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PD Dr. Almut Schneider

promovierte in Germanistik und Kunstgeschichte in Göttingen. Bis 2011 war sie Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Ältere Deutsche Literaturwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem in den Bereichen Literarische Selbst- und Fremdwahrnehmung deutscher Literatur im Mittelalter und Poetik des späthöfischen Romans.

Dr. Michael Neumann

ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem in den Bereichen Geschichte der Erzählliteratur, Formen der Lyrik sowie der Literatur der Klassik und Romantik.

Zum Buch

»Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit.«

HANS BLUMENBERG

Das Ideal, welches dem Menschengeschlecht von sich selbst vorschwebt, zeigt sich am deutlichsten in seinen Mythen und Sagen, in denen Personen und Ideen zum Helden oder zum Leitbild für viele Generationen werden. In diesem Band erfährt der Leser die Zusammenhänge zwischen der Mythenbildung, Hagiographie und Ideengeschichte vom (späten) Mittelalter bis zu den Anfängen der Neuzeit. Gleichzeitig wird der Motivation, die diese Mythenbildung und Förderung ganz bestimmter Menschenbilder angetrieben hat, nachgespürt und in Zusammenhang mit bedeutenden Personen des Spätmittelalters, wie Friedrich II. von Hohenstaufen oder Jeanne D’Arc, sowie mit der Entstehung literarischer Figuren, wie beispielsweise Robin Hood, gebracht.

Menschen, die
Geschichte schrieben

Almut Schneider
Michael Neumann (Hrsg.)

Menschen, die
Geschichte schrieben

Das Spätmittelalter

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Alle Rechte vorbehalten

Genehmigte Lizenzausgabe
für marixverlag GmbH, Wiesbaden 2014
© by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, 2004
Bildnachweis: Jeanne d'Arc küsst das Schwert der Befreiung,
Gemälde von Dante Gabriel Rossetti, 1863.
© Christie's Images Ltd – ARTOTHEK
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0426-4

www.marixverlag.de

INHALT

Einleitung

von Almut Schneider

Friedrich II

Antichrist und Friedenskaiser von Wolfgang Stürner

Timur der Schreckliche

von Felicitas Schmieder

Sankt Georg in Martern, Krieg und andern Nöten

Ein Romanheiliger verschriftet und verkörpert sich von Wolfgang Haubrichs

Jeanne d’Arc

Eine Frau entscheidet Frankreichs Schicksal von Sabine Tanz

Robin Hood

Seine Resonanz im ausgehenden englischen Mittelalter von Günther Blaicher

„… Und auf Knien beteten sie ihn mit unermesslicher Freude an“

Die Geburt Christi in der Malerei um 1400 von Andrea Gottdang

Dantes Beatrice und die Poetik des Heils

von Gerhard Regn

Fortuna

von Jan-Dirk Müller

Satan im späten Mittelalter

Vom gefallenen Engel zum Gegengott von Johannes Grabmayer

Tod und Totentanz

von Gerd Dicke

Autorinnen und Autoren

Editorische Vorbemerkung

Die mittlerweile rund 80 Bände umfassende Buchreihe marixwissen, in der nun Menschen, die Geschichte schrieben – Das Spätmittelalter vorliegt, steht seit vielen Jahren für Publikationen, die aus kompetenter Hand komplexe Zusammenhänge einer breiten Leserschaft zugänglich macht. Aus diesem besonderen Grund legen wir nun eine siebenbändige Reihe wieder auf, die vormals im Pustet Verlag erschienen ist und seinerzeit leider nur einem kleinen Publikum zugänglich war. Die diesen Bänden zugrundeliegende Ringvorlesung Die Mythen Europas fasziniert durch ihre thematische Breite und löst darüber hinaus das Ziel unserer marixwissen-Reihe ein, humanistische Bildung und das Wissen Europas lebendig zu halten. Die zentralen Begriffe „Mythen“, „Europa“ und „Schlüsselfiguren“ sind heute von einer ebenso großen, wenn nicht noch größeren Bedeutung getragen. Wir legen Ihnen die Bände in ihrer Textgestalt unverändert vor, lediglich die Titel wurden der Reihe marixwissen angepasst.

EINLEITUNG

von Almut Schneider

Der vorliegende Band widmet sich der Übergangszeit vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit und damit der Zeit von der Mitte des 13. Jahrhunderts bis nach 1500. Die Grenzen dieser Epoche – wenn sie sich mit der Vielfalt und Vielschichtigkeit ihrer Strömungen und Entwicklungen als eine solche überhaupt bezeichnen lässt – sind unscharf: Altes und Neues, Tradition und Innovation befinden sich auch hier im steten Nebeneinander. Am Beginn der Zeitspanne steht in Deutschland – nach dem Ende der Stauferzeit – das Interregnum als eine Phase, in der es nach dem Tod Friedrichs II. zwar etliche Könige gibt, doch keinen, der Frieden und Recht im Reich sichern kann. An ihrem Ende finden sich vielfältige Faktoren, die den Übergang zur Neuzeit einleiten: Buchdruck, Humanismus, Reformation und Renaissance sind nur einige Stichworte, die diesen Übergang markieren. So ist statt von einer Epochengrenze eher von einer allmählichen Ablösung vom Mittelalter zu sprechen, die sich in den Ländern Europas in unterschiedlicher Weise vollzieht. Dennoch lassen sich Charakteristika dieses Zeitraums skizzieren, die ihren Niederschlag auch in der Gestaltung von Schlüsselfiguren finden. Das Epochengefühl des Spätmittelalters ist das der Krise. Grund dafür sind insbesondere wirtschaftliche und soziale Faktoren: Pestwellen und Hungersnöte prägen das 14. und 15. Jahrhundert, auch als Folge klimatischer Veränderungen. Die Allgegenwart des Todes, der den Einzelnen mitten aus dem Leben reißt, ist unübersehbar und provoziert die Frage nach eigener Schuld und Sündhaftigkeit – und damit auch nach dem Bösen in der Welt, personifiziert in der Figur Satans.

