SIBYLLE ZAMBON

SEHEN UND VERSTEHEN

Inhalt

Cover

Titel

Kunst: Was ist das?

1|1 Kunst ist

1|2 Ursprünge

1|3 Kunst kommt (nicht) von Können

1|4 Imagination, Idee, Originalität

1|5 Der Kunstmarkt

Kunst hat uns etwas zu sagen – Hat sie das?

2|1 Keine Kunst ohne Künstler

2|2 „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ (Kurt Tucholsky)

2|3 Das Publikum – das sind Sie!

Nur keine falschen Hemmungen!

3|1 Ihr Bauchgefühl oder: Wie Sie einen persönlichen Zugang zu Kunst finden

3|2 Was Ihnen Ihr Kopf sagt oder: Wie Sie einen sachlichen Zugang finden

Schubladen, die für Ordnung sorgen

4|1 Porträtmalerei – Wie hätten Sie’s denn gern?

4|1|1 Was ist ein Porträt?

4|1|2 Von wahrer Geistesgröße und weiblichen Kleiderstöcken – Der Künstler als Porträtist

4|1|3 Von Herrschern, Händlern und Idolen – Das Porträt im Laufe der Zeit

4|1|4 Schlüsselbegriffe und Randnotizen

4|2 Die Genremalerei – Der Sitz im Leben

4|2|1 Was ist Genremalerei?

4|2|2 Schmutzmaler und Moralapostel – Die Maler des Genres

4|2|3 Von Narren, Huren und einem Delirium tremens – Genremalerei im Laufe der Zeit

4|2|4 Schlüsselbegriffe und Randnotizen

4|3 Landschaftsmalerei – Dichtung oder Wahrheit?

4|3|1 Was ist Landschaftsmalerei?

4|3|2 Forschen und träumen in der Natur – Der Künstler als Landschaftsmaler

4|3|3 Vom freien Malen und Malen im Freien – Die Landschaftsmalerei im Laufe der Zeit

4|3|4 Schlüsselbegriffe und Randnotizen

4|4 Das Stillleben – Von stillem Leben und toter Natur

4|4|1 Was ist ein Stillleben?

4|4|2 Von stillen Werkern und erfolgsverwöhnten Frauen – Maler und Malerinnen des Stilllebens

4|4|3 Von Speiseresten und schwer verdaulichen Tulpenzwiebeln – Das Stillleben im Laufe der Zeit

4|4|4 Schlüsselbegriffe und Randnotizen

4|5 Die Historienmalerei – Von Geschichte und Geschichten

4|5|1 Was ist Historienmalerei?

4|5|2 Der Künstler als Gelehrter – Der Historienmaler

4|5|3 Die Quellen der Historie

a) „Du sollst dir kein Bildnis machen!“ – Die Bibel und bibelnahe Schriften als Quelle

b) Die Entdeckung der Nacktheit – Mythologie als Quelle

c) Geschichte als Quelle – „Große Taten, große Menschen – große Malerei?“

d) Dichtung als Quelle – Von Helden, Hölle und Hysterie

4|5|4 Schlüsselbegriffe und Randnotizen

Eine Zeitreise durch Klischees

5|1 Das Mittelalter (600–1500) – Wie finster war es?

5|2 Renaissance und Manierismus (1400–1600) – Wer wird denn da wiedergeboren?
Spätphase der Renaissance: Manierismus

5|3 Barock und Rokoko (1600–1789) – Mehr Schein als Sein?
Spätphase des Barock: Rokoko

5|4 Klassizismus (1770–1850) – Zurück in die Antike?

5|5 Romantik (1790–1850) – Zeit für Gefühle
Varianten der Romantik: Nazarener und Präraffaeliten

5|6 Die Moderne (ab 1850–1950) – Im Sog der Ismen oder: Ist weniger mehr?

a) Realismus und Naturalismus (1840–1880)

b) Impressionismus (1860–1900)

c) Symbolismus und Jugendstil (1880–1910)

d) Fauvismus und Expressionismus (1905–1925)

e) Kubismus und Futurismus (1907–1925)

f) Konstruktivismus und De Stijl (1913–1930)

g) Dadaismus und Surrealismus (1916–1945)

5|7 Die Moderne in Nordamerika

5|8 Nach 1945

5|9 Willkommen im Dschungel – Die Gegenwartskunst

Zu guter Letzt

Anmerkungen

Anhang

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Impressum

Kunst: Was ist das?

Sie sind gefragt: Bevor Sie weiterlesen, sind Sie gefragt: Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Kunst denken?

Ein Gemälde in einem Museum

Eine Kirche

Die Häkeldecke Ihrer Großmutter

Gar nichts

Antwort: Nun, wie auch immer Ihre Antwort lautet, Sie haben entweder bereits eine Vorstellung von Kunst oder Sie sind, was Kunst betrifft, noch nicht vorbelastet. Beides sind gute Voraussetzungen, um sich näher damit zu befassen.

1|1 Kunst ist 

Darüber, was Kunst sei, herrscht weitgehend Uneinigkeit. Einig ist man sich lediglich darin, dass sie schwer zu definieren ist. Selbst Künstler, die als Schöpfer den Entstehungsprozess eines Werkes miterleben und gestalten, haben Schwierigkeiten, wenn es gilt, in Worte zu fassen, was sie produzieren. Viele haben es dennoch versucht, fast ebenso viele Antworten haben sie gefunden. Hier folgt eine kleine, keineswegs repräsentative Auswahl ihrer Aussagen. Sie zeigt, dass es gar nicht so einfach ist, diesen eigentlich so geläufigen Begriff in den Griff zu bekommen.

So schwingt in den Worten des Schweizer Malers Johann Heinrich Füssli aus dem 18./​19. Jahrhundert noch unüberhörbares Pathos: „Die Kunst ist die Dienerin der Natur, das Genie und Talent sind die Gehilfen der Kunst.“ Seiner Sache schon weniger sicher war sich dagegen Vincent van Gogh, er fand: „Ich kenne noch keine bessere Definition für das Wort Kunst als diese: Kunst, das ist der Mensch!“ Und Pablo Picasso, der große Maler des 20. Jahrhunderts, äußerte sich philosophisch: „Wir alle wissen, dass Kunst nicht die Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen können.“ Wem das zu wenig konkret ist, helfen vielleicht die Worte Joseph Beuys’ von 1985 weiter: „Das Kunstwerk ist das allergrößte Rätsel, aber der Mensch ist die Lösung.“ Der russische Maler El Lissitzky schließlich stellte lakonisch fest: „Wenn du mich fragst, was die Kunst sei, so weiß ich es nicht. Wenn du mich nicht fragst, so weiß ich es.“ Mit diesen Worten scheint er sich ganz gut aus der Affäre zu ziehen.

