Familie unterm Regenbogen

von

Martin M. Falken

 

 

 

 

Von Martin M. Falken bisher im Himmelstürmer Verlag erschienen:
Model zu haben“ ISBN 978-3-86361-328-0
Schatten eines Engels“ ISBN 978-3-86361-281-8
Unter Beobachtung“ ISBN 978-3-86361-269-6
Zusammenstöße“ ISBN 978-3-86361-172-9
Papas unterm Regenbogen“ ISBN 978-3-86361-352-5

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,
Himmelstürmer is part of Production House GmbH
www.himmelstuermer.de
E-mail: info@himmelstuermer.de
Originalausgabe, August 2014
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage
Coverfoto: Coverfoto: © panthermedia.com

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

ISBN print: 978-3-86361-400-3
ISBN epub: 978-3-86361-401-0
ISBN pdf: 978-3-86361-402-7

 

Alle Figuren und Ereignisse im Buch sind freie Erfindungen des Autors. Übereinstimmungen mit realen Personen oder Ereignissen wären rein zufällig.

 

Sei du selbst die Veränderung, die du in der Welt sehen willst.

Mahatma Ghandi

 

 

 

Nicolas

 

„Ey, wo ist mein blöder Füller?“

Aufgebracht durchwühlte Julio die Schubladen des Schreibtisches in seinem Zimmer. Ich stand im Türrahmen und schaute aufmerksam zu, wie er weitere Schubladen achtlos ausräumte und Hefte, Stifte und Briefumschläge auf den Boden warf. Ich schmunzelte, da ich in seinem Alter ebenso jähzornig wurde, wenn ich etwas verzweifelt gesucht hatte. Nun ja, in bestimmten Situationen tobte sein Vater Ricardo ebenso, er konnte zum Rumpelstilzchen werden, wenn er bloß den Salzstreuer nicht finden konnte.

„Hilf mir doch mal! Ich schreibe morgen Englisch!“

Julio konnte seine Ungeduld nicht verbergen. Nur warum sollte ich ihm helfen, wenn er nicht dazu imstande war, Ordnung zu halten? Vor wenigen Monaten war das noch unser Wohnzimmer, es war aufgeräumt, alles hatte seinen Platz, selbst unsere DVD-Sammlung war alphabetisch geordnet. Nun herrschte hier das typische Teenie-Chaos, man traute sich schon keinen Schritt mehr rein, um nicht irgendwo draufzutreten, denn Julio hatte die Angewohnheit, auch seine Computerspiele auf den Boden zu werfen, von Schulbüchern und seinen Heften ganz zu schweigen.

„Ja, das sind diese Sonntagabende, die ich so liebe“, hörte ich plötzlich meinen Mann Ricardo sagen, der sich das Verhalten seines Sohnes mit grimmiger Miene anschaute. „Jeden Sonntag das Gleiche!“

„Glotzt nicht so doof, helft mir lieber!“

„Julio“, ermahnte ich ihn. „Deine Ausdrucksweise!“

„Ihr seid Spießer!“

„Ich geh fernsehen“, meldete sich Ricardo ab und schlenderte ins Schlafzimmer.

„Mann, wo ist der Scheißfüller!“, schrie Julio durch den Raum und gab seinem Mathe-Buch, das auf dem Boden lag, einen Tritt, so dass es unters Bett flog. Es war eben Julios Gewohnheit, seine Wut mit Tritten an Gegenständen auszulassen.

So, ich hatte ihn lange genug auflaufen lassen. „Wie wär's, wenn du mal auf der Fensterbank nachschaust.“

Mich wunderte, dass er ihn selbst nicht zwischen zwei verwelkten Topfpflanzen dort gesehen hatte, immerhin fiel mir das silberne Ding sofort ins Auge.

„Oh ...“, machte Julio. „Danke, Nico. Warum haste mir das nicht gleich gesagt?“

„Du hast mich ja nicht gefragt, hast mich ja nur angemault, dass ich dir helfen soll. Und das zieht bei mir nach wie vor nicht.“

„Ach du Scheiße, jetzt redest du schon wie meine Lehrer. Und wie mein Vater.“

War ich schon soweit? Ich hasste mich, wenn ich den pädagogischen Zeigefinger hob.

„Väter sind halt so“, erwiderte ich. „Mein Vater zum Beispiel hat immer ...“

„Was kommt jetzt? Eine Story aus den Achtzigern?“

Nein, mit Julio war heute Abend nichts mehr anzufangen, er war übel gelaunt, wie an jedem Sonntagabend.

„Ist ja schon gut, ich will dich nicht langweilen. Aber viel Erfolg darf ich dir für morgen noch wünschen, ja?“

„Ja, jetzt hau ab!“

Ich schloss die Tür seines Zimmers und verschwand in die Küche, wo ich mir einen Kirschtee kochte. Ich pflegte ihn stets mit Kaffeesahne zu trinken, das hatte ich von meinem Vater. Als sich das Aroma des Tees auf meiner Zunge entfaltete, musste ich sofort an ihn denken, an seinen trockenen Humor, an seinen spießigen, dunkelblonden Schnäuzer, nein, wie dämlich er früher aussah!

Es war allmählich Zeit, dass Julio meine Eltern, seine neuen Großeltern sozusagen, endlich kennenlernte. Nachdem er fest bei uns eingezogen war und seine Mutter Gabriela ihren großen Traum eines Medizinstudiums verwirklichen konnte, rief ich meine Eltern oft an. Sie fanden es super, dass wir nun eine richtige Familie waren, dass wir die Verantwortung für Julio auf uns genommen hatten. Allerdings vertröstete uns vor allem mein Vater immer wieder, dass es mit einem Besuch bei ihnen zurzeit schlecht sei, da es meiner Mutter nicht so gut gehe und er ja so viel zu tun hätte. Sein Terminplan schien mittlerweile voller als vor drei Jahren, bevor er wegen seines schwachen Herzens in Frührente ging. Manchmal hatte er seine Arbeit als Filialleiter eines Discounters zu ernst genommen und vergessen, dass wiederum sein Vater mit knapp vierzig Jahren an einem Herzinfarkt gestorben war. Meinen Opa väterlicherseits hatte ich bedauerlicherweise nicht kennengelernt.

Es kränkte mich, dass meine Eltern Julio noch immer nicht sehen wollten, sie mussten doch neugierig auf ihn sein. Ich zweifelte nicht an ihrer Toleranz, sie hatten mein Coming-out völlig locker hingenommen. Ich erinnere mich noch gut an das Mittagessen. Wir aßen abends auf der Terrasse, meine ältere Schwester Nadja hatte Gulasch mit Nudeln zubereitet, mein Vater hatte den Salat gelesen. Das machte er peinlich genau, seitdem meine Mutter den Salat einmal etwas nachlässig gewaschen hatte. Es traf dann meinen Vater, der einen schmalen, grauen Wurm in seinem Salat entdeckte, uns drehte sich allen der Magen um.

„Unser Nachbar steht wieder am Balkon und schaut, was wir essen“, flüsterte meine Mutter und verdrehte ihre Augen. „Dem ist ja vorgestern das Fernglas aus der Hand gefallen, mitten in seinen schönen Teich. Sein Koi dürfte einen Dachschaden haben.“

Ich beobachtete meinen Vater, der wieder mit seiner Lesebrille den Salat begutachtete.