Ein wachsendes Anschauungs- und Konkretionsbedürfnis lässt gerade diese Figuren Gestalt gewinnen. Hatte die verbindliche Erwartung der bevorstehenden Endzeit noch die Imagination Friedrichs II. als Antichrist oder Friedenskaiser und damit als Vorboten der Apokalypse bestimmt, so schwindet im Spätmittelalter diese Endzeitgewissheit. Weltangst und Lebensbejahung stehen unmittelbar nebeneinander. Zentrales Kennzeichen ist das Brüchigwerden der Ordnungsmuster. Die verworfene, heilsbedürftige Welt ist zum einen in Fortuna verkörpert, als der doppelgesichtigen Macht der Wechselfälle, zum anderen findet die Hoffnung auf Erlösung Ausdruck in der Imagination des heiligen Georg als einer überlieferten, in Beatrice als einer neu entworfenen Figur. Die zunehmende politische und wirtschaftliche Selbständigkeit der Städte fördert neben dem Ideal der Unabhängigkeit und Selbstregulierung auch eine soziale Utopie der Gleichheit mit der Hoffnung auf gerechte Lebensbedingungen. Robin Hood gehört in diesen Kontext ebenso wie Jeanne d’Arc, die verdeutlicht, dass in den Prophetien des ausgehenden Mittelalters Hoffnung nicht länger auf dem Friedensfürsten ruht, sondern auf dem Volk selbst. Damit rückt der Einzelne in den Blick, wie dies auch im Zuge wachsender Innerlichkeit und Laienfrömmigkeit geschieht: die persönliche Erfahrbarkeit des Heilsgeschehens prägt die Darstellung der Weihnachtsszene wie auch die Gestaltung von Dantes Beatrice.

Das Bild Friedrichs II., so zeigt WOLFGANG STÜRNER, war über die Jahrhunderte hinweg einer weitreichenden Mythisierung ausgesetzt. Schon zu Lebzeiten wird der Stauferkaiser, der ein modernes Staatswesen in Sizilien gründet, zugleich aber in eine bittere machtpolitische Auseinandersetzung mit der Kirche gerät, in der Spannung von Reformkaiser und Antichrist gesehen. Die Auslegungen antiker wie auch zeitgenössischer Weissagungen, besonders der Sibyllen und Joachims von Fiore, begreifen ihn als ein Werkzeug der Apokalypse, und so erscheint er – in übersteigerter Umdeutung zum Positiven wie zum Negativen – als Retter und Satans-Imago zugleich. Die heilsgeschichtliche Deutung Friedrichs als Kirchenverfolger und apokalyptisches Untier entfaltet seine Wirkung auch über seinen Tod hinaus und findet Eingang in die mittelalterliche Geschichtsschreibung. Doch nicht allein die endzeitlichen Erwartungen des 13. Jahrhunderts, auch die Hoffnungen auf ein erneutes Aufblühen staufischen Glanzes knüpfen sich an die Vorstellung seines Weiterlebens. Die Hoffnung auf seine Wiederkehr zeigt ihre Spuren bis in die Bauernkriege hinein. So spiegeln sich in der Vielfalt der Bilder insbesondere die Sehnsüchte und Erwartungen der Menschen nach gerechter, friedlicher und glanzvoller Herrschaft.

Timur der Schreckliche war dem europäischen Mittelalter weit bekannter als heute. Durch seinen Sieg über die Türken, mit dem er die Stadt Konstantinopel damals vor der Eroberung durch die Heiden bewahrt hatte, erschien er – so führt FELICITAS SCHMIEDER aus – zunächst als Retter Europas und blieb als der Feldherr im Gedächtnis, der die bedrohliche türkische Macht hatte schlagen können. War er um 1380 aufgebrochen, um das Reich Dschingis Khans wiederzuerrichten, so wurden seine Eroberungen im europäischen Raum genauestens wahrgenommen, vor allem durch Mönche, Kaufleute und Gesandte, die seine politischen Aktivitäten zeitnah dem europäischen Raum vermittelten. Seine Feindschaft gegen die Türken ließ in Europa die Hoffnung auf eine Zusammenarbeit, ein Bündnis gegen die türkische Gefahr keimen – trotz des Wissens um Timurs Rücksichtslosigkeit auch gegen Christen. So wird Timur in Europa zu einem Faktor im politischen Kalkül, sein Einfluss jedoch ist durch seinen frühen Tod begrenzt. Was bleibt, sind seine Mythisierung als Held und die Berichte von seiner Grausamkeit. Die Vorstellung seiner unerreichbaren kriegerischen Gewalt formte das Bild des prachtvoll-orientalischen und zugleich grausamen sarazenischen Tyrannen, das in der kollektiven Erinnerung Europas bis ins 18. Jahrhundert in Literatur und Legende weitergetragen wurde.

Als eine positive Identifikationsfigur hingegen tritt uns der heilige Georg entgegen, der als Staatssymbol nicht allein in der Frühen Neuzeit, sondern bis in die Gegenwart hinein fungiert. Die zentralen Motive des Heiligenkultes, die Bedeutung Georgs als Nothelfer, Adels- und Militärpatron, führt WOLFGANG HAUBRICHS auf seine legendarischen Ursprünge zurück: Zugrunde liegt ihnen ein Märtyrerroman des vierten nachchristlichen Jahrhunderts, in dem Georg als Bekenner des christlichen Glaubens, von unvorstellbaren Martern mehrfach zum Leben erweckt, zuletzt Gott um die Gnade bittet, als Nothelfer wirken zu dürfen. Als ‚Heiliger der vielen Todesarten‘ verkörpert Georg die Hoffnung christlicher Vitalität und Auferstehung. Seine Charakterisierung als adliger Krieger gründet in spätantiker Überlieferung, ihren Durchbruch erreicht sie jedoch mit den Kreuzzügen und der Darstellung Georgs als des überirdischen Schlachtenhelfers an der Spitze der christlichen Ritterschaft. Als ein solcher findet er im höfischen Erzählen Gestalt, wird aber auch etwa von Maximilian I. in die eigene Genealogie aufgenommen. Zum – in der bildenden Kunst vielfach dargestellten – Drachentöter hingegen wird Georg erst im Mittelalter, sein Banner führen Fürsten und Städte in ihrem eigenen Kampf gegen das Böse und auch zahlreiche Ritterorden unterstellen sich seinem Patronat: dem Ritter, dessen überirdische Taten sich der Gnade Gottes verdanken.

Einen vergleichbaren Fall göttlicher Begnadung führt SABINE TANZ mit Jeanne d’Arc vor, einer historischen Figur, die jedoch wie kaum eine andere schon zu ihren Lebzeiten untrennbar mit Mythisierung verbunden wurde: Sie lässt sich als ein Beispiel dafür anführen, in welcher Weise Mythen legitimierend und identitätsstiftend wirken können, wie Hoffnungsaspekt und Zukunftsdimension ihre Gestalt bestimmen. So wird die ‚Jungfrau von Orleans‘ in kaum vergleichbarer Weise zu einem Freiheitssymbol nicht nur ihrer eigenen Zeit. Ihr Auftreten in Frankreich während des Hundertjährigen Krieges fällt in eine Zeit tiefer Krise und Erschütterung, als das französische Königreich an England verloren scheint. Die weit verbreitete Hoffnung auf ein göttliches Wunder findet Ausdruck in zahlreichen Weissagungen, in deren Gefolge Johannas Visionen wie auch deren Bewertung stehen: Nicht eine Glaubensfrage, sondern politisches Kalkül ist es, das den französischen Königshof dazu bringt, die messianischen Prophezeiungen von der Jungfrau als Retterin zu verbreiten, deren erfolgreiches Erscheinen dann auch literarisch glorifiziert und mystifiziert wurde.