Trotzdem wollen wir noch zeitgenössische Gewährsleute zu Rate ziehen, die eigens für dieses Buch befragt wurden. Eine ausführliche und durchdachte Definition widmet Ihnen der Kunsttheoretiker und Kurator Jean-Christophe Ammann:

„Kunst ist dem Menschen in die Wiege gelegt, als ein Gestaltungswille. In der Kunst projiziert sich der Mensch als Künstler, sowie jeder Mensch sich projizierend seinem Leben eine Gestalt gibt. Der Mensch, der sich nicht projiziert, regrediert. Insofern ist Kunst eine Notwendigkeit. Aus abendländischer Sicht unterliegt Kunst dem Wandel. Ohne Wandel keine Kontinuität. Jedoch muss auch gesagt sein: ohne Kontinuität kein Wandel. Für beides steht der Künstler ein: für das Existenzielle und die kollektive Biografie.“

Einen etwas anderen Ansatz vertritt die Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist: „Ziel der Kunst ist es, zur Evolution beizutragen, die Hirnkapazität zu erweitern, eine objektive Sicht auf die soziale Entwicklung zu garantieren, positive Energien zu erzeugen, Vernunft und Instinkt miteinander zu versöhnen, Klischees und Vorurteile zu zerstören.“1

Bringen wir’s zum Schluss auf den Punkt, wie der Yello-Musiker und Künstler Dieter Meier. Er findet: „Art reaches parts of my mind, other things don’t.“ Also: „Kunst erreicht Teile meiner Seele, die andere Dinge nicht erreichen.“

Abb. 1: Diese Malereien wurden 1994 in den Höhlen von Chauvet in Frankreich entdeckt. Sie sind etwa 30.000 Jahre alt und zählen zu den ältesten Zeugnissen für künstlerisches Schaffen.

1|2 Ursprünge

Immerhin stimmen doch einige der genannten Zitate darin überein, dass Kunst etwas mit dem Menschen zu tun habe. Und in der Tat reicht ihr weites Feld in seiner zeitlichen Dimension bis zu den Ursprüngen der Menschheit zurück2. Zu den ältesten Zeugen menschlichen Kunstschaffens zählen etwa die Pferde in den Höhlen von Chauvet in Frankreich. Diese Malereien sind rund 30.000 Jahre alt. Sie wurden einst für rituelle Zwecke geschaffen, um die Jagd günstig vorzubereiten. Historisch gesehen gehen die Anfänge der Kunst also bis in die Altsteinzeit zurück.

In seiner räumlichen Ausdehnung erstreckt sich das Kunstschaffen über die ganze Welt. Überall da, wo der Mensch ist oder wo er als denkendes Wesen seine Spuren hinterließ, trifft man auf Kunst.

Abb. 2: Joseph Benoît Suvée (1743 – 1807)
Dibutade oder Die Entdeckung der Malerei,
1793 Öl auf Leinwand, 131,5 x 267 cm Groeningemuseum Brügge

Allerdings nicht immer in der Gestalt von Bildern, die man an die Wand hängen kann, sondern einmal als Verzierung auf einem Gebrauchsgegenstand, als Schmuck, ein andermal als kultisches Gerät. Kunst ist also eng mit dem Menschen verknüpft, dessen Schöpferkraft Grundbedingung für ihre Entstehung ist. Oder anders gesagt: Ohne Mensch keine Kunst. Interessant wäre sicher auch die Frage, ob die Umkehrung dieses Satzes ebenso Gültigkeit hat. Kann man die Behauptung wagen ohne Kunst kein Mensch? Wir wollen uns hier nicht in philosophischen Gedanken verlieren, sondern diese Frage einfach im Raum stehen lassen. Vielleicht finden Sie im Verlauf Ihrer Auseinandersetzung mit Kunst Ihre ganz persönliche Antwort dazu.

Die Anekdote zum Thema: Laut Plinius dem Älteren (1. Jahrhundert nach Chr.) gehen die Ursprünge der Malerei auf eine Liebesgeschichte zurück: So musste Dibutade, ein Mädchen aus Korinth, von ihrem Geliebten Abschied nehmen. Bevor er sie verließ, machte sie ein Bildnis von ihm, indem sie seinen Schattenwurf an der Wand nachzeichnete.

1|3  Kunst kommt (nicht) von Können

„Das könnte ich auch!“ Eine häufig geäußerte Reaktion von Menschen, die sich mit moderner Kunst konfrontiert sehen. Mit dieser Bemerkung meinen sie nicht etwa, dass sie selbst künstlerisch tätig sind. Nein, sie wollen damit andeuten, dass unmöglich Kunst sein kann, was sie als Laien auch zustande bringen würden. Kunst ist für sie etwas, das nicht jeder kann, etwas, das eine überragende Fertigkeit erfordert. Kunst kommt für sie von Können. Und tatsächlich haben sie recht!

Kunst hatte ursprünglich die Bedeutung von Können. Das lateinische Wort ars, das wir gemeinhin mit Kunst übersetzen, bezeichnete nämlich in der Antike ganz allgemein eine Fähigkeit, Fertigkeit oder gar eine Wissenschaft. Das galt auch im Mittelalter. So meinte das mittelhochdeutsche Wort kunst ein Wissen, eine Geschicklichkeit oder aber eine Erleuchtung. Im engeren Sinne wurde also die Vervollkommnung eines Handwerks, wie beispielsweise der Buchmalkunst, aber auch einer Fähigkeit, etwa der, Reden zu halten (Redekunst oder Rhetorik), oder sogar die Kriegführung als Kunst aufgefasst. Bezeichnenderweise konnotiert der Begriff nun aber auch die Bedeutung von Wissenschaft und Erleuchtung. Das sind zwei interessante Aspekte, die im Kapitel Keine Kunst ohne Künstler noch aufgegriffen werden.

Abb. 3: Hans Holbein d. J.,
Heinrich VIII.
ca. 1539/​40, 88,2 x 75 cm Tempera auf Holz Palazzo Barberini, Rom

Notabene: Seit dem Altertum kannte man die sieben freien Künste, also die septem artes liberales, bestehend aus Rhetorik, Grammatik, Dialektik, Arithmetik, Astrologie, Geometrie und Musik. Sie ermöglichten dem freien Mann (deshalb freie Künste) den Zugang zum eigentlichen Studium. Malerei und Bildhauerei sind nicht aufgeführt. Sie gehörten zu den praktischen Künsten, den sogenannten artes mechanicae. Sie dienten dem direkten Broterwerb und wurden deshalb als niederer als die freien Künste eingestuft.

Im Mittelalter wurden Malerei, Bildhauerei und Architektur in der Regel vom Kollektiv einer Bauhütte oder einer Malschule ausgeführt. Eine zentrale Rolle kam den Skriptorien, den Schreibstuben der Klöster, zu, wo in Gemeinschaftsarbeit großartige Kunstwerke der Buchmalkunst geschaffen wurden. Mit dem Aufstieg der Städte im ausgehenden Mittelalter entwickelten sich dann die „praktischen Künste“ zunehmend im Rahmen des Zunftwesens. Obwohl die Zünfte und ihre Mitglieder gesellschaftlich angesehen waren, war man dann in der Renaissance bemüht, die Malerei gegenüber den freien Künsten intellektuell aufzuwerten. Bildnerisches Schaffen sollte fortan der Musik oder Dichtkunst ebenbürtig als freie Kunst wahrgenommen werden. (vgl. Kapitel Der Künstler).

