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Das Buch

Die große amerikanische Schriftstellerin Joan Didion schreibt über die Trauer nach dem Tod ihres Ehemannes und über ihren Versuch, das Unfassbare begreiflich zu machen. Ein sehr offenes, sehr persönliches Zeugnis, das zugleich von beeindruckender Allgemeingültigkeit ist.

»Das Jahr magischen Denkens ist das direkteste, das roheste ihrer Bücher, es ist das Buch, in dem sie am wenigsten verbirgt.« FAS

Die Autorin

Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für große amerikanische Zeitungen und war Mitherausgeberin der Vogue. Heute gilt sie als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA entscheidend prägte. Autorinnen wie Annie Ernaux und Rachel Cusk haben sich von ihrem autofiktionalen Stil inspirieren lassen.

Die Übersetzerin

Antje Rávik Strubel lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Zuletzt erschienen von ihr In den Wäldern des menschlichen Herzens sowie Übersetzungen der Werke von Karolina Ramqvist und Lucia Berlin.

In unserem Hause sind von Joan Didion bereits erschienen:

Blaue Stunden · Im Land Gottes · Menschen am Fluss ·
Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben · Sentimentale Reisen ·
Süden und Westen · Woher ich kam · Das Letzte, was er wollte

Joan Didion

Das Jahr magischen Denkens

Aus dem Englischen von Antje Rávic Strubel

Ullstein

Dieses Buch ist für John und für Quintana

1

Das Leben ändert sich schnell.

Das Leben ändert sich in einem Augenblick.

Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben,

das man kennt, hört auf.

Die Frage des Selbstmitleids.

Das waren die ersten Worte, die ich schrieb, nachdem es passiert war. Das Datum der Microsoft Word Datei im Computer (»Notizen zur Veränderung.doc«) lautet: »20. Mai 2004, 22 : 22«, aber in diesem Fall hatte ich die Datei nur geöffnet und reflexartig auf Speichern gedrückt, als ich sie wieder schloß. Ich hatte an dieser Datei im Mai nichts geändert. Ich hatte an der Datei nichts mehr geändert, seit ich diese Worte schrieb, im Januar 2004, ein, zwei oder drei Tage nachdem es passiert war.

Lange Zeit schrieb ich nichts sonst.

Das Leben ändert sich in einem Augenblick.

In einem alltäglichen Augenblick. Um mich daran zu erinnern, was mir an dem, was passiert war, das Merkwürdigste schien, hatte ich irgendwann erwogen, jene Worte hinzuzufügen: »der alltägliche Augenblick«. Ich sah sofort, daß es nicht nötig war, das Wort »alltäglich« hinzuzufügen, denn ich würde es nicht vergessen: Das Wort ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Gerade das Alltägliche, das diesem Ereignis vorausgegangen war, hielt mich davon ab, zu glauben, es sei wirklich passiert, hielt mich davon ab, es anzunehmen, zu verarbeiten, darüber hinwegzukommen.

Nichts daran war ungewöhnlich, wie ich jetzt weiß: Im Angesicht der Katastrophe konzentrieren wir uns auf die Belanglosigkeit der Umstände, in denen das Undenkbare passierte, den klaren blauen Himmel, aus dem das Flugzeug stürzte; die schnelle Besorgung, die im Straßengraben endete, das Auto in Flammen; die Schaukeln, wo die Kinder spielten wie immer, als die Klapperschlange aus dem Efeu schoß. »Er war auf dem Nachhauseweg von der Arbeit – fröhlich, erfolgreich, gesund – und dann, vorbei«, lese ich im Bericht einer Psychiatrieschwester, deren Ehemann bei einem Autounfall ums Leben kam. 1966 interviewte ich viele Leute, die den Morgen des 7. Dezember 1941 in Honolulu erlebt hatten; ausnahmslos alle begannen ihre Erzählung über Pearl Harbor, indem sie mir erklärten, was für ein gewöhnlicher Sonntagmorgen es gewesen war. »Es war ein ganz normaler schöner Septembertag«, sagen die Leute noch immer, wenn sie den Morgen in New York beschreiben sollen, an dem American Airlines 11 und United Airlines 175 in die Türme des World Trade Centers geflogen wurden. Sogar der Bericht der 9/11-Untersuchungskommission begann mit diesem ahnungsvollen und doch nichtssagenden erzählerischen Kommentar: »Der Morgen des 11. September 2001, ein Dienstag, brach im Osten der Vereinigten Staaten mit milden Temperaturen und fast wolkenlosem Himmel an.«

