Wilhelm Hauff


Jud Süß

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-944869-91-9


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Fünfzehntes Kapitel



Es würde unsere Leser ermüden, wollten wir sie von dem Prozeß des Juden Süß noch länger unterhalten. Es ging damals wie ein Lauffeuer durch alle Länder und wird da und dort noch heute erwähnt, daß am 4. Februar 1738 die Württemberger ihren Finanzminister wegen allzu gewagter Finanzoperationen aufgehenkt haben. Sie hingen ihn an einen ungeheuren Galgen von Eisen in einem eisernen Käficht auf. Im Dekret des Herzog Administrator heißt es: "Ihme zu wohlverdienter Straff, jedermänniglich aber zum abscheulichen Exempel." Beides, die Art, wie dieser unglückliche Mann mit Württemberg verfahren konnte, und seine Strafe, sind gleich auffallend und unbegreiflich zu einer Zeit, wo man schon längst die Anfänge der Zivilisation und Aufklärung hinter sich gelassen, wo die Blüte der französischen Literatur mit unwiderstehlicher Gewalt den gebildeteren Teil Europas aufwärtsriß.

Man wäre versucht, das damalige Württemberg der schmählichsten Barbarei anzuklagen, wenn nicht ein Umstand einträte, den Männer, die zu jener Zeit gelebt haben, oft wiederholen, und der, wenn er auch nicht die Tat entschuldigt, doch ihre Notwendigkeit darzutun scheint. "Er mußte", sagen sie, "nicht sowohl für seine eigenen schweren Verbrechen als für die Schandtaten und Pläne mächtiger Männer am Galgen sterben." Verwandtschaften, Ansehen, heimliche Versprechungen retteten die andern, den Juden, konnte und mochte niemand retten, und so schrieb man, wie sich der alte Landschaftskonsulent Lanbek ausdrückte, "was die übrigen verzehrt hatten, auf seine Zeche". Es sind seitdem neunzig Jahre verflossen, und wir wissen nicht, ob damals der schmähliche Tod dieses Mannes die Gemüter über alles Frühere beruhigte und befriedigte. Ein Edikt des Administrators wenigstens scheint es nicht ganz zu beweisen, denn er sah sich genötigt zu verordnen: "daß die Untertanen alle widrigen Nachreden und ungleichen Urteile über den hochseligen Herrn, bei Strafe und Ahndung, vermeiden, und denselben im schuldigst-respektueusesten Andenken halten sollten".

Der alte Lanbek tat das letztere auch ohne dies Edikt, denn sooft der Name Karl Alexanders genannt wurde, lüftete er mit besorgter Miene sein Mützchen und sagte: "Gott habe ihn selig!" Er folgte auch dem hochseligen Herrn noch unter der Vormundschaft Rudolphs von Neustadt. Man sagt, sein Sohn habe nie wieder gelächelt und selbst Schwager Reelzingen konnte ihm mit den herrlichsten Späßen keine heitere Miene abgewinnen. Noch Anno 93 sah man ihn als einen hohen, magern Greis an einem Stock über die Straße schreiten; seine Miene war ernst und düster, aber sein Auge konnte zuweilen weich und teilnehmend sein. Er hat nie geheiratet, und die Sage ging damals, daß er nur einmal und ein unglückliches Mädchen geliebt habe, das ihren Tod im Neckar freiwillig fand. Männer, die ihn gekannt haben, versichern, daß er gewöhnlich kalt und verschlossen, dennoch sehr interessant in der Unterhaltung gewesen sei, wenn man ihn auf gewisse metaphysische Untersuchungen brachte, mit welchen er sich in seinem hohen Alter hauptsächlich beschäftigte. Er starb, betrauert von vielen, die ihn und sein Schicksal kannten, und beweint von den Armen und Unglücklichen. Mein Großvater pflegte von ihm zu sagen: "Es war einer von jenen Menschen, die, wenn sie einmal recht unglücklich gewesen sind, sich nicht mehr an das Glück gewöhnen mögen."

