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Victoria Holt

Unter dem Herbstmond

Roman


Ins Deutsche übertragen von Margarete Längsfeld

Edel eBooks

Wenn ein Mädchen
sich zur Zeit des Herbstmondes
unter die große Eiche
am Pilcherberg setzt,
kann sie den Mann sehen,
den sie einmal heiraten wird.

Sage vom Pilcherberg

Die Erscheinung im Wald

Ich war neunzehn, als ich das Erlebnis mit »der Erscheinung im Wald« hatte. Rückblickend mutet es fast mystisch an, wie etwas, das in einem Traum geschah. Tatsächlich war mir oftmals, als hätte sich alles nur in meiner Phantasie abgespielt, obwohl ich schon immer nüchtern veranlagt und keineswegs verträumt war; allerdings war ich recht unerfahren, ich ging damals noch zur Schule und war gerade dabei, meine Kinderschuhe abzustreifen.

Es geschah Ende Oktober an einem Nachmittag in einem Wald in der Schweiz, nicht weit von der deutschen Grenze, im letzten Jahr meines Aufenthalts in einer der vornehmsten Schulen Europas. Tante Patty hatte darauf bestanden, daß ich dort »den letzten Schliff« erhielt.

»Zwei Jahre dürften genügen«, sagte sie. »Es kommt nicht so sehr darauf an, was du dort lernst, sondern was man dir nach Meinung der Leute dort beigebracht hat. Wenn die Eltern hören, daß eine von uns in Schaffenbrucken ausgebildet wurde, werden sie ihre Töchter unbedingt auf unsere Schule schicken wollen.«

Tante Patty war Vorsteherin einer Mädchenschule, und nach Beendigung meiner Ausbildung sollte ich ihr dort zur Hand gehen. Für diese Aufgabe mußte ich die besten Voraussetzungen mitbringen, und durch den »letzten Schliff« sollte ich zum unwiderstehlichen Köder für Eltern werden, die den Wunsch hegten, daß etwas vom Glanz Schaffenbruckens auf ihre Töchter abfärbte.

»Snobismus«, murrte Tante Patty, »schierer Snobismus. Aber was sollen wir anderes machen, wenn nur dadurch Patience Grants exklusivem Institut für junge Damen zu einem ansehnlichen Profit verholfen wird?«

Tante Patty war wie eine Tonne anzuschauen; sie war klein und ausgesprochen mollig. »Ich ess’ nun mal gern«, pflegte sie zu sagen, »warum soll ich’s mir da nicht schmecken lassen? Ich halte es für die Pflicht und Schuldigkeit eines jeden Erdenbürgers, die guten Dinge zu genießen, die uns der Herr beschert hat, und Roastbeef und Schokoladenpudding wurden erfunden, um gegessen zu werden.«

Die Verpflegung in Patience Grants Institut für junge Damen war vorzüglich – sie unterschied sich deutlich von der Kost, die in vielen ähnlichen Etablissements aufgetischt wurde. Tante Patty war nicht verheiratet, »aus dem einfachen Grund«, wie sie sagte, »weil niemand um mich angehalten hat. Ob ich ja gesagt hätte, das steht auf einem anderen Blatt, aber da sich mir das Problem nie gestellt hat, braucht weder meine Wenigkeit noch sonst wer sich darüber den Kopf zu zerbrechen.«

Sie ließ sich ausführlich über das Thema aus. »Ich war die geborene Sitzenbleiberin«, erzählte sie, »das ewige Mauerblümchen. Denk nur, damals, bevor ich durch mein Übergewicht so unbeweglich war, konnte ich auf Bäume klettern, und wenn ein Junge es wagte, mich an den Zöpfen zu ziehen, dann mußte er schleunigst verschwinden, wenn er einen Kampf vermeiden wollte, aus dem ich, meine liebe Cordelia, unweigerlich als Siegerin hervorgegangen wäre.«