»Und dann – vorbei.« Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen, sagen Protestanten am Grab. Später wurde mir klar, daß ich die Einzelheiten des Vorfalls allen gegenüber wiederholt hatte, die in den ersten Wochen in die Wohnung kamen, allen Freunden und Verwandten gegenüber, die was zu essen brachten und Drinks machten und den Tisch im Eßzimmer für jeweils so viele Menschen deckten, wie zum Mittag- oder Abendessen da waren, auch denen gegenüber, die den Tisch wieder abräumten und die Reste einfroren und die Spülmaschine anstellten und unsere ansonsten leere Wohnung (ich konnte noch nicht meine denken) sogar noch füllten, nachdem ich ins Schlafzimmer gegangen war (unser Schlafzimmer, in dem immer noch ein ausgeblichener Frotteebademantel der Größe XL auf dem Sofa lag, gekauft in den Siebzigern bei Richard Carroll in Beverly Hills) und die Tür zugemacht hatte. An diese Augenblicke, in denen ich jäh von Erschöpfung überwältigt wurde, erinnere ich mich von jenen ersten Tagen und Wochen am klarsten. Ich erinnere mich nicht daran, jemandem die Einzelheiten erzählt zu haben, aber es mußte so gewesen sein, denn alle schienen sie zu kennen. Ich vermutete dann, daß sie die Einzelheiten der Geschichte vielleicht voneinander gehört hatten, verwarf den Gedanken aber sofort: Jeder von ihnen kannte die Geschichte zu genau, als daß sie von Mund zu Mund weitergegeben worden sein konnte. Sie kam von mir.

Ich wußte, daß die Geschichte von mir kam, weil keine der Versionen, die ich hörte, jene Einzelheiten enthielt, denen ich mich noch nicht aussetzen konnte, das Blut auf dem Boden im Wohnzimmer zum Beispiel, das dort blieb, bis José am nächsten Morgen kam und es wegwischte.

José. Der zu unserem Haushalt gehörte. Der eigentlich nach Las Vegas hätte fliegen sollen, später an diesem 31. Dezember, dann aber nicht geflogen war.

José weinte am Morgen, als er das Blut wegwischte. Als ich ihm gesagt hatte, was passiert war, hatte er es zuerst nicht begriffen. Ich war sicher nicht die ideale Erzählerin dieser Geschichte, etwas an meiner Version war zu leichthin gesagt und gleichzeitig zu verworren gewesen, etwas an meinem Tonfall hatte verhindert, daß ihm das Wichtigste an dieser Situation vermittelt wurde (das würde mir später nochmal passieren, wenn ich Quintana davon erzählte), aber in dem Moment, als José das Blut sah, verstand er.

Ich hatte die zurückgelassenen Spritzen und die EKG-Elektroden weggeräumt, bevor er an diesem Morgen gekommen war, aber dem Blut konnte ich mich nicht aussetzen.

Im Abriß.

Es ist jetzt, als ich anfange, dies aufzuschreiben, der Nachmittag des 4. Oktober 2004.

Vor neun Monaten und fünf Tagen, ungefähr gegen neun Uhr abends am 30. Dezember 2003, schien mein Ehemann, John Gregory Dunne, am Tisch im Wohnzimmer unseres Apartments in New York, an den wir uns gerade zum Abendessen gesetzt hatten, einen heftigen Herzinfarkt zu erleiden (oder erlitt ihn), der seinen Tod verursachte.

Unser einziges Kind, Quintana, lag seit fünf Nächten bewußtlos auf der Intensivstation der Singer Abteilung des Beth Israel Klinikums, zu dieser Zeit ein Krankenhaus an der East End Avenue (es wurde Anfang August 2004 geschlossen), das besser bekannt war unter dem Namen »Beth Israel Nord« oder »das alte Ärztehaus«. Was wie eine Wintergrippe ausgesehen hatte, die schlimm genug war, Quintana am Weihnachtsmorgen in die Notaufnahme zu bringen, hatte sich inzwischen zu einer Lungenentzündung und einem septischen Schock ausgeweitet. Das hier ist mein Versuch, der Phase, die darauf folgte, einen Sinn abzugewinnen, den Wochen und Monaten, in denen sich jede feste Vorstellung auflöste, die ich jemals vom Tod hatte. Von Krankheit. Von dem, was wahrscheinlich ist und was Glück, was ein glückliches Schicksal und was ein trauriges ist, von dem, was Heirat und Kinder und Erinnerung sind, was Trauer bedeutet und wie Menschen sich mit der Tatsache, daß das Leben irgendwann aufhört, auseinandersetzen oder nicht auseinandersetzen. Davon, wie flüchtig geistige Gesundheit ist, und vom Leben selbst. Ich war mein Leben lang Schriftstellerin. Als Schriftstellerin, sogar schon als Kind und lange bevor das, was ich schrieb, überhaupt veröffentlicht wurde, entwikkelte ich ein Gefühl dafür, daß der eigentliche Sinn bereits im Rhythmus der Worte und Sätze und Abschnitte angelegt ist; eine Technik, um genau das zu verschweigen, was sich, wie ich vermutete, hinter einer immer undurchdringlicheren Fassade befand. Die Art, wie ich schreibe, ist das, was ich bin oder geworden bin, aber in diesem Fall wünschte ich, ich hätte anstelle von Worten einen Schneideraum, ausgerüstet mit einem Avid, einem digitalen Bearbeitungssystem, wo ich nur einen Knopf drücken müßte, um den Lauf der Zeit zu unterbrechen und Ihnen alle Fragmente der Erinnerung gleichzeitig zeigen zu können, die mich jetzt einholen, ich würde Sie die Aufnahmen aussuchen lassen, ihren sich leicht verändernden Ausdruck, die verschiedenen Lesarten derselben Zeilen. Dies ist ein Fall, in dem ich mehr als Worte brauche, um den Sinn zu finden. Dies ist ein Fall, in dem ich alles brauche, was die Fassade durchdringt oder durchdringen könnte, wenigstens für mich.