„Ich gehe morgen wieder mit Ray shoppen!“, sagte Nadja, als sie sich eifrig ihre Nudeln mit Salz bestreute. Ray kannte ich bereits aus der schwulen Jugendgruppe, zu der er oft kam, obwohl er schon 24 war.

„Der gefällt mir!“, bemerkte meine Mutter. „Ein sehr gepflegter junger Mann, der auch auf seine Frisur achtet.“ Sie schaute meinen Vater missbilligend an, dessen dunkelblonde Haare fast in seinen Augen hingen. Am meisten störte sie sein Schnurrbart und das nicht nur, weil er spießig aussah, sondern weil oft nach dem Frühstück Honigtropfen darin hingen.

„Ja, mir auch“, schaltete sich nun mein Vater ein. Eigentlich könnte ich mich nun outen, dachte ich.

„Schade, dass er nicht mein Schwiegersohn sein kann“, sagte meine Mutter seufzend.

„Och, das würde ich nicht völlig ausschließen“, sagte ich. „Ich finde Ray sehr attraktiv.“ Es war mir egal, dass er ein paar Jahre älter war als ich, ich wollte ihnen aber die Hoffnung auf Ray nicht völlig zerstören.

„Endlich!“, sagte meine Schwester. „Endlich ist es raus!“

Für einen Moment war ich irritiert, da ich es Nadja noch nicht erzählt hatte, aber da wurde mir klar, dass Ray ihr längst erzählt haben musste, dass er mich in der Jugendgruppe gesehen hatte.

Meine Eltern schauten meine Schwester fragend an.

„Was ist raus?“, fragte meine Mutter.

„Dass er schwul ist! Was denn sonst?“

„Ach“, meinte mein Vater und putzte seinen Schnurrbart ab. „Und du wusstest das schon länger?“

„Ja, seit Monaten. Seitdem ich Ray kenne.“

Ja, ja, Ray, diese Plaudertasche. Er wusste immer alles.

Nun, in den Tagen danach regten sich unsere Eltern darüber auf, dass meine Schwester mich ein Stückweit besser kannte als sie.

An Ray hatte ich aber nie wirklich Interesse, das heißt, ich konnte mir durchaus ein sexuelles Verhältnis mit ihm vorstellen, keine Beziehung, dazu war er mir zu anstrengend, zu schrill. Natürlich war Ray ein gefundenes Fressen für mich, er führte gerne Newcomer in die Geheimnisse der schwulen Erotik ein. Ich kann auch sagen, das ich das gefundene Fressen für ihn war, ich hatte mich geoutet und meine angestauten Hormone, die nach männlichem Fleisch verlangten, explodierten ihn mir. Im Frühling, als alles zu sprießen begann, bemerkte ich das besonders, ich masturbierte bestimmt acht Mal pro Tag. Sobald ich in der Schule oder in der Stadt oder wo auch immer leicht bekleideten Männern begegnet war, regte sich etwas in mir. Einmal lief ich an einem warmen Apriltag mit einer kurzen Hose durch ein Kaufhaus, wo ich einen jungen Mann beobachtete, der sich eine Badehose kaufte. Meine Phantasie ging mit mir durch wie ein ungezähmtes Pferd, ich sah den Mann in meiner Vorstellung im Freibad auf der Wiese räkeln, ich sah ihn in der Umkleidekabine. So schnell wie man einen Porsche von 0 auf 100 Kilometer pro Stunde beschleunigen kann, so flink bekam ich einen Steifen, der meine kurze Hose ausbeulte. Vorne waren schon Flecken, ich verdrängte den Gedanken, dass das den Leuten im Kaufhaus aufgefallen sein musste und verschwand auf der Herrentoilette. Dieses Masturbieren kostete mich noch nicht einmal 50 Cent, da die Toilettenfrau gerade auch Bedürfnisse hatte. So schön dieses Gefühl auch war, sobald man leckere Typen zu Gesicht bekam, so anstrengend war meine plötzliche Reifung. Nachts passierte es von ganz alleine, ich träumte ja nur noch von meiner Umkleidekabine im Sportunterricht. Es war sehr unangenehm, wenn ich morgens mit kaltem Sperma auf meinem Oberschenkel aufwachte. Allmählich dachte ich, dass ich sexsüchtig war und wollte schon einen Arzt aufsuchen, da ich offenbar meinen Schwanz nicht mehr unter Kontrolle hatte. Doch der Frühling verging, es kamen regnerische Tage auf und mein Schwanz ließ mich in Ruhe.

Im gleichen Jahr lebte ich endlich meine Sexualität mit einem anderen Mann, mit Ray, aus. Es war nur ein Versuch mit ihm und er war es letztendlich, der mich zum ersten Mal richtig rangenommen hatte. Wir unterhielten uns und lachten unbefangen und flirteten auch, was wir vorher nie getan hatten. Kurzerhand holten wir uns ein Päckchen Kondome. Ich hatte es mir allerdings viel schöner vorgestellt, ich wollte es eigentlich nicht abends auf den Toiletten der Jugendgruppe machen, wir waren ja beide nicht mal richtig ausgezogen. Es war ungemütlich, alles war hart, nicht nur sein Schwanz, sondern auch die Kachelwand, an denen ich mich abstieß. Meine nassen Handflächen hinterließen Schweißflecken.

Ray holte mir danach einen runter, während ich ihm über sein braunes, hart gestyltes Haar strich. Allerdings sah er dabei nicht gerade fröhlich aus, sondern ziemlich erschöpft. Es kam mir so vor, als wollte er nur schnell seine Pflicht erfüllen, um mich nicht unbefriedigt gehen zu lassen. Gut, es war das erste Mal, dass ein Mann in mich eingedrungen war, nicht besonders aufregend, aber vergessen werde ich es nie mehr. Mit Ray hatte ich mich danach für einige Wochen regelmäßig getroffen, er zeigte mir neugierigem Newcomer viel Neues. Er konnte meinen Schwanz zum Zünden bringen, nicht aber mein Herz.

 

 

Ricardo

 

Es tat mir gut zu sehen, dass Julio am Schulhof von ein paar Freunden begrüßt wurde, während ich im Auto saß und darauf achtete, dass er mit ihnen das Gebäude betrat. Seitdem er dreimal in Folge geschwänzt hatte, wurde ich zum Wächter. Heute morgen war er etwas besser drauf, er hatte ja gestern noch seinen Füller gefunden.

Ich hatte mir an diesem Montag freigenommen und wusste nichts mit meiner Zeit anzufangen. Ich wollte auch nicht Nicolas in seiner Chocolaterie, sein Schokoladengeschäft, das er seit wenigen Jahren erfolgreich führt, helfen, da mir die Kunden auf die Nerven gingen, so freundlich sie auch teilweise waren. Mich nervte, dass sie immer die gleichen Fragen stellten, ob denn Julio fest bei uns eingezogen sei und was denn seine Mutter mache. Sie meinten das ja nicht böse, aber ich hasste es, immer die gleiche Platte abzuspielen.

So fuhr ich ein wenig durch die Gegend. Im Radio lief das Lied von Markus Ich geb Gas. Ja, das war gar nicht so einfach in der Innenstadt mit gefühlten tausend roten Ampeln. Ich suchte mir einen Parkplatz im Zentrum und schlug in der Stadt die Zeit tot. Im Straßencafé war leider kein Platz mehr frei.

