dem Tag, an dem ich ein sterbendes Kaninchen in meinem Fahrradkorb hatte und fest glaubte, ich könnte dafür sorgen, dass es überlebte.

* * *

Wir fuhren immer weiter zwischen den Bäumen hindurch, jetzt müheloser, nachdem wir den gepflasterten Weg erreicht hatten, der aus dem Wald herausführte. Ich beugte mich über den Lenker und sang dem Kaninchen etwas vor, eine leise, beruhigende Melodie. Issy fuhr vorneweg, ihr blondes Haar flatterte hinter ihr her. Ihre Schultern strahlten Entschlossenheit aus. Ich wusste genau, wie in diesem Moment ihr Gesicht aussah, die leicht nach unten gezogenen Mundwinkel, die Augen, die in die Sonne blinzelten, die Sommersprossen, aufgehellt durch das gleißende Licht. Diese Flecken überzogen unsere Haut wie ein Tarnmuster. Im Schatten ließen sich so viele davon ausmachen, dass man sie nicht zählen konnte. Wir waren beide auf ganz eigene Art gezeichnet, aber interessanterweise nutzte niemand diesen Unterschied, um uns auseinanderzuhalten. »Für die sind Sommersprossen eben einfach Sommersprossen«, lautete Issys Urteil dazu.

Wir hatten den Waldrand fast erreicht, als der Stein von Issys Vorderreifen abprallte. Ein scharfes Peng ertönte, beinahe wie ein Schuss. Er war aus den Büschen zu unserer Linken geflogen gekommen, ein böswillig gemeintes Geschoss. Issy kam abrupt zum Stehen. Ich konnte ihr gerade noch ausweichen, geriet dabei jedoch fast aus dem Gleichgewicht. Der Korb schwankte und ich sah zu, wie das Bündel Haut und Fell darin langsam zur Seite kippte. Dann blieb es liegen, wie es war, den Kopf an das Flechtwerk des Korbs gedrückt.

Hinter einem Baum drang Gelächter hervor. Im Unterholz raschelte es. Binnen Sekunden war Issy dort und schob die Zweige zur Seite.

»Lass das, du Idiot!« Ihre Fäuste ballten sich. Ein Junge trat hinter einem Baum hervor, größer als wir, aber ungefähr im selben Alter, schätzte ich, vielleicht ein kleines bisschen älter. Er hatte rote Haare. Dunkelrot, wie Rost auf altem Metall oder ein Rosskastanienblatt im Herbst. Er hielt seine Steinschleuder über Issys Kopf. »Versuch doch, mich dran zu hindern.« Sein triumphierendes Lächeln entblößte einen angeschlagenen Schneidezahn.

Issy sprang in die Luft und grabschte, wie wild mit den dünnen Armen rudernd, nach der Schleuder. Gleich kratzt sie ihm die Augen aus, dachte ich. Mit einer lässigen Bewegung aus dem Handgelenk warf er die Waffe hinter sich. Dort stand ein weiterer Junge. Wieder Gelächter. Der andere Junge trat ins Licht, von seinen Fingern baumelte die Schleuder.

Issy wurde merkwürdig still und bewegte sich rückwärts auf die Straße, bis sie neben mir stand. Wir starrten die Jungen an, voller Ehrfurcht. Noch nie hatten wir einem anderen eineiigen Zwillingspaar gegenübergestanden. Diese beiden ähnelten sich so sehr wie wir uns – sie glichen einander aufs Haar, bis auf den kaputten Zahn. Außerdem hatte der zweite Junge ein blaues Auge. Und zwar ein richtiges Prachtexemplar, das sich gerade von tiefem Tintenblau in ein trübes Grün verfärbte.

Issy erholte sich als Erste von dem Schock. »Wir haben hier ein krankes Kaninchen«, sagte sie und deutete auf den Korb.

»Dann zeigt doch mal.« Der erste Junge kam herübergeschlendert.

Ich streckte schützend die Hand aus. Aber er beugte sich ganz ruhig und sanft über das Tier, die Stirn kraus gezogen, die Hände tief in den Taschen vergraben.

»Das hat Myxo.« Kopfschüttelnd trat er von einem Fuß auf den anderen und bedeutete seinem Bruder, näher zu kommen. »Guck.« Er nickte zu dem Korb hinüber.

Der andere rieb sich den Nacken und grunzte zustimmend. Mir stieg sein Geruch in die Nase, irgendwie roh und erdig. Sein T-Shirt war zerrissen und über seinen Arm zog sich ein langer Kratzer, dessen Kruste bereits abblätterte.

Issy und ich sahen einander an. Ich wusste, dass sie darauf brannte zu fragen, was die Jungen meinten, aber ihr Stolz hielt sie davon ab. Sie blickte mich fragend an. Ich blickte fragend zurück. Ich wollte nicht fürs Reden zuständig sein. Das war sonst immer sie. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.

Das Herz wummerte mir in der Brust, als stünde ich kurz davor, ein Rennen zu laufen. Ich schluckte. »Was ist das?«, fragte ich schnell. »Was ist Myxo?«

»Kaninchenpest. Sind halt Schädlinge. Die Bauern haben ’nen Hass auf die Viecher. Also verpassen sie ihnen die Krankheit«, erklärte der erste Junge. »Ziemlich beschissene Art zu sterben.«

»Dann kann man nichts tun?« Issy reckte das Kinn.

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Wie heißt ihr?« Issy schluckte. Sie versuchte, das alles zu begreifen. Einzuschätzen, was wir tun sollten.

»Michael«, sagte der Junge.

»John«, der andere. Der mit dem blauen Auge.

»Ich bin Viola«, stellte ich mich mutig vor. »Und das ist Isolte.«

»Komische Namen.« Michael zuckte mit den Schultern.