Das glaubte ich gern, und oft dachte ich, wie dumm die Männer doch seien, da keiner von ihnen genügend Verstand besaß, um Tante Pattys Hand anzuhalten. Sie wäre eine vorbildliche Ehefrau geworden; so aber war sie mir eine vorbildliche Mutter. Meine Eltern hatten sich der Missionarsarbeit in Afrika gewidmet. Man bezeichnete sie als Heilige, aber wie viele Heilige waren sie so sehr damit beschäftigt, die Welt im großen zu bekehren, daß sie sich kaum um die Probleme ihrer kleinen Tochter kümmerten. Ich kann mich nur undeutlich erinnern – ich war erst sieben Jahre alt, als ich heim nach England geschickt wurde –, wie sie mich manchmal mit vor Eifer und Hingabe glühenden Gesichtern betrachteten, als seien sie nicht ganz sicher, wer ich war. Später habe ich mich gefragt, wie sie in ihrem Leben voll guter Werke überhaupt die Zeit und die Lust gefunden hatten, mich zu zeugen.

Jedenfalls – und wohl zu ihrer ungeheuren Erleichterung – stand fest, daß ein Leben im afrikanischen Dschungel nicht das Rechte sei für ein Kind. Ich sollte nach Hause geschickt werden, und wohin konnte man mich schicken außer zu Patience, der Schwester meines Vaters?

Jemand von der Mission, der vorübergehend nach Hause fuhr, nahm mich mit. An die lange Reise kann ich mich nur verschwommen erinnern, aber die rundliche Gestalt von Tante Patty, die mich erwartete, als ich von Bord ging, wird mir unvergeßlich bleiben. Als allererstes fiel mir ihr Hut auf, ein Prachtstück mit einem Vogel obenauf. Tante Patty hatte eine Schwäche für Hüte, die derjenigen fürs Essen beinahe gleichkam. Oftmals behielt sie sie sogar im Haus auf. Da stand sie also – die Augen durch eine Brille vergrößert; ihr Vollmondgesicht glänzte von Wasser und Seife und joi de vivre unter dem prachtvollen Hut mit dem wippenden Vogel, als sie mich an ihren gewaltigen, nach Lavendel duftenden Busen drückte.

»Da bist du also«, lächelte sie. »Alans Tochter ... heimgekehrt.«

Und in diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, tatsächlich heimgekehrt zu sein.

Ungefähr zwei Jahre später starb mein Vater an der Ruhr, und wenige Wochen darauf erlag meine Mutter derselben Krankheit.

Tante Patty zeigte mir die Artikel in den frommen Blättern. »Sie opferten ihr Leben im Dienste Gottes«, hieß es da.

Ich fürchte, ich trauerte nicht sehr. Ich hatte meine Eltern fast vergessen und erinnerte mich höchst selten an sie. Das Leben in Grantley Manor, der alten elisabethanischen Villa, die Tante Patty zwei Jahre vor meiner Geburt von ihrem väterlichen Erbe gekauft hatte, nahm mich gänzlich gefangen.

Wir führten ausführliche Gespräche, Tante Patty und ich. Sie nahm kein Blatt vor den Mund. Später machte ich die Erfahrung, daß die meisten Menschen Geheimnisse haben. Nicht so Tante Patty. Sie ließ ihren Worten freien Lauf.