Die Hoffnung auf gerechte Herrschaft prägt, wie schon bei Friedrich II., auch den Mythos um Robin Hood, den geächteten und anarchischen Räuber, der den Armen gibt, den Reichen nimmt und der in fast unveränderter Gestalt bis in die Gegenwart des Hollywoodfilms verzaubert und provoziert. Historische Ursprünge dieser Figur allerdings sind kaum zu greifen. Vor allem Balladen, aber auch Komödien, Tragödien und Romanzen sind es, die seit dem 14. Jahrhundert in England seine Taten in immer neuen Varianten besingen und ihren Niederschlag auch in den Chroniken ihrer Zeit finden. Sie entwerfen ein vielschichtiges, keineswegs konsistentes Bild ihres Helden, wie GÜNTHER BLAICHER zeigt. Dramatische Fassungen verweisen auf volkstümliches Brauchtum und zeugen von der großen Popularität der Figur. Gerade die Unbestimmtheitsstellen des Robin-Hood- Bildes öffnen einen Raum vielfältiger Imagination. Im Robin-Hood-Mythos manifestiert sich eine volkstümliche Gegenkultur im Rahmen des aufkeimenden Nationalgefühls im England des späten Mittelalters: Er wird zum Ausdruck des Selbstbewusstseins einer sich aus den Ordnungsmustern lösenden sozialen Klasse, für die der idealisierte Wald zum utopischen Raum eines freien, sorglosen und gerechten Lebens wird.

Nicht eine einzelne Figur, sondern einen zentralen Paradigmenwechsel in der Imagination der Weihnachtsszene beschreibt ANDREA GOTTDANG: In der Malerei um 1400 wandelt sich die Ikonographie der Geburt Christi in aufschlussreicher Weise: von der liegenden, sich von der Geburt ausruhenden Maria hin zur knienden, das Kind anbetenden Jungfrau. Das zentrale Thema des älteren Bildtypus, die Menschwerdung Christi, wird im Spätmittelalter in zunehmend naturnaher, erzählerischer Ausgestaltung anschaulich vergegenwärtigt. Das neue Sehen und Denken in räumlichen Bezügen ermöglicht eine intensivere Figurenbeziehung und damit die persönliche Anteilnahme des Gläubigen am Heilsgeschehen, das unmittelbar auf den einzelnen wirkt. Zugleich aber führen die Naturnachahmung und Vermenschlichung des Geburtsgeschehens zum Darstellungsproblem der Göttlichkeit des Kindes. Gelöst wird dieses Problem – im Rückgriff auf die Visionen der hl. Birgitta – durch die Entwicklung eines neuen Bildtypus, der an die Stelle der Geburt die Anbetung des Kindes rückt und somit einen Wandel hin zur ikonographischen Verdichtung des Heilsgeschehens vollzieht. Im Zentrum steht nicht mehr Maria, sondern das Kind, dessen göttliche Natur durch zwei neue Bildmotive unterstrichen ist: durch das Licht und durch den anwesenden Gottvater. Die neugewonnene künstlerische Freiheit der naturalistischen Malerei im Spätmittelalter findet auf diese Weise zu einem neuen Ausdruck der Veranschaulichung der Heilsbotschaft.

Um eine – allerdings poetische – Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte geht es auch in Dantes Divina Commedia, wie GERHARD REGN vorführt. Insbesondere Beatrice kommt dabei eine zentrale Rolle zu, ist sie es doch, die als die ‚Seligmachende‘ die Jenseitsreise Dantes und damit seinen Weg aus sündhafter Verwirrung zum Heil erst ermöglicht. Dabei steigt sie nicht allein in die Unterwelt hinab, um Vergil zu ermächtigen, den im Wald seiner Sünde verirrten Dante durch Hölle und Fegefeuer zu geleiten, sie selbst, als Dantes einstige Geliebte, nimmt ihn am Eingang zum Irdischen Paradies in Empfang und führt ihn bis an die Schwelle zur Gottesschau. Doch nicht mehr als Minnedame tritt sie Dante entgegen, sondern als Instanz aktiver Fürsorge: Indem Beatrice im Auftrag der Gottesmutter handelt, wird die Jenseitsreise als ein unerhörtes, gnadenhaftes Ereignis perspektiviert. Beatrice selbst tritt als historische Figur auf, die jedoch zugleich – gemäß dem vierfachen Schriftsinn des Mittelalters – als Allegorie der Theologie gestaltet ist: mit ihr wechselt Dantes Führung von der menschlichen Vernunft Vergils zur christlich-theologischen Weisheit und damit zum Wissen um die Letzten Dinge. Damit beansprucht Dantes Werk selbst in seinem narrativen Verlauf die höchsten Geheimnisse zu offenbaren, mit Beatrice als deren Vermittlerin. Ihre Gestalt bereits, ihr Auge und ihr Lächeln kennzeichnen ihre Teilhabe am Göttlichen. Voraussetzung dafür ist die Erinnerung an ihre Existenz als Minnedame, wie Dante sie in seinem Jugendwerk, der Vita nova dargestellt hatte, allerdings in einer problematischen häresieverdächtigen Vergöttlichung seiner Geliebten. In der Divina Commedia dagegen erhält die Liebe zu Beatrice eine Neuinterpretation als Teil des Heilsgeschehens. Wird die Minnedame so zu einer Ankündigungsfigur, deren Erfüllung die himmlische Beatrice ist, so wird auch die Vita nova zu einem poetischen Ankündigungswerk, dessen Erfüllung die Divina Commedia ist. Erzählen wird zu einem heilsgeschichtlichen Akt, dessen Bewegungsgrund Beatrice ist.