2

30. Dezember 2003, ein Dienstag.

Wir hatten Quintana auf der Intensivstation im sechsten Stock des Beth Israel Nord besucht.

Wir waren nach Hause gekommen.

Wir hatten überlegt, ob wir ausgehen oder zu Hause essen sollten.

Ich sagte, ich würde ein Feuer machen, wir könnten zu Hause essen.

Ich machte Feuer, ich bereitete das Essen, ich fragte John, ob er was trinken wolle.

Ich goß ihm einen Scotch ein und brachte ihm das Glas ins Wohnzimmer, wo er lesend im Sessel neben dem Feuer saß, wie gewöhnlich.

Das Buch, das er las, war von David Fromkin, ein gebundener Fahnenabzug von Europas letzter Sommer. Die scheinbar friedlichen Wochen vor dem Ersten Weltkrieg.

Ich machte das Essen fertig, ich deckte den Tisch im Wohnzimmer, wo wir, wenn wir allein zu Hause waren, mit Blick auf das Feuer essen konnten. Ich hebe dieses Feuer so hervor, weil Feuer für uns wichtig waren. Ich wuchs in Kalifornien auf, John und ich lebten gemeinsam vierundzwanzig Jahre dort, in Kalifornien heizten wir unsere Häuser, indem wir Feuer machten. Wir machten sogar an Sommerabenden Feuer, weil der Nebel hereinkam. Das Feuer sagte uns, wir waren zu Hause, der Kreis schloß sich, wir waren sicher für die Nacht. Ich zündete die Kerzen an. John bat um ein zweites Glas Scotch, bevor er sich hinsetzte. Ich gab es ihm. Wir setzten uns. Meine Aufmerksamkeit galt dem Mischen des Salats.

John redete, dann redete er nicht.

An einem Punkt innerhalb der Sekunden oder der Minute, bevor er zu sprechen aufhörte, hatte er mich gefragt, ob ich beim zweiten Glas Single Malt Scotch verwendet hätte. Ich sagte nein, ich hätte denselben Scotch verwendet wie beim ersten Glas. »Gut«, hatte er gesagt. »Ich weiß nicht, warum, aber ich glaube, man sollte sie nicht vermischen.« An einem anderen Punkt innerhalb dieser Sekunden oder dieser Minute hatte er darüber geredet, warum der Erste Weltkrieg der entscheidende Augenblick war, dem der gesamte Rest des zwanzigsten Jahrhunderts entströmte.

Ich habe keine Ahnung, bei welchem Thema wir gerade waren, beim Scotch oder beim Ersten Weltkrieg, als er plötzlich aufhörte zu reden.

Ich erinnere mich nur, daß ich aufsah. Seine linke Hand war erhoben, und er war zusammengesackt, reglos. Zuerst dachte ich, er mache einen mißglückten Scherz, einen Versuch, die Schwierigkeit des Tages erträglicher aussehen zu lassen.

Ich erinnere mich, daß ich sagte: Hör auf damit.

Als er nicht reagierte, war mein erster Gedanke, daß er schon angefangen hatte zu essen und sich dabei verschluckt hatte. Ich erinnere mich, wie ich versuchte, ihn soweit wie möglich von der Lehne wegzurücken, um ihm auf den Rücken klopfen zu können. Ich erinnere mich, wie sich sein Gewicht anfühlte, als er nach vorn fiel, zuerst gegen den Tisch, dann auf den Fußboden. In der Küche hatte ich eine Karte mit den Nummern für den Rettungswagen vom New York Presbyterian Krankenhaus neben das Telefon geklebt. Ich hatte die Nummern dort nicht hingeklebt, weil ich einen Moment wie diesen voraussah. Ich hatte die Nummern neben das Telefon geklebt für den Fall, daß jemand aus dem Haus einen Notarzt brauchte.