Uns kamen sie nicht komisch vor. So hießen wir nun mal. Mummy sagte immer, Viola und Isolte seien die Namen von Figuren aus der Literatur und sie habe sie für uns ausgesucht, weil sie so schön klängen und starken Frauen gehört hätten, die beide die wahre Liebe gefunden hatten. Ich öffnete den Mund und klappte ihn gleich wieder zu. An dieser Information waren die Jungen vermutlich nicht sonderlich interessiert. Vielleicht würden sie mich sogar auslachen.

Issy war schon dabei zu erklären, dass die Leute sie ja normalerweise auch Issy nannten, aber Michael hörte gar nicht zu. Er runzelte die Stirn, als müsse er sich angestrengt konzentrieren, und deutete schließlich auf die Steinschleuder in der Faust seines Bruders. »Wir könnten ihm den Rest geben.«

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass er das Kaninchen meinte. Ich spürte, wie mir die Luft aus den Lungen wich und ich sackte nach vorn, die Finger nach dem Korb ausgestreckt.

John und Michael sahen sich an. »Wär am besten für das Vieh«, sagte John.

Ich strich mit dem Finger über die Ohren des Kaninchens. Sie waren wie Seide, braunsilbrige Bänder aus Seide. Dann betrachtete ich die zusammengekniffenen Augenlider unter den prall geschwollenen Eiterbeulen. Ich schluckte und sah zu Issy hoch. Sie nickte.

»Geht das auch schnell?«, wollte ich wissen, während meine Finger das weiche Fell fühlten.

Michael kickte ein paar Steine über die Straße, als suche er nach etwas. Schließlich hob er einen kleinen Feuersteinbrocken auf und wog ihn in der gewölbten Hand. »Am besten machen wir’s ohne die Schleuder«, wandte er sich an seinen Bruder. Er rieb mit einem schmutzigen Finger über den Stein und betastete dessen Kanten.

Vorsichtig setzten wir das Kaninchen am Wegrand ab. Seine protestierend gespreizten Krallen zogen Gras und Farn aus dem Korb mit. Mit bebenden Flanken blieb es hocken. Mir entwich ein Schluchzer und ich hielt mir die Hand vor den Mund. Issy starrte unentwegt auf das Kaninchen, ich dagegen wandte den Blick ab, als einer der Jungen, ich weiß nicht mehr, welcher, fest mit dem Stein zuschlug. Ich konnte die Bewegung, die Schnelligkeit spüren.

Ein stumpfes Geräusch erklang. Gedämpft, nicht das feste Zack eines Balls auf einem Schläger oder das metallische Klirren, wenn ein Stein auf die Straße trifft. Unauffälliger und leiser. Fleisch und zarte Knochen, die nachgaben. Ich hatte befürchtet, dass das Kaninchen schreien würde. Doch es gab keinen Laut von sich.

»Erledigt.«

Ich schniefte und schluckte und wischte mir mit dem Handrücken das Gesicht trocken.

Später sagte Isolte: »Die sind ganz in Ordnung, diese Jungs, findest du nicht?«

 

1974

Lieber John,

ständig schreibe ich Dir Briefe und zerreiße sie dann doch nur. Und wahrscheinlich werde ich mit diesem hier dasselbe machen. Ich weiß ja nicht mal genau, was ich überhaupt sagen will. Außer, dass Du mir fehlst. So sehr. Es ist jetzt zwei Jahre, einen Monat und drei Tage her, dass ich Dich zum letzten Mal gesehen habe. Ich gehöre nicht hierher. Und das werde ich auch nie. Ich vermisse den Wald, den Duft der Kiefern und den Bodennebel, die grasenden Hirschrudel. Weißt Du noch, die Kreuzotter, die direkt vor unseren Füßen über den Weg gekrochen ist – so hoch bin ich noch nie gesprungen! Du hast mir die Hand auf die Brust gelegt und meinen Herzschlag gefühlt, um mich zu ärgern. Aber ich glaube, Du hast auch einen Schreck gekriegt. Nur dass Du das nie zugeben würdest, stimmt’s? Du hast immer gedacht, Du müsstest so furchtbar mutig sein. Ich denke andauernd an Dich, John, dann gehe ich das Ganze immer wieder durch und die vielen Was-wäre-wenns machen mich verrückt. Kannst Du mich an Deiner Seite fühlen, spüren, wie ich mich nach Dir sehne? Es tut mir so leid, wie es zu Ende gegangen ist. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und es wiedergutmachen. Aber das wünschen wir uns alle, nicht wahr?

Viola

4

Ben telefoniert. Er macht ein Schön-dich-zu-sehen-Gesicht, legt jedoch nicht auf. Isolte schlüpft aus ihrem Mantel, schlingt ihm die Arme um die Taille und atmet sein pfeffriges Aftershave und den Talg seines Wollpullovers ein. Geistesabwesend zieht er sie an sich, während er nickt und »Klar. Ja, gut. Okay« in den Hörer sagt. Sie fühlt das Vibrieren seiner Stimme in seinem Brustkorb. Wer am anderen Ende der Leitung ist, kann sie nicht hören. Schließlich lässt sie Ben los und schlendert nach nebenan.

Im Wohnzimmer läuft der Fernseher, die Lautstärke voll aufgedreht. Auf dem Bildschirm ist eine auf die Seite gekippte Fähre zu sehen, die in grauem Wasser treibt. Isolte liest die Bildunterschrift: Bergung der Herald of Free Enterprise. Die Nachrichtensprecherin blickt unter ihrem wasserstoffblonden Haarhelm auf und verkündet Isolte, dass von den 539 Passagieren an Bord 193 ums Leben gekommen sind.

»Scheiße.« Isolte schaltet den Fernseher aus.