 

 

Inhalt



Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

 

 



Ein ernstes Spiel wird euch vorübergehen,
Der Vorhang hebt sich über einer Welt,
Die längst hinab ist in der Zeiten Strom,
Und Kämpfe, längst schon ausgekämpfte, werden
Vor euren Augen stürmisch sich erneun.

L. Uhland

Erstes Kapitel



Das Karneval war nie in Stuttgart mit so großem Glanz und Pomp gefeiert worden, als im Jahr 1737. Wenn ein Fremder in diese ungeheuern Säle trat, die zu diesem Zwecke aufgebaut und prachtvoll dekoriert waren, wenn er die Tausende von glänzenden und fröhlichen Masken überschaute, das Lachen und Singen der Menge hörte, wie es die zahlreichen Fanfaren der Musikchöre übertönte, da glaubte er wohl nicht in Württemberg zu sein, in diesem strengen, ernsten Württemberg, streng geworden durch einen eifrigen, oft asketischen Protestantismus, der Lustbarkeiten dieser Art als Überbleibsel einer andern Religionspartei haßte; ernst, beinahe finster und trübe durch die bedenkliche Lage, durch Elend und Armut, worein es die systematischen Kunstgriffe eines allgewaltigen Ministers gebracht hatten.

Der prachtvollste dieser Freudentage war wohl der zwölfte Februar, an welchem der Stifter und Erfinder dieser Lustbarkeiten und so vieles andern, was nicht gerade zur Lust reizte, der Jud Süß, Kabinettsminister und Finanzdirektor, seinen Geburtstag feierte. Der Herzog hatte ihm Geschenke aller Art am Morgen dieses Tages zugesandt; das Angenehmste aber für den Kabinettsminister war wohl ein Edikt, welches das Datum dieses Freudentages trug, ein Edikt, das ihn auf ewig von aller Verantwortung wegen Vergangenheit und Zukunft freisprach. Jene unzähligen Kreaturen jeden Standes, Glaubens und Alters, die er an die Stelle besserer Männer gepflanzt hatte, belagerten seine Treppen und Vorzimmer, um ihm Glück zu wünschen, und manchen ehrliebenden biedern Beamten trieb an diesem Tage die Furcht, durch Trotz seine Familie unglücklich zu machen, zum Handkuß in das Haus des Juden.

Dieselben Motive füllten auch abends die Karnevalssäle. Seinen Anhängern und Freunden war es ein Freudenfest, das sie noch oft zu begehen gedachten; Männer, die ihn im stillen haßten und öffentlich verehren mußten, hüllten sich zähneknirschend in ihre Dominos und zogen mit Weib und Kindern zu der prachtvollen Versammlung der Torheit, überzeugt, daß ihre Namen gar wohl ins Register eingetragen und die Lücken schwer geahnet würden; das Volk aber sah diese Tage als Traumstunden an, wo sie im Rausch der Sinne ihr drückendes Elend vergessen könnten; sie berechneten nicht, daß die hohen Eintrittsgelder nur eine neue indirekte Steuer waren, die sie dem Juden entrichteten.

Der Glanzpunkt dieses Abends war der Moment, als die Flügeltüren aufflogen, eine erwartungsvolle Stille über der Versammlung lag, und endlich ein Mann von etwa vierzig Jahren, mit auffallenden, markierten Zügen, mit glänzenden, funkelnden Augen, die lebhaft und lauernd durch die Reihen liefen, in den Saal trat. Er trug einen weißen Domino, einen weißen Hut mit purpurroten Federn, auf welchen er die schwarze Maske nachlässig gesteckt hatte; es war nichts Prachtvolles an ihm, als ein ungewöhnlich großer Solitär, welcher am Hals die purpurrote Bajute von Seidenflor, die über den Domino hinabfiel, zusammenhielt. Er führte eine schlanke, zartgebaute Dame, die, in ein mit Gold und Steinen überladenes orientalisches Kostüm gekleidet, aller Augen auf sich zog.