Fortuna ist keine spezifische Gestalt des Spätmittelalters, gehört sie doch zu den Schlüsselfiguren der Imagination, die zu allen Zeiten die Phantasie der Menschen beschäftigt haben. Dennoch, so zeigt JAN-DIRK MÜLLER, hat jede Zeit ihr eine besondere Physiognomie gegeben. In der Antike bestimmt Fortuna – im Zeichen des Füllhorns oder des Steuerruders – alle Wechselfälle des menschlichen Lebens. Im Christentum jedoch fallen ihr allenfalls untergeordnete Aufgaben zu, ist sie doch nur scheinbare Gegenmacht zur göttlichen Vorsehung und damit immer schon bewältigt. Begegnet die antike Fortuna als blinde willkürliche Macht, so hilft gegen ihr Wirken einzig die Philosophie, die es dem Einzelnen ermöglicht, ihre launische Gewalt auch im Guten zurückzuweisen. Dieses Bild, von Boethius entworfen, bestimmt auch das Mittelalter: Fortuna ist Inbegriff von Unbeständigkeit und dauerndem Wechsel in einem heillosen Weltlauf, dem der sündige Mensch ausgeliefert ist. Als doppelgesichtige Gestalt, schön und hässlich zugleich, bringt sie Glück und Verderben. Ihr Zeichen ist das Glücksrad, das den Einzelnen emporhebt, ihn aber auch zu Boden schleudert: Wer sich ihr anvertraut, verspielt sein Seelenheil. So steht sie unter der Lenkung Gottes, um den Menschen an seine Sündhaftigkeit zu erinnern. Der höfische Roman versucht, sie zu zähmen, sie als dauerhaftes Glück dem perfekten Ritter zuzuordnen, doch dies misslingt zuletzt: die Artuswelt treibt in den Untergang. Der Lebenskampf mit dem widrigen Glück aber wird zum Grundmuster adligen Selbstverständnisses – und Fortuna zum heraldischen Zeichen. An der Schwelle zur Neuzeit entwickelt sich Fortuna zur Negativfigur der Fürstenlehre, zur Macht des Zufalls, die es durch Herrschertugend zu bezwingen gilt, zugleich aber tritt sie als Chance auf, die wahrzunehmen ist. So erscheint Fortuna in der Frühen Neuzeit, aus ihren providentiellen und religiösen Bindungen gelöst, als das Glück des Tüchtigen – jedoch noch immer mit verhängnisvollen Beigaben.

Satan, der größte Gegner und Widersacher des Schöpfergottes, begegnet in vielfacher Gestalt, deren Wandelbarkeit sich in seiner Namensvielfalt spiegelt. Als theologisch-religionsgeschichtliches Konstrukt, so JOHANNES GRABMAYER, speist sich sein Bild aus einer Fülle überzeitlicher Archetypen und Mythen um das Böse und dessen Figuration. Das Alte Testament wandelt den Kriegsgegner zum Ankläger vor Gott, zu dessen Zweifler und Versucher, das Neue Testament und die Apokryphen zeichnen sein Bild als Feind Gottes, als gefallener Engel und Fürst der bösen Mächte. Die Addition verschiedener Wesensbestimmungen formt auch das Bild des Mittelalters. Mit dem Dualismus des frühen Christentums, der Jahwe zum Gott der Liebe und Vergebung wandelt, gewinnt das Prinzip des Bösen eigene Gestalt. Im Hochmittelalter wird Satan vom gefallenen Engel zum Gegengott und nimmt damit die Form an, die er bis zum Spätmittelalter behalten wird. Unter der Allgegenwart des Teufels mit seinen Verführungskünsten wird das menschliche Leben zum dauernden Ringen mit dem Bösen: die Lehre vom Dämonenpakt hat hier ihren Ort. In Literatur und bildender Kunst ist der Teufel erst ab dem 12. Jahrhundert präsent. Doch Satan, der als Engel, Mensch, Tier oder Mischwesen in seiner Hässlichkeit die Makel seiner Geschichte trägt, ist in seinem Äußeren nicht beschreibbar und bildet auch dadurch einen Gegenpart zum unfassbaren Gott. Sein Wirken ist alles Böse in der Welt, und so fungiert Satan als Projektionsfläche für Angst und Schuld. Indem er den Menschen aus dem Leben reißt, um ihn unerträglichen Höllenqualen zuzuführen, steht er in enger Verbindung mit dem Tod.

Das Spätmittelalter, so zeigt GERD DICKE, bietet den größten Fundus an Quellen für eine Imaginations- und Reflexionsgeschichte des Todes, war er doch in der Vorstellung kaum je präsenter als in den Jahrhunderten seiner biologischen Allgegenwart. Dabei erweist sich der Tod als Komplement des Menschen: Das Selbstkonzept des Menschen prägt sein Todesbild und so ist umgekehrt der Tod als etwas zu begreifen, das zum Selbst gehört. Eine bildliche Summe der Todesvorstellungen bietet das Pisaner Fresko Trionfo della Morte: Der Tod, als Frau personifiziert, wird als unmittelbare Folge des Sündenfalls, der selbstzufriedenen Diesseitsbezogenheit, kenntlich gemacht. Zur zentralen Frage um den Tod wird die nach dem Verbleib der Seele: Zwischen Himmel und Hölle rückt das Fegefeuer, das als Ort der Läuterung, der befristeten Verdammnis zunehmend infernalisiert wird. Der Todestag wird als Tag des individuellen Jüngsten Gerichts zum wichtigsten Tag im menschlichen Leben: Es gilt, ihm durch die Kunst des rechten Sterbens vorbereitet entgegenzugehen. Besondere Angst hingegen flößt der jähe Tod ein. Das unterschiedslose Wirken des Todes als des großen Gleichmachers, der Standesfragen außer Kraft setzt, findet Ausdruck in den Totentänzen. Sie sind nicht utopische Gesellschaftskritik, sondern mahnen den Einzelnen, den ihm zugewiesenen Platz auszufüllen. Die Lebendigkeit des tanzenden Todes in diesen Szenen erzeugt Ambivalenzen und Widersprüche – und damit die angemessenste Form, ihm zu begegnen. Indem seine ikonographische Darstellung das Jetzt und Danach des Menschen, Leben und Tod zugleich abbildet, verweist der Tod auf eine mittelalterliche Körper- und Lebensabwertung, hält aber auch zu Selbstreflexion und -erkenntnis an: Als das andere Selbst des Menschen, als der ständige Begleiter dessen, der dennoch unbeirrt – in der Hoffnung auf Erlösung – seinen Weg gehen kann.

Sämtliche der hier versammelten Beiträge wurden im Winter-semester 2004/05 an der Katholischen Universität Eichstätt als Vorträge gehalten. Die Konzeption und organisatorische Durchführung des Programms lagen in den Händen von Karl Graf Ballestrem, Verena Dolle, Andreas Hartmann, Michael Neumann, Alexei Rybakov, Almut Schneider, Christine Strobl und Angela Treiber. Für die redaktionelle Mithilfe bei der Einrichtung des Bandes sei Benjamin Kraus sehr herzlich gedankt.

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König Friedrich II. erstes Siegel, Deutschland (Mittelrhein?), 1212

FRIEDRICH II.