Notabene: Der deutsche Maler Hans Holbein d. J. (1498  1543) erhielt 1520 durch Heirat die Gelegenheit, der Basler Malerzunft „Zum Himmel“ beizutreten. Das verschaffte ihm so lukrative Aufträge wie die Ausmalung des Großratssaales im Basler Rathaus (1521) und indirekt eine Karriere im Ausland. 1523/​24 arbeitete er für den französischen König, 1532 verließ er Basel für immer, um Hofmaler Heinrichs VIII. von England zu werden. Dort porträtierte er nicht nur den König und drei seiner insgesamt sechs Ehefrauen, sondern auch zahlreiche andere Prominente aus Adel und Wissenschaft.

Eine weitere Facette des Kunstbegriffs erschließt sich aus der Bedeutung des mittelhochdeutschen Wortes künstlich, das zunächst klug, geschickt oder kenntnisreich meinte. Bald aber wurde künstlich auch im Sinne von „von Menschenhand geschaffen“ verwendet und dem Begriff natürlich gegenübergestellt. So übernahm das Gemälde als geschicktes Abbild der Natur eine wichtige Informationsfunktion in einer Zeit, als es noch keinen Fotoapparat gab. Kunstwerke entstanden also etwa, um der Welt oder Nachwelt Macht und Aussehen Heinrichs VIII. zu demonstrieren, um das Vergnügen spielender Kinder festzuhalten (vgl. Brueghel, Kapitel Genremalerei), sie entstanden beim Versuch, ein besonders dekoratives Arrangement von Früchten oder Blumen möglichst naturnah abzubilden (vgl. Kapitel Stillleben) oder eine schöne Landschaft wiederzugeben (vgl. Meindert Hobbema, Kapitel Landschaft), aber auch, um die Bombardierung der Stadt Guernica 1937 im Spanischen Bürgerkrieg zu dokumentieren (vgl. Picasso, Kapitel Historienmalerei). Aus diesen verschiedenen Bedürfnissen des Abbildens entwickelten sich im Lauf der Zeit die Kunstgattungen Porträt, Genre, Landschaft, Stillleben und Historie.

1|4 Imagination, Idee, Originalität

Abbildfunktion oder gar Augenzeugenschaft sind indessen keine unabdingbaren Voraussetzungen für die Entstehung von Kunst. So versteht es sich von selbst, dass ein Künstler nicht in jedem Fall auch (Zeit-)Zeuge sein kann oder konnte. Der Maler Matthias Grünewald (vgl. S. 129), der um 1500 die Leiden Christi am Kreuz malte, tat dies nach seiner Vorstellung. Er hatte weder Jesus Christus noch den Originalschauplatz je gesehen und doch schwebte ihm ein inneres Bild dieser Szene vor. Eine innere Anschauung, die einerseits durch Vorbilder geprägt war, andererseits aber auch durch seine individuellen Ideen. Jedem Kunstwerk liegt also eine Idee oder ein Konzept zugrunde. Dieses beinhaltet neben dem Was, nämlich dem Thema, auch das Wie, nämlich die Umsetzung.

Das bringt uns zu weiteren Kriterien dessen, was Kunst ausmacht, nämlich zu Imagination, Idee und Originalität des Künstlers. Gerade diese Dimensionen gewannen im Laufe der Jahrhunderte die Vorrangstellung über die eigentliche Kunstfertigkeit und erreichten 1917 einen Höhepunkt. In jenem Jahr nämlich wollte der französische Künstler Marcel Duchamp unter dem Pseudonym R. Mutt ein Pissoir mit dem sprechenden Titel Fontaine in einer New Yorker Ausstellung zeigen. Das Objekt wurde zwar von der Jury – der auch Duchamp selbst angehörte – abgewiesen, später aber mehr als rehabilitiert: Bis heute gilt es (beziehungsweise Fotos und Repliken davon) als ein Schlüsselwerk moderner Kunst.

Abb. 4: Marcel Duchamp (signiert R. Mutt)
Das Original Fontaine
1917, fotografiert von Alfred Stieglitz

Notabene: Ein Pissoir soll Kunst sein? Kein Wunder, denken Sie jetzt vielleicht, dass ich damit nichts anfangen kann. Und in der Tat ist es, seit Kunst auf diese und andere Weise scheinbar ad absurdum geführt wurde, nicht einfacher geworden, sie zu verstehen. Allerdings: Vieles wird plausibel, wenn man die Zusammenhänge der Zeit und die Vita des Künstlers berücksichtigt.

Tatsächlich dominieren Idee und Originalität in der Gegenwartskunst gelegentlich auf unangenehme Weise. Was man heutzutage als Kunst betrachtet – und das muss sich nicht unbedingt mit dem decken, was man in hundert Jahren dafür halten wird –, bestimmt eine Gruppe von Insidern und wird für eine solche produziert. So jedenfalls sehen es viele Kunstkritiker. Glauben wir ihnen, dann ist für den Laien Kunst, und insbesondere die moderne Kunst, zunächst ein Buch mit sieben Siegeln. Damit er überhaupt entscheiden kann, ob ihm ein Kunstwerk zusagt, benötigt er Aufklärung, die ihm nur durch Experten zuteilwerden kann.3 Das tönt nach Exklusivität seitens der Kunst und nach Anstrengung und Aufwand vonseiten des Publikums. Doch lassen Sie sich dadurch nicht einschüchtern. Sie werden im nächsten Kapitel eine Methode kennenlernen, die es Ihnen ermöglicht, mit der Kunst – selbst der Gegenwartskunst – fertigzuwerden.

Das Zitat zum Thema: Der französische Bildhauer Auguste Rodin (1840  1917) war jemand, der der Originalität durchaus skeptisch gegenüberstand. „Die Originalität, wie sie das große Publikum versteht, existiert nicht in der hohen Kunst. Die Künstler, die nicht Geduld genug haben, um zu dem wirklichen Talent vorzudringen, ergeben sich dem Bizarren, der Absonderlichkeit des Themas oder den Formen ohne Rücksicht auf die Wahrheit. Und das nennen sie dann Originalität, aber das hat gar keinen Wert.“4 Ob sich seine Kritik auf Duchamps Fontaine bezog, entzieht sich meiner Kenntnis.