Jemand anderes.

Ich rief eine der Nummern an. Ein Mitarbeiter des Rettungsdienstes fragte, ob er atmete. Ich sagte: Kommen Sie her. Als die Notärzte kamen, versuchte ich, ihnen zu sagen, was passiert war, aber bevor ich damit fertig war, hatten sie den Teil des Wohnzimmers, in dem John lag, in eine Notaufnahme verwandelt. Einer von ihnen (es waren drei, vielleicht vier, selbst eine Stunde später hätte ich das nicht sagen können) sprach mit dem Krankenhaus über das EKG, das sie offenbar bereits übermittelten. Ein anderer machte die erste oder zweite von den vielen Injektionen fertig, die noch folgen würden. (Epinephrin? Lidocain? Procainamid? Im Kopf tauchten die Namen auf, aber ich hatte keine Ahnung, woher.) Ich erinnere mich, daß ich sagte, er hätte sich möglicherweise verschluckt. Das war mit einem Finger-schlag abgetan: Die Luftröhre war frei. Sie schienen jetzt zu defibrillieren, der Versuch, einen normalen Herzrhythmus wiederherzustellen. Es stellte sich etwas ein, was ein normaler Herzschlag hätte sein können (das dachte ich jedenfalls, wir waren alle still gewesen, dann gab es ein heftiges Aufbäumen), aber der Rhythmus sprang wieder um, und sie fingen nochmal an.

»Herzflimmern«, hörte ich den einen am Telefon sagen.

»Kammerflimmern«, sagte Johns Herzspezialist am nächsten Morgen, als er aus Nantucket anrief. »Sie hätten Kammerflimmern gesagt.«

Vielleicht sagten sie »Kammerflimmern«, vielleicht auch nicht. Nicht jedes Flimmern verursachte sofort oder notwendigerweise Herzstillstand. Kammerflimmern schon. Vielleicht war es hier Kammerflimmern gewesen.

Ich erinnere mich, wie ich mir darüber klar zu werden versuchte, was als nächstes kam. Da sich ein Notfallteam im Wohnzimmer befand, bestünde der nächste logische Schritt darin, ins Krankenhaus zu fahren. Mir wurde klar, daß die Notärzte sich sehr plötzlich entschließen könnten, ins Krankenhaus zu fahren, und ich wäre nicht fertig. Ich hätte nichts zur Hand, was ich mitnehmen mußte. Ich würde Zeit verlieren, zurückbleiben. Ich fand meine Handtasche und die Schlüssel und eine Zusammenfassung von Johns Krankengeschichte, die sein Arzt gemacht hatte. Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, beobachteten die Notärzte den Computerbildschirm, den sie auf dem Fußboden aufgestellt hatten. Ich konnte den Bildschirm nicht sehen, also beobachtete ich ihre Gesichter. Ich erinnere mich, daß der eine den anderen einen kurzen Blick zuwarf. Als die Entscheidung zu fahren gefallen war, ging alles sehr schnell. Ich folgte ihnen zum Fahrstuhl und fragte, ob ich mitkommen könne. Sie sagten, sie würden zuerst die Trage runterbringen, ich könne dann mit dem zweiten Rettungswagen mitfahren. Einer von ihnen wartete mit mir, bis der Fahrstuhl wieder oben war. Als er und ich in den zweiten Rettungswagen stiegen, fuhr der Wagen mit der Trage bereits vom Hauseingang weg. Die Entfernung von unserem Hauseingang zu jenem Teil des New York Presbyterian, das einmal das New York Krankenhaus war, beträgt sechs Querstraßen. Ich habe keine Erinnerung an Sirenen. Ich habe keine Erinnerung daran, wie der Verkehr war. Als wir an der Notaufnahme ankamen, verschwand die Trage bereits im Gebäude. Ein Mann wartete in der Auffahrt. Alle anderen, die zu sehen waren, trugen Kittel. Er nicht. »Ist das die Ehefrau«, sagte er zu dem Fahrer, dann wandte er sich zu mir. »Ich bin Ihr Sozialarbeiter«, sagte er, und ich glaube, da muß ich es gewußt haben.

Ich mach die Tür auf und seh den Mann in Grün, und ich wußte es. Ich wußte es sofort.