„Einen Kaffee zum Mitnehmen!“, sagte ich zu der Thekenbedienung der nächsten Bäckerei.

„Einen was?“, fragte sie.

„Einen Kaffee to go.“

Ja, das verstand sie. Das heiße Getränk war mir danach im Auto auf dem Beifahrersitz umgekippt. So verbrachte ich meine freien Stunden, machte nur Unsinn, verbrauchte unnötig Sprit und kaufte mir Getränke, die ich dann auskippte. Also doch nach Hause, einen Tag im Bett verbringen und nichts tun.

„Da bist du ja wieder. Du warst aber lange weg!“, bemerkte Nicolas mit einem vorwurfsvollen Ton, der hinter seiner Theke wieder Schachteln mit Pralinen auffüllte, natürlich mit weißen Handschuhen, damit er keine Fingerabdrücke auf den Kostbarkeiten hinterlässt.

„Hast du die Zeit gestoppt?“, fragte ich.

„Natürlich nicht. Ich wundere mich nur.“

Nicolas steckte wohl immer noch in den Knochen, dass ich für einige Zeit einfach spurlos verschwunden war. Es war im vergangenen Sommer, wir hatten einen dummen, sinnlosen Streit auf dem Christopher-Street-Day in Köln. Danach fuhr Nicolas mit Julio nach Hause, während ich mir eine kleine Reise nach Brügge genehmigte, wo ich mich ein paar Tage aufhielt, ohne Bescheid zu sagen. Deshalb plagte ihn jede Minute, in der ich weg war.

Da kam wieder seine absolute Lieblingskundin Frau von Maron rein, wie immer elegant gekleidet, mit einem Stock und dunkelblauen Handschuhen.

„Guten Morgen, die Herren. Zwei fleißige Väter muss ich ja jetzt sagen.“ Sie setzte sich lächelnd auf einen Stuhl, den ich ihr hinschob. „Eine weiße Schokolade bitte.“

„Kommt sofort, gnädige Frau.“

„Ricardo!“, zischte Nicolas. „Sie will so nicht genannt werden.“

„Die ist doch eh schwerhörig. Kann es sein, dass sie von Tag zu Tag mehr Falten bekommt?“

„Psst! Sei doch nicht so gemein. Sie ist eine meiner liebsten Kundinnen, wenn nicht sogar meine liebste.“

Ich sagte nichts dazu und lehnte mich gelangweilt über die Theke.

„Und wie ergeht es Julios Mutter in ihrem Medizinstudium?“, fragte Frau von Maron.

„Gut“, antwortete ich knapp. „Sie entschuldigen mich, gnädige Frau.“

Ich verließ den Laden und ging nach oben. Auf dem Küchentisch lag bereits die Post. Wieder war ein Brief von meiner Mutter dabei. Von den mittlerweile neun Briefen hatte ich keinen geöffnet, ich hatte sie nach wie vor alle ungeöffnet zu ihrer Adresse zurückschicken lassen. Ich hoffte nur, dass sie meine Absicht bald begriff. Ihre Briefe waren der Grund für meine beständig schlechte Laune, ich hatte längst gedacht, ich wäre sie los. Ich ahnte, dass sie eines Tages unangekündigt vor unserer Tür stehen würde.

Nicolas mischte sich auch immer wieder ein, er wollte unbedingt, dass ich mal einen Brief öffnete. Er war einfach nur neugierig. Ich hatte die Nase voll von ihren Phrasen. Dass sie es besonders gut verstand, mit ihrem Mitleid ihr Ziel zu erreichen, das wusste niemand besser als ich. Und auch Nicolas gehörte zu den Menschen, die manchmal zu viel Empathie aufbrachten, selbst da, wo es nicht angebracht war. Ja, die Mitleidskarte war ihre Trumpfkarte, ihr Joker, den sie zog, wenn sie so nicht mehr weiter wusste. So auch damals, nachdem ich mich geoutet hatte … Sie verstand es, mir ein schlechtes Gewissen zu machen, sollte ich einen Freund mit nach Hause bringen, was mich meine Beziehung mit Benjamin gekostet hatte.

Zweifelsohne wäre sie eine schlechte Oma für Julio, kein Vorbild. Sie würde ihn sich kaufen, ihm Geschenke und Geld zustecken, Süßigkeiten nicht, davon hatten wir ja genug im Haus. Und natürlich würde er sich alles nehmen, was er bekommen konnte, er verbrauchte ja viel Geld im Monat für Handy, Videospiele und anderen Kram. Doch sein Taschengeld war begrenzt auf 60 Euro pro Monat, daran wollten wir bis zu seinem 16. Geburtstag festhalten und auch Gabriela hatte ihm nie mehr gegeben, sie meinte, er solle dann eben einmal pro Woche Zeitungen austragen, wenn er unbedingt neue Videospiele brauchte, die kosteten ja nun mal locker 40 Euro.

Nun saß ich in unserer Küche und erblickte auf der Ablage einen silberfarbenen Füller. Ach, Julio! Wie konnte er in seinem Alter schon so zerstreut sein?

 

 

Nicolas

 

„Sie müssen meinen Mann entschuldigen, Frau von Maron“, sagte ich, nachdem sie ihre heiße Schokolade bezahlt hatte.

„Kein Problem.“ Sie winkte ab. „Jeder hat seine Launen. Das macht ihn mir sogar noch sympathischer. Bitte, der Rest ist für Sie.“

Verdutzt starrte ich den 50-Euro-Schein an. Sie hatte doch nur einen heiße Schokolade und drei Pralinen.

„Stecken Sie es ein, Sie können es besser gebrauchen als ich, immerhin haben Sie eine Familie zu ernähren. Und wofür soll ich sparen? Ich habe keine Kinder, keine nahe Verwandtschaft, nur einen Neffen, aber der ist Bankier in der Schweiz.“

„Aber Sie wollten doch bald Ihre Kreuzfahrt machen“, sagte ich. Sie hatte mir erst kürzlich erzählt, dass sie ins Eismeer fahren, Wale und Eisbären in freier Wildbahn sehen wollte. Ich bewunderte ihren Mut, ich würde mich das wohl niemals trauen, ich hatte ja schon Angst vor dem Tauerntunnel in Österreich.

„Nein, das wird nichts mehr, jedenfalls nicht mehr in diesem Leben. Im Reisebüro hat man mir auf nicht gerade schmeichelhafte Weise zu verstehen gegeben, dass ich das besser lassen sollte, da ich zu alt dafür sei. Sie haben mir dann Reiseprospekte für die Lüneburger Heide in die Hand gebrückt, mein Geld wollten sie schon haben. Ich hab die Hefte nicht mal angerührt und bin einfach gegangen.“

„Um ehrlich zu sein, ich bin froh, wenn Sie mir hier erhalten bleiben. Sie sind ja so was wie meine Pralinenpatin und ich werde die nächste Praline Frau von Maron benennen.“

„Sie Schmeichler!“ Sie zog ihre dünnen Handschuhe an, nahm ihren Stock und stand auf.

Nachdem sie sich verabschiedet hatte, kam Ricardo wieder in den Laden und zeigte mir Julios Füller. Ich zuckte nur mit der Schulter.