Antichrist und Friedenskaiser
von Wolfgang Stürner

„Nur der Staufer, mit dem das Reich schloss und die Frucht aufsprang, reichte als Priester noch in die Himmel Gottes hinauf, dröhnte als Kaiser über das Erdenrund hin und stieß als Tyrann bis in die tiefsten Höllen hinunter, um mit den himmlischen und irdischen Mächten auch die von der Kirche für ein Tausendjahr gebannten Dämonen und Kräfte der unteren Welten aufzurühren und in sein Gesamt einzubeziehen: Gottessohn Weltenrichter Widerchrist zugleich. Doch göttlich zu sein, ohne „Satan“, das Leben selbst zu fesseln, war ja die Grundspannung der Renaissance überhaupt und Friedrich II. hat als Erster diese Spannung von Himmel und Hölle gezeigt und damit als Erster die Kluft geschlossen. Er, Heiland und Antichrist zugleich, der erste Gottlose und der erste von sich aus göttliche, nicht durch die Kirche heilige Mensch, hatte diese zwiegesichtige Einheit herbeigezwungen durch die Gottheit Justitia, durch das kaiserliche Weltrichter- und Welträchertum“.

Mit diesen enthusiastischen Worten beschrieb Ernst Kantorowicz 1927 am Ende seiner berühmten Friedrich-Biografie das, was ihm an der Persönlichkeit seines Helden als wesentlich galt. Unverkennbar überschritt er dabei die Grenze von der wissenschaftlich begründeten Argumentation zur Glaubensaussage. Er schuf aus den äußerst gegensätzlichen Stellungnahmen von Friedrichs Zeitgenossen das moderne Gemälde einer ins Übermenschlich-Unbegreifliche gehobenen Gestalt, eines wahrhaft überragenden Individuums, kurz: das Bild jenes idealen, sich kraftvoll, genialisch und unbeschränkt entfaltenden Herrschers, den er, wie offenkundig viele seiner Leser damals, am Ende der Weimarer Republik, als Retter ersehnte. Der solcherart verklärte Kaiser war ihm und seinen Gesinnungsgenossen zur „Schlüsselfigur der Imagination“, zum Hoffnung spendenden, der Gegenwart Sinn und Ziel bietenden Vorbild und Beispiel geworden; Fachkollegen tadelten denn auch sofort, dass Friedrich hier „in mythischer Schau“ und damit auf wissenschaftlich fragwürdige Weise dargestellt werde.

Die Wandlung zum Mythos widerfuhr dem letzten Stauferkaiser freilich beileibe nicht erst im zwanzigsten Jahrhundert. Im Gegenteil: Die Stilisierung seiner Person und seines Handelns, deren übersteigerte Umdeutung zum Positiven wie ebenso zum Negativen begann bereits zu seinen Lebzeiten, und sie setzte sich nach seinem Tod so intensiv und anhaltend fort, wie wohl bei wenigen mittelalterlichen Herrschern sonst.

In der Tat gab es mancherlei Grund, dem Leben und Wirken des Staufers bewundernde oder auch misstrauische Aufmerksamkeit zu schenken, sich auch nach seinem Hinscheiden damit zu beschäftigen, sich davon beeindrucken, zur Bewertung und entschiedenen Parteinahme bewegen zu lassen. Bereits vierzig Jahre alt war Friedrichs Mutter Konstanze, die Gattin Kaiser Heinrichs VI. und Erbin des Königreichs Sizilien, als sie am 26. Dezember 1194 ihren einzigen Sohn gebar. Mit vier Jahren hatte dieser beide Eltern verloren, und wie ein Wunder erschien es ihm selbst wie vielen Zeitgenossen, dass er als Vierzehnjähriger dennoch sein Königsamt im sizilischen Regnum antrat, dass er wenig später mit Hilfe von Papst Innozenz III. und durch die Wahl der Reichsfürsten auch die deutsche Krone erhielt, sich in Deutschland dann bis 1220 erfolgreich durchsetzte und am Ende dieses Jahres sogar zum Kaiser gekrönt wurde.

Es folgten Jahre intensiver Reformtätigkeit im sizilischen Königreich. Friedrich machte dieses Reich zu einem für damalige Verhältnisse modernen Staatswesen, das er von seinem Hof aus mit Hilfe eines gut ausgebildeten, hierarchisch gegliederten Beamtenapparates zentral lenkte. Neuland beschritt er, seine Verwaltungsreformen ergänzend, auch mit der Gründung der ersten Staatsuniversität Europas in Neapel, mit seinen weit gespannten Aktivitäten als Gesetzgeber oder mit seiner Sorge um ein effizientes, unbestechliches Gerichtswesen, das jedem Untertanen und selbst Juden und Sarazenen Recht verschaffen sollte. Ähnliches gilt für seine vielfältigen Initiativen zur besseren Nutzung der wirtschaftlichen Möglichkeiten Siziliens. Viel Beachtung fanden schließlich seine Bautätigkeit, sein Verständnis für Kunst und Wissenschaft und deren großzügige Förderung an seinem Hof. Den Deutschen prägte sich sein souveränes, allen kaiserlichen Glanz entfaltendes Auftreten in ihrem Land zwischen 1235 und 1237 tief ins Gedächtnis ein, insbesondere der viel besuchte, festlich ausgestaltete Hoftag zu Mainz mit dem Erlass des großen kaiserlichen Friedensgesetzes.

AUSEINANDERSETZUNGEN MIT DER KIRCHE

Andererseits erregte Friedrichs Tun des Öfteren den Argwohn der Kirche und ernste päpstliche Verstimmung. Höchst empört war man in Rom über seine Einmischung in die kirchlichen Verhältnisse Siziliens und vor allem in die dortigen Bischofswahlen. Auf Ablehnung und Ärger der päpstlichen Kurie stießen sein selbstbewusstes Beharren auf der gottgewollten, ausschließlichen Zuständigkeit der weltlichen Gewalt für die diesseitigen Bedürfnisse der Menschen und seine Tendenz, diesen Verantwortungsbereich umfassend zu definieren und selbst Gebiete wie das Gesundheitswesen und den Umweltschutz einzubeziehen. Mit massivem Tadel reagierte Papst Gregor IX. auf Friedrichs mangelnde Bereitschaft, dem Stellvertreter Christi, so wie es sich nach päpstlicher Überzeugung für den Kaiser gebührte, demütig zu gehorchen und Hilfe zu leisten. Dass er es wagte, 1228/29 als Exkommunizierter gegen das ausdrückliche päpstliche Verbot einen Kreuzzug zu unternehmen, und überdies mit dem Haupt der Sarazenen einen Vertrag schloss, das nahm Gregor als sicheren Beweis, dass er es hier mit einem gefährlichen Ketzer zu tun habe, der auf den Untergang der Kirche sinne. Aus Friedrichs entschlossen vorangetriebenen Bemühungen, die Reichsrechte auch in Ober- und Mittelitalien wieder durchzusetzen, und vor allem aus den beachtlichen Erfolgen, die er dabei 1237 und 1238 erzielte, schien dem Papst deshalb eine tödliche Gefahr für die römische Kirche zu erwachsen. Friedrichs Durchbruch in Reichsitalien musste die Einschnürung Roms durch einen tyrannischen Kaiser zur Folge haben; sie drohte dem Stellvertreter Christi also den Verlust seiner territorialen Basis wie seiner seelsorgerlichen Freiheit zu bringen und würde folglich das Ende der ihm von Christus übertragenen universalen Mission bedeuten.

