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Victoria Holt

Verlorene Spur

Roman


Ins Deutsche übertragen von Margarete Längsfeld

Edel eBooks

Greystone Manor

Mit sechzehn Jahren erfuhr ich, daß meine Schwester Francine ermordet worden war. Ich hatte sie beinahe fünf Jahre nicht gesehen, aber ich hatte jeden Tag an sie gedacht, mich nach ihrer Heiterkeit gesehnt und ihr Verschwinden aus meinem Leben betrauert.

Bis sie fortging, hatten Francine und ich uns so nahegestanden, wie es bei zwei Menschen nur möglich ist. Ich, um fünf Jahre jünger als sie, suchte bei ihr Schutz, und den hatte ich, als Greystone Manor nach dem Tod unserer Eltern unser Zuhause wurde, bitter nötig.

Das war vor sechs Jahren gewesen, und beim Rückblick auf die erste Zeit meines Lebens schien es mir, als hätten wir damals im Paradies gelebt. Abstand verklärt den Blick, pflegte Francine zu sagen, um mich zu trösten, und deutete damit an, daß die Insel Calypso nicht gänzlich vollkommen gewesen sei, folglich sei Greystone Manor vielleicht auch nicht so finster, wie es auf uns wirkte, die wir seit kurzem zu seinen Bewohnern zählten. Obgleich Francine von so zartem Äußeren war wie etwas aus Meißener Porzellan, habe ich nie jemanden gekannt, der im Leben praktischer veranlagt war. Sie war realistisch, einfallsreich, nicht unterzukriegen und immer optimistisch; sie schien wahrhaftig unfähig, etwas falsch zu machen.

Ich hatte immer geglaubt, daß Francine alles, was sie zu tun beabsichtigte, auch erfolgreich ausführte. Deswegen war ich so erschüttert, so fassungslos, als ich auf dem Speicher in Tante Graces Truhe jenen Zeitungsausschnitt fand. Kniend hielt ich das Stück Papier in der Hand, und die Worte tanzten mir vor den Augen.

Baron von Gruton Fuchs letzten Mittwoch ermordet im Bett seiner Jagdhütte im Bezirk Bruxenstein aufgefunden. Bei ihm war seine Geliebte, eine junge Engländerin, deren Identität noch nicht geklärt ist. Es wird aber angenommen, daß sie sich schon länger bei ihm in der Hütte aufhielt.

Daran war noch ein anderer Ausschnitt angeheftet.

Die Identität der Frau konnte festgestellt werden. Es handelt sich um Francine Ewell, seit längerer Zeit eine »Freundin« des Barons.

Das war alles. Es war unglaublich. Der Baron war ihr Ehemann! Ich erinnerte mich genau, wie sie mir erzählt hatte, sie würde heiraten, und wie ich mit mir rang, um die Trauer über ihren Verlust zu verscheuchen und mich über ihr Glück zu freuen. Und dann hatte sie mir doch auch von ihrer Trauung geschrieben.

Ich blieb auf dem Speicher knien, bis meine Glieder sich verkrampften und meine Knie schmerzten. Dann ging ich mit den Zeitungsausschnitten in mein Schlafzimmer, setzte mich benommen hin, dachte zurück ... dachte an alles, was sie für mich gewesen war, bis sie fortging.

Wir hatten unsere idyllische Kindheit mit unseren angebeteten, uns über alles liebenden und gänzlich weltfremden Eltern auf der Insel Calypso verbracht. Es waren wundervolle Jahre. Sie hatten geendet, als ich elf und Francine sechzehn war, und ich konnte vieles von dem, was um mich vorging, nicht wirklich begreifen. Ich wußte nichts von den Geldnöten und den Alltagssorgen, wenn eine Zeitlang keine Besucher ins Atelier meines Vaters kamen. Allerdings waren diese Sorgen niemals augenfällig, denn wir hatten ja Francine. Sie hielt uns alle mit ihrem Geschick und ihrer Tatkraft, die wir wie selbstverständlich hinnahmen, über Wasser.

Unser Vater war Bildhauer, ein Künstler. Er meißelte wunderbare Statuen von Cupido und Psyche; Venus, die den Wogen entstieg, kleine Meerjungfrauen, tanzende Mädchen, Urnen und Blumenkörbe, und die Besucher kamen und kauften diese Dinge. Meine Mutter und Francine waren seine Lieblingsmodelle. Auch ich saß ihm Modell, denn sie wären niemals auf den Gedanken gekommen, mich zu übergehen, obwohl ich nicht jene sylphidenhafte Grazie besaß wie Francine und meine Mutter, die sich so vollendet in Stein verwandeln ließ. Sie waren die Schönheiten. Ich ähnelte mit meinen dichten, glatten, ständig unordentlichen Haaren von eigentlich undefinierbarer Farbe, die sich noch am ehesten als mittelbraun beschreiben läßt, meinem Vater. Ich hatte grünliche Augen, die je nach Umgebung die Farbe wechselten, eine Nase, die Francine »keck« nannte, und einen ziemlich großen Mund. »Großzügig« nannte ihn Francine. Sie wußte immer zu trösten. Meine Mutter war von feenhafter Schönheit, die sie Francine vererbt hatte: blondes, lockiges Haar, blaue, dunkelbewimperte Augen und eine Nase, die genau dieses gewisse Mehr an Länge besaß, das ausreichte, um sie schön zu machen; dazu eine ziemlich kurze Oberlippe, die ganz leicht vorstehende, perlengleiche Zähne enthüllte. Über alledem lag jener Zug weiblicher Hilflosigkeit, der in den Männern den Wunsch erweckte, ihnen zu dienen und sie vor den Widrigkeiten der Welt zu beschützen. Meine Mutter mag dieses Schutzes bedurft haben; Francine hatte ihn niemals nötig.

Die Tage waren lang und warm – wir ruderten mit dem Boot in die blaue Lagune, um dort zu schwimmen; wir nahmen hin und wieder Unterricht bei Antonio Farfalla, der dafür mit einer Skulptur aus dem Atelier unseres Vaters entlohnt wurde. »Eines Tages wird sie ein Vermögen wert sein«, versicherte ihm Francine. »Sie müssen nur abwarten, bis mein Vater berühmt ist.« Trotz ihres zarten Äußeren konnte Francine große Bestimmtheit ausstrahlen, und Antonio glaubte ihr. Er verehrte Francine. Bis wir nach Greystone kamen, schien jedermann Francine zu verehren. Sie nahm Antonio auf charmante Art unter ihre Fittiche, und wenn sie sich auch häufig über seinen Nachnamen lustig machte, der übersetzt »Schmetterling« bedeutete, er aber der schwerfälligste Mann war, den wir je gekannt hatten, zeigte sie sich doch stets mitfühlend, wenn seine Unbeholfenheit ihn bedrückte.