„Er muss lernen, selbst auf seine Sachen zu achten. Ich trage ihm nicht alles nach.“

Na toll, das sagte gerade ich, der als Schüler stets sein Geo-Dreieck vergessen hatte, ich hatte irgendeine Abneigung gegen dieses Teil. Wenn’s nur das gewesen wäre. Mein Pausenbrot aß ich oft nach der Schule und meine Sportsachen ließ ich oft in der Umkleidekabine liegen.

„Ich frage mich, von wem er die Schusseligkeit hat“, bemerkte Ricardo. „Wenn ich es nicht ausschließen könnte, würde ich sagen, von dir. Es ist unheimlich, wie ähnlich er dir ist.“

Ja, das ging mir genauso. Ich, der nun wirklich nicht sein leiblicher Vater sein konnte, sah zumindest in Julios Gesicht oft Ricardo, vor allem seine Augen waren die gleichen. Optisch ähnelte er sich immer mehr seinem Vater Ricardo, von Gabriela hatte er den dunklen Teint.

Mir war klar, dass Julio heute Nachmittag wieder mit Vorwürfen nach Hause kommen würde, dass er wegen mir eine Fünf bekommen würde, da ich ihm ja seinen Füller nicht nachgetragen hatte. Er verstand es gut, andere Menschen für seine Fehler verantwortlich zu machen. Dabei konnte er dermaßen jähzornig sein, dass selbst ich kurz davor war, zurückzubrüllen. Doch die unangenehmen Aufgaben überließ ich lieber Ricardo, ich wollte meinen Sympathiebonus nicht so schnell aufgeben.

Ricardo setzte sich in den Laden und trank einen Kaffee. Nein, an seinen freien Tagen dachte er nicht daran, mir zu helfen. Er wusste einfach nichts mit sich anzufangen, ich sah ihm an, dass die Briefe seiner Mutter, die inflationär in unserer Post landeten, ihm zu schaffen machten. Ihm war anzusehen, dass er mit seiner Mutter abschließen wollte, es aber nicht wirklich schaffte.

Die Tage, an denen er auf der Arbeit in der Kita war, waren weitaus entspannter, da war er abends ausgelastet und erklärte sich auch mal zum Kochen bereit. Es war schön zu sehen, dass Julio ihm oft dabei half, er meinte, es würde ihm sogar Spaß machen. Und dabei konnten sich beide immer unterhalten, Julio erzählte viel aus seiner Vergangenheit, die natürlich noch nicht allzu lange her war und natürlich erzählte er auch von der Schule, von seinen Freunden, von Lehrern, die am Pult die Tageszeitung lasen. Ich dachte nur, dass sich manche Dinge niemals ändern werden. Obwohl, ich hätte doch mittlerweile erwartet, dass die Lehrer vorn auf ihren Tablets ihre Zeitung lesen.

So vergingen die ersten Monate mit Julio, unsere Feuerprobe hatten wir ja längst bestanden. Natürlich beschlichen mich nach wie vor Zweifel, ob Julio nicht doch eines Tages wieder zurück zu seiner Mutter wollen oder ob Gabriela ihr Studium möglicherweise abbrechen würde. Davon war aber keineswegs die Rede.

Die Tage wurden kürzer, draußen wurde es spürbar kühler. Endlich war meine Zeit gekommen, ich bereitete mich auf das Weihnachtsgeschäft vor, stellte neue Pralinen mit Zimt, Spekulatius und Weinbränden her. Der November und der Dezember waren meine ertragreichsten Monate, die Leuten aßen nun zunehmend mehr Pralinen, wenn sie sich nach Einbruch der Dunkelheit in ihr gemütliches Wohnzimmer setzten und den Fernseher einschalteten, anstatt die Zeit im Biergarten oder auf einem Grillfest zu verbringen.

Das größte Vergnügen war für mich, das Schaufenster zu dekorieren. Julio half mir dabei, er fand Gefallen am Dekorieren. Mitte November setzte ich einen ein Meter fünfzig großen Nikolaus aus Vollmilchschokolade ins Schaufenster. Noch nie war mir so ein großes Exemplar gelungen, er trug natürlich einen Mantel … Julio und ich diskutierten dann darüber, ob wir ihn verkaufen sollten und er begann, die Zutaten zu kalkulieren. Er rechnete aus, wie viel Gramm Zucker und reine Schokolade darin waren, wie viel ich dafür an Strom genutzt hatte und vor allem wie viel Zeit ich dafür benötigt hatte. Er kam dann auf die Summe von 150 Euro, die ich nicht so recht nachvollziehen konnte. Wir entschieden uns dann, den Nikolaus für 120 Euro zu verkaufen und zugegeben, wir beide waren uns im tiefsten Inneren darin einig, dass wir das Prachtexemplar am Heiligen Abend selbst schlachten wollten.

Im Advent beschloss ich, noch einmal meine Eltern anzurufen. Bislang hatten wir uns immer an Weihnachten gesehen und zusammen gefeiert, diesmal mussten sie ja erst recht zusagen, da sie ja nun Julio kennenlernen sollten. Überhaupt fand ich es doof, dass sie sich bisher nicht um ihn geschert hatten.

„Ich wollte fragen, wie wir es dieses Jahr an Weihnachten machen“, sagte ich meinem Vater am Telefon.

„Oh, in drei Wochen ist es ja wieder soweit“, bemerkte er, als hätte er seit Monaten nicht mehr auf den Kalender geschaut. Wo lebte er eigentlich?

„Ja, sollen wir wieder zu euch kommen? Ihr solltet ja auch endlich mal Julio kennenlernen.“

„Ja … also …“ Er begann etwas Unverständliches zu stammeln, ich verstand nichts. Er konnte weder zusagen noch absagen, irgendetwas blockierte ihn. Warum wollte er uns nicht sehen? Es passte gar nicht zu ihm, dass er Julio nicht kennenlernen wollte, er war doch stets offen für Neues. Mich beschlich das schlechte Gefühl, dass die Akzeptanz und Weltoffenheit meiner Eltern nur eine Fassade waren. Sie hatten sich immer gut mit Ricardo verstanden, sie liebten ihn, das spürte ich. Aber was war jetzt los?

„Wir haben uns das letzte Mal am ersten Weihnachtstag gesehen“, sagte ich mit einem vorwurfsvollen Ton.

„Ja, das weiß ich“, erwiderte mein Vater.

„Kann ich mal mit Mama sprechen?“

Kurzes Schweigen, dann hörte ich die Stimme meiner Mutter: „Ihr wollt sicher an Weihnachten kommen, ja?“

„Klar, Julio ist schon ganz neugierig auf euch.“ Das war nicht gelogen.

„Julio? Wer ist Julio?“

Was sollte denn jetzt bitteschön diese Frage? Wie oft hatte ich ihr das am Telefon erzählt? Sollte diese Ignoranz nun ein Mittel der Provokation sein? Ich fühlte, dass meine Eltern unsere Regenbogenfamilie bewusst ignorieren wollten. Aber dieses hinterhältige Verhalten passte nicht zu ihnen.

„Ach, natürlich!“, rief meine Mutter plötzlich in den Hörer. „Entschuldige! Ich dachte, er hieß Simon.“

Na klar, Simon und Julio sind ja auch Namen, die sich zum Verwechseln ähnlich sind!