»Als ich noch zur Schule ging«, berichtete sie, »machte mir das Leben großen Spaß, aber ich hatte nie genug zu essen. Sie haben die Suppe verwässert. Montags nannten sie es Brühe. Die war nicht schlecht. Dienstags war sie ein bißchen dünner, und am Mittwoch war sie so schwach, daß ich mich fragte, wie lange das so weitergehen könnte, bis es sich nur noch um reines H2O handelte. Das Brot war stets altbacken. Ich glaube, durch die Schule bin ich zur Feinschmeckerin geworden; denn ich schwor mir, wenn ich sie hinter mir hätte, würde ich schlemmen und schlemmen. Wenn ich eine Schule leiten würde, sagte ich mir, sollte alles ganz anders sein. Und als ich dann zu Geld kam, fragte ich mich, warum nicht? ›Es ist ein Hasardspiel‹, meinte der alte Lucas. Das war der Anwalt. ›Na und?‹ sagte ich, ›ich mag Hasardspielen Und je mehr er dagegen war, um so mehr war ich dafür. So bin ich eben. Wenn mir einer erklärt, ›Nein, das geht nicht‹, sage ich, so wahr ich hier sitze, ›Doch, das geht.‹ Ich fand die Villa ... sie war gar nicht so teuer, auch wenn einiges renoviert werden mußte. Genau das Richtige für eine Schule. Ich taufte sie Grantley Manor. Grant, wie mein Name. Da hat sich ein bißchen von dem dummen Snobismus eingeschlichen. Miss Grant auf Grantley. Da denkt man doch, die leben hier seit Jahrhunderten, findest du nicht? Da stellt man keine Fragen; man denkt es einfach. Das ist gut für die Mädchen. Ich wollte Grantleys Institut zum vornehmsten Internat des Landes machen, wie dieses Schaffenbrucken in der Schweiz.«

Das war das erste Mal, daß ich von Schaffenbrucken hörte. Sie erklärte es mir. »Alles ist da genau bedacht. Schaffenbrucken wählt seine Schülerinnen sorgfältig aus, und es ist nicht einfach, dort unterzukommen. ›Ich fürchte, wir haben keinen Platz für Ihre Amelia, Madame Smith. Versuchen Sie es im nächsten Schuljahr wieder. Wer weiß, vielleicht haben Sie Glück. Wir sind besetzt und haben eine Warteliste.‹ Eine Warteliste! Das ist eine magische Vokabel im Wortschatz einer Schulvorsteherin. Das hoffen wir alle zu erreichen ... daß die Leute darum kämpfen, ihre Töchter in unserer Schule unterzubringen, statt daß wir sie, wie es gewöhnlich der Fall ist, umwerben müssen.«

»Schaffenbrucken ist teuer«, gab sie ein andermal zu, »aber ich glaube, es ist jeden Pfennig wert. Man lernt Französisch und Deutsch bei Leuten, die es richtig aussprechen, weil es ihre Muttersprache ist; man bekommt Anstandsunterricht, kann tanzen lernen, und gehen übt man, indem man ein Buch auf dem Kopf balanciert. Ja, sagst du, das wird einem in tausend Schulen beigebracht. Gewiß, aber man sieht dich mit ganz anderen Augen an, wenn der Glanz von Schaffenbrucken dich verklärt.«

Ihre Rede war stets vom eigenen Gelächter unterbrochen.

»Du brauchst ein wenig Schaffenbruckener Flair, meine Liebe«, konstatierte sie. »Dann kommst du zurück, und wenn sich herumspricht, wo du gewesen bist, werden die Mütter ihre Töchter nur noch zu uns schicken. ›Was Benehmen betrifft, da ist Miss Cordelia Grant führend. Sie war in Schaffenbrucken, wissen Sie.‹ O ja, meine Liebe, wir werden ihnen einflüstern, daß wir eine Warteliste haben mit jungen Damen, die danach lechzen, von Miss Cordelia Grant, behaftet mit dem Glorienschein von Schaffenbrucken, in den gesellschaftlichen Feinheiten unterwiesen zu werden.«

Es war von vornherein ausgemacht, daß ich, wenn ich »fertig« wäre, an Tante Pattys Schule unterrichten würde.

»Eines Tages«, erklärte sie, »wird sie dir gehören, Cordelia.«

Ich wußte, sie meinte, wenn sie tot sei; doch – ich konnte mir eine Welt ohne sie nicht vorstellen. Mit ihrem glänzenden Gesicht, ihren Lachanfällen, ihren geistreichen Reden, ihrem maßlosen Appetit und ihren übertriebenen Hüten war sie der Mittelpunkt meines Lebens.

Als ich siebzehn war, behauptete sie, es sei nun Zeit für mich, nach Schaffenbrucken zu gehen.