"Der Herr Finanzdirektor, der Herr Minister", flüsterte die Menge, als er vornehm grüßend durch die Reihen ging, die sich ihm willig öffneten; und als er in der Mitte des Hauptsaales angekommen war, begrüßten ihn Trompeten und Pauken, und ein nicht unbeträchtlicher Teil der Masken klatschte ihm Beifall, während man andere wie von einem unzüchtigen Schauspiele sich abwenden sah. Aber allgemein schien die Teilnahme, womit man die schöne Orientalin betrachtete, die mit dem Minister gekommen war. Seine Lebensweise war zu bekannt, als daß nicht die meisten unter der Larve der reich geschmückten Dame eine seiner Freundinnen geahnet hätten, nur darüber schien man uneinig, welcher von diesen solche Auszeichnung zuteil geworden sei; die eine schien zu klein für diese Figur, die andere zu korpulent für diese zierliche Taille, die dritte zu schwerfällig, um so leicht und beinahe schwebend über den Boden zu gleiten, und einer vierten, bei welcher man endlich stillestehen wollte, konnte nicht dieses glänzend schwarze Haar, das in reichen Locken um den stolzen Nacken fiel, nicht dieses herrliche, dunkle Auge gehören, das man aus der Maske hervorleuchten sah.

Die Menge pflegt, wenn ihre Neugier nicht sogleich befriedigt wird, bei Gelegenheiten von so glänzender und rauschender Art, wie dieser Karneval war, nicht lange bei einem Gegenstand stille zu stehen. "Wenn sie die Maske abnimmt, wird man ja sehen", sprach man, ohne der Dame noch längere Aufmerksamkeit zu schenken, als nötig war, um zu bemerken, wie sie zum Menuett antrat. Aber drei junge Männer, die müßig hinter den Reihen der Tanzenden standen, schienen diese Erscheinung noch immer unablässig zu verfolgen.

"Wer sie nur sein mag!" rief der eine ungeduldig; "ich wollte gern dem verzweifelten Juden fünfzig Eintrittskarten abkaufen, wenn er mir sagte, woher dieses Mädchen kommt, das er wie eine Fürstin in den Saal führte."

"Herr Bruder!" erwiderte der zweite, indem er unter dem Sprechen kein Auge von der Orientalin abwandte, "Herr Bruder, parole d'honneur! diese Widersprüche kann ich nicht vereinigen, und wenn ich bei Cartesius selbst die Logik samt dem Cogito, ergo sum studiert hätte; eine so ungewöhnlich feine Gestalt, diese Haltung, diese nach den neuesten und vornehmsten Regeln abgemessene Bewegung, diese Art, das Handgelenk rund und spielend zu bewegen, wie ich sie nur in den bedeutendsten Zirkeln zu Wien und Paris sah, dieser Anstand, womit sie den Nacken trägt."

"Gott verdamm mich, du hast recht, Herr Bruder", unterbrach ihn der dritte, "dieses alles und mit Süß auf den Ball zu kommen! Nein, ein solcher Kontrast ist mir in meinem Leben nicht vorgekommen!"

"Aus unserer Bekanntschaft", fuhr der erste fort, "aus unsern Kreisen kann sie nicht sein; denn wenn es auch wahr ist, was man flüstert, daß schon mancher elende Kerl von einem Vater seine Tochter mit einer Bittschrift zum Juden schickte, so laut läßt keiner seine Schande werden, daß er sein leibliches Kind mit dieser Mazette auf den Ball schickt!"

"Bitte dich ums Himmels willen, Herr Bruder, nicht so laut, er hat überall seine Spione, und uns ist er ohnedies nicht grün; denk an deine Familie, willst du dich unglücklich machen? Aber wahr ist's, es kann kein Mädchen aus bessern Ständen sein, und doch ist ihr Wesen für eine Bürgerstochter zu anständig. Doch halt, wer ist der Sarazene, der dort auf uns zukommt? Die Farbe seines Turbans ist ja dieselbe, wie ihn die Charmante des Juden hat!"