Mit meiner Mutter konnte ich mich aber immerhin darauf einigen, dass wir uns am zweiten Weihnachtstag bei ihnen treffen würden.

 

 

Ricardo

 

Nicolas dekorierte im Dezember jeden Tag sein Schaufenster neu, nur das Schokoladenmonster eines Nikolauses stand da herum und schreckte die Leute vom Kaufen ab, da sie alle wussten, dass das Teil einfach zu schade war, um es zu essen. Jeden Tag hantierte er mit Schleifen, bastelte kleine Strohsterne, die ich nicht mehr sehen konnte. In der Kita bastelten sie jetzt auch alle pausenlos und mir schien, dass meine Kollegen dabei mehr Spaß als die Kinder hatten. Zu Hause dann das Gleiche: Abends saß Nicolas am Küchentisch und bastelte, während Julio am anderen Ende des Tisches seine Hausaufgaben machte. Es kam mir seltsam vor, dass er jeden Tag, wenn ich nach Hause kam, offenbar seine Schularbeiten machte. Er wusste, dass ich besonders darauf achtete, das hatte ich Gabriela fest versprechen müssen und ich wurde das Gefühl nicht los, dass Nicolas und mein Sohn sich gegen mich verschworen hatten. Manchmal war ich neidisch auf meinen Mann, denn er konnte mehr Zeit mit meinem Sohn verbringen als ich. Oder war ich neidisch auf Julio? Ja, ich war auf beide neidisch.

„Nicolas, kannst du nicht mal ne Zeitung unterlegen, oder so?“, fragte ich. „Der ganze Tisch klebt schon.“

„Guten Abend erstmal“, sagte Nicolas und breitete die Tageszeitung aus.

„Moment, die will ich noch lesen“, wandte ich ein und nahm sie ihm wieder ab.

„Spießer!“, zischte Julio.

„Wie bitte?“

„Nichts ...“ Grummelnd schrieb er weiter in sein Vokabelheft. Er wusste, wie er mich provozieren konnte, das klappte nach wie vor gut bei ihm. Ich nahm die Zeitung und verzog mich ins Schlafzimmer.

An manchen Tagen kam ich mir zu Hause wie ein Fremdkörper vor, wie nicht gewollt und das in meiner eigenen Familie. Julio verstand es, Nicolas immer wieder für sich zu gewinnen. Es waren die beiden, die mittlerweile die Entscheidungen trafen und das begann schon beim Einkaufen. Das waren zwar nur Kleinigkeiten, aber ich wurde gar nicht mehr gefragt, was ich gerne essen würde. Süßigkeiten kamen mir in der Weihnachtszeit zu den Ohren raus, weil Nicolas mich das ganze Jahr damit nervte. Und jetzt im Dezember stand immer ein bunter Teller mit Printen, Mandarinen, Walnüssen und seinen Pralinen auf dem Küchentisch neben dem Adventskranz, vorausgesetzt, die beiden belagerten ihn nicht dauernd für ihre Bastelstunden.

„Du musst mal lernen, nicht wie ein Elefant reinzuplatzen“, warf mir Nicolas später an den Kopf, als er sich im Schlafzimmer auszog, ich war bereits schon einmal eingeschlafen, der Fernseher war leise gestellt. Ich sah auf die Uhr, es war bereits nach halb zwölf und ich hatte heute so gut wie keine Zeit mit Nicolas verbracht.

„Ist ja schön, wenn du dich auch mal blicken lässt“, bemerkte ich sauer.

„Julio und ich hatten uns mal einen Männerabend gegönnt.“

Wie stolz er das sagte. Ich hätte ihm ins Gesicht schlagen können!

„Männerabend, aha. Und was bin ich? Ein Neutrum?“

„Nein, du weißt ja, wie ich das meine. So rein freundschaftlich.“ Nicolas warf sein altes graues Schlabber-Shirt über und kroch unter die Bettdecke. Ich zuckte zusammen, als sich seine kalten Hände unter mein Shirt schoben. Ich richtete mich auf und sah ihn ernst an.

„Was ist denn?“, fragte er unschuldig.

„Das ist genau das Problem, das ich meine. Du machst ständig einen auf Julios Freund, du erlaubst ihm alles. Aber die unangenehmen Dinge darf ich lösen, ich darf das Taschengeld kürzen, ich darf ihm Computerverbot geben. Aber sobald er mit einer guten Note nach Hause kommt, spielst du dich in den Vordergrund. Dann vergeht kaum Zeit und schon hat Julio ein neues Videospiel.“

„Ach, so ist es doch gar nicht.“ Nicolas zog seine Hände weg und verschränkte sie hinter seinem Kopf. „Aber es bringt eben auch nichts, wenn du abends mit so einem grimmigen Gesicht nach Hause kommst und direkt lospolterst. Deshalb erzählt dir Julio auch nichts aus der Schule.“

„Ich bin also schuld. Entschuldige, Nicolas, aber ich hasse basteln, ich mache das zurzeit den ganzen Tag in der Kita, ich kann die Klebestifte schon nicht mehr riechen. Und kaum bin ich zu Hause, sehe ich schon wieder bastelnde Typen.“

„Gut, dann basteln wir ab sofort nicht mehr.“ Beleidigt drehte sich Nicolas zur Seite.

„Es geht mir nicht ums Basteln, du Hornochse! Was habt ihr beide heute Abend gemacht? Und wieso habe ich nichts zum Abendessen bekommen?“

Nicolas drehte sich nun wieder zu mir um. „Mein lieber Ricardo. Erstens kannst du dir selbst was kochen und zweitens hast du einen Mund, um mich zu fragen, ob ich denn was vorbereitet hätte, anstatt dich hier den ganzen Abend zu verkriechen. Drittens war ich mit Julio heute Abend auf dem Weihnachtsmarkt, er wollte da schon länger die Currywurst probieren. Und dann hat er noch ein paar Schulfreunde getroffen und deshalb ist es heute so spät geworden.“

Na super! Ich kam mir nun wirklich wie das fünfte Rad am Wagen vor.

„Wieso informierst du mich nicht, wenn ihr auf den Weihnachtsmarkt geht? Wieso lässt du mich dauernd außen vor?“

Ich war verletzt und das machte mich wütend. Gefragt wurde ich nur, wenn es um offizielle Angelegenheiten um Julio ging. Manchmal kam ich mir vor, als wäre mein Sohn nur auf meine Unterschriften unter seinen Klassenarbeiten aus. Zugegeben, ich fand gut, dass Nicolas nicht die gleichen Rechte wie ich hatte, er hatte so gut wie überhaupt keine Rechte.

„Ich habe es dir gestern mindestens zehnmal gesagt, dass ich mit Julio heute auf den Weihnachtsmarkt gehen würde. Und da hast du gesagt, dass du solche Märkte hasst und keine Lust darauf hättest. Also bitte spiel mit fairen Karten, wenn du mir schon Vorwürfe machen willst.“

In letzter Zeit warf mir Nicolas häufig vor, dass ich ihm kaum noch zuhören würde. Und deshalb bekam ich wohl abends nichts zu essen, wie heute … Er mummelte sich in seiner dicken Bettdecke ein, so dass ich nur noch seine Haare sehen konnte. Welch eine harmonische Adventszeit wir mal wieder hatten. Beleidigt schaltete ich den Fernseher, dann das Licht aus und schloss meine Augen.