1|5 Der Kunstmarkt

Wer ganz nüchtern und schnörkellos wissen will, was Kunst ist, liest am besten die Zeitung. Allerdings nicht den Kultur-, sondern den Wirtschaftsteil. Denn der Kunstmarkt ist zu einer nicht zu vernachlässigenden Determinante von Kunst geworden. Er offeriert Experten wie Laien ein allgemein verständliches Bewertungskriterium: den Preis. Seit den 1980er-Jahren ist ein Kunstboom zu verzeichnen, der auch durch zwei Krisen nicht wesentlich geschmälert werden konnte. Kunstwerke sind als Investitionsgüter bei privaten und öffentlichen Anlegern nach wie vor sehr gefragt. Gerade in Zeiten volatiler Finanzmärkte suchen Investoren vermehrt nach sicheren Alternativen. Tatsächlich hat sich der Kunstmarkt in den letzten zehn Jahren als relativ stabil erwiesen. Seit dem gewaltigen Aufschwung, den die Branche in den Jahren von 2004 bis 2007, dank immenser Bonuszahlungen der Banken, erlebte, wird sie gar mit dem Goldmarkt verglichen. Auch die Zukunft sieht rosig aus, denn die Zahl finanzstarker Investoren aus den aufstrebenden Wirtschaftsmächten Brasilien, Russland, Indien und China ist am Wachsen und drängt auf den Kunstmarkt. Man stelle sich vor: Über 800.000 Dollarmillionäre und 128 Milliardäre wurden 2010 allein für China ermittelt. Die großen Auktionshäuser, die eigentlichen Umschlagplätze für Kunstwerke, verzeichnen denn auch eine Verschiebung der Kunstmarktzentren weg von den traditionellen Kunstnationen England und den USA nach Hongkong.5

Immer neue Rekorde werden von Auktionshäusern wie Sotheby’s oder Christie’s gemeldet. 1987 sorgten Vincent van Goghs Sonnenblumen noch für Schlagzeilen, als sie bei einer Auktion die Rekordsumme von 24,75 Millionen Pfund einbrachten. 2010 machte der marschierende dem rauchenden Mann den Titel des teuersten Kunstwerks streitig: Alberto Giacomettis Schreitender Mann I übertrumpfte den ehemaligen Spitzenreiter, Pablo Picassos Garçon à la pipe, nur um kurze Zeit später wieder von einem Picasso auf Platz zwei verwiesen zu werden6. Die Preise hatten mittlerweile die Grenze von 100 Millionen US-$ überschritten und wurden bereits kürzlich wieder von Edvard Munchs Der Schrei mit einem Erlös von 119,9 Mio. Dollar in den Schatten gestellt.

Freilich gehört die Mehrzahl der Künstler nicht zur Kategorie dieser Topgehandelten. Während sie noch bis ins 19. Jahrhundert mehrheitlich im Auftrag von Kirche, Adel oder Großbürgertum arbeiteten, emanzipierten sie sich danach aus diesen Auftragsverhältnissen. Kunst wurde nun vermehrt durch Vermittler, Galerien und Auktionshäuser an Sammler verkauft. Der Markt begann zu spielen. Der Künstler – und mit ihm die Kunst – gewann an Unabhängigkeit (vgl. Kapitel Keine Kunst ohne Künstler). Oft jedoch ging diese auf Kosten einer gesicherten Existenz. Viele Maler hätten wohl ein sorgenfreieres Leben führen können, wenn ihnen zu Lebzeiten auch nur ein Bruchteil der Anerkennung – insbesondere der finanziellen – erwiesen worden wäre, die sie heute genießen.

Die Anekdote zum Thema: Ende 1877 schien für Claude Monet die [finanzielle] Lage aussichtslos; da fasste sein Malerkollege Édouard Manet einen Plan. Er schrieb an einen Freund: „Ich besuchte gestern Monet und fand ihn niedergebrochen und verzweifelt. Er bat mich, irgendjemanden zu finden, der 10 oder 20 seiner Bilder, jedes zu 100 Franc, übernehmen würde. Dem Käufer stünde die Auswahl frei. Sollen wir die Angelegenheit unter uns ausmachen: sagen wir, jeder bringt 500 Franc auf? Natürlich darf niemand, er am allerwenigsten wissen, dass das Angebot von uns kommt.“7

Zusammenfassung: Kunst ist an das Dasein des Menschen geknüpft. Sie bezeichnete ursprünglich eine Fertigkeit, ein Wissen, eine Meisterschaft in einem Handwerk oder einer anderen Disziplin. Als künstlich galt im Mittelalter etwas vom Menschen willentlich Geschaffenes, im Gegensatz zu dem von Natur aus Vorhandenen. Kunst diente bis ins 19. Jahrhundert einem Zweck, das heißt, sie sollte repräsentieren und darstellen. Sie wurde im Auftrag der Kirche oder des Adels, später auch des reichen Bürgertums, ausgeführt. Lange Zeit definierte sie sich über die Kunstfertigkeit. Erst im 19. Jahrhundert gewann die Idee des Künstlers und dessen Originalität die Oberhand. Je mehr sich die Kunst vom Mäzenatentum (Auftraggeber) löste, umso mehr wurde sie dem freien Markt unterworfen.

Nur keine falschen Hemmungen!

3|1 Ihr Bauchgefühl oder: Wie Sie einen persönlichen Zugang zu Kunst finden

Sie sind gefragt: Welche Haltung würden Sie beim Betrachten eines Bildes vorziehen?

1. Vor ein Bild hat jeder sich hinzustellen wie vor einen Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde.21

2. [Die Bilder] beunruhigen den Betrachter; er fühlt: zu ihnen muss er einen bestimmten Weg suchen.22

3. Sie sind der Empfänger einer Bild-Botschaft. Fühlen Sie sich also angesprochen!

Antwort: Ihre Antwort muss sich nicht mit der hier weiterverfolgten Methode decken. Wenn Sie sich aber für Punkt 3 entschieden haben, liegen Sie auf der Linie dieses Buches! Aber: 1 und 2 sind keine Irrwege. Es gibt tatsächlich Kunstwerke, die einen überwältigenden Eindruck machen und den Betrachter vor Ehrfurcht erstarren lassen. Andere faszinieren, und man versucht herauszufinden weshalb.

Fühlen Sie sich einfach einmal angesprochen! Die erste Reaktion beim Betrachten eines Kunstwerkes läuft bei den meisten Menschen auf die Beurteilung gefallen beziehungsweise nicht gefallen hinaus. Wir reagieren damit nicht anders, als wenn wir einen Menschen kennenlernen: Wir fällen eine spontane, mehr oder weniger bewusste Entscheidung: sympathisch – unsympathisch beziehungsweise gefallen – nicht gefallen. Wenn wir uns etwas näher mit einem Menschen auseinandersetzen, fragen wir uns, weshalb wir ihn sympathisch beziehungsweise unsympathisch finden. Genauso können Sie sich beim Kunstwerk fragen, weshalb es Ihnen gefällt oder nicht. Es genügt schon, wenn Sie die Entscheidung begründen: Dieses Bild gefällt mir, weil  Hier können Sie nun das Passende einsetzen, also etwa: … weil es in meinen Lieblingsfarben gemalt ist; weil es mich an … erinnert; weil ich auch gerne so malen würde; weil ich es einfach schön finde; weil es in mir ein Gefühl von … auslöst etc. Analog verfahren Sie bei Nicht-Gefallen: Dieses Bild gefällt mir nicht, weil … mir das Sujet nichts sagt; weil mir zu viel Farbe drauf ist; weil es mich abstößt, weil ich es langweilig finde etc. Sie haben damit Ihr Urteil des Gefallens beziehungsweise Nichtgefallens begründet und als ein Angesprochener auf die Mitteilung reagiert.