Es dauerte geraume Zeit, ehe ich mir wegen der ständigen Krankheiten meiner Mutter Sorgen machte. Sie pflegte in ihrer Hängematte zu liegen, die wir draußen vor dem Atelier befestigt hatten, und es war stets jemand da, der mit ihr plauderte. Anfangs, so hatte mein Vater mir erzählt, waren wir nicht gerade freundlich auf der Insel aufgenommen worden. Wir waren Fremde, und die Leute waren ein eigenwilliges Inselvolk. Sie lebten dort seit Jahrhunderten, bauten Wein an, züchteten Seidenraupen und arbeiteten in dem Steinbruch, aus dem mein Vater seinen Alabaster und Serpentin bezog. Doch als die Leute merkten, daß wir genauso waren wie sie und gewillt waren, wie sie zu leben, akzeptierten sie uns schließlich. »Deine Mutter hat sie erobert«, sagte mein Vater oft, und das konnte ich mir gut vorstellen. Sie sah so schön aus, so ätherisch, als könne der Schirokko sie davontragen, wenn er blies. »Nach und nach kamen sie herbei«, erzählte mein Vater. »Dann lagen manchmal kleine Geschenke auf der Türschwelle, und als Francine geboren wurde, hatten wir das ganze Haus voll Helfer. Bei dir war es genauso, Pippa. Du wurdest ebenso willkommen geheißen wie deine Schwester.« Das schärften sie mir immer wieder ein, bis ich mich allmählich fragte, warum das nötig sei.

Francine fand über die Geschichte unserer Familie so viel heraus, wie sie nur konnte. Sie war stets wißbegierig und wollte alles erfahren. Unwissenheit war ihr zuwider. Sie wollte auch die geringste Einzelheit wissen: warum der Seidenraupenertrag höher oder niedriger war, wieviel Vittoria Guizzas Hochzeitsschmaus kostete, und wer der Vater von Elizabetta Caldoris Baby war. Alles, was vorging, war für Francine von größtem Interesse. Sie wollte auf alles eine Antwort haben.

»Es heißt«, sagte Antonio, »daß diejenigen, die alles wissen wollen, eines Tages auf das Unerfreuliche stoßen.«

»In England sagt man, ›die Neugier hat die Katze umgebracht‹«, erklärte ihm Francine. »Nun, ich bin keine Katze, aber ich bin nun einmal neugierig ... und wenn es mich umbringt.«

Damals lachten wir alle darüber, aber im Rückblick machte es mich nachdenklich.

Es waren selige Inseltage: die warme Sonne auf meiner Haut, der derbe Duft von Frangipani und Hibiskus, das sanfte Rauschen des Mittelmeers an den Gestaden der Insel; lange traumhafte Tage; nach dem Schwimmen im Boot liegen, um die Hängematte sitzen, in der unsere Mutter gemächlich schaukelte, und Francine beobachten, die ins Atelier trat, wenn wir Besucher hatten. Diese kamen aus Amerika und England, vornehmlich aber aus Frankreich und Deutschland, und im Laufe der Jahre beherrschten Francine und ich diese Sprachen recht gut. Francine servierte Wein in Gläsern, deren Ränder sie mit Hibiskusblüten verziert hatte. Das gefiel den Besuchern, und sie zahlten hohe Preise für die Arbeiten meines Vaters, wenn Francine mit ihnen redete. Es sei eine Geldanlage, versicherte sie ihnen, denn mein Vater sei ein großer Künstler. Er halte sich nur wegen des Gesundheitszustandes seiner Frau auf dieser Insel auf. Eigentlich sollte er in seinem Atelier in Paris oder London weilen. Doch nun habe es sich gefügt, daß diese guten Leute Gelegenheit hätten, hier Kunstwerke zu äußerst günstigen Preisen zu erwerben.

Sie erkannten Francines Schönheit in den Statuen wieder und kauften sie, und ich bin sicher, sie bewahrten sie gut auf und erinnerten sich noch lange an bezaubernde Nachmittage, da sie von einem schönen Mädchen bedient wurden, das ihnen Wein in mit Blumen geschmückten Gläsern kredenzte.

So lebten wir in jenen lange zurückliegenden Tagen, dachten nie über den Augenblick hinaus, standen des Morgens bei Sonnenschein auf und gingen des Abends, nach von angenehmem Tun erfüllten Tagen, köstlich ermattet zu Bett. Es war aber ebenso vergnüglich, im Atelier zu sitzen und zu lauschen, wenn der Regen herabprasselte. »Der treibt die Schnecken heraus«, sagte Francine dann, und wenn er aufgehört hatte, gingen wir mit unseren Körben hinaus und sammelten sie. Francine verstand sich bestens darauf, diejenigen herauszusuchen, die man Madame Descartes verkaufen konnte, der Französin, der das Gasthaus am Hafen gehörte. Sie wies mich an, keine mit weichen Häusern aufzulesen, weil die zu jung waren. »Die armen kleinen Dinger, sie haben ja noch gar nicht richtig gelebt. Laß sie noch ein wenig leben.« Das klang zwar human, aber natürlich wollte Madame Descartes nur solche, die für die Küche brauchbar waren. Wir brachten die Schnecken zum Gasthaus und erhielten etwas Geld dafür. Sie kamen in einen Käfig, und wenn sie nach ein paar Wochen herausgenommen und zubereitet wurden, gingen Francine und ich ins Gasthaus, und Madame Descartes gab uns eine Kostprobe. Wenn sie mit Knoblauch und Petersilie gekocht waren, fand Francine sie köstlich. Ich habe mir nie viel daraus gemacht. Aber es war ein Ritual: der Abschluß der Schneckenernte, und deshalb brachte ich es mit meiner Schwester feierlich hinter mich.

Dann kam die Weinlese, und wir zogen Holzpantinen an und halfen beim Stampfen der Trauben. Francine beteiligte sich mit Feuereifer: singend und tanzend wie ein wilder Derwisch, mit fliegenden Locken und leuchtenden Augen, so daß jedermann ihr zulächelte und mein Vater meinte: »Francine ist unsere Botschafterin.«

Es waren glückliche Tage, und ich kam nie auf den Gedanken, daß sich das einmal ändern könnte. Meine Mutter wurde immer schwächer, doch es gelang ihr, das weitgehend vor mir zu verbergen. Vielleicht auch vor meinem Vater, aber ich frage mich, ob sie es Francine verheimlichen konnte. Doch falls meine Schwester es bemerkte, so tat sie es gewiß ab wie alles, von dem sie nicht wollte, daß es geschah. Zuweilen glaubte ich, das Leben habe Francine mit so vielen Gaben bedacht, daß sie meinte, selbst die Götter würden für sie arbeiten, und sie brauchte nur zu sagen, »ich will nicht, daß es geschieht«, und dann geschah es auch nicht.

Ich erinnere mich deutlich an jenen Tag. Es war im September – zur Zeit der Weinlese – und in der Luft lag jene Aufregung, die ihr jedesmal vorausging. Francine und ich gesellten uns zu den jungen Leuten der Insel und stampften die Trauben zu den Melodien aus Verdi-Opern, die der alte Umberto auf seiner Fiedel kratzte. Wir sangen alle inbrünstig, und die alten Leute saßen dabei und sahen zu, die knotigen Hände im schwarzen Schoß verschränkt, ein Leuchten der Erinnerung in den triefenden Augen, während wir tanzten, bis unsere Füße schwach und unsere Stimmen immer heiserer wurden.