 

 

 

 

Nicolas

 

Da ich Ricardo auch seine Zeit mit seinem Sohn gönnte, schickte ich die beiden eines Abends einkaufen. Mein Mann sollte das Gefühl haben, auch nützlich zu sein, in den letzten Wochen hatte er immer wieder angedeutet, dass er nur noch der Unterschriftengeber für Julio sei und das ging mir mittlerweile auf die Nerven. Es war schön, auch mal Zeit für mich zu haben, ich genoss die Ruhe und ließ mir ein warmes Bad ein, während es draußen dunkel und frostig wurde. Für ein paar Minuten schlief ich sogar ein, bis ich Ricardos Stimme hörte.

„Hey! Hiergeblieben! Jacke und Schuhe aus und dann hilfst du mir beim Einräumen!“

„Du kannst mich mal!“, rief Julio.

Meine Ruhe war dahin, die Harmonie auch. Ich stieg schnell aus der Wanne, trocknete mich ab und warf mir meinen flauschigen Morgenmantel über. Das Wasser tropfte noch von meinen Haaren, als ich in den Flur trat. Dort warf Julio seine Winterschuhe mitten in den Weg und auch die Jacke hängte er nicht an die Garderobe, sondern warf sie direkt vor Ricardo. Ohne Worte verschwand unser Sohn in seinem Zimmer.

„Junger Mann!“, rief Ricardo mahnend. Er sah mich wütend an. „Muss ich mir das gefallen lassen?“

Mit meiner Hand strich ich durch mein triefend nasses Haar. „Ihr seid auch nicht mehr zu retten. Kann man euch denn nie alleine lassen?“

„Uns? Er! Er hat doch seine Schuhe und seine Jacke mitten in den Flur geworden. Ich hab den Eindruck, dass er immer aufsässiger wird.“

Ich hob Julios Jacke und Schuhe auf. „Du hättest dich eben mal reden hören müssen. Kaum warst du drinnen, schon gibst du hier den Befehlshaber. Julio hätte dir jetzt geholfen, wenn du dir das erspart hättest. Manchmal erreicht man mit wenigen Worten mehr bei ihm. Mir hilft er immer nach dem Einkaufen, ohne dass ich ihn dazu anleiten muss.“

Ricardo drückte mir die Einkaufstaschen in die Hand. „Dann fahr du ab sofort mit ihm einkaufen, wenn du alles besser weißt!“

Es war gar nicht so einfach, mit Ricardo das Weihnachtsfest vorzubereiten. Immer wieder ertappte ich ihn dabei, dass er mit seinen Gedanken woanders war, wenn ich ihm was Wichtiges sagte. Dass wir am zweiten Weihnachtstag bei meinen Eltern sein würden, hatte er erst drei Tage vorher verstanden.

„Ach? Seit wann ist das denn aktuell?“

Seine Reaktion war typisch.

„Seit Anfang Dezember. Und Gabriela hat sich angekündigt.“ Dies wiederum hatte ich Ricardo noch nicht erzählt.

„Gabriela? Was will sie denn?“

Eine dümmere Frage konnte er nicht stellen.

„Och, weißt du, ihr ist eingefallen, dass sie hier ihr Haarband vergessen hat. Sie will natürlich ihren Sohn an Weihnachten sehen, Mann!“

„Deshalb brauchst du längst nicht so schnippisch werden.“

Ich fragte mich, was Ricardo so unleidlich machte. Waren es die Briefe seiner Mutter, die immer noch regelmäßig in unserer Post waren? Oder hielt er nach wie vor nicht aus, dass ich einen guten Draht zu Julio hatte? Ich sah in Gabrielas Besuch die Chance, diesen Fragen auf den Grund zu gehen.

Wir begrüßten sie am Vormittag des Heiligen Abends, vor allem Julio umarmte seine Mutter herzlich. Wie gut sie wieder aussah! Das Studium schien ihr gut zu bekommen.

Wir tranken gemeinsam eine Tasse Kaffee und aßen Christstollen. Julio stach alle Rosinen heraus und legte sie an den Tellerrand. Gabriela erzählte viel von sich, sie plapperte wie ein Wasserfall. Das Medizinstudium würde ihr sehr viel Freude bereiten, allerdings sei es auch sehr anstrengend, sie saß manchmal bis Mitternacht vor ihren Büchern und lernte.

„Ich hab keine Ahnung, wie das andere Mütter mit Kindern machen“, bemerkte sie. Gabriela hatte auch schon ein klares Ziel vor Augen, nämlich die Spezialisierung auf Kinder- und Jugendmedizin. Nichts passte besser zu ihr.

Julio redete auch sehr viel über die Schule und seine Lehrer, aber auch über seine Freunde und wie gut er sich hier fühle.

„Das sind die besten Väter der Welt!“, sagte er und grinste breit.

„Das brauchst du nicht zu sagen, das wusste ich.“

Ich sah Ricardo an, doch er schien sich über Julios Bemerkung gar nicht zu freuen. Stattdessen verließ er die Küche und holte die Post rein, die heute besonders spät kam. Es war schon nach 15 Uhr und die armen Briefträger mussten wegen Blitzeises heute ganz besonders langsam gehen.

Mit einem Stapel Post kam Ricardo rein, es war alles Weihnachtspost. Liebe Karten meiner Stammkunden, Frau von Maron musste mal wieder einen Schein beisteuern. Ich erwartete gerade heute wieder einen Brief von Ricardos Mutter, doch sie hatte es wohl aufgegeben. Ein nettes Dankesschreiben der AIDS-Hilfe für meine Spende war auch in der Post, dabei galt der Dank vielmehr meinen Kunden als mir, nachdem ich Julios Vorschlag, eine AIDS-Kasse in meiner Nicolaterie aufzustellen, umgesetzt hatte. Peinlich war mir, dass ich nicht bereits selbst auf diese Idee gekommen war.

So verbrachten wir einen gemütlichen Nachmittag, wir spielten Quizspiele, wobei Gabriela besonders gut abschnitt. Am Abend hatten wir uns etwas völlig Unkonventionelles für den Heiligen Abend vorgenommen: Eine Pizza, die wir gemeinsam belegten. Ricardo und Julio wollten sich nicht daran beteiligen, sie verbrachten die Zeit lieber vor dem Fernseher und sahen sich Loriot an. Ich gönnte Ricardo, dass er endlich mal mit seinem Sohn alleine war, er hatte es verdient und schien es auch zu genießen.

„Klappt's denn mit den beiden?“, fragte Gabriela, als sie ihre Pizzaecke mit Pilzen belegte.

„Ja, es klappt viel besser, aber Ricardo tut sich oft noch schwer. Ich hab den Eindruck, dass er oft angespannt und überfordert ist. Dann legt er schnell so einen autoritären Tonfall auf. Ihm passt es auch nicht, dass ich mich mit ihm so gut verstehe.“

Gabriela strahlte mich plötzlich an, ihre weißen Zähne blitzten zwischen ihren roten Lippen. „Dich hat er ja völlig in sein Herz geschlossen.“

„Mich?“, fragte ich erstaunt nach. „Woher weißt du das?“

„Er hat es mir gesagt, natürlich auf andere Weise, aber dich respektiert er sehr, weil er dich einfach lieb hat.“

Für einen Moment musste ich kurz innehalten. Ein schöneres Weihnachtsgeschenk hätte mir Julio nicht machen können. Mich beschlich seit seinem Einzug die Angst, dass er irgendwann wieder zurück zu seiner Mutter wollte. Jeden Tag dachte ich an den Tag des Abschieds, der schneller kommen könnte als mir lieb war. Eine Träne der Rührung rann über meine Wange, die Gabriela sofort mit ihrem Daumen wegwischte.