Das hatte die Mutter eines Neunzehnjährigen, der von einer Bombe in Kirkuk getötet worden war, in einer Fernsehdokumentation gesagt, und Bob Herbert zitierte es in der Morgenausgabe der New York Times vom 12. November 2004. »Aber ich dachte, solange ich ihn nicht reinlasse, kann er es mir nicht sagen. Und dann wäre es – nichts davon wäre passiert. Also sagt er immer wieder: ›Hören Sie, Sie müssen mich reinlassen.‹ Und ich sag immer wieder: ›Entschuldigen Sie, aber ich kann Sie nicht reinlassen.‹«

Als ich das beim Frühstück las, fast elf Monate nach der Nacht mit dem Rettungswagen und dem Sozialarbeiter, erkannte ich darin mein eigenes Denken.

In der Notaufnahme sah ich, wie die Trage in eine Kabine geschoben wurde, von weiteren Leuten in Kitteln. Jemand bat mich, in der Anmeldung zu warten. Was ich tat. Vor dem Schalter für die Aufnahme hatte sich eine Schlange gebildet. In der Schlange zu warten schien das Sinnvollste zu sein, was ich tun konnte. In der Schlange zu warten bedeutete, daß immer noch genug Zeit war, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen, ich hatte Kopien der Versicherungskarten in meiner Handtasche, es war keines der Krankenhäuser, die ich jemals in Betracht gezogen hatte – das ehemalige New York Krankenhaus war jetzt der Cornell-Teil des New York Presbyterian; was ich kannte, war der Columbia-Teil, Columbia Presbyterian an der Ecke 168. Straße und Broadway, bestenfalls zwanzig Minuten entfernt, zu weit für einen Notfall wie diesen – aber ich konnte mit dem ungewohnten Krankenhaus fertig werden, ich konnte mich nützlich machen, ich konnte mich um die Verlegung ins Columbia Presbyterian kümmern, sobald er stabilisiert war. Ich war mit den Details dieser Verlegung ins Columbia beschäftigt (er würde ein Bett mit Monitorüberwachung brauchen, vielleicht konnte ich auch Quintana ins Columbia verlegen lassen, in der Nacht, als sie im Beth Israel Nord aufgenommen worden war, hatte ich mir die Pieper-Nummern von verschiedenen Ärzten des Columbia auf eine Karte geschrieben, der eine oder andere von ihnen würde das alles ermöglichen), als der Sozialarbeiter zurückkam und mich aus der Schlange in ein leeres Zimmer neben der Anmeldung führte.

»Sie können hier warten«, sagte er. Ich wartete. Im Zimmer war es kalt, oder mir war kalt. Ich fragte mich, wieviel Zeit vergangen war zwischen dem Moment, als ich den Rettungswagen gerufen hatte, und der Ankunft der Notärzte. Es hatte ausgesehen, als sei überhaupt keine Zeit vergangen (ein Blinzeln im Auge Gottes war die Formulierung, die mir im Zimmer neben der Anmeldung einfiel), aber es müssen wenigstens mehrere Minuten gewesen sein.

Am Schwarzen Brett in meinem Arbeitszimmer hatte ich aus Gründen, die mit einem Plot Point in einem Film zusammenhingen, immer eine rosa Karteikarte hängen. Darauf hatte ich einen Satz aus dem Merck Jahresbericht getippt, der davon handelte, wie lange ein Gehirn ohne Sauerstoffzufuhr auskam. In diesem Zimmer neben der Anmeldung sah ich die Karteikarte wieder vor mir: »Anoxie des Gewebes für > 4 bis 6 min. kann zu bleibenden Gehirnschäden oder Tod führen.« Ich sagte mir, daß ich diesen Satz falsch erinnern müsse, als der Sozialarbeiter wiederkam. Er hatte einen Mann dabei, den er als den »Arzt Ihres Mannes« vorstellte. Dann war es still. »Er ist tot, oder?« hörte ich mich zu dem Arzt sagen. Der Arzt sah den Sozialarbeiter an. »Schon okay«, sagte der Sozialarbeiter. »Sie ist hart im Nehmen.« Sie brachten mich in die mit Vorhängen abgetrennte Kabine, in der John lag, allein. Sie fragten mich, ob ich einen Priester wolle. Ich sagte ja. Ein Priester kam und sagte die Worte. Ich bedankte mich. Sie gaben mir die silberne Klammer, in die John seinen Führerschein und die Kreditkarten steckte. Sie gaben mir das Bargeld, das in seiner Hosentasche gewesen war. Sie gaben mir seine Uhr. Sie gaben mir sein Handy. Sie gaben mir eine Plastiktüte, in der ich, wie sie sagten, seine Sachen finden würde. Ich bedankte mich. Der Sozialarbeiter fragte, ob er noch etwas für mich tun könne. Ich sagte, er könne mir ein Taxi rufen. Was er tat. Ich bedankte mich. »Haben Sie genug Geld für die Rückfahrt«, fragte er. Hab ich, sagte ich, hart im Nehmen. Als ich in die Wohnung zurückkam und Johns Jacke und seinen Schal noch auf dem Stuhl liegen sah, wo er sie hingetan hatte, als wir vom Besuch bei Quintana im Beth Israel Nord zurückgekommen waren (der rote Kaschmirschal, die Windjacke von Patagonia, die die Jacke des Filmteams von Aus nächster Nähe gewesen war), fragte ich mich, was man tun durfte, wenn man weniger hart im Nehmen war. Zusammenbrechen? Beruhigungsmittel verlangen? Schreien?