Gregor betrachtete Friedrichs überraschendes Scheitern vor Brescia im Oktober 1238 als seine letzte Chance, diese verderbliche Entwicklung aufzuhalten. Er schloss ein Bündnis mit der lombardischen Städteliga sowie mit Genua und Venedig zur Vertreibung des Staufers und leitete mit dessen zweiter Exkommunikation einen erbitterten, noch bei Friedrichs Tod Ende 1250 unentschiedenen Kampf der kirchlich-lombardischen gegen die kaiserliche Partei ein. Beide Seiten führten die Auseinandersetzung mit allen denkbaren Mitteln und vor allem natürlich mit militärischen. Mit bisher unbekannter Intensität begleitete den Krieg der Waffen nun jedoch der Krieg der Propaganda. Schon bald schlugen die päpstlichen Enzykliken dabei einen wahrhaft apokalyptischen Ton an. Sie identifizierten den Kaiser mit dem im biblischen Buch der Offenbarung prophezeiten Untier der letzten Welttage, mit der übermenschlich-dämonischen Gegengewalt gegen Christus, die dessen Kirche vom Erdboden vertilgen wolle und dazu auch die grässlichsten Verbrechen nicht scheue. Sie bezeichneten den Herrscher mit biblischen Schreckensnamen wie ‚Drache‘ oder ‚Hammer der Welt‘, schilderten ihn als Freund der Muslime, Verächter Christi und schlimmen Ketzer, als Vorläufer des Antichrist, ja als diesen selbst.

Wenn Friedrich während jener Kampfjahre umgekehrt seine Christus-Nähe betonte, so entsprach dies grundsätzlich durchaus der verbreiteten mittelalterlichen Sicht vom Herrscher als Christi Stellvertreter und der ihn selbst seit je erfüllenden Überzeugung. Er hob die ihn auszeichnende Christus-Ähnlichkeit nun allerdings noch intensiver als früher hervor, und er bediente sich, um sie sinnfällig und einprägsam zur Geltung zu bringen, zuweilen neuer, ungewöhnlicher Formen, so, wenn er seinen Geburtsort Jesi mit Worten des Evangelisten geradezu als sein Bethlehem pries. Seine Anhänger und Mitarbeiter taten ein Übriges, um die Heiligkeit der kaiserlichen Person und Würde, ja die Messias-Ähnlichkeit ihres Herrn in Wort und Schrift zu feiern und der Öffentlichkeit vorzustellen.

Diese Öffentlichkeit war gerade damals durch mancherlei Weissagungen auf das Kommen des Weltendes vorbereitet. Es kündigte sich diesen Prophezeiungen zufolge durch Katastrophen aller Art und durch das unheilvolle Auftreten der Vorläufer des Antichrist an, doch auch im segensreichen Friedens- und Bekehrungswerk des Endkaisers, der seine Krone am Schluss freilich in Jerusalem niederlegen werde. Damit erlange der Antichrist, der teuflische Erzfeind der Christenheit, für eine gemessene Zeit die Herrschaft, ehe Christus selbst ihn besiege. Präzisere Angaben schöpften die Kenner aus den Schriften des 1202 verstorbenen, hoch angesehenen kalabrischen Abtes Joachim von Fiore. Danach sollte sich dem eben zu Ende gehenden zweiten, vom Wirken Jesu Christi bestimmten Weltalter im Jahre 1260 das dritte, vom Mönchtum geprägte, glückselige Zeitalter des Heiligen Geistes anschließen, allerdings erst nach furchtbaren Kämpfen und nach dem Schreckensregiment des ersten Antichrist.

Die außerordentliche Härte des Kampfes zwischen Kaiser und Papst, den beiden führenden Gewalten der abendländischen Christenheit, dazu andere bedrückende Ereignisse wie das unheimliche Auftauchen der Mongolen im Jahre 1241 stürzten viele Zeitgenossen in große Unsicherheit. Sie empfanden solche endzeitlichen Deutungen ihrer Gegenwart als tief überzeugend, sahen in ihnen eine willkommene und einleuchtende Sinngebung des Geschehens. Auf diese öffentliche Stimmungslage stellte sich die kaiserliche wie die päpstliche Propaganda ein, ihrer suchten sich beide Seiten zur Förderung ihrer jeweiligen Ziele zu bedienen.

Dabei übten zwei in den vierziger Jahren vielleicht im Umkreis der Kurie entstandene, dem Merlin bzw. der so genannten Sibylla Erithea zugeschriebene Weissagungen einen besonderen Einfluss aus. Beide handelten von Kaiser Friedrich, wobei vor allem der Text der Sibylla ein ausgesprochen negatives Bild des Staufers als eines Feindes der christlichen Religion und Schänders der Kirche zeichnete. Jene Franziskanergruppen, die sich damals intensiv mit der Lehre Joachims von Fiore zu beschäftigen begannen, um sie in ihrem Sinne weiterzuentwickeln, fanden auch Interesse an den beiden Prophetien. Wohl in ihrem Kreise entstanden zwei ausführliche Kommentare dazu, die wie andere Produkte dieser joachitischen Zirkel als Arbeiten umliefen, die angeblich Abt Joachim selbst im Auftrag Kaiser Heinrichs VI. gefertigt hatte. In Übereinstimmung mit den auch sonst vertretenen joachitischen Grundüberzeugungen bewerteten die Autoren dieser Kommentare, gedeckt durch die seherische Autorität der Propheten Merlin, Sibylla und Joachim, die von jenen für die Zukunft erwarteten Kämpfe Friedrichs gegen die Kirche zwar als das verdiente, deshalb von Gott gewollte Strafgericht über den verweltlichten Klerus, das dessen Läuterung und Reinigung bewirken und ihn für das dritte Zeitalter vorbereiten sollte. Den Kaiser selbst freilich führte sein frevlerisches Tun dennoch an die Seite der Sarazenen und der Häretiker. Er musste seines verbrecherischen Handelns wegen als der Antichrist gelten, dessen Herrschaft und Geschlecht mit dem Anbruch des dritten Zeitalters vergehen würde.

