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Inhaltsverzeichnis

Titelei
Impressum
TEIL EINS - Ein intellektuelles Verhältnis
TEIL ZWEI - Der Glückspilz
TEIL DREI - Ein Streit unter Liebenden
TEIL VIER - Der Pechvogel
Postskriptum von Aparna

Postskriptum von Aparna

Mittwoch, 28. Oktober 1987

Manchmal kehrt man nach langer Abwesenheit an einen Ort zurück, mit dem man schmerzvolle Erfahrungen verbindet, und das kann ein ganz unwägbares Erlebnis werden. Man hat gewisse Erwartungen: daß eine bestimmte Straße, ein bestimmter Raum oder ein bestimmtes Café bestimmte Gefühle hervorrufen wird, und man ist überrascht, wenn das nicht geschieht. Und noch überraschender ist es, wenn Schauplätze oder Orte, denen man diese Kraft zu verletzen nie zugetraut hätte, plötzlich Erinnerungen provozieren. So war es, als ich nach Coventry zurückkehrte. Die meisten Orte, die wiederzusehen ich mich gefürchtet hatte – meine Wohnung, die Straßen, durch die ich von der Bushaltestelle nach Hause gegangen war, das Universitätsgelände, wo die meisten meiner Sachen lagerten –, ließen mich kalt: ich ging hin und wieder weg, unaufgeregt, entschlossen. Aber am Nachmittag, als wir ein, zwei Stunden Zeit hatten, fuhren wir in den Stadtteil, in dem Robin gelebt hatte. Es war ein besseres Viertel, und in den gepflegten Reihenhäusern und behaglichen Einfamilienhäusern, in dem traurigen Trotz, mit dem sie ihren Platz in der Welt beanspruchten, fand ich Echos von Robins melancholischem Leben. Es war ein kalter, sonniger Herbsttag, ein Tag mit scharfen Konturen, und diese Straßen waren auf einmal sehr real: ich hatte schon angefangen zu hoffen, daß sie nur in meiner Einbildung existierten. Wir parkten das Auto, und ich nahm Josef bis vor die Tür von Robins Wohnung. Sie war wieder vermietet; der neue Mieter trat ans Fenster und starrte uns argwöhnisch an. Was konnte ich schon sagen? Ich hatte Josef die Geschichte bereits erzählt, und er wußte einiges von dem, was ich dachte, und versuchte nicht, mein Schweigen zu brechen.

Ein paar Monate nachdem Robin gestorben war, schrieb mir eine spanische Studentin, mit der ich an der Universität befreundet gewesen war, einen Brief, in dem sie mich zu ihrer Hochzeit einlud. Ich nahm die Einladung an und reiste nach Spanien, wohl wissend, daß ich nie zurückkehren würde, um meine Arbeit zu beenden. Ich lieh mir Geld von meinen Eltern und verbrachte fast zehn Wochen in Spanien, Frankreich und Deutschland, wo ich Josef kennenlernte. Er war mir ein guter Freund und machte mich sehr glücklich, so glücklich, wie ich es, nach allem, was ich durchgemacht, was ich gesehen habe, nie erwartet oder für möglich gehalten hätte. Es überrascht mich, daß ich nicht öfter an ihn denke. Jener Tag war unser letzter gemeinsamer Tag, und ich dachte nur noch an Robin, so daß ich nicht einmal mehr Gedanken für den Abschiedsschmerz hatte; aber dafür, glaube ich, waren wir beide letztlich dankbar.

Ich bin mir immer noch nicht im klaren über Robin. Ich weiß immer noch nicht, ob ich ihm hätte helfen können. Ich wollte ihm Freundlichkeit entgegenbringen, obwohl ich jetzt weiß, daß ich ihm nicht genug Freundlichkeit entgegengebracht habe, und das zu spät. Wir hätten weniger reden, weniger streiten, weniger Zeit über unsere Bücher und mehr über uns nachdenken sollen. Vielleicht hätten wir im selben Bett schlafen und uns nachts trösten müssen. Aber er suchte sich immer die falschen Freunde, und mich hätte er nicht aussuchen sollen. Als Freundin hätte ich ihm sagen müssen, daß die Natur ihn nicht zum Separatisten bestimmt hatte, daß ihn die Menschen, die er bewunderte, nie willkommen heißen würden, daß der Weg, auf dem er sich befand, lediglich in ein einsames Exil führte. Oder jemand anders hätte es ihm sagen sollen. Einer von seinen anderen Freunden.

In der Dämmerung kehrten wir zu unserem Auto zurück, und das letzte Stück unserer gemeinsamen Reise begann. Als wir aus  Coventry hinausfuhren, sagte ich still Lebewohl zu dieser Stadt, die zweimal zerstört worden war, einmal von den Bomben einer fremden Armee und einmal durch die Auswirkungen einer von Politikern inszenierten Rezession, die die Stadt in den letzten Jahren schwer in Mitleidenschaft gezogen und den Menschen Arbeit und Lebensunterhalt geraubt hat. Doch diese Menschen sind nach wie vor heiter und humorvoll; sie leben auf der Schattenseite des Lebens, aber sie jammern nicht mehr als alle anderen ihrer Landsleute. Als ich dort lebte, gewann ich den Eindruck, daß niemand wirklich nachdachte. Und als ich fortfuhr, wollte ich am liebsten das Fenster von Josefs Auto herunterkurbeln und so laut wie möglich schreien: Ihr solltet nachdenken, nachdenken, nachdenken, darüber, was um euch herum passiert. Denkt nach, bis euch der Kopf weh tut vor Anstrengung und Sorgen. Nachdenken ist nicht immer gefährlich. Es hat Robin umgebracht, aber euch wird es nicht umbringen.

Ich habe nicht geschrien. Es war ein kalter Nachmittag, und wir haben das Autofenster nicht geöffnet. Auch im Flugzeug war es kalt, als es landete; als ich zum erstenmal wieder die Lichter meiner Stadt sah, begann ich vor Kälte am ganzen Körper zu zittern, und ich dachte mit einer Mischung aus Sehnsucht und Angst an die Gesichter meines Vaters und meiner Mutter. Ich hatte nicht vergessen, daß Zuhause der fremdeste Ort von allen sein kann.