„Heul bloß nicht, sonst heule ich auch gleich los!“

Wir belegten die Pizza weiter und zum Schluss streute ich geriebenen Käse darüber. Da fühlte ich mich plötzlich so geborgen und besonders in solchen Momenten wurde ich sentimental, ich dachte daran, wie es wäre, wenn Julio nicht mehr bei uns sein würde.

„Sag mal, könnte ich Julio vielleicht adoptieren?“, fragte ich und sah Gabriela an, die mich erschrocken anschaute. War es Staunen? War es Verzweiflung? Bis heute weiß ich nicht, warum mir diese Frage ohne gründlicher darüber nachzudenken einfach so über die Lippen gekommen war. Vor kurzem hatte ich im Internet mal etwas über eine Stiefkindadoption gelesen, das heißt, ich hätte als Ricardos Mann durchaus das Recht, Julio zu adoptieren.

„Warum?“, fragte Gabriela mit Nachdruck. Ich schüttelte meinem Kopf und widmete mich wieder der Pizza, weil ich das Gespräch nicht fortsetzen wollte. Offensichtlich fühlte sie sich unwohl mit diesem Gedanken.

„Nicolas, ich mag dich sehr, das weißt du“, sagte sie in sanftem Tonfall und legte ihre Hand auf meine Schulter. „Aber ich hätte dann als seine leibliche Mutter keine Rechte mehr.“

Oh, das war mir neu, ich hatte den Text im Internet wohl nicht ordentlich gelesen.

„Ich sehe es in deinen Augen, dass du es wirklich willst“, fügte Gabriela hinzu. „Aber vergiss nicht, dass ich meine Rechte nicht verlieren will. Wenn es zu Streit zwischen mir und Ricardo kommen sollte, dann könnte er mir sogar den Umgang mit Julio verbieten, ich hätte kein Besuchsrecht, nichts.“

Nein, das wollte ich natürlich nicht. Ich dachte aber in diesem Moment mehr an mich als sie. Was wäre, wenn sich Ricardo und ich mal fürchterlich streiten würden und er mich mit Julio verlassen würde? Ich erzählte Gabriela, dass eine solche Situation das Horrorszenario schlechthin für mich wäre.

„Selbst wenn es mal so kommen sollte, dass ihr euch trennt“, meinte Gabriela, „wäre Ricardo doch so vernünftig und würde dir erlauben, Julio sehen zu dürfen. Er würde doch nicht juristisch gegen dich vorgehen.“

In Ricardo steckte nach wie vor ein ordentliches Maß an Jähzorn. „Täusch dich nicht, er kann ja auch sehr gemein sein.“

„Oh … Ricardo hat Seiten an sich, die mich immer wieder überraschen. Am schlimmsten war für mich die Überraschung, dass er schwul ist. Und das hab ich ja erst erfahren, nachdem er mit dir geschlafen hat ...“ Gabriela schaute traurig und in Gedanken versunken. Das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um alte Kamellen aufzuwärmen, ich hatte auch keine Lust, sie zu trösten, immerhin war das mehr als vierzehn Jahre her. Zum Glück lächelte sie schnell wieder und zeigte mir ihre linke Hand. Ein Ring blitzte an ihrem Mittelfinger.

„Du hast dich verlobt?“, fragte ich verblüfft.

Wie sie plötzlich strahlte!

„Er heißt Sam, kommt aus Australien und studiert hier Medizin. Das war Liebe auf den ersten Blick“, schwärmte sie und schaute träumend auf den Adventskranz. „Wie ein Magnet kam er in der Mensa mit seinem Tablett zu meinem Tisch, ich konnte ihn nicht mehr aus den Augen lassen, er mich auch nicht. Es war so magisch, so unwirklich. Ich war überwältigt, von der einen Sekunde auf die andere.“

Ich versuchte, mir Sam vorzustellen. Das musste ja ein Mann sein!

„Liebe auf den ersten Blick hält meistens nicht lange“, wandte ich ein. „Hab da früher meine Erfahrungen gemacht.“

„Danke für deine aufbauenden Worte!“, zischte Gabriela und winkte ab.

„Aber diesmal hast du dir schon eine Hete ausgesucht, ja? Nicht, dass er sich auch noch als schwul entpuppt.“ Ich grinste sie frech an.

„Nein, du hättest nicht die geringste Chance bei ihm. Ich kann dir versichern, dass Sam total auf mich abfährt, wir haben schon so viele Sauereien gemacht.“

Oh, jetzt wurde Gabriela auf einmal schmutzig, das passte so gar nicht zu ihr. Aber ich konnte mir vorstellen, wie offensiv sie sein konnte, wenn sie einen Mann will, Ricardo hatte es mir ja ausführlich erzählt. Und im Bett war sie bestimmt nicht anders.

„Fünfundzwanzig Zentimeter“, fügte sie hinzu.

Ich schaute sie verdutzt an: „Was meinst du?“

„Mach dir selbst einen Reim darauf“, erwiderte sie zwinkernd.

 

Ricardo

 

Gabriela hätte uns öfter besuchen müssen. Während sie mit Nicolas in der Küche sprach, saß Julio direkt neben mir und wir schauten uns Weihnachtssketche im Fernsehen an. Ich überlegte, ob ich ihm meinen Arm um die Schulter legen sollte, ich hatte Angst, abgewiesen zu werden. Nicolas durfte das und wenn er mich als seinen leiblichen Vater ablehnen würde, würde mich das sehr verletzen. Ich riskierte es einfach, die Stimmung war einfach passend. Julio zuckte weder zusammen noch wandte er sich von mir ab, nein, er warf mir ein anerkennendes Lächeln zu.

Es brauchte nur diese Geste und ich wusste, dass er mich ebenso lieb hatte wie Nicolas. Okay, vielleicht stand er öfter in seiner Gunst, weil Nicolas ihm vieles durchgehen ließ. Aber letztendlich fühlte ich mich nun doch als Vater anerkannt, auch wenn ich das Gefühl nur selten zu spüren bekam. An diesem Abend war ich emotional aber so geladen, dass sich für einen Moment Tränen in meinen Augen sammelten.

„Was wünschst du dir eigentlich zum Geburtstag?“, fragte ich. Diesmal wollte ich Nicolas voraus sein, denn er hatte ihn schon nach seinen Wünschen zu Weihnachten befragt.

„Kommt drauf an“, antwortete Julio.