Schon in seinen letzten Lebensjahren wurde Friedrich seinen Zeitgenossen also zum Mythos. Seine Freunde verklärten ihn zum übermenschlichen Heilsbringer; seinen kirchlichen Feinden aber und vor allem den in den Städten Italiens aktiven und einflussreichen joachitisch gesinnten Franziskanern galt er als der Kirchenzerstörer schlechthin, als der lange angekündigte Antichrist der Endzeit. Dieser Vorgang war hier deshalb eingehender zu schildern, weil er wohl doch gerade für Friedrich charakteristisch ist und etwas von der Besonderheit seiner Persönlichkeit und Ausstrahlung erkennen lässt. Vor allem aber haben wir hier bereits die wesentlichen Bezugsgrößen vor uns, an die sich seine Nachwelt hielt, wenn sie sich die Gestalt des letzten Staufers vergegenwärtigte und sein Wirken als Orientierungshilfe für die eigene Zeit benutzte, um daraus Bestätigung des eigenen Urteilens und Handelns zu gewinnen oder auch Hoffnung für eine bessere Zukunft zu schöpfen.

STAUFISCHE KRISE NACH FRIEDRICHS TOD

Der überraschende Tod Friedrichs Ende 1250 stürzte die staufische Herrschaft in eine schwere Krise. Er kam jedoch auch aus Sicht der joachitischen Gegner des Kaisers um zehn Jahre zu früh. Einer der bekanntesten unter ihnen, der Franziskaner Salimbene von Parma, erzählt in seiner großen, zwischen 1282 und 1288 niedergeschriebenen Chronik ausführlich, dass er lange am Tod des Kaisers gezweifelt habe, weil er von ihm noch weit größere Untaten erwartet habe als die schon von ihm verübten. Viele Menschen, so berichtet er weiter, hätten gleichfalls nicht an des Staufers Tod geglaubt. Er bringt diese Tatsache in Verbindung mit der bereits kurz vor 1250 der Sibylla Erithea in den Mund gelegten Prophezeiung über Friedrichs Tod: „Im Verborgenen wird er sterben und weiterleben; tönen wird es unter den Völkern: Er lebt und er lebt nicht – vivit, non vivit.“ Dabei liess sich aus den unterschiedlichen Textfassungen des Sibyllenspruches sowohl die Verheißung ableiten, der Kaiser selbst lebe und kehre wieder, wie auch die Ankündigung, er lebe in seinen Nachkommen weiter.

In joachitischen Kreisen hielt man sich zunächst offenbar vielfach an die zweite Möglichkeit, um die mit dem Jahr 1260 verbundenen Hoffnungen zu retten. Eine um 1255 in ihrer Mitte entstandene prophetische Schrift, die wiederum als eine Arbeit Joachims von Fiore für Kaiser Heinrich VI. ausgegeben wurde, wiederholte neben der üblichen Kirchenkritik die breite Schilderung Friedrichs II. als des apokalyptischen Untiers und Antichristen, der als Werkzeug Gottes die Kirche verfolge und züchtige. Sie ergänzte diese Darstellung nun jedoch durch die Botschaft vom künftigen Auftreten eines dritten Friedrich aus dem Samen des Kaisers, in dem jener gewissermaßen weiterwirke und sein Werk vollende. Er komme aus dem Norden und verschlinge die Völker, ohne dass sie sich ihm widersetzen könnten. Über seinen Tod hinaus erfüllte Friedrich demnach seine überindividuell-heilsgeschichtliche Funktion als die tyrannische Bestie der Endzeit, als das die Kirche verfolgende und so unfreiwillig ihre Reinigung und Errettung herbeiführende apokalyptische Untier. Sogar noch nach 1260 sahen manche Joachiten Friedrichs illegitimen Sohn, König Manfred von Sizilien, in dieser heilsnotwendigen Rolle, wie ein damals erneut unter Joachims Name entstandener Jesaja-Kommentar bezeugt.

Selbst nach Manfreds und Konradins Tod blieb die mit Furcht gemischte Erwartung eines dritten Friedrich aus dem Geschlecht des Stauferkaisers da und dort lebendig. So bemerkte im Jahr 1281 etwa Alexander von Roes, der Kölner Geistliche und kritische Kenner der Verhältnisse an der päpstlichen Kurie, in Deutschland gehe eine Prophetie um, wonach ein Nachkomme Friedrichs II. gleichen Namens auftreten und die deutsche wie die römische Kirche bekämpfen und demütigen werde. Auch die wohl zwischen 1303 und 1312 entstandene Columbinus-Weissagung schließlich kündigte noch einmal das Erscheinen eines Friedrich an. Dieses Mal sollte es sich um einen Urenkel des Kaisers handeln, der im Jahr 1312 zum Kaiser gewählt werden und danach den Papst entmachten und die Kirche verwirren würde. Vermutlich war dabei an König Friedrich III. von Sizilien gedacht.

Den meisten von jenen, die joachitischen Vorstellungen anhingen, ging es indessen wohl so wie Salimbene von Parma, der bekennt, er habe sich im Jahre 1260, nachdem die angesagte große geschichtliche Wende ausgeblieben war, endgültig von seinen liebgewordenen und lange vertretenen Grundüberzeugungen losgesagt. Freilich beschäftigte ihn die Persönlichkeit Friedrichs II. auch danach stark. Mehr als zwanzig Jahre später würdigte er in seiner umfangreichen Cronica durchaus Friedrichs hohe Begabung und scheute sich nicht, ihm eine Reihe sympathischer und gewinnender Eigenschaften zuzuerkennen. Als das für die Beurteilung des Staufers zentrale Merkmal, als der alles andere überlagernde, alle positiven Seiten gänzlich zerstörende, das Wesen und Schaffen des Kaisers völlig prägende Grundzug galt ihm jedoch dessen Wirken als Verfolger der Kirche. Die Kirche, die ihn als Kind genährt hatte, suchte der Undankbare ein Leben lang zu bekämpfen und zu zerstören, als ein Mann ohne christlichen Glauben und ohne Gottvertrauen, erfüllt von unstillbarer Herrschsucht, von Verschlagenheit und Geiz, Laster und Völlerei. Aberglauben, wahnhafte Irrtümer und Perversitäten aller Art glaubte ihm Salimbene folgerichtig nachweisen zu können. Um seiner Missetaten willen schlug ihn Gott nach unseres Autors Schilderung mit vielfachem Unglück, und keineswegs zufällig trafen die auf Tyrannen vom Schlage eines Antiochos Epiphanes, ja auf Luzifer selbst gemünzten Worte und Weissagungen der biblischen Seher vielfach bis ins Einzelne auch auf Friedrich zu. Seinem schlimmen Leben entsprach ein schlimmer Tod: Des widerlichen Gestanks wegen, der von seinem Leichnam ausging, konnte der tote Kaiser nicht nach Palermo gebracht und in der dortigen Kathedrale neben seinen Vorfahren bestattet werden. Mit ihm endete die Macht des Imperiums, und bald nach ihm erlosch sein Geschlecht.