Wieder wurde ich Reisenden anvertraut – diesmal waren es drei Damen, die in die Schweiz fuhren. In Basel sollte ich von einer von der Schule abgeholt werden, die mich den Rest des Weges begleiten würde. Die Fahrt war interessant, und ich erinnerte mich an die lange Heimreise von Afrika. Diesmal war alles ganz anders. Ich war älter; ich wußte, wo es hinging, und stand nicht unter der ängstlichen Spannung, die ein kleines Mädchen auf einer Reise ins Unbekannte befällt.

Die Damen, die mich durch Europa begleiteten, nahmen mich gewissenhaft unter ihre Fittiche und waren sichtlich erleichtert, als sie mich Fräulein Mainz übergaben, die in Schaffenbrucken Deutsch unterrichtete. Sie war eine ziemlich unscheinbare Person mittleren Alters. Sie freute sich, daß ich ein wenig Deutsch gelernt hatte. Meine Aussprache fand sie zwar grauenhaft, meinte aber, das würde sich bessern, und weigerte sich während der Fahrt, sich in einer anderen als ihrer Muttersprache zu unterhalten. Sie erging sich in Lobeshymnen auf Schaffenbrucken und hielt es für mein Glück, daß ich auserkoren sei, mich dieser erlauchten Gruppe junger Damen zuzugesellen. Es war das alte Schaffenbruckener Lied, und Fräulein Mainz dünkte mich die humorloseste Person, der ich je begegnet war. Ich verglich sie im stillen mit Tante Patty.

Schaffenbrucken selbst machte keinen großen Eindruck auf mich, die Umgebung dafür um so mehr. Das Internat lag ungefähr eine Meile von der Stadt entfernt und war von Wäldern und Bergen umgeben. Madame de Guérin, eine Französisch-Schweizerin von stiller Autorität, kann ich nur als ›eindrucksvolle Erscheinung‹ bezeichnen. Ich merkte, wie stark sie den Mythos von Schaffenbrucken beeinflußte. Mit uns Mädchen hatte sie nicht viel zu schaffen. Wir waren der Obhut der Lehrerinnen überlassen. Sie unterrichteten Tanz, Theaterspiel, Französisch, Deutsch sowie das sogenannte gesellschaftliche Comment. Wenn wir Schaffenbrucken verließen, sollten wir zum Eintritt in die höchsten gesellschaftlichen Kreise gerüstet sein.

Ich gewöhnte mich bald an das neue Leben. Die Mädchen fand ich interessant. Sie kamen aus ganz Europa, und ich freundete mich natürlich mit den Engländerinnen an. Je zwei Mädchen verschiedener Nationalität teilten sich ein Zimmer. In meinem ersten Jahr war ich mit einer Deutschen zusammen, im zweiten mit einer Französin. Das war sehr vorteilhaft, denn es half uns, unsere Sprachkenntnisse zu vervollkommnen.

Es herrschte keine sonderlich strenge Disziplin; schließlich waren wir keine Kinder mehr. Die Mädchen kamen meistens mit sechzehn oder siebzehn und blieben, bis sie neunzehn oder zwanzig Jahre waren. Wir waren nicht da, um eine Allgemeinbildung zu erhalten, sondern eine jede mußte, wie Madame de Guérin es ausdrückte, zu einer femme comme il faut geformt werden. Gut zu tanzen und anmutig Konversation zu machen, war wichtiger als Literatur oder Mathematik. Die meisten Mädchen würden geradewegs von Schaffenbrucken aus ihr Debüt in der Gesellschaft geben. Eine oder zwei waren, wie ich, zu etwas anderem bestimmt. Die meisten waren recht vergnügt und betrachteten ihren Aufenthalt in Schaffenbrucken als wesentlichen Bestandteil ihrer Erziehung – er war ohnehin von kurzer Dauer, und man tat gut daran, ihn zu genießen.