„Worauf?“

„Darauf, was ich heute Abend nicht von euch bekomme.“

„Verstehe! Aber sag’s mir rechtzeitig. Ich will dir einen richtig schönen Geburtstag bescheren.“

„Hab doch erst Anfang Februar.“

„Wir laden ganz viele von deinen Freunden ein. Und wir gehen mit denen irgendwo essen oder bestellen was.“

Ja, auch hier wollte ich Nicolas zuvorkommen. Es wurde Zeit, dass ich auch mal am Zug bin, um ein anderes Bild als den ewig nörgelnden Vater zu vermitteln, auch wenn es mir widerstrebte, einen Haufen Teenies hier durchzufüttern, die womöglich noch dämliche Schwulenwitze brachten.

„Wo würdet ihr denn gerne essen gehen?“, fragte ich.

Julio zuckte mit der Schulter. „Keine Ahnung! Mäckes? Hab mir noch keine Gedanken darüber gemacht. Mama ging sonst immer mit uns bowlen.“

Ausgerechnet Bowling! Da hatte ich vor zwei Jahren mal ganz üble Erfahrungen mit gemacht, jedenfalls was meinen rechten Fuß betraf. Noch heute spüre ich die Schmerzen eines gebrochenen Mittelfußknochens. Nicolas fand das erheiternd, während ich mich fragte, ob ich jemals wieder ohne Schmerzen auftreten kann. Noch heute frage ich mich, wie mir die Kugel aus der Hand fiel.

„Also meine Freunde mögen Fast Food.“

Aha, Fast Food, eine gute Wahl, jedenfalls was unseren Geldbeutel betraf. Insgeheim begann ich bereits die Kosten für Julios Geburtstag zu kalkulieren: Bowlingbahn, Essen und natürlich ein paar Geschenke. Wenn es nur nicht immer die kostspieligen Videospiele wären. Wieso konnte Julio sich nicht einfach mal ein gutes Buch wünschen?

„Essen ist fertig!“, rief Nicolas.

Pizza essend und plaudernd verbrachten wir einen gemütlichen Abend, Nicolas trank meiner Meinung nach nur etwas zu viel Wein. Zum Nachtisch reichte er eine Mousse au Chocolat, garniert mit seinen Pralinen. Gabriela wollte unbedingt ein paar seiner Rezepte haben. Ja, sie schmeckten gut.

Nach dem Essen folgte die Bescherung, wir saßen bis Mitternacht bei Kerzenschein zusammen. Nicolas schenkte mir eine Zehnerkarte fürs Kino.

„Oh … danke!“ Ich spielte ein Lächeln auf, tat so, als würde ich mich freuen, auch wenn ich über das Geschenk ernüchtert war. Gedanken hatte er sich diesmal nicht wirklich um mich gemacht. Wie oft im Jahr ging ich ins Kino? Drei oder vier Mal. Aber schlecht war so eine Karte natürlich nicht, ich hoffte auf ein Jahr mit guten Blockbustern.

„Fünf davon sind natürlich für mich gedacht“, sagte Nicolas mit einem verschmitzten Grinsen. Eigennutz? Nicht die Spur …!

Ich baute in Julios Zimmer für Gabriela ein Klappbett auf. Sie half mir beim Beziehen der Bettwäsche. Erst da fiel mir auf, dass sie einen Ring trug.

„Bist du verlobt?“, fragte ich.

„Nein, nicht wirklich … Aber du witterst richtig, ich habe einen Freund.“

Gabriela hatte es also doch noch geschafft, sich einen Mann zu angeln. Auf eine angenehme Weise beruhigte das mein Gewissen, nachdem ich sie bitter enttäuscht hatte. So richtig böse war sie mir ja nie gewesen und das verunsicherte mich. Früher hatte ich mir oft gewünscht, dass sie mich anschrie, nachdem ich sie geschwängert hatte, dass sie mir Vorwürfe machte. Aber das war nicht ihre Art.

„Hoffentlich passt er gut auf dich auf“, sagte ich.

Ihre braunen Augen funkelten, als sie ihren Ring anschaute.

„Ja, er ist der Richtige. Er ist zurzeit bei seinen Verwandten in Australien, aber wir verbringen auf jeden Fall Silvester zusammen.“

„Kennt er denn deine Geschichte, beziehungsweise unsere Geschichte?“

„Ja, er weiß alles. Aber erst nachdem wir zusammen waren, habe ich ihm erzählt, dass ich einen Sohn habe. Ich hätte sonst wohl nie eine Chance bei einem jungen Mann gehabt, auch wenn ich gesagt hätte, dass Julio bei seinem Vater und dessen Mann lebt. Ich muss sagen, Sam hat das ganz normal aufgenommen, er würde ihn aber auch bald mal kennenlernen wollen. Und euch natürlich auch.“

Oh, noch ein Konkurrent, schoss es mir durch den Kopf. So, so, da hatte sie also einen australischen Medizinstudenten kennengelernt, wahrscheinlich aus wohlhabenden Verhältnissen. Ob er sich meinen Sohn mit Geld erkaufen konnte? Nicht, dass Julio zu Gabriela und ihrem Sam will …

„Wie alt ist er eigentlich?“, fragte ich.

„Julio wird im Februar fünfzehn. Rechne doch einfach nach!“

„Das weiß ich selbst! Ich meinte doch deinen Freund.“

„Süße zwanzig Jahre. Ach, ich habe ihm so viel Neues beibringen können.“ Sie grinste frech und ich hatte geglaubt, mich verhört zu haben. Zwanzig? Also ganze zwölf Jahre jünger als Gabriela und nicht mal fünf Jahre älter als Julio.

„Ist er nicht etwas zu jung für dich?“, fragte ich. „Ich meine, er hat vor kurzem erst das College verlassen.“

Gabriela zuckte mit der Schulter. „Na und? Millionen von Männern haben jüngere Frauen. Wieso werden Frauen immer kritisiert, wenn sie einen jüngeren Mann haben?“

Sie klang nun gereizt, dabei hatte ich sie doch nicht kritisieren wollen. Julio kam in dem Augenblick ins Zimmer und warf sich ins Bett.

„Ich schlafe jetzt. Nacht!“

„Wir auch gleich“, sagte Gabriela.

„Aber ihr schlaft doch getrennt, oder? Nicht, dass ich noch ein Geschwisterchen bekomme.“

Gabriela lief rot an, ich wünschte beiden eine gute Nacht und ging zu Nicolas, der noch lesend in seinem Bett lag. Ich hatte ihm den Roman Chocolat geschenkt.

„Seltsam, dass ich das Buch noch nicht kannte“, sagte er, als ich mich auszog und neben ihn ins Bett krabbelte.

„Ist der gut?“

„Aber hallo!“ Er las weiter und ich ließ mein Haar von ihm kraulen.

„Hat Gabriela dir von ihrem Sam erzählt?“, fragte ich.

„Ja. Freut mich für sie!“

„Der ist erst zwanzig.“

„Na und?“ Unbeeindruckt streichelte er sanft meinen Kopf weiter.

„Ich habe ja in meinem Studium ein wenig was von Freud gelesen ...“, begann ich, während Nicolas genervt sein Buch zusammenschlug:

„Oh, Ricardo! Bitte nicht jetzt!“

Wie ich es hasste, wenn er mich unterbrach.

Ich redete einfach weiter: „Ich habe das Gefühl, dass sich Gabriela einen Sohnersatz sucht und dass sie Sam nicht wie einen Mann liebt.“

„Bitte hör auf, deine Mitmenschen zu analysieren, Ricardo.“ Nicolas drehte sich um und schaltete die Nachttischlampe aus.