Doch es gab noch eine andere Ernte. Eines meiner Lieblingsgedichte hieß »Der Schnitter und die Blumen«.

Es ist ein Schnitter, der heißt Tod,
Hat Gewalt vom höchsten Gott,
Heut wetzt er das Messer,
Es schneid’ schon viel besser,
Hüte dich, schön’s Blümelein!

Francine erklärte mir die Bedeutung; sie verstand es vorzüglich, etwas zu erklären. »Es bedeutet, daß junge Menschen manchmal der Sichel in den Weg geraten«, sagte sie, »und dann werden auch sie niedergemäht.« Heute leuchtet es mir ein, daß sie selbst eine dieser Blumen war, die sich hüten sollten. Damals jedoch starb unsere Mutter, und auch sie war wie eine Blume. Denn der Tod kam auch für sie zu früh; sie war noch zu jung.

Es war furchtbar, als wir sie tot fanden. Francine hatte ihr das Glas Milch gebracht, das sie jeden Morgen zu sich nahm. Sie lag ganz still, und Francine berichtete später, daß sie eine geraume Weile drauflos plauderte, ehe sie merkte, daß die Mutter nicht zuhörte. »Da trat ich ans Bett«, sagte Francine. »Ich brauchte sie nur anzusehen, da wußte ich alles.«

So war es denn geschehen. Alle Zauberkünste Francines hatten es nicht verhindern können. Der Tod war mit seiner Sichel gekommen und hatte die schöne Blume genommen.

Unser Vater war stets wie ein Besessener. Er war eben ein Künstler, und wenn er in seinem Atelier arbeitete und diese schönen Frauengestalten schuf, die meiner Mutter oder meiner Schwester glichen, wirkte er immer abwesend. Wir lachten oft über seine Entrücktheit. Francine hielt alles bei uns in Ordnung, auch im Atelier. Meine Mutter war lange Zeit zu krank gewesen, um viel zu tun; sie war einfach da – eine gütige Erscheinung, die uns alle beseelte. Sie hatte Besucher begrüßt und mit ihnen geplaudert, und denen hatte das gefallen. Weil Francine da war, ging alles seinen geordneten Gang.

Nun war unsere Mutter tot, und Francine nahm vollends das Heft in die Hand. Sie sprach mit den Besuchern und gab ihnen das Gefühl, ein gutes Geschäft zu machen. Ich weiß nicht, wie wir jenes Jahr ohne sie überstanden hätten. Als unsere Mutter auf dem kleinen Friedhof nahe den Olivenhainen zur letzten Ruhe gebettet war, wäre unser Hauswesen verkommen, wenn wir Francine nicht gehabt hätten. Sie wurde gewissermaßen das Oberhaupt der Familie, obwohl sie erst fünfzehn Jahre alt war. Sie kaufte ein, sie kochte, sie hielt alles in Schwung. Sie weigerte sich, noch Unterricht bei dem Schmetterling zu nehmen, wie sie Antonio nannte, bestand jedoch darauf, daß ich weiterhin unterwiesen wurde. Unser Vater lebte mit seinem Stein, doch seine Gestalten hatten den gewissen Zauber verloren, der ihnen vorher innegewohnt hatte. Er wollte nicht mehr, daß Francine ihm Modell stand. Das hätte zu viele Erinnerungen heraufbeschworen.

Die traurigen Monate vergingen allmählich, und ich verspürte eine Veränderung in mir. Ich war damals zehn Jahre alt, aber ich hörte auf, ein Kind zu sein.

Während jener Zeit sprach unser Vater mit uns, zumeist abends, wenn wir auf dem grünen Hang saßen, der zum Meer hin abfiel; und wenn die Dunkelheit hereinbrach, betrachteten wir den phosphoreszierenden Glanz, der von den Fischschwärmen ausging und wie eine irrlichternde Botschaft des Wassers wirkte: unheimlich und doch auch tröstlich.

Unser Vater erzählte uns, wie er gelebt hatte, bevor er auf die Insel kam. Francine war schon lange neugierig darauf und hatte ein wenig darüber in Erfahrung gebracht, indem sie ihm oder unserer Mutter in unachtsamen Momenten ein paar Einzelheiten entlockte. Wir fragten uns oft, warum es ihnen so widerstrebte, von ihrer Vergangenheit zu sprechen. Wir sollten es bald erfahren. Ich nehme an, jeder, der einmal in Greystone Manor gelebt hat, wünscht von dort zu entfliehen und sogar zu vergessen, daß er jemals dort gewesen ist. Denn es war wie ein Gefängnis. So beschrieb es mein Vater, und später sollte ich das verstehen.

»Es ist ein vornehmes altes Haus«, erzählte mein Vater, »ein richtiges Herrschaftshaus. Die Ewells leben dort seit vierhundert Jahren. Denkt nur, der erste Ewell erbaute es vor der Elisabethanischen Zeit.«

»Dann muß es aber sehr stabil sein, wenn es so lange gehalten hat«, begann ich, aber Francine brachte mich mit einem Blick zum Schweigen; sie gab mir zu verstehen, daß wir unserem Vater nicht bewußt machen durften, daß er laut dachte.

»Damals verstand man noch zu bauen. Die Häuser mögen zwar unbehaglich gewesen sein, aber dafür hielten sie nicht nur der Witterung, sondern auch Angreifern stand.«

»Angreifern«, rief ich aufgeregt, aber wieder wurde ich von Francine zum Schweigen gebracht.

Und darauf sagte er: »Es war wie ein Gefängnis. Für mich war es ein Gefängnis.«

Tiefe Stille trat ein. Unser Vater blickte durch all die Jahre zurück bis zu der Zeit, als er noch ein Junge war, bevor er meine Mutter kennenlernte, bevor Francine geboren wurde. Doch mir fiel es schwer, mir eine Welt ohne Francine vorzustellen.

Unser Vater machte ein finsteres Gesicht. »Ihr Kinder habt ja keine Ahnung«, sagte er. »Ihr wart in Liebe gebettet. Sicher, wir waren arm. Das Leben war nicht immer bequem, aber es gab Liebe im Überfluß.«

Ich lief zu ihm hin und warf mich in seine Arme. Er hielt mich eng an sich gedrückt. »Kleine Pippa«, sagte er, »du bist glücklich gewesen, nicht wahr? Denke immer an Pippas Gesang. Danach haben wir dich genannt, Pippa:

Gott ist im Himmel,
In Frieden die Welt!«

»Ja«, rief ich. »Ja, ja!«

Francine sagte: »Setz dich hin, Pippa. Du hast Vater unterbrochen. Er möchte uns etwas erzählen.«

Unser Vater schwieg eine Weile, dann fuhr er fort: »Euer Großvater ist ein guter Mensch. Das darf man nicht verkennen. Aber manchmal ist mit guten Menschen nicht leicht auszukommen – jedenfalls nicht für Sünder.«

Wieder trat Schweigen ein; diesmal wurde es von Francine gebrochen, die flüsterte: »Erzähle uns von unserem Großvater. Erzähle uns von Greystone Manor.«

»Er war immer stolz auf die Familie. Wir haben unserem Vaterland treu gedient. Wir waren Soldaten, Politiker, Gutsherren, aber niemals Künstler. Doch, einen gab es ... das ist lange her. Er wurde in einem Wirtshaus in der Nähe von Whitehall getötet. Sein Name wurde nie mehr erwähnt, es sei denn mit Abscheu. ›Gedichte schreiben ist kein Leben für einen Mann‹, meinte euer Großvater. Ihr könnt euch denken, was er sagte, als er erfuhr, daß ich Bildhauer werden wollte.«

»Erzähl’s uns«, flüsterte Francine.