Die Anekdote zum Thema: Über einen Besuch Aurelio Luinis in Tizians Atelier wird erzählt: „Er sah ein wunderbares Landschaftsbild, das Tizian im Hause hatte. Auf den ersten Blick hielt Aurelio es für eine Schmiererei. Nachdem er aber zurückgetreten war, schien es ihm, aus größerer Distanz, als ob ihm das Bild die Sonne leuchtete und die Straßen vor ihr nach allen Seiten zurückwichen.“23

Wie bei Menschen kann es auch beim Kunstwerk sein, dass Sie nach näherem Kennenlernen Ihr erstes Urteil überdenken oder gar revidieren müssen. Dies kann geschehen, indem Sie es differenzieren. Vielleicht sticht Ihnen in einem Bild, das Ihnen grundsätzlich missfällt, doch noch etwas ins Auge, das Sie gelungen finden. Möglicherweise gefallen Ihnen die Farben, obwohl Sie die Figuren unschön finden, oder Sie finden ein Bild kitschig, aber technisch gut gemalt, oder Sie fühlen sich auf gut Deutsch „verarscht“, und trotzdem finden Sie die Idee des Künstlers originell, oder Sie würden ein bestimmtes Bild nie in Ihre Wohnung hängen, können es sich aber gut in einem öffentlichen Raum vorstellen. Allein aufgrund dieser persönlichen Annäherung findet eine Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk statt und Sie lernen schon einiges über das Werk.

3|2 Was Ihnen Ihr Kopf sagt oder: Wie Sie einen sachlichen Zugang finden

Diesem ersten persönlichen Schritt auf ein Bild zu kann nun ein sachlicher folgen, eingeleitet durch die Frage: Was sehe ich? Vielleicht fällt Ihnen – noch bevor Sie Einzelheiten betrachten – auf Anhieb ein vorherrschendes Bildthema auf. Dann benennen Sie es. Das können ein Blumenstrauß, eine Küchenszene, eine weiße Leinwand sein. Nun wenden Sie sich – wenn vorhanden – den übrigen Bestandteilen zu: der Umgebung des Blumenstraußes, dem Hintergrund oder den Nebenschauplätzen der Küchenszene. Danach können Sie ins Detail gehen. Es gibt Bilder, bei denen man sich in den Details verlieren kann, da erkennt man noch die Fliege auf der Birne, den Wasserbeschlag am kühlen Bierglas oder das einzelne Haar des Pelzbesatzes. Der genaue Blick kann Ihnen aber noch ganz andere Einzelheiten offenbaren. Treten Sie doch noch einen Schritt näher an das Bild – so nahe es die Sicherheitsvorkehrungen des Museums Ihnen erlauben – und schauen sich den Farbauftrag an, Sie werden staunen, was Sie da entdecken: Da sieht man ja die einzelnen Pinselstriche! Sind das überhaupt Pinselstriche oder hat der Maler da eine andere Technik verwendet? Da schaut noch die Leinwand zwischen der Farbe hervor! Oder: Dieses Grün ist ja eigentlich ein Schwarz-Blau! Nachdem Sie sich auf diese Weise eine Übersicht verschafft haben, werfen Sie nun einen Blick auf die Begleittafel. Sie liefert Ihnen sachdienliche Hinweise, wie den Namen des Künstlers, Titel, Technik, Jahr und eventuell Herkunft des Bildes. Bei Reproduktionen in Büchern ist zudem unbedingt die Formatangabe zu beachten.

Die Anekdote zum Thema: Der englische Maler Joshua Reynolds bemerkte voller Bitterkeit, dass britische Reisende, anstatt sich der Schönheit der berühmten Werke zu widmen, nur das Thema wissen wollen, den Namen des Malers, die Geschichte der Skulptur und wo sie gefunden wurde, und dieses dann aufschrieben. „Manche Engländer kamen in den Vatikan, als ich dort war, verbrachten sechs Stunden damit, das aufzuschreiben, was der Reiseführer ihnen diktierte. Sie schauten die ganze Zeit so gut wie nie auf die Bilder.“24

Sie sind gefragt:

Wie gehen Sie mit dem Bild auf der rechten Seite um? Hier die Hilfestellungen:

  1. Gefallen/​Nichtgefallen
  2. Begründen
  3. Differenzieren
  4. Hauptthema
  5. Details/​genauer Blick
  6. Begleittafel

Antwort: Nachdem Sie die ersten drei Punkte individuell für sich beantwortet haben, setzen wir unsere Betrachtung mit dem Bildthema fort. Hauptgegenstand ist zweifellos ein Paar. Als weitere Bestandteile erkennt man einen Innenraum, der offenbar ein Schlafzimmer ist, denn auf der rechten Bildseite befindet sich ein Himmelbett ganz in Rot. Im Bildhintergrund steht eine Liege oder eine ebenfalls mit roten Kissen bedeckte Bank. Von der Decke herab ragt ein mehrarmiger Leuchter. Zwischen dem Paar an der Wand im Hintergrund hängt ein runder Spiegel. Auf der linken Bildseite befindet sich ein geöffnetes Fenster. Auf dem Fußboden vor dem Paar steht ein kleiner Hund. Außerdem fallen zwei Paar Schuhe auf, die einen gut sichtbar in der unteren Bildecke, links des Mannes, die anderen von dominanter roter Farbe, etwas im Hintergrund, zwischen dem Paar vor dem Liegebett. Wir stellen fest, dass die Farben Grün, Rot und Braun dominieren und die Szene sehr genau und detailgetreu gemalt ist. Des Weiteren ersehen wir aus der Kleidung des Paares und der Einrichtung des Raumes, dass es sich um eine ältere Darstellung handelt. Je nachdem, wie gut sich jemand in Kostümkunde und Interieurs auskennt, lässt sich sogar das Jahrhundert bestimmen. Die pelzbesetzten Gewänder der Dargestellten, die kunstvolle Fältelung am Kleid der Frau sowie ihre spitzenbesetzte Haube lassen zudem auf begüterte Verhältnisse schließen. Die Einrichtung des Raumes bestätigt diesen Eindruck. Geht man nun ins Detail, erkennt man, dass auf dem Leuchter eine einzige Kerze steckt, die angezündet ist. Zudem wird die ganze Szene vom Spiegel wiedergegeben. Über dem Spiegel ist in verschnörkelten Buchstaben eine Inschrift an die Wand gemalt. Scharfe Augen vermögen die Worte „Johannes de Eyck fuit hic“ (Johannes van Eyck war hier) zu entziffern.