Beim Unterricht in den verschiedenen Fächern ging es zwar recht leger zu, dennoch behielt man uns im Auge. Sollte ein Mädchen in einen Skandal verwickelt werden, so würde sie sicher unverzüglich ihre Sachen packen müssen, denn es gab immer ehrgeizige Eltern, die ihre Tochter mit Freuden auf den freigewordenen Platz setzten.

Weihnachten und in den Sommerferien fuhr ich nach Hause, und Tante Patty und ich unterhielten uns amüsiert über Schaffenbrucken.

»Wir müssen es genauso machen«, meinte Tante Patty dann. »Ich sage dir, wenn du aus Schaffenbrucken zurückkommst, wird unser Mädchenpensionat das vornehmste im ganzen Land. Daisy Hetherington wird grün vor Neid werden.«

Das war das erstemal, daß ich den Namen Daisy Hetherington hörte. Beiläufig fragte ich, wer sie sei, und erfuhr, daß sie eine Schule in Devonshire leitete, die beinahe so gut war, wie Daisy selbst glaubte, und das sagte eine ganze Menge.

Später wünschte ich, ich hätte mich genauer erkundigt. Aber damals konnte ich natürlich nicht ahnen, daß es einmal wichtig sein könnte.

Mein letztes Halbjahr in Schaffenbrucken war gekommen. Es war Ende Oktober – das Wetter war herrlich für die Jahreszeit. Wir hatten viel Sonne in Schaffenbrucken, wodurch uns der Sommer sehr lang vorkam. Tagsüber war es heiß, doch sobald die Sonne verschwand, wurde einem die Jahreszeit bewußt. Dann drängten wir uns im Aufenthaltsraum um den Kamin und schwatzten.

Meine besten Freundinnen waren damals Monique Delorme, mit der ich das Zimmer teilte, ein englisches Mädchen namens Lydia Markham sowie ihre Zimmergenossin Frieda Schmidt. Wir vier waren stets zusammen, hatten uns unentwegt etwas zu erzählen und unternahmen gemeinsame Ausflüge in die Stadt. Manchmal gingen wir zu Fuß, und wenn der Kutschwagen in die Stadt fuhr, nahm er einige von uns mit. Wir gingen im Wald spazieren, was uns in Sechsergruppen – oder mindestens zu viert – gestattet war. Ein gewisses Maß an Freiheit wurde uns zugestanden, und wir fühlten uns nicht im mindesten eingeschränkt.

Lydia verglich den Aufenthalt in Schaffenbrucken mit dem Warten auf den Zug, der einen an den Ort brächte, wo man zu einem richtig erwachsenen Menschen würde. Ich verstand, wie sie das meinte. Dies hier war lediglich eine Haltestelle in unserem Leben – ein Meilenstein auf unserem Lebensweg. Wir erzählten von uns. Monique kam aus einem adligen Elternhaus und würde demnächst angemessen vermählt werden. Friedas Vater hatte sein Vermögen mit Keramikarbeiten gemacht und war ein vielseitiger Geschäftsmann; Lydia stammte aus einer Bankiersfamilie. Ich war ein wenig älter, und da ich Schaffenbrucken Weihnachten verlassen würde, kam ich mir überaus reif vor.

Elsa fiel uns sogleich auf, als sie ihre Stellung im Internat antrat. Sie war klein, hübsch und lebhaft, hatte blonde lockige Haare und schelmisch blickende blaue Augen. Sie war anders als die anderen Stubenmädchen und war kurzfristig eingestellt worden, weil ein Mädchen mit einem Mann aus der Stadt durchgebrannt war. Madame de Guérin wollte es bis zum Ende des Schuljahres mit Elsa versuchen.

Hätte Madame de Guérin Elsa wirklich gekannt, so hätte sie sie gewiß nicht bis zum Ende des Schuljahres behalten. Sie war in keiner Weise respektvoll und hatte nicht die geringste Ehrfurcht vor Schaffenbrucken oder seinen Insassen. Sie gab sich so kameradschaftlich, als sei sie eine von uns. Manche Mädchen fanden das abstoßend; unser Quartett dagegen amüsierte sich darüber. Vielleicht hielt sie sich deshalb so oft in unseren Zimmern auf.