Unser Vater schüttelte den Kopf. »Es schien einfach unmöglich. Meine Zukunft war genau geplant. Ich sollte in meines Vaters Fußstapfen treten. Ich sollte nicht Soldat werden, auch kein Politiker. Ich war der einzige Sohn des Gutsherrn, und deshalb sollte ich in seine Fußstapfen treten. Ich sollte lernen, das Gut zu verwalten, und den Rest meines Lebens in dem Bemühen verbringen, genau so zu sein wie mein Vater.«

»Und das konntest du nicht«, sagte Francine.

»Nein – es war mir verhaßt. Alles an Greystone war mir verhaßt. Ich haßte das Haus und das Reglement meines Vaters, seine Haltung uns gegenüber: meiner Mutter, meiner Schwester Grace und mir. Er hielt sich für unseren Herrn und Meister. Er verlangte Gehorsam in allen Dingen. Er war ein Tyrann. Und dann – begegnete ich eurer Mutter.«

»Erzähl uns davon«, bat Francine.

»Sie kam ins Haus, um für Tante Grace Kleider zu nähen. Sie war so lieb, so zart, so schön. Die Begegnung mit ihr gab für mich den Ausschlag.«

»Und du bist von Greystone Manor fortgelaufen«, sagte Francine.

»Ja. Ich bin aus dem Gefängnis ausgebrochen. Wir liefen fort, in die Freiheit: deine Mutter aus einem Leben der Plackerei für die Schneiderwerkstatt, in der sie arbeitete ... ich von Greystone Manor. Keiner von uns hat es auch nur eine Sekunde bereut.«

»Wie romantisch ... wie schön«, hauchte Francine.

»Die Zeiten waren hart am Anfang. In London ... in Paris ... überall der Kampf um den Lebensunterhalt. Dann lernten wir in einem Café einen Mann kennen. Ihm gehörte das Atelier auf dieser Insel, und er bot es uns an. So kamen wir hierher. Francine ist hier geboren ... und du auch, Pippa.«

»Ist er nie zurückgekommen, um das Atelier wieder zu übernehmen?« fragte Francine.

»Er kam zurück. Er blieb eine Weile bei uns. Du warst noch zu klein, um dich daran zu erinnern. Dann ging er nach Paris, wo er recht wohlhabend wurde. Vor einigen Jahren ist er gestorben und hat mir das Atelier vermacht. Wir haben unser Auskommen gehabt, wir lebten bescheiden, aber frei.«

»Wir sind sehr glücklich gewesen, Vater«, sagte Francine bestimmt. »Glücklichere Mädchen kann es gar nicht geben.«

Danach umarmten wir uns alle – wir waren eine überschwengliche Familie – aber auf einmal wurde Francine ganz sachlich und meinte, es sei Zeit zum Zubettgehen.

Wenige Wochen nach dieser Unterhaltung ertrank unser Vater. Er war mit dem Boot zur blauen Lagune hinausgerudert, wie wir es so oft taten, als plötzlich Sturm aufkam und das Boot kenterte. Später fragte ich mich, ob er überhaupt ernsthaft versucht hatte, sich zu retten. Seit dem Tod unserer Mutter hatte sein Leben seinen Reiz verloren. Zwar hatte er seine beiden Töchter, aber wahrscheinlich meinte er, daß Francine besser für sich und mich sorgen könnte, als er selbst. Überdies mochte er den Lauf der Ereignisse vorausgeahnt und gedacht haben, daß es so für uns das Beste sei.

Ich hatte ein unheilvolles Gefühl, fast als ahnte ich, was kommen würde. Es war mir längst klar geworden, daß nach dem Tod meiner Mutter nichts mehr so sein konnte wie vorher. Wir hatten zwar versucht, unsere alte Heiterkeit wiederzugewinnen, und Francine war es auch leidlich gelungen, doch selbst sie konnte sich nicht gänzlich verstellen.

An dem Tag, als unser Vater neben der Mutter nahe den Olivenhainen begraben wurde, saßen wir uns im Atelier gegenüber. »Dorthin sehnte er sich, seit sie dort liegt«, sagte Francine.

»Was wird nun aus uns?« fragte ich.

Sie war beinahe heiter. »Wir haben doch uns. Wir sind zu zweit.«

»Du bist immer guten Mutes und sorgst dafür, daß ich es auch bin«, meinte ich.

»So soll es sein und bleiben«, fügte sie bekräftigend hinzu.

Unsere Freunde auf der Insel überschütteten uns mit Wohlwollen. Wir wurden versorgt und verwöhnt, und man gab uns das Gefühl, geliebt zu sein.

»Das ist ganz nett für den Anfang«, bemerkte Francine, »aber so geht es nicht weiter. Wir müssen uns etwas einfallen lassen.«

Ich war damals fast elf, Francine war sechzehn. »Natürlich«, meinte sie, »könnte ich Antonio heiraten.«

»Das könntest du nicht. Das würdest du nicht tun.«

»Ich hab’ den Schmetterling gern, aber du hast recht. Ich könnte es nicht und würde es nicht tun.«

Ich sah sie fragend an. Es kam selten vor, daß ihr nichts einfiel, aber diesmal schien sie ratlos. »Wir könnten fortgehen«, schlug sie schließlich vor.

»Wohin?«

»Irgendwohin.« Dann erzählte sie mir, sie habe immer gewußt, daß sie eines Tages fortgehen würde. Sie konnte es nicht ertragen, so eingeschlossen zu sein, wie man das auf der Insel war. »Es war etwas anderes, als unsere Eltern noch lebten«, sagte sie. »Da war hier unser Zuhause. Eigentlich ist es das jetzt nicht mehr. Was sollen wir hier überhaupt anfangen?«

Unser Problem wurde bald durch einen Brief an Francine gelöst.

»Miss Ewell«, stand auf dem Umschlag. »Das bin ich«, erklärte Francine. »Du bist Miss Philippa Ewell.«

Als sie ihn öffnete, sah ich die Aufregung in ihren Augen. »Er ist von einem Anwalt«, sagte sie. »Er vertritt Sir Matthew Ewell. Das ist unser Großvater. Angesichts der unglücklichen Umstände wünscht Sir Matthew, daß wir uns unverzüglich nach England begeben. Unser rechtmäßiges Heim sei Greystone Manor.«

Ich starrte sie entgeistert an, doch ihre Augen leuchteten. »O Pippa«, sagte sie, »wir gehen ins Gefängnis.«

Die Vorbereitungen für die Abreise brachten viel Aufregung, und das war gut, denn sie hielt uns davon ab, über unseren Verlust nachzugrübeln, dessen Größe uns noch gar nicht bewußt war. Wir packten alles zusammen, dann übergaben wir das Atelier samt Zubehör Antonio, der es traurig von uns übernahm.