Abb. 13:

Wenn Sie dieses Bild im Original an seinem Stammplatz in der National Gallery in London oder als Abbildung in einem Buch sehen, erhalten Sie noch die folgenden Angaben mitgeliefert: >

Künstler: Jan van Eyck Titel: Die Arnolfini-Hochzeit Datierung: 1434

Technik: Öl auf Holz

Größe: 82 x 60 cm

Standort:

National Gallery, London

Was Sie vielleicht schon vermuteten, erschließt sich nun aus der Bildlegende: Es handelt sich um die Darstellung eines Hochzeitspaares, dem Namen nach eines italienischen. Tatsächlich ist es der Spross einer Kaufmanns- und Bankiersfamilie, Giovanni Arnolfini, mit seiner Braut Giovanna Cenami. Vielleicht tippten Sie sogar bei der Datierung ins 15. Jahrhundert richtig. (Hier soll man ruhig auch Spaß am Spiel haben!) Der Name des Künstlers schließlich verweist auf eine nördliche Herkunft, im Falle van Eycks auf das flämische Brügge. Der Maler ist kaum erkennbar im Spiegel zwischen den Eheleuten abgebildet. Was wir aber aus einer Reproduktion nicht erschließen können, ist die Größe eines Bildes. Mit den genannten Maßen von nicht einmal einem Meter Höhe und einer Breite von etwas über einem halben Meter ist das Bild möglicherweise kleiner beziehungsweise größer, als wir es uns vorgestellt hätten.

Aus der Bildlegende erfährt man also einiges, unter anderem, dass zwischen unserer Gegenwart und dem Entstehungsjahr des Bildes eine Zeitspanne von fast sechshundert Jahren verflossen ist. Dass wir heutigen Betrachter das Bild anders wahrnehmen als ein Mensch des 15. Jahrhunderts, versteht sich von selbst. Es kann denn auch ganz spannend sein, herauszufinden, was ein Zeitgenosse von van Eyck alles in der Arnolfini-Hochzeit „mitgelesen“ haben könnte. Vieles ist uns dank der kunstgeschichtlichen Erforschung der Bildinhalte und der Symbolik auch heute bekannt. Generell können wir davon ausgehen, dass in einem Bild aus dem 15. Jahrhundert jeder Gegenstand, ja, jede Geste eine Bedeutung haben konnte. Einige der wichtigsten seien hier genannt:

Hund:

Symbol der Treue

Spiegel:

einerseits (Selbst-)Erkenntnis, Wahrheit, andererseits Eitelkeit, Wollust

ausgezogene Schuhe:

Betreten von heiligem Boden

Bett:

Hochzeitssymbol

Kopfbedeckung:

Zeichen der verheirateten Frau

Leuchter/​Kerze:

begleitet das Ablegen eines Eides,

das allwissende Auge Gottes

Orangen:

Symbol der Fruchtbarkeit

Apfel:

Symbol des verlorenen Paradieses

Was machen wir aber mit einem ungegenständlichen Bild der folgenden Art?

Abb. 14: Mark Rothko, Four Darks in Red (Vier Dunkelheiten in Rot) 1958, Öl auf Leinwand, 2,59 x 2,94 m Whitney Museum of American Art, New York

Gehen Sie genau gleich vor wie im ersten Beispiel. Stellen Sie sich die Frage, ob Ihnen das Bild gefällt, fragen Sie sich anschließend genauer, was Ihnen gefällt beziehungsweise nicht gefällt. Gehen Sie dann einen Schritt weiter und stellen Sie fest, was Sie sehen. Hier könnte die Antwort folgendermaßen lauten: Ich sehe vier dunkle Flächen/​Streifen auf einem roten Grund. Zwischen jedem Streifen schimmert ein schmaler Streifen des roten Grundes durch. Die drei oberen Flächen erstrecken sich über die gesamte Bildbreite, während die untere von der roten Farbe eingerahmt wird. Der oberste Streifen ist der schmalste. Er ist von dunkelgrüner Farbe. Die folgende Fläche dominiert die anderen durch ihre Größe und ihre dunkle Farbe. Die zwei unteren Streifen haben in etwa den gleichen oliven Farbton, der das Rot des Untergrundes durchscheinen lässt. Geben Sie dem Bild nun einen Titel oder ein Thema. Also etwa „Vier dunkle Flächen auf rotem Grund“ oder „Der schwarze Balken“. Vielleicht erinnern Sie die vier Streifen auch an Dünen, einen Sandstrand und das Meer mit einem Streifen Himmel im Hintergrund. Dann nennen Sie es „Am Meer“ …

Sie werden merken, dass es gar nicht so einfach ist, dieses an sich schlichte Bild zu beschreiben. Versucht man es trotzdem, wird man gezwungen, genau hinzusehen. Welche Formen sind vorhanden, in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Wie beschreibe ich die Farbtöne, die Nuancen etc.? Diese Fragen schulen unser Auge. Wir haben also durchaus einen Gewinn, wenn wir ein Bild genau betrachten, selbst dann, wenn es uns auf den ersten Blick vielleicht nichts bedeutet.

Notabene: Hier stößt man allerdings an die Grenzen der Reproduzierbarkeit. Denn Farben weichen in der Wiedergabe oft beträchtlich von Originaltönen ab. Zudem ist es nur begrenzt möglich, Farbmischungen wiederzugeben.

Auf die Bedeutung der Größe eines Bildes haben wir schon hingewiesen. So macht es einen wesentlichen Unterschied, ob man die Vier Dunkelheiten in Rot in der Originalgröße von 2,59 x 2,94 m oder in einer Reproduktion von einem Zwanzigstel der Größe sieht. Nicht nur die Wirkung ist eine andere, auch der Betrachter verhält sich ganz anders. Steht man vor dem fast drei Meter hohen Original, so reicht es nicht, lediglich die Augen zu bewegen, um das Bild zu erfassen. Man muss dazu schon den Kopf bewegen oder gar von einer Seite zur anderen gehen. Will man gar das Bildganze überschauen, ist man gezwungen, sich davon zu entfernen. Gleich wie bei einem Fotoapparat ohne Zoom. Erst aus der richtigen Entfernung kann man das Bild überblicken. Aus der Nähe ist man dagegen gleichsam im Bild drin. Möglicherweise ist es auch die Intensität der Farbe, die Sie dazu nötigt, zurückzutreten. So viel Rot muss man schon aushalten können! Diese Eindrücke versagt die Reproduktion, von ihr erhält man lediglich eine Idee des Bildes. Es lohnt sich also, Kunstwerke – wo immer dies möglich ist – im Original zu betrachten, um ihre tatsächliche Wirkung zu erleben.