Manchmal kam sie, wenn wir vier zusammen waren, und mischte sich in unsere Gespräche.

Sie hörte gern, wenn wir von zu Hause erzählten, und stellte eine Menge Fragen. »Oh, ich würde gern nach England gehen«, sagte sie dann. »Oder nach Frankreich ... oder Deutschland ...« Sie entlockte uns Schilderungen über unsere Herkunft und hörte mit gespannter Miene zu, so daß wir gar nicht anders konnten, als ihr viel zu erzählen.

Sie selbst sei verarmt, sagte sie. Sie sei eigentlich kein Dienstmädchen, o nein! Sie glaubte, eine sorgenfreie Zukunft vor sich zu haben. Ihr Vater war, nun ja, nicht eben reich, aber es hatte ihm an nichts gefehlt. Sie hatte in die Gesellschaft eingeführt werden sollen. »Freilich nicht so wie ihr, meine jungen Damen, sondern bescheidener. Dann starb mein Vater. Simsalabim!« Sie fuchtelte mit den Armen und hob die Augen zur Decke. »Das war das Ende von Klein-Elsas Glanz und Glorie. Kein Geld. Elsa auf sich selbst gestellt. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu arbeiten. Und was konnte ich tun? Zu was war ich ausgebildet?«

»Nicht zum Stubenmädchen«, meinte Monique mit ihrer französischen Logik, worauf wir alle lachten, Elsa eingeschlossen.

Wir mußten sie einfach gernhaben und ermunterten sie, sich zu uns zu gesellen und mit uns zu plaudern. Sie war amüsant und kannte sich bestens aus in den Sagen von den deutschen Wäldern. Dort hatte sie ihre frühe Kindheit verbracht, dann war ihr Vater mit ihr nach England gezogen, wo sie eine Weile gelebt hatte, ehe sie in die Schweiz kam.

»Gern stelle ich mir alle die Dämonen in ihren unterirdischen Behausungen vor«, sagte sie. »Da kriege ich immer eine Gänsehaut. Es gibt aber auch schöne Geschichten von Rittern in Rüstungen, die Jungfrauen nach Walhalla trugen ... oder sonstwohin.«

»Nach Walhalla kamen die Toten«, gab ich ihr zu verstehen. »Dann eben an einen schönen Ort, wo gefeiert und geschmaust wurde.«

Sie leistete uns fast jeden Nachmittag Gesellschaft. »Was würde Madame de Guérin sagen, wenn sie das wüßte?« fragte Lydia.

»Wir würden vermutlich an die Luft gesetzt«, meinte Monique.

»Welch ein Glück für die auf der Warteliste. Vier auf einen Streich.«

Elsa saß auf einer Stuhlkante und lachte. »Erzähl mir vom Château deines Vaters«, bat sie Monique. Und Monique berichtete, wie förmlich es bei ihr daheim zuging, und daß sie so gut wie verlobt war. Mit Henri de la Creseuse, der den Landsitz besaß, der an die Güter ihres Vaters angrenzte.

Und Frieda erzählte von ihrem strengen Vater, der ihr bestimmt mindestens einen Baron zum Ehemann aussuchen würde. Lydia sprach von ihren beiden Brüdern, die Bankiers werden würden wie ihr Vater.

»Und Cordelia?«, fragte Elsa.

»Cordelia hat es am besten von uns allen«, rief Lydia aus. »Sie hat eine ganz wunderbare Tante, bei der darf sie tun und lassen, was sie will. Ich höre schrecklich gern von Tante Patty. Die läßt Cordelia ganz bestimmt keinen Baron oder alten Knacker heiraten, nur weil er einen Titel und Geld hat. Cordelia heiratet den, der ihr gefällt.«

»Und sie wird trotzdem reich sein. Sie erbt die schöne alte Villa. Eines Tages wird alles dir gehören, Cordelia, und du mußt nicht erst heiraten, um es zu bekommen.«

»Ich will’s aber nicht, weil Tante Patty vorher sterben müßte.«

»Aber eines Tages wird es dir gehören. Du wirst reich und unabhängig sein.«

Elsa erkundigte sich nach Grantley Manor, und ich beschrieb es in glühenden Farben. Mit der Pracht von Grantley hatte ich wohl ein wenig übertrieben, aber gewiß nicht bei der Schilderung von Tante Pattys ungewöhnlichem Charme. Ihr konnte niemand ganz gerecht werden. Ich erzählte gern von ihr. Wie die anderen mich beneideten, bei denen es daheim strenger und förmlicher zuging!