»Aber so ist es das Beste für euch«, meinte er. »Ihr werdet wie große Damen leben. Wir haben immer gewußt, daß Signor Ewell ein vornehmer Herr ist.«

Ein Mann von dem Anwaltsbüro kam, um uns in unser neues Heim zu bringen. Er trug einen schwarzen Gehrock und einen glänzenden Zylinder. Er wirkte auf der Insel völlig fehl am Platz und wurde mit großem Respekt betrachtet. Anfangs war er uns gegenüber ein wenig scheu, doch Francine nahm ihm bald seine Befangenheit. Seit dem Tod unseres Vaters trat sie sehr würdevoll auf: ganz und gar die Miss Ewell, die von höherem Rang war als Miss Philippa Ewell. Der Name des Herrn war Mr. Counsell, und es war ihm deutlich anzumerken, daß er der Meinung war, für einen Mann in seiner Position sei es eine höchst unpassende Aufgabe, zwei Mädchen nach England zu begleiten.

Wir sagten unseren Freunden Lebewohl und versprachen zurückzukommen. Ich war im Begriff, sie alle nach England einzuladen, doch Francine warf mir einen warnenden Blick zu. »Stell sie dir in dem Gefängnis vor«, sagte sie.

»Sie würden ja doch nicht kommen«, meinte ich.

»Wer weiß«, gab sie zurück.

Es wurde eine lange Reise. Wir waren zwar schon mehrmals auf dem Festland gewesen, aber ich fuhr nun zum ersten Mal mit dem Zug. Ich fand es ungemein spannend und schämte mich ein wenig, weil ich die Fahrt genoß. Ich war sicher, daß Francine ebenso empfand. Die Leute sahen Francine an, und mir wurde klar, daß man sie immer so anblicken würde. Sogar Mr. Counsell war von ihrem Liebreiz ein wenig gefesselt und behandelte sie eher wie eine schöne junge Dame denn ein Kind. Sie stand, nehme ich an, genau dazwischen. In mancher Hinsicht war sie eine gänzlich unschuldige Sechzehnjährige, in anderer Hinsicht war sie schon recht reif. Sie hatte unseren Haushalt geführt, mit den Kunden verhandelt und die Rolle als unser aller Wächter übernommen. Andererseits war das Leben auf der Insel recht einfach gewesen, und ich glaube, daß Francine anfangs dazu neigte, jedermann an den Menschen zu messen, die sie bis dahin in ihrem Leben gekannt hatte.

Wir überquerten den Kanal, und zu Mr. Counsells Bestürzung verpaßten wir in Dover den Zug, der uns nach Preston Carstairs, der zu Greystone Manor gehörenden Bahnstation, bringen sollte. Wir erhielten die Auskunft, daß wir etliche Stunden auf den nächsten Zug warten müßten. Mr. Counsell führte uns in ein Gasthaus nahe den Docks, wo wir ein delikates, aber uns exotisch anmutendes Mahl aus Roastbeef und Pellkartoffeln einnahmen. Während wir aßen, kam die Frau des Wirtes, um mit uns zu plaudern. Als sie hörte, daß wir so lange warten mußten, meinte sie: »Warum schauen Sie sich unterdessen nicht ein wenig in der Gegend um? Sie können eine kleine Spritztour in unserem Einspänner machen. Unser Jim hat schon ein Stündchen Zeit.«

Mr. Counsell schien das für eine gute Idee zu halten, und so kam es, daß wir die Kirche von Birley besichtigten. Francine hatte einen Schrei des Entzückens ausgestoßen, als wir daran vorüberfuhren. Die Kirche wirkte sehr interessant. Sie war normannisch, aus grauem Stein, und Francine fand es aufregend, sich vorzustellen, wie viele Jahre sie schon dort stand. Mr. Counsell meinte, es spreche nichts dagegen, die Kirche zu besichtigen. Er verstand ziemlich viel von Architektur und genoß es, Kenntnisse weiterzugeben, auf die er sichtlich stolz war. Während er auf die interessanten Besonderheiten hinwies, standen Francine und ich da und staunten. Es kümmerte uns nicht, daß die Säulen und Halbrundbögen die hohen Mauern des Lichtgadens stützten; uns hatten es der eigentümliche Geruch von Feuchte und Möbelpolitur angetan und die Glasfenster in den herrlichen Farben, die überall blaue und rote Schatten warfen; wir studierten die Liste der Pfarrer, die hier seit dem zwölften Jahrhundert amtiert hatten.

»Wenn ich einmal heirate, möchte ich in dieser Kirche getraut werden«, sagte Francine.

Wir setzten uns in die Bankreihen. Wir knieten auf den Gebetsmatten. Wir standen ehrfürchtig vor dem Altar.

»Wie schön«, sagte Francine.

Mr. Counsell gemahnte uns an die verrinnende Zeit, und wir begaben uns wieder zum Gasthaus und von da zum Bahnhof, von wo uns der Zug nach Preston Carstairs brachte.

Als wir dort ankamen, stand eine Kutsche bereit. Sie trug ein kunstvolles Wappen. Francine stupste mich an. »Das Wappen der Ewells«, murmelte sie. »Unser Wappen.«

Erleichterung spiegelte sich in Mr. Counsells reizlosen Zügen. Er hatte seine Schützlinge wohlbehalten hergebracht.

Es war Francine anzusehen, daß sie aufgeregt war, aber ebenso wie bei mir machte sich nun auch in ihrem Verhalten Beklommenheit breit. Man hatte sich leicht über das Gefängnis lustig machen können, solange es meilenweit entfernt war; etwas ganz anderes aber war es, wenn man innerhalb der nächsten Stunde darin eingekerkert werden sollte.

Ein finster dreinblickender Kutscher erwartete uns. »Mister Counsell, Sir«, sagte er, »sind das die jungen Damen?«

»Ja«, erwiderte Mr. Counsell.

»Die Kutsche steht bereit, Sir.«

Er musterte uns, und wie zu erwarten war, blieben seine Augen auf Francine haften. Sie trug einen schlichten grauen Umhang, der unserer Mutter gehört hatte, und auf dem Kopf hatte sie einen Strohhut mit einer Margerite in der Mitte und Bändern unter dem Kinn. Es war ein bescheidenes Habit, aber Francine sah auch darin bezaubernd aus. Die Augen des Kutschers streiften mich kurz, und schon sah er wieder Francine an.

»Sie sollten jetzt aber einsteigen, meine jungen Damen«, sagte er.

Die Pferdehufe klapperten auf der Straße, als wir losfuhren, vorbei an grünen Hecken, über belaubte Pfade, bis wir an ein schmiedeeisernes Portal kamen. Dessen Flügel wurden augenblicklich von einem Jungen geöffnet, der angesichts der Kutsche kurz einen Finger grüßend an die Stirn legte, und dann rumpelten wir eine Auffahrt entlang. Die Kutsche hielt vor einer Rasenfläche, und wir stiegen aus.