Nachdem Sie ein Bild in seiner formalen und allenfalls inhaltlichen Dimension erfasst haben, kann noch ein dritter Schritt folgen. Er betrifft nun die geistige Dimension eines Werkes. Dieser Zugang ist freilich nicht immer gegeben und fordert vom Betrachter Zeit und Muße. Trotzdem kann es sein, dass ein bestimmtes Werk in einer Ausstellung Sie nicht mehr loslässt und Sie zum Verweilen oder mehrmaligen Zurückkehren einlädt. Vielleicht können Sie den Grund dieser Attraktion sofort benennen. Viel wahrscheinlicher ist aber, dass Sie vorerst nicht in Worte fassen können, was Sie anzieht. Eine solche Faszination könnte man am besten – um nochmals auf das Kommunikationsmodell zurückzukommen – mit nonverbaler Kommunikation vergleichen. Es sind gleichsam unterschwellige oder begleitende, nicht benennbare Bildaspekte, die zu uns sprechen und die einem Bild eine Bedeutung verleihen, die Form und Inhalt übersteigt. Es ist dann, als würde über das Materielle hinaus – und dies ist ganz ohne esoterischen Beigeschmack zu verstehen – der Geist des Malers die Bildatmosphäre durchdringen. Oder wie es der bekannte deutsche Kunsttheoretiker Werner Schmalenbach in seinem ebenso lesens- wie liebenswerten Buch Über die Liebe zur Kunst und die Wahrheit der Bilder formulierte: „In dem, was auf dem Bild passiert, […] ist natürlich Geistiges enthalten.“25 Das löst möglicherweise Fragen nach der Persönlichkeit des Malers, nach seiner Verfassung, nach seiner Motivation aus, die uns sozusagen in Konversation mit dem Werk bringen. Wenn Sie ein Werk derart ausloten, kann es auch hilfreich sein, mit jemandem darüber zu sprechen.

Das Zitat zum Thema: „Das Besondere der Kunsterfahrung ist jedoch, dass Reiz und Reaktion sich gegenseitig beeinflussen und verändern. Mit dem Empfinden wächst auch die Empfindungsfähigkeit, mit dem Sehen das Gespür für das Ansehnliche und mit dem Betrachten die Mündigkeit des Betrachters.“26

Zusammenfassung: Gehen Sie selbstbewusst auf ein Kunstwerk zu und fühlen Sie sich angesprochen! Gehen Sie von Ihrem „ersten Eindruck“ aus und versuchen Sie ihn zu begründen (gefällt mir/​gefällt mir nicht, weil …). Machen Sie noch einen Schritt weiter und differenzieren Sie. Wenn Ihnen ein Bild also nicht gefällt, so suchen Sie nun etwas, das Sie trotzdem anspricht und umgekehrt. Und schließlich tragen Sie innerlich zusammen, was Sie sehen, und geben dem Bild einen Titel oder ein Thema. Scheuen Sie sich nicht, ein Werk, das Sie anspricht, weiter auszuloten.

Schubladen, die für Ordnung sorgen

Ordnung muss sein!

Sie sind gefragt: Blättern Sie doch einmal Ihr Fotoalbum oder klicken Sie Ihre letzte Foto-CD aus dem Urlaub durch. Welche sind Ihre Lieblingsmotive? Kreuzen Sie an:

Landschaftsbilder

Gebräuche und Sitten

Familienmitglieder, Freunde, Bekannte

Blumen und Tiere

Hübsche Details

Bauwerke

Vielleicht haben Sie keine besondere Vorliebe und Ihre persönlichen Bildmotive kommen alle etwa gleich häufig vor. Wahrscheinlich bewahren Sie Ihre Fotos auch nicht nach Sujets geordnet auf, sondern chronologisch nach Ereignissen. In der bildenden Kunst kann es aber durchaus hilfreich sein, Themen oder Motive zu unterscheiden. So sind gerade Sonderausstellungen von Museen häufig einem bestimmten Thema, Motiv oder einer Gattung gewidmet. Bildgattungen sollen uns helfen, Kunstwerke nach ihrer Thematik einzuordnen. Sie bieten ein objektives Hilfsmittel – wie die erwähnte Bildlegende – in der Auseinandersetzung mit einem Werk. Quasi das Album, beziehungsweise die Schublade, in die wir das Werk einordnen können.

Eine andere Methode der „Schubladisierung“ ist die zeitliche Einordnung nach Epochen. Nach diesem Ordnungsprinzip verfahren normalerweise Kunstmuseen mit den Bildern ihrer Sammlung. Wir betreten dann eingangs etwa die Räume mit mittelalterlicher Kunst, um nachher durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart vorzuschreiten. Verfügt ein Museum über viele Werke eines einzelnen Meisters, so können diesem gar einer oder mehrere Räume gewidmet sein. Epochen und Gattungen sind gute Raster, die uns helfen, Bildeindrücke zu ordnen und zu vergleichen.

Die folgenden Kapitel halten sich an die klassischen Bildgattungen, Historie, Porträt, Genre, Landschaft und Stillleben. Weshalb „klassisch“ und weshalb gerade diese Unterscheidungskriterien, mögen Sie sich fragen. Nun, wie so oft hat das eine mit dem anderen zu tun. Die Entstehung der einzelnen Gattungen geht ins 16. und 17. Jahrhundert zurück. In jener Zeit begannen sich verschiedene Maler auf bestimmte Themen zu spezialisieren. Gleichzeitig waren dies auch die großen Jahrhunderte der Akademiegründungen. Die Kunstschulen boten Ausbildungen in verschiedenen Fächern an. Die wohl einflussreichste unter ihnen war die Académie Française des Beaux-Arts in Paris. Sie sorgte nicht nur für ein strenges Aufnahmeverfahren ihrer Kandidaten, sondern auch für einen verbindlichen Fächerkanon, der zur klassischen Ausbildung gehörte. Dieser hat sich bis heute – wenn auch oft totgesagt und vielleicht in Ermangelung einer griffigeren Alternative – als Ordnungsprinzip der Kunstgeschichtsschreibung halten können. Allerdings versagt er da seinen Dienst, wo sich die Kunst auf neue Experimente (vgl. Kapitel Die Moderne) einlässt. Mit dieser Einschränkung scheint man aber gut zurechtzukommen, und so haben die Gattungen als zeitlose (klassische) Kategorien bis heute überlebt. Dabei wurden die genannten Disziplinen lange Zeit keineswegs gleichwertig behandelt, sondern stellten eine Rangfolge – wie aufgezählt – in fallender Wertung dar. Daraus ergibt sich: große Taten berühmter Menschen oder altbekannte Geschichten (Historienbild) vor der Darstellung von (berühmten) Menschen (Porträt), vor der Alltagsdarstellung verschiedenster Menschen (Genre), vor Belebtem (Landschaft, inklusive Mensch und Tier), vor unbelebten Gegenständen (Stillleben).

Im Folgenden wird die Hierarchie etwas durcheinandergebracht: Ausgehend vom Porträt steigen wir die Stufenleiter sukzessive bis zum Stillleben hinunter, um uns schließlich wieder zur Historie emporzuschwingen. Dieses zwanglose Vorgehen hat den Vorteil, dass einzelne Aspekte und Entwicklungen bereits besprochen und für das letzte Kapitel vorausgesetzt werden können, sodass das Kapitel Historie sich dann ganz dem Inhaltlichen widmen kann.

4|1 Porträtmalerei – Wie hätten Sie’s denn gern?