»Ich wette«, sagte Elsa eines Tages, »daß ihr alle bald verheiratet seid.«

»Gott bewahre«, empörte sich Lydia. »Zuerst will ich mich amüsieren.«

»Wart ihr schon mal am Pilcherberg?« fragte Elsa.

»Ich hab’ davon gehört«, erwiderte Frieda.

»Ist nur zwei Meilen von hier.«

»Ist er sehenswert?« wollte ich wissen.

»O ja. Er liegt im Wald, es ist ein bizarrer Felsen. Es gibt auch eine Geschichte darüber. Solche Geschichten hatte ich schon immer gern.«

»Was für eine Geschichte?«

»Wenn man zu bestimmten Zeiten dorthin geht, kann man seinen zukünftigen Liebhaber ... oder Ehemann sehen.«

Wir lachten.

Monique meinte: »Ich hab’ keine große Lust, Henri de la Creseuse ausgerechnet jetzt zu sehen. Dazu ist noch Zeit genug, wenn ich von hier fortgehe.«

»Ah«, sagte Elsa, »aber es kann doch durchaus sein, daß das Schicksal ihn gar nicht für dich bestimmt hat.«

»Und der Mann, der für mich bestimmt ist, wird an diesem Ort erscheinen? Was hat es mit dem Pilcherberg auf sich?«

»Ich erzähl’ euch die Geschichte: Vor vielen, vielen Jahren wurden Liebende, die beim Ehebruch überrascht wurden, zum Pilcher gebracht. Sie mußten auf den Berg steigen und wurden dann hinabgeworfen – immer nachts bei Vollmond. Das Blut der vielen Toten hat die Erde dort fruchtbar gemacht, so daß rund um den Berg Bäume wuchsen, und so ist der Wald entstanden.«

»Und da sollen wir hingehen?«

»Cordelia ist das letzte Halbjahr hier. Sie wird nicht mehr oft Gelegenheit dazu haben, und sie sollte ihn unbedingt sehen, solange es noch geht. Morgen abend wird Vollmond sein, und dazu noch Herbstmond. Das ist eine günstige Zeit.«

»Herbstmond?« echote Monique.

»Ja, der folgt auf den Erntemond. Der ist am besten geeignet.«

»Haben wir wirklich schon Oktober?« fragte Frieda.

»Es ist noch so warm.«

»Gestern abend war es kalt«, bemerkte Lydia, und die Erinnerung machte sie frösteln.

»Tagsüber ist es noch schön«, sagte ich. »Das sollten wir ausnutzen. Ein seltsamer Gedanke, daß ich nicht zurückkommen werde.«

»Bist du traurig deswegen?« fragte Monique.

»Ihr werdet mir alle fehlen.«

»Aber du wirst bei deiner wunderbaren Tante sein«, meinte Frieda neidvoll.

»Und reich wirst du sein«, fügte Elsa hinzu, »und unabhängig. Du wirst die Schule besitzen und die wundervolle alte Villa.«

»Nein, nein. Bis dahin sind es noch viele Jahre hin. Ich erbe das Haus, wenn Tante Patty stirbt, und das wünsche ich mir niemals.«

Elsa nickte. »Naja«, meinte sie, »wenn ihr nicht zum Pilcher wollt, dann frag’ ich die anderen.«

»Warum eigentlich nicht?« fragte Lydia. »Ist morgen ... Vollmond?«

»Wir könnten den Kutschwagen nehmen.«

»Wir könnten sagen, wir wollten die Wildblumen im Wald sehen.«

»Glaubt ihr, das wird man uns erlauben? Wildblumen sind für die Salons der Oberschicht kaum geeignet. Und was für Wildblumen gibt es in dieser Jahreszeit?«

»Dann denken wir uns eben was anderes aus«, schlug Lydia vor.