Ich erinnere mich, wie ich dachte, darüber müsse ich mit John sprechen.

Es gab nichts, worüber ich nicht mit John sprach.

Wir waren beide Schriftsteller und arbeiteten beide zu Hause, und unsere Tage waren angefüllt mit dem Klang unserer Stimmen.

Ich war nicht immer überzeugt, daß er recht hatte, auch er war nicht immer überzeugt, daß ich recht hatte, aber wir waren füreinander der Mensch, dem man vertraute. In jeder denkbaren Situation hatten wir dieselben Interessen und zeigten dasselbe Engagement.

Viele Leute nahmen an, wir müßten auf irgendeine Weise »Konkurrenten« sein, da manchmal der eine und manchmal die andere die bessere Kritik bekam oder den größeren Vorteil hatte, sie nahmen an, unser Privatleben wäre ein Minenfeld aus beruflichem Neid und Ressentiments. Das war so weit von den Tatsachen entfernt, daß die Hartnäckigkeit, mit der allgemein darauf bestanden wurde, auf gewisse Lücken im landläufigen Verständnis von Ehe hindeutete.

Das war noch etwas gewesen, worüber wir sprachen.

Was ich von der Wohnung in jener Nacht erinnere, als ich allein vom New York Krankenhaus nach Hause kam, ist die Stille.

In der Plastiktüte, die man mir im Krankenhaus gegeben hatte, waren eine Kordhose, ein Wollpullover, ein Gürtel, und ich glaube, nichts sonst. Die Beine der Kordhose waren aufgeschnitten worden, wahrscheinlich von den Notärzten. Am Pullover war Blut. Der Gürtel war geflochten. Ich erinnere mich, wie ich Johns Handy ins Aufladegerät auf dem Schreibtisch steckte. Ich erinnere mich, wie ich seine silberne Klammer in die Schachtel im Schlafzimmer legte, wo er Ausweise und die Geburtsurkunde aufbewahrte und seine Berufung zum Geschworenen. Ich gucke mir jetzt die Klammer an und sehe die Karten, die er bei sich hatte: einen Führerschein des Staates New York, abgelaufen am 25. Mai 2004; eine MasterCard von Chase; eine American Express Card; eine MasterCard von Fargo; einen Ausweis des Metropolitan Museums; einen Mitgliedsausweis des Schriftstellerverbandes America West (es war die Zeit vor den Nominierungen durch die Filmakademie, in der man mit diesem Ausweis kostenlos Filme sehen konnte, er mußte sich einen Film angeguckt haben, aber ich erinnere mich nicht); eine Krankenversicherungskarte; eine MetroCard; und einen Ausweis, der von Medtronic ausgestellt worden war mit der Bemerkung: »Ich bin Träger eines Kappa 900 SR Herzschrittmachers«, mit der Seriennummer des Gerätes, der Telefonnummer des Arztes, der es eingesetzt hatte, und dem Hinweis: »Eingesetzt am 03. Juni 2003«. Ich erinnere mich, wie ich das Bargeld, das in seiner Hosentasche gewesen war, mit dem Bargeld in meiner Tasche verglich, wie ich die Scheine glattstrich und besonders darauf achtete, Zwanziger auf Zwanziger und Zehner auf Zehner und Fünfer und Einer auf Fünfer und Einer zu blättern. Ich erinnere mich, wie ich währenddessen dachte, er würde sehen, daß ich zurechtkam.