Die jungen Männer wandten sich um und sahen einen schlanken, schöngewachsenen Mann, der, als Sarazene gekleidet, sich durch die einfache Pracht seines Kostüms, wie durch Gang und Haltung vor gemeineren Masken auszeichnete. Auch er schien die jungen Männer ins Auge gefaßt zu haben, denn er ging langsam an sie heran und zögerte, an ihnen vorüberzuschreiten.

"Was ist deine Parole", fragte der eine der jungen Männer, der in der Maske einen Freund zu erkennen glaubte; "hast du nur dein ›Allah‹ zum Feldgeschrei, oder weißt du sonst noch ein Sprüchlein?

"Gaudeamus igitur juvenes dum sumus", erwiderte der Sarazene, indem er stille stand.

"Er ist's, er ist's", riefen zwei dieser jungen Herrn, und schüttelten die Hand des Sarazenen; "gut, daß wir die Parole gaben, ich hätte sonst kein Erkennungszeichen für dich gehabt, denn ich war meiner Sache so gewiß, du seiest als Bauer hier, daß ich mit dem Kapitän eine Flasche gewettet habe, du müßtest ein Bauer sein!"

"Laßt uns ans Büffet treten", sagte der zweite, "ich habe dir hier jemand vorzustellen, Bruder Gustav, der sich auf deine Bekanntschaft freut, und du weißt, in Larven erkennt man sich schlecht."

"Freund", erwiderte Gustav, "ich nehme die Larve nicht ab, ich habe Gründe; so angenehm mir die Bekanntschaft dieses Herrn wäre, so muß ich sie doch bis auf morgen versparen."

"Und wenn es nun Pinassa wäre, nach welchem du so oft gefragt?" antwortete jener.

"Pinassa? mit dem du dich geschlagen? Nein, das ändert die Sache, den will ich sehen und begrüßen; aber meine Maske nehme ich nur auf zwei Augenblicke und im fernsten Winkel des Speisesaals ab."

"Wir sind's zufrieden, Bruder Sarazene", antwortete der Kapitän. "Aber laß uns nur erst an die zweite Flasche kommen, dann sollst du auch die Gründe beichten, warum du dein Angesicht nicht leuchten lassen willst vor den Freunden!"

Zweites Kapitel



In dem Speisesaal, welchen sie wählten, waren nur wenige Menschen, denn man verkaufte hier nur ausgesuchte Weine, feine Früchte und warme Getränke, während die größeren Trinkstuben, wo Landwein, Bier und derbere Speisen zu haben waren, die größere Menge an sich zogen. In einer Ecke des Zimmers war ein Tischchen leer, wo der Sarazene, wenn er dem übrigen Teil des Saales den Rücken kehrte, ohne Gefahr erkannt zu werden die Maske abnehmen konnte. Sie wählten diesen Platz, und als die vollen Römer vor ihnen standen, legten die zwei jungen Krieger die Masken ab und der Kapitän begann: "Herr Bruder, ich habe die Ehre, dir hier den unvergleichlichen Kavalier Pinassa vorzustellen, den berühmtesten Fechter seiner Zeit; denn es gelang ihm, durch eine unbesiegliche Terz-Quart-Terz, mich, bedenke mich, den Senior des Amizistenordens, in Leipzigs unvergeßlichem Rosenthal hors de combat zu machen. Er hat gleich mir die Musen verlassen, hat gesungen: 'Will mir Minerva nicht, so mag Bellona raten', und hat den alten Hieber und sein ungeheures Stichblatt, worauf er sein Frühstück zu verzehren pflegte, mit dem Paradedegen eines herzoglich württembergischen Lieutenants vertauscht."