Wir blieben beisammen stehen, meine Schwester und ich, Hand in Hand, und ich merkte, daß sogar Francine tief beeindruckt war. Da stand es, das Haus, das unser Vater so erbost als sein Gefängnis bezeichnet hatte. Es war riesengroß und aus grauem Stein, wie der Name schon andeutete, und an jeder Ecke erhob sich ein zinnenbewehrter Turm. Ich bemerkte die Zinnen und den hoch aufragenden Bogengang, durch welchen ich in einen Innenhof blicken konnte. Es war ein erhabener, ehrfurchtgebietender Anblick, und ich fühlte mich ganz beklommen.

Francine drückte meine Hand und hielt sie fest umklammert, als ob sie aus der Berührung Mut schöpfte, und zusammen schritten wir über den Rasen auf ein großes Tor zu, das sich soeben geöffnet hatte. Im Eingang stand eine Frau mit gestärkter Haube. Die Kutsche war unter dem Bogen hindurch in den Innenhof gefahren, und die Frau beobachtete uns von der Schwelle aus.

»Der Herr wünscht Sie gleich zu empfangen, wenn Sie eingetroffen sind, Mister Counsell«, sagte sie.

»Kommt.« Mr. Counsell lächelte uns aufmunternd an, und wir gingen auf das Tor zu.

Den Eintritt in das Haus werde ich nie vergessen. Ich zitterte vor Aufregung, die eine Mischung aus Verzagtheit und Neugier war. Das Haus der Vorfahren! dachte ich. Und dann: das Gefängnis.

Die dicken Steinmauern, die Kälte, als wir eintraten, die Erhabenheit der großen Halle mit der gewölbten Decke, der steinerne Fußboden und die Wände mit den funkelnden Waffen, die vermutlich von lange verblichenen Ewells benutzt worden waren: das alles fesselte mich und flößte mir gleichzeitig Furcht ein. Unsere Schritte hallten laut, und ich bemühte mich, leise aufzutreten. Ich sah, daß Francine den Kopf erhoben hatte und jenen kühnen Blick annahm, der besagte, daß ihr ein wenig banger zumute war, als sie sich anmerken ließ.

»Der Herr hat befohlen, daß Sie unverzüglich zu ihm kommen«, wiederholte die Frau. Sie war ziemlich rundlich, mit ergrauenden, straff aus der Stirn gekämmten Haaren, die von ihrer weißen Haube keineswegs verdeckt wurden. Ihre Augen waren klein, die Lippen fest zusammengepreßt wie eine Falle. Sie schien zu dem Haus zu passen.

»Wenn Sie bitte hier entlang kommen möchten, Sir«, sagte sie zu Mr. Counsell.

Sie drehte sich um, und wir folgten ihr zu dem großen Treppenhaus und stiegen hinauf. Francine hielt noch immer meine Hand. Wir gingen eine Galerie entlang und blieben vor einer Tür stehen. Die Frau klopfte an, und eine Stimme sagte: »Herein.«

Wir traten ein. Die Szene hat sich meinem Gedächtnis auf ewig eingeprägt. Ich nahm schemenhaft ein düsteres Zimmer mit schweren Vorhängen und wuchtigen, dunklen Möbeln wahr, aber beherrscht wurde der Raum von unserem Großvater. Er saß in einem Sessel wie auf einem Thron und sah aus wie ein biblischer Prophet. Offensichtlich war er ein großer Mann. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und ich war sogleich beeindruckt von dem langen, üppigen Bart, der ihm über die Brust wallte und die untere Hälfte seines Gesichtes verdeckte. Neben ihm saß eine bläßliche Frau mittleren Alters. Ich nahm an, das müsse unsere Tante Grace sein. Sie wirkte klein, kraftlos und unscheinbar, aber vielleicht machte das nur der Gegensatz zu der imposanten Hauptfigur.

»Sie haben also meine Enkelinnen hergebracht, Mister Counsell«, sagte mein Großvater. »Kommt her!«

Francine trat vor und zog mich mit.

»Hm«, machte mein Großvater, indem seine Augen uns eindringlich begutachteten. Mir war, als versuchte er, einen Makel an uns zu finden. Ich wunderte mich, weil er von Francines Liebreiz unbeeindruckt schien.

Ich hatte mir vorgestellt, er würde uns küssen oder uns wenigstens die Hand geben. Doch er sah uns nur an, als hätten wir etwas ausgesprochen Abstoßendes an uns.

»Ich bin euer Großvater«, erklärte er, »und dies ist von nun an euer Heim. Ich hoffe, ihr werdet euch seiner würdig erweisen. Ich bezweifle nicht, daß ihr eine Menge lernen müßt. Ihr lebt jetzt in einem zivilisierten Land. Ihr werdet gut daran tun, das zu bedenken.«

»Wir haben immer in einem zivilisierten Land gelebt«, sagte Francine.

Stille trat ein. Ich sah die Frau, die neben meinem Großvater saß, zusammenzucken.

»Dem möchte ich widersprechen«, sagte er.

»Da irren Sie sich aber«, fuhr Francine fort. Ich sah, daß sie sehr nervös war, aber sie spürte in seinen Bemerkungen eine Verunglimpfung unseres Vaters, und sie war nicht gewillt, das hinzunehmen. Sie hatte unwillkürlich gegen das höchste Gebot des Hauses verstoßen, welches lautete, daß unser Großvater sich niemals irrte, und er war dermaßen verblüfft, daß es ihm für einen Augenblick die Sprache verschlug.

Dann sagte er kalt: »Ihr habt wahrhaftig eine Menge zu lernen. Ich war darauf gefaßt, daß wir es mit unbotmäßigen Manieren zu tun bekämen. Nun denn, wir sind gerüstet. Als erstes werden wir nun unserem Schöpfer Dank sagen, daß ihr eure Reise wohlbehalten überstanden habt. Wir wollen auch der Hoffnung Ausdruck geben, daß denen, die der Demut und Dankbarkeit bedürfen, diese Tugenden zuteil werden, und daß sie dem Pfad der Rechtschaffenheit folgen, welcher in diesem Hause der einzig gangbare ist.«

Wir waren fassungslos. Francine brannte vor Entrüstung, und ich wurde mit jedem Augenblick verzweifelter und ängstlicher.

Da waren wir nun; müde, hungrig, bestürzt und über die Maßen verängstigt, knieten wir in diesem finsteren Raum auf dem kalten Fußboden und dankten Gott, daß er uns in dieses Gefängnis gebracht hatte, und flehten um die Demut und Dankbarkeit, die unser Großvater von uns für das elende Heim, das er uns bot, erwartete.

Tante Grace brachte uns zu unserem Zimmer. Arme Tante Grace! Wenn wir von ihr sprachen, hieß es stets arme Tante Grace. Sie wirkte, als sei ihr Leben versickert; sie war ungemein mager, und das Braun ihres Baumwollkleides betonte noch die Blässe ihres Teints. Ihr Haar, das einstmals schön gewesen sein mochte, war straff aus der Stirn gekämmt und im Nacken unbeholfen zu einem Knoten geflochten. Dennoch waren ihre Augen freundlich, braune Augen mit vollen dunklen Wimpern – abgesehen von der Farbe waren sie denen Francines ähnlich –, doch während sie bei meiner Schwester funkelten, blickten die ihren dumpf und hoffnungslos. Hoffnungslos! Das war der Ausdruck, den man sogleich mit Tante Grace verband.