Als ich ihn in der mit Vorhängen abgetrennten Kabine in der Notaufnahme des New York Krankenhauses gesehen hatte, war einer seiner Vorderzähne angeschlagen gewesen, ich nehme an, durch den Sturz, denn er hatte auch Schrammen im Gesicht. Als ich am nächsten Tag seinen Körper im Bestattungsinstitut identifizierte, fielen die Schrammen nicht auf. Ich begriff, daß der Leichenbestatter das Kaschieren der Schrammen gemeint hatte, als ich sagte, nicht einbalsamieren, und er sagte: »In diesem Fall werden wir ihn einfach waschen.« Der Teil mit dem Leichenbestatter bleibt undeutlich. Ich hatte mir so fest vorgenommen, unangemessene Reaktionen im Bestattungsinstitut zu vermeiden (Tränen, Wut, hilfloses Lachen angesichts einer schneewittchenhaften Stille), daß ich gleich jede Reaktion ausgeschaltet hatte. Nachdem meine Mutter gestorben war, hatte der Leichenbestatter, der sie abholte, auf ihrem Platz im Bett eine künstliche Rose hinterlassen. Mein Bruder hatte mir das gesagt, tief gekränkt. Ich würde für künstliche Rosen gewappnet sein. Ich erinnere mich, wie forsch ich mich für einen Sarg entschied. Ich erinnere mich, daß im Büro, wo ich die Formulare unterschrieb, eine Wanduhr hing, die stehengeblieben war. Johns Neffe, Tony Dunne, der mich begleitete, wies den Leichenbestatter darauf hin, daß die Uhr nicht ging. Als wäre er erfreut, uns ein Schmuckstück erläutern zu können, erzählte der Bestatter, die Uhr gehe seit Jahren nicht, er habe sie aber behalten als eine »Art Denkmal« für ein früheres Erscheinungsbild der Firma. Es schien, als sollten wir aus der Uhr eine Lehre ziehen. Ich konzentrierte mich auf Quintana. Ich konnte ausblenden, was der Bestatter sagte, aber die Zeilen, die ich hörte, als ich mich auf Quintana konzentrierte, konnte ich nicht ausblenden: Fünf Faden tief dein Vater liegt / sein Gebein ward zu Korallen / zu Perlen seine Augen-Ballen.

Acht Monate später fragte ich den Hauswart, ob er noch das Logbuch habe, das der Portier auch über die Nacht des 30. Dezember geführt hatte. Ich wußte, daß es ein Logbuch gab. Ich war drei Jahre Vorsitzende der Eigentümerversammlung gewesen, das Logbuch war für die Abläufe im Haus wesentlich. Am nächsten Tag schickte mir der Hauswart die Seite für den 30. Dezember. Die Portiers in jener Nacht waren dem Buch zufolge Michael Flynn und Vasile Ionescu gewesen. Daran hatte ich mich nicht erinnert. Vasile Ionescu und John hatten im Fahrstuhl immer auf eine bestimmte Art herumgeflachst, ein kleines Spiel zwischen einem Exilanten aus Ceaus¸escus Rumänien und einem irischen Katholiken aus West Hartford in Connecticut, das auf einer gemeinsamen Wertschätzung politischer Posen beruhte. Wenn John den Fahrstuhl betrat, sagte Vasile: »Also, wo ist Bin Laden?« Es ging darum, am Ende auf immer unmöglichere Einfälle zu kommen: »Ist Bin Laden vielleicht im Penthouse?« »In der Maisonettewohnung?« »Im Fitneßraum?« Als ich Vasiles Namen im Logbuch sah, fiel mir auf, daß ich mich nicht daran erinnern konnte, ob er das Spiel angezettelt hatte, als wir am frühen Abend des 30. Dezember vom Beth Israel Nord zurückkamen. Für diesen Abend waren im Buch nur zwei Einträge verzeichnet, weniger als gewöhnlich, sogar für eine Zeit im Jahr, in der die meisten Leute aus dem Haus in mildere Gegenden fuhren:

Eintrag: Notärzte für Mr. Dunne kamen um 21.20 Uhr. Mr. Dunne wurde um 22.05 Uhr ins Krankenhaus gebracht.

Eintrag: Glühbirne im Fahrstuhl A-B durchgebrannt.

Der Fahrstuhl A-B war unser Fahrstuhl, der Fahrstuhl, mit dem die Notärzte um 21.20 Uhr oben ankamen, der Fahrstuhl, in dem sie John (und mich) um 22.05 Uhr nach unten zum Rettungswagen brachten, der Fahrstuhl, mit dem ich allein in unsere Wohnung zurückkehrte zu einer Uhrzeit, die nicht eingetragen worden war. Ich hatte nicht bemerkt, daß eine Glühbirne im Fahrstuhl durchgebrannt war. Ich hatte auch nicht bemerkt, daß die Notärzte fünfundvierzig Minuten in unserer Wohnung gewesen waren. Ich hatte es immer als »fünfzehn bis zwanzig« Minuten beschrieben. Wenn sie so lange hier gewesen waren, heißt das dann, daß er gelebt hatte? Ich stellte diese Frage einem Arzt, den ich kannte.