FRIEDRICHS BILD IN DER GESCHICHTSSCHREIBUNG

So bewahrte das Friedrichbild des im Alter seine Lebenserinnerungen notierenden franziskanischen Chronisten ganz augenscheinlich vieles, was ihm und seinen joachitischen Gesinnungsgenossen einst kennzeichnend für den Staufer gewesen war. Dieser blieb wie vordem der gottlose und tyrannische Herrscher schlechthin, der Prototyp des Kirchenfeindes und Kirchenverfolgers. Als solcher erschien er im Übrigen in der stark von der Sicht der Franziskaner und Dominikaner geprägten kirchennahen Geschichtsschreibung ganz allgemein, und sie beherrschte das Feld bis ins 15. Jahrhundert hinein.

Als exemplarisch sei dazu die Chronica minor vorgestellt, die um 1265 im Erfurter Franziskanerkloster entstand. Ihr unbekannter Autor zitierte gewissermaßen als Grundlage seiner Beurteilung wörtlich eine lange Passage aus der Bulle, mit der Papst Innozenz IV. 1245 vor dem Konzil zu Lyon die Absetzung Kaiser Friedrichs begründet hatte. Der Franziskaner wählte bezeichnenderweise jenen Abschnitt, in dem Innozenz den Staufer als verbrecherischen Peiniger der Kirche brandmarkte, der zum Konzil reisende Kardinäle und Geistliche gefangen setzte, der in seinem sizilischen Regnum willkürlich Erzbischöfe und Bischöfe ihres Amtes beraubte und der dortigen Kirche ihre Güter entzog, der Geistliche folterte und umbrachte, dazu offen die Würde und Vollmacht des Papstes missachtete. Entlarvte er sich schon dadurch als Ketzer, so tat er dies ebenso durch seine Freundschaft mit dem sarazenischen Sultan und durch jenen während seines Kreuzzugs geschlossenen Friedensvertrag, der den Tempel des Herrn zu Jerusalem den Muslimen überließ, nicht zu reden von seiner gewaltsamen Besetzung des Kirchenstaates oder von dem Umstand, dass er weder durch die Spende von Almosen noch durch sonstige guten Werke für sein Seelenheil sorgte, vielmehr Kirchen zerstörte, anstatt neue zu bauen. Diese prägnante Darstellung ergänzte und bekräftigte unser Erfurter Franziskaner durch einige zusätzliche Züge. So behauptete er, Friedrich habe Moses, Christus und Mohammed als die drei Verführer der Welt bezeichnet und angekündet, er wolle den Völkern eine neue, bessere Form des Glaubens stiften. Die Kreuzzugsausfahrt aber habe er zunächst durch einen Betrug verhindert, so dass sich die große Schar der Kreuzfahrer unverrichteter Dinge zerstreute. Durch Gift sei er am Ende einen elenden Tod gestorben, in den ihm bald darauf sein Sohn Konrad folgte.

Kaum anders sah der Dominikaner Martin von Troppau den Staufer, als er in den 1270er Jahren sein bald als eine Art Handbuch viel benutztes und außerordentlich einflussreiches Chronicon schrieb. Der Kaiser tritt dort bereits dem Papst Honorius III. unverkennbar als Widersacher und Erzfeind der Kirche entgegen. Noch deutlicher, seine Vorgänger darin sogar noch übertreffend, entpuppt er sich dann zur Zeit Gregors IX. und Innozenz’ IV. als Verfolger der Kirche, die ihn einst erzog, die er freilich nicht wie seine Mutter hegte, sondern wie eine Stiefmutter zerfleischte. Seine Absetzung und die schändliche Niederlage vor Parma, seine schwere Krankheit und sein Tod als Exkommunizierter ohne Empfang der Sakramente erscheinen gleicherweise als adäquate Resultate seines verwerflichen Lebens, und zu dem düsteren Gesamtbild passt trefflich der Umstand, dass ihn sein herrschbegieriger Sohn Manfred auf dem Sterbelager mit einem Kissen erstickte.

Mit dem vom christlichen Glauben abgefallenen römischen Kaiser Julianus Apostata vergleicht der Mönch Richer aus der Benediktiner-Abtei Senones in den Vogesen um 1260 unseren Stauferkaiser. Wie jener dankte Friedrich der Kirche nach Richers Schilderung die Wohltaten, die er in seiner Jugend von ihr empfangen hatte, auf übelste Weise: Er fiel vom christlichen Glauben ab, bekämpfte Kirche und Klerus grausam und beraubte sie ihrer Güter, verfolgte die Christen und tötete die Gläubigen durch ausgesuchte Strafen. Den Bruder Papst Gregors IX., einen vornehmen Ritter, von dem er sich beleidigt glaubte, ließ er, nachdem er ihn durch Trug in seine Gewalt gebracht hatte, sogar ans Kreuz schlagen. Im Unglauben verharrend und Gott lästernd, starb er schließlich den verdienten schändlichen Tod.

Die führenden Chronisten des 14. Jahrhunderts übernahmen von ihren Vorgängern in der Regel das negative Bild Friedrichs als des Kirchenfeindes. Der Zisterzienserabt Johann von Viktring in Kärnten etwa würdigte kurz vor der Jahrhundertmitte zwar, Salimbene ähnlich, durchaus auch des Staufers positive Eigenschaften. Entscheidend für seine Beurteilung blieb ihm jedoch dessen frevelhafte Erhebung gegen die Kirche, und sein Zeitgenosse, der Franziskaner Johann von Winterthur, bestätigte nicht zuletzt durch manche Anekdoten, mit denen er seine Erzählung auflockerte, den Gesamteindruck, dass Friedrich die Gebote Gottes sowie die Feste und Sakramente der Kirche für unnütz und wertlos gehalten habe und den jüdischen, christlichen wie islamischen Glauben durch eine bessere Religion habe ersetzen wollen. Grundsätzlich nicht anders als die beiden Deutschen äußerte sich damals der Florentiner Geschichtsschreiber Giovanni Villani über den Kaiser.