Wir folgten ihr eine weitere Treppe hinauf, und sie ging wortlos voran. Francine schnitt mir eine ziemlich hilflose Grimasse. Ich erriet, daß es Francine schwer werden würde, ein solches Hauswesen mit ihrem Charme zu erobern.

Tante Grace öffnete die Tür zu einem Zimmer und trat beiseite, um uns hineinzulassen. Der Raum war recht freundlich, doch die dunklen Vorhänge, welche die Fenster halbwegs verdeckten, ließen ihn düster erscheinen.

»Das ist euer gemeinsames Zimmer«, sagte Tante Grace. »Euer Großvater hält es nicht für angebracht, zwei Räume zu benutzen.«

Ich verspürte eine plötzliche Woge der Freude. Es hätte mir nicht behagt, in diesem unheimlichen Haus allein zu schlafen. Francine hatte einmal gesagt, nichts sei gänzlich schlecht – oder gänzlich gut, je nachdem. Jedes müsse ein wenig vom anderen enthalten, und sei es noch so geringfügig. Das war gerade jetzt ein tröstlicher Gedanke.

In dem Zimmer waren zwei Betten. »Ihr könnt euch aussuchen, wer welches nimmt«, sagte Tante Grace, als ob sie uns, wie Francine hinterher bemerkte, die Königreiche der Welt anbiete.

»Danke, Tante Grace«, sagte Francine.

»Jetzt wollt ihr euch nach der Reise gewiß waschen und umkleiden. Wir essen in einer Stunde. Euer Großvater duldet keine Unpünktlichkeit.«

»Das kann ich mir denken«, erwiderte Francine, und ihre Stimme hatte einen hysterischen Unterton. »Es ist so finster hier«, fuhr sie fort. »Ich kann gar nichts sehen.« Sie trat an die Fenster und zog die Vorhänge zurück. »So! Das ist besser. Oh, was für eine herrliche Aussicht!«

Ich ging auch ans Fenster, und Tante Grace stellte sich unmittelbar hinter uns.

»Der Wald da unten ist der Rantown Forest«, erklärte sie.

»Sieht interessant aus. Alle Wälder haben etwas Interessantes. Wie weit ist es von hier zur See, Tante Grace?«

»Ungefähr zehn Meilen.«

Francine hatte sich zu ihr umgewandt. »Ich liebe die See. Wo wir gelebt haben, waren wir stets vom Meer umgeben. Da muß man es einfach lieben.«

»Ja«, meinte Tante Grace. »So wird es wohl sein. Jetzt lasse ich euch heißes Wasser heraufbringen.«

»Tante Grace«, fuhr Francine fort, »Sie sind die Schwester unseres Vaters, und doch erwähnen Sie ihn nicht. Möchten Sie nicht etwas von Ihrem Bruder hören?«

In dem Licht, das Francine hereingelassen hatte, konnte ich ihr Gesicht deutlich sehen. Es zuckte, und sie sah aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen. »Euer Großvater hat verboten, ihn zu erwähnen«, sagte sie.

»Ihren eigenen Bruder ...«

»Er hat sich – unverzeihlich benommen. Euer Großvater ...«

»Er macht hier die Gesetze, wie ich sehe«, sagte Francine.

»Ich – ich verstehe dich nicht.« Tante Grace bemühte sich, streng dreinzublicken. »Du bist jung«, fuhr sie fort, »und mußt noch viel lernen, und ich will dir einen Rat geben. Nie, nie wieder darfst du mit deinem Großvater sprechen, wie du es heute getan hast. Du darfst nie sagen, daß er sich irrt. Er hat –«

»Immer recht«, ergänzte Francine. »Er ist allmächtig, allwissend – wie Gott, selbstverständlich.«

Tante Grace streckte hastig die Hand aus und berührte leicht Francines Arm. »Du wirst auf der Hut sein müssen«, sagte sie beinahe flehend.

»Tante Grace«, mischte ich mich ein – denn ich glaubte etwas bemerkt zu haben, was Francine in ihrer Empörung vielleicht entgangen war –, und in diesem Moment wurde meine Tante für mich die arme Tante Grace, »sind Sie froh, daß wir gekommen sind?«

Ihr Gesicht zuckte abermals, und ihr Blick verdüsterte sich. Sie nickte und sagte: »Ich schicke das heiße Wasser.«

Dann war sie verschwunden.

Wir sahen einander an. »Ich hasse ihn«, sagte Francine. »Und unsere Tante ... was ist sie schon? Eine Marionette.«

Seltsamerweise war ich es nun, die Francine zu trösten vermochte. Weil sie älter war als ich, konnte sie vielleicht deutlicher voraussehen, wie unser Leben hier verlaufen würde. Vielleicht klammerte ich mich an einen Strohhalm, um Trost zu finden. »Wenigstens sind wir zusammen«, meinte ich.

Sie nickte und blickte sich im Zimmer um.

»Es schaut besser aus, seit du Licht hereingelassen hast«, fand ich.

»Wir wollen uns geloben, diese gräßlichen Vorhänge nie mehr zuzuziehen. Ich nehme an, er hat sie anbringen lassen, um die Sonne auszusperren. Bestimmt haßt er die Sonne, was meinst du? Ach Pippa, sie sind alle so leblos. Die Frau, die uns aufgemacht hat, der Kutscher ... Es ist, als ob man sterben würde. Vielleicht sind wir sogar schon tot. Vielleicht hatten wir einen Unfall mit dem Zug, und das hier ist der Hades, wo wir warten müssen, bis entschieden ist, ob wir in den Himmel oder in die Hölle kommen.«

Ich lachte. Das tat gut, und Francine stimmte bald ein.

»Marionetten«, sagte sie. »Sie sind zwar wie Marionetten, doch wie du weißt, kann man Marionetten tanzen lassen.«

»Aber sieh doch nur, wer hier der Puppenspieler ist!«

»Wir sind nicht seine Marionetten, Francine.«

»Niemals!« rief sie aus. »Niemals!«

»Ich glaube, Tante Grace ist eigentlich ganz nett.«

»Tante Grace! Ein Nichts ist sie. ›Nie wieder darfst du mit deinem Großvater sprechen, wie du es heute getan hast‹«, äffte sie. »Und ich tu’s doch, wenn ich will!«

»Er könnte uns fortjagen. Wohin sollten wir dann gehen?«

Das war ein ernüchternder Gedanke, und Francine wußte nichts darauf zu erwidern.

Ich legte meine Hand in die ihre und meinte: »Wir müssen abwarten, Francine. Wir müssen abwarten ... und einen Plan machen.«

Pläne fand Francine stets aufregend. Langsam sagte sie: »Du hast recht, Pippa. Ja, du hast recht. Wir müssen den rechten Augenblick abwarten ... und einen Plan machen.«

Wir lagen in unseren Betten und sprachen lange Zeit kein Wort. Ich durchlebte im stillen noch einmal den seltsamen Abend und wußte, daß Francine das gleiche tat.