Sie sind gefragt: Was wäre Ihnen wichtig, wenn Sie sich porträtieren ließen? Kreuzen Sie an!

a) Das Porträt soll mir möglichst ähnlich sehen.

b) Das Porträt soll mich möglichst vorteilhaft zeigen.

c) Der Künstler soll mich zeigen, wie er mich sieht.

d) Es ist egal, wie ich aussehe, Hauptsache das Porträt stammt von einem berühmten Maler.

Antwort:

a) Hand aufs Herz: Diese Antwort braucht möglicherweise etwas Mut. Denn so ganz ungeschönt und ehrlich (oder vielleicht doch etwas überspitzt?) porträtiert zu werden, wie hier die Madame de Tournon, braucht ein gesundes Selbstbewusstsein oder doch einen so versierten Maler wie Jean-Auguste-Dominique Ingres. Die meisten von uns sind ja keine Fotomodelle.

Abb. 15: Jean-Auguste-Dominique Ingres
Madame de Tournon
1812, Öl auf Leinwand, 92 x 73 cm Philadelphia Museum of Art

Hintergrund zum Bild: Ingres finanzierte sich einen längeren Italienaufenthalt durch Porträtmalerei. 1812 erhielt er vom damaligen Präfekten von Rom den Auftrag, dessen Mutter zu porträtieren. Eine Aufgabe nicht ohne Tücken, die der Maler jedoch geschickt löste: Wohl ganz den Tatsachen verpflichtet, besticht das Porträt nicht durch Schönheit, sondern durch einen äußerst intensiven Gesichtsausdruck. Leicht distanziert, leicht ironisch, dabei warm und wissend ist der Blick der Tournon, gleich demjenigen einer Frau, die viel gesehen und erlebt hat.

Antwort b) finden Sie auf S. 41

Antwort c) finden Sie auf S. 47

Antwort d) finden Sie auf S. 50

4|1|1 Was ist ein Porträt? 

Die oben gestellte Frage hat uns bereits mit zwei grundlegenden Kennzeichen des Porträts konfrontiert, nämlich mit der Ähnlichkeit und mit der Vorstellung des Künstlers beziehungsweise der künstlerischen Auffassung. Die verschiedenen Lösungen zeigen zudem, dass offenbar nicht immer beides in Übereinstimmung gebracht werden kann. In der Tat lebt das Porträt von der Spannung zwischen Abbildfunktion und Ausdruckskraft des Künstlers. Ein Konflikt, der seit dem – wenn wir so wollen – ersten künstlerischen Schöpfungsakt besteht und hier archetypisch für alle Bildnisse zitiert werden soll:

Das Zitat zum Thema: 

„Nun wollen wir den Menschen machen, ein Wesen, das uns ähnlich ist! … Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, er schuf Mann und Frau.“ (Gen. 1, 26.27)

„Gott hatte den Menschen als sein Ebenbild gemacht; als Mann und Frau hatte er die Menschen geschaffen, hatte sie gesegnet und ihnen den Namen, Mensch‘ gegeben.“ (Gen. 5, 1.2)

Liest man die beiden Zitate genau, stellt man fest, dass bezüglich der Urheberschaft beträchtliche Unklarheit vorliegt. Wie ist die Mehrzahl zu interpretieren, in der Gott von sich selbst redet? Spricht er von sich im sogenannten Majestätsplural, wie es Könige zu tun pflegten? Ist er im Gespräch mit Jesus, wie auch schon vermutet wurde? Oder geht er tatsächlich von sich als einem als Mehrzahl existierenden Wesen aus? Fest steht, dass offenbar die Gottes-Ähnlichkeit erst durch zwei Geschlechter gewährleistet ist. Deutungsspielraum lässt zudem die Formulierung, nach seinem Bild. Sie stellt uns vor die Frage, ob damit nach dem Aussehen, entsprechend der äußeren Erscheinung, oder nach der Vorstellung, entsprechend einem inneren Bild, gemeint ist. Auch wenn diese Fragen nicht schlüssig beantwortet werden können, demonstrieren sie doch die Wechselbeziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf, die bestimmend für die Gattung Porträt ist.

Wenden wir uns nun aber einem ganz konkreten Punkt des Zitats zu. Vielleicht ist es Ihnen beim Lesen auch aufgefallen: Als weiterer wichtiger Aspekt des Porträts wird der Name ins Spiel gebracht. Wie wichtig die Namensnennung ist, erkennt man leicht beim Durchblättern eines Familienalbums. Die Fotos sind in der Regel mit einem Begleittext versehen, in dem der Name der Abgebildeten und das Aufnahmedatum genannt werden. Fehlt das eine oder das andere, wird die Zuordnung schwierig oder ist gar nicht möglich. Porträts verlangen also geradezu nach einer Namensnennung und einer Datierung, um eindeutig zu sein. Sie garantieren die Identifikation der Personen auch bei zeitlicher Distanz.

Notabene: Das wohl berühmteste Porträt, die Mona Lisa von Leonardo da Vinci, ist nicht zuletzt deshalb so geheimnisvoll, weil man bis heute nicht genau weiß, wer die Abgebildete ist. Der Bildtitel stammt nämlich nicht von Leonardo, sondern von dessen Biograf Giorgio Vasari. Demnach war die Mona (Madonna) Lisa (Elisabetta) die Frau des Marchese Francesco di Bartolomeo di Zanobi del Giocondo. Von dessen Namen leitet sich auch die zweite gebräuchliche Bezeichnung des Bildes La Gioconda ab.27

Definition: Im Bewusstsein der aufgezeigten Schwierigkeiten von Abbildfunktion und künstlerischem Ausdruck schließen wir uns der folgenden Definition von Porträtmalerei an:

Ein Porträt ist ein Gemälde, eine Fotografie, eine Plastik oder eine andere künstlerische Darstellung einer oder mehrerer Personen. Die Absicht eines Porträts ist, neben der Darstellung körperlicher Ähnlichkeit auch das Wesen beziehungsweise die Persönlichkeit der porträtierten Person zum Ausdruck zu bringen.28

Abb. 16: Leonardo da Vinci
Mona Lisa (La Gioconda)
um 1503  1506, Öl auf Pappelholz 76,8 x 53 cm, Louvre, Paris

4|1|2 Von wahrer Geistesgröße und weiblichen Kleiderstöcken – Der Künstler als Porträtist 

Vergegenwärtigen wir uns doch einmal eine Porträtsituation. Zwei Persönlichkeiten treffen aufeinander: die des Künstlers und die des Modells. Vielleicht kennen sie sich schon, vielleicht aber auch nicht. Der Maler ist der Aktive, das Modell dagegen ist zum Stillsitzen verurteilt. Der Künstler steht unter einem gewissen Leistungsdruck, denn immerhin soll er in einer vernünftigen Zeit ein annehmbares Resultat erbringen. Der Porträtierte mag wohl, je nach Persönlichkeit, von einem gewissen Unbehagen oder Ungeduld geplagt sein. Alles in allem eine eher unangenehme Ausgangslage. Doch lassen wir doch einen Betroffenen sprechen, den Schriftsteller Émile Zola, der von einer Sitzung beim Maler Édouard Manet (1832  1883) berichtet:

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