»Manchmal brauchen sie so lange«, sagte er. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, daß das keineswegs meine Frage beantwortete.

Als ich die Sterbeurkunde bekam, war darin die Todeszeit mit 22.18 Uhr am 30. Dezember 2003 angegeben. Bevor ich das Krankenhaus verlassen hatte, war ich gefragt worden, ob ich mit einer Autopsie einverstanden sei. Ich hatte ja gesagt. Später las ich, daß es in Krankenhäusern allgemein als heikel gilt, Hinterbliebene nach ihrer Einverständniserklärung zu einer Autopsie zu fragen. Oft ist diese Frage der schwierigste Teil der Routine, die einem Tod folgt. Vielen Studien zufolge (zum Beispiel Katz, J. L., und Gardner, R., »The Intern’s Dilemma: The Request for Autopsy Consent«, Psychiatry in Medicine 3 (1972): 197  203) haben selbst Ärzte ernsthafte Probleme, diese Frage zu stellen. Sie wissen, daß Autopsien für die medizinische Forschung und Lehre unabdingbar sind, aber sie wissen auch, daß der Vorgang primitive Ängste berührt. Sollte, wer auch immer mich im New York Krankenhaus nach meinem Einverständnis zu einer Autopsie fragte, damit Probleme gehabt haben, ich hätte sie ihr oder ihm ersparen können: Ich wollte von mir aus eine Autopsie. Ich wollte von mir aus eine Autopsie, obwohl ich schon einige gesehen hatte im Zusammenhang mit Recherchen. Ich wußte genau, was geschieht, die Brust offen wie bei einem Huhn in der Fleischvitrine, das Gesicht abgezogen, die Waage, auf der das Gewicht der Organe bestimmt wird. Ich hatte Beamte der Mordkommission gesehen, die sich während einer Autopsie abgewendet hatten. Ich wollte trotzdem eine. Ich mußte wissen, wie und warum und wann es passiert war. Ich wollte sogar dabeisein, wenn sie es taten (ich hatte mir die anderen Autopsien gemeinsam mit John angesehen, ich war ihm seine eigene schuldig, mir ging nicht aus dem Kopf, daß er auch dabeigewesen wäre, wenn ich auf dem Tisch gelegen hätte), aber ich traute mir nicht zu, dieses Anliegen vernünftig genug vorzutragen, und so fragte ich nicht.

Wenn der Rettungswagen unser Gebäude um 22.05 Uhr verlassen hatte und seine Todeszeit auf 22.18 Uhr festgelegt worden war, dann waren die dreizehn Minuten dazwischen mit Buchführung, Bürokratie und damit ausgefüllt gewesen, sicherzustellen, daß die Abläufe im Krankenhaus funktionierten, daß die Formulare ausgefüllt waren und daß die passende Person verfügbar war, um das Ganze abzuschließen: mich, hart im Nehmen, zu informieren.

Das Abschließen, erfuhr ich später, wurde »Erklärung« genannt, wie in »Für tot erklärt um 22.18 Uhr«.

Ich mußte glauben, daß er schon die ganze Zeit tot gewesen war.

Wenn ich nicht geglaubt hätte, daß er schon die ganze Zeit tot gewesen war, hätte ich gedacht, ich hätte in der Lage sein müssen, ihn zu retten.

Bis ich den Autopsiebericht las, hörte ich trotzdem nicht auf, das zu denken, ein Beispiel für wahnhaftes Denken der omnipotenten Art.

Ein oder zwei Wochen bevor er starb, als wir beim Abendessen in einem Restaurant saßen, bat John mich, etwas für ihn in mein Notizbuch zu schreiben. Er hatte immer Karten dabei, auf die er seine Notizen schrieb, sieben mal vierzehn Zentimeter große Karten, auf die sein Name gedruckt war und die in die Innentasche einer Jacke paßten. Beim Essen war ihm etwas eingefallen, woran er sich erinnern wollte, aber als er in seinen Taschen nachsah, fand er keine Karten. Ich möchte, daß du etwas für mich aufschreibst, sagte er. Es sei für sein neues Buch, sagte er, nicht für meines, was er betonte, weil ich gerade für ein Buch recherchierte, das mit Sport zu tun hatte. Er diktierte folgendes: »Trainer gingen nach dem Spiel feiern und sagten: ›Ihr habt großartig gespielt.‹ Jetzt gehen sie mit der Polizei feiern, als wäre das ein Krieg und sie das Militär. Die Militarisierung des Sports.« Als ich ihm die Notiz am nächsten Tag gab, sagte er: »Du kannst es verwenden, wenn du willst.«

Was meinte er damit?

Wußte er, daß er das Buch nicht schreiben würde?