Wir hatten uns gewaschen und die bunten Baumwollkleider angezogen, die wir auf der Insel immer getragen hatten. Daß sie hier unpassend sein könnten, kam uns nicht in den Sinn, bis wir dem Großvater und der Tante gegenübertraten. Der entsetzte Blick der armen Tante Grace warnte mich. Ich sah die kalten Augen des Großvaters auf uns ruhen und betete, daß er nichts sagen möge, was Francine zornig machen würde. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn wir fortgejagt würden, und war ich auch keineswegs von Greystone Manor und meiner Verwandtschaft begeistert, so war mir doch klar, daß es ein schlimmeres Schicksal geben konnte als jenes, das uns hier bevorstand.

Wir wurden ins Speisezimmer geführt. Es war sehr geräumig und hätte hell und farbenfroh sein können. Doch die Gegenwart unseres Großvaters genügte, um einen Raum zu verfinstern. Eine einzige Kerze beleuchtete den langen, kunstvoll geschnitzten Tisch, und ich fragte mich, was mein Vater empfunden haben mochte, als er an dieser Tafel saß. Wegen ihrer Ausmaße waren die Abstände zwischen uns sehr groß. Der Großvater saß an dem einen Ende, Tante Grace am anderen, Francine und ich saßen uns gegenüber.

Wir machten gleich im ersten Moment einen Fehler, indem wir uns hinsetzten, während es in Greystone Manor Sitte war, stehenzubleiben und zu beten.

»Wollt ihr nicht eurem Schöpfer danken, daß ihr zu essen habt?« verlangte unser Großvater mit donnernder Stimme zu wissen.

Francine wies darauf hin, daß wir ja noch gar nichts bekommen hatten.

»Wilde«, murmelte mein Großvater. »Aufgestanden, wird’s bald.«

Francine sah mich an, und ich dachte schon, sie würde sich widersetzen, aber sie gehorchte. Die Danksagung war endlos. Unser Großvater bat Gott für unsere Undankbarkeit um Vergebung und gelobte, es werde nicht wieder vorkommen. Er dankte ihm in unserem Namen, und fuhr mit eintöniger Stimme fort und fort, bis ich schrecklich hungrig wurde, denn wir hatten seit einer ganzen Weile nichts gegessen.

Endlich war es vorüber, und wir setzten uns. Der Großvater redete die ganze Zeit über kirchliche Dinge, über die Leute auf dem Gut und die Veränderungen, die unser Kommen für den Haushalt mit sich brachte, so daß wir das Gefühl bekommen mußten, sehr lästig zu sein. Tante Grace murmelte in den geeigneten Momenten ja oder nein und bewahrte während des ganzen Monologs eine Miene gespannter Aufmerksamkeit.

»Es sieht ganz so aus, als hättet ihr überhaupt keine Erziehung gehabt. Wir müssen unverzüglich eine Gouvernante finden. Grace, das wird deine Aufgabe sein.«

»Ja, Vater.«

»Ich kann nicht dulden, daß man meinen Enkelinnen nachsagt, sie seien ungebildet.«

»Wir hatten auf der Insel einen Hauslehrer«, sagte Francine. »Er war sehr gut. Wir sprechen beide fließend Italienisch, ein wenig Französisch und ziemlich gut Deutsch.«

»Wir sprechen hier Englisch«, unterbrach sie der Großvater. »Und ihr müßt auf jeden Fall lernen, wie man sich benimmt.«

»Unsere Eltern haben uns erzogen.«

Tante Grace machte ein so erschrockenes Gesicht, daß ich Francine einen flehenden Blick zuwarf. Sie verstand und hielt inne.

»Grace«, fuhr unser Großvater fort, »du wirst dich deiner Nichten annehmen, bis die Gouvernante eintrifft. Mach ihnen klar, daß in einer höflichen Gesellschaft wie der unseren Kinder nur reden, wenn sie gefragt sind. Man soll sie sehen, aber nicht hören.«

Sogar Francine schien gezähmt; hinterher sagte sie allerdings, sie sei zu hungrig gewesen, um sich mit diesem fürchterlichen Alten anzulegen, und sie habe nur noch ans Essen gedacht. Überdies kam ihr der Gedanke, daß er der Ansicht sein könnte, Kinder müßten ohne Abendbrot ins Bett, wenn sie ungezogen waren, daher sah sie sich vor ... bloß für den Anfang.

»Bloß für den Anfang!« Das wurde in jener ersten Zeit unsere Parole. Wir wollten durchhalten, bis wir herausgefunden hatten, wie wir entkommen konnten. »Aber zuerst«, sagte Francine, »müssen wir die Lage erkunden.«

So lagen wir also an jenem ersten Abend eine Weile schweigend, dann gingen wir die Ereignisse des Tages durch und riefen uns jede Einzelheit der Begegnung mit unserem Großvater zurück.

»Er ist der schrecklichste alte Mann, dem ich je begegnet bin«, sagte Francine. »Ich habe ihn vom ersten Moment an gehaßt. Es wundert mich nicht, daß Vater sagte, es sei wie im Gefängnis, und er daraus entflohen ist. Zu gegebener Zeit werden wir auch fliehen, Pippa.«

Dann sprach sie von dem Haus. »Was für ein Ort, um Entdeckungen zu machen! Und denk nur, unsere Vorfahren haben seit Jahrhunderten hier gelebt. Darauf kann man stolz sein, Pippa. Wir werden einen Weg finden, dem Alten zu zeigen, daß wir ihn nicht für Gott halten, und wenn er es wäre, dann würde ich zur Atheistin. Er hat nicht das geringste Interesse an uns. Er tut lediglich seine Pflicht. Wenn ich etwas noch mehr hassen könnte als den Alten, dann ist es das Gefühl, für jemand so etwas wie eine Aufgabe zu sein.«

»Nun«, meinte ich, »hier hast du die beiden dir am meisten verhaßten Dinge unter einem Dach.«

Darüber mußten wir lachen. Wie dankbar war ich damals, daß ich Francine hatte ... mehr als je zuvor. Ich schlief mit dem Gedanken ein, daß alles nicht so schlimm sei, solange wir zusammen waren.

Am nächsten Tag entdeckten wir einiges. Ein Hausmädchen brachte heißes Wasser. Als sie kam, schliefen wir noch, weil wir so lange wachgelegen und geredet hatten. Das wurde unsere erste Begegnung mit Daisy.

Sie stand lachend zwischen unseren Betten. Wir richteten uns im gleichen Augenblick erschrocken auf. Die Erinnerung daran, wo wir waren, wurde wieder lebendig, und am stärksten beeindruckte uns, daß wir jemanden sahen, der tatsächlich lachte.

»Sie sind mir ja ’n paar feine Schlafmützen«, sagte sie.

»Wer bist du?« fragte Francine.

»Ich bin Daisy«, erwiderte sie, »das zweite Hausmädchen. Man hat mich mit Ihrem Waschwasser raufgeschickt.«