Es fiel jedoch keiner etwas ein, und je angestrengter wir überlegten, um so verlockender schien uns ein Ausflug zum Pilcher.

»Ich hab’s«, sagte Elsa schließlich, »ihr fahrt in die Stadt, um ein Paar Handschuhe für Cordelias Tante auszusuchen. Sie war so begeistert von denen, mit denen Cordelia nach Hause kam, und natürlich gibt es nirgends so schicke Handschuhe wie in der Schweiz. Das wird Madame einleuchten. Und, statt in die Stadt zu fahren, biegt die Kutsche ab in den Wald. Es sind nur zwei Meilen. Ihr könnt bitten, länger ausbleiben zu dürfen, weil ihr noch in die Konditorei wollt, auf eine Tasse Kaffee und ein Stück von dieser Sahnetorte, die es nur in der Schweiz gibt. Ich bin sicher, daß ihr die Erlaubnis kriegt, und damit habt ihr genug Zeit, um in den Wald zu fahren und euch unter die Liebeseiche zu setzen.«

»So etwas Hinterlistiges!« rief ich aus. »Wenn Madame de Guérin wüßte, daß du uns zu so etwas verleitest, was dann? Du würdest entlassen und müßtest einsam in den Schneebergen umherirren.«

Elsa faltete die Hände wie zum Gebet. »Bitte, verratet mich nicht. Ist ja nur ein Scherz. Ich möchte bloß ein bißchen Romantik in euer Leben bringen.«

Ich lachte mit den anderen. »Warum sollen wir eigentlich nicht hingehen? Sag, was müssen wir tun, Elsa?«

»Ihr setzt euch unter die Eiche. Die könnt ihr nicht verfehlen. Sie steht am Fuß des Berges. Setzt euch dorthin und unterhaltet euch ... ganz natürlich. Und wenn ihr Glück habt, erscheint euer zukünftiger Ehemann.«

»Einer für uns vier?« rief Monique.

»Vielleicht auch mehr ... wer weiß? Aber auch wenn nur einer kommt, ist das Beweis genug, daß an der Sage was dran ist, oder?«

»So was Lächerliches«, erklärte Frieda.

»Es wäre immerhin einen Ausflug wert«, meinte Monique.

»Unser letzter, vor dem Winter«, ergänzte Lydia.

»Wer weiß? Vielleicht ist es morgen schon kalt.«

»Dann ist es zu spät für Cordelia«, gab Lydia zu bedenken. »Ach, Cordelia, überrede deine Tante doch, daß sie dich noch ein Jahr bleiben läßt.«

»Zwei Jahre sind genug für unseren Schliff. Man sieht mir den Glanz bestimmt schon an.«

Wir lachten ein Weilchen und beschlossen, uns am folgenden Nachmittag zum Pilcherberg zu begeben.

Es war heller Nachmittag, als wir aufbrachen. Die Sonne schien warm wie im Frühling. Wir waren guter Laune, als der Kutschwagen von der Straße zur Stadt abbog und uns in den Wald brachte. Die Luft war klar und frisch, und Schnee glitzerte auf den fernen Berggipfeln. Ich gewahrte den würzigen Duft der Tannen des Waldes. Aber zwischen den immergrünen Bäumen standen auch ein paar Eichen, und nach einer davon sollten wir Ausschau halten.

Wir fragten den Kutscher nach dem Pilcherberg, und er sagte, den könnten wir nicht verfehlen. Er werde ihn uns zeigen, wenn wir um die Kurve bögen. Dann würden wir ihn sich hoch über die Schlucht erheben sehen.

Die Szenerie war großartig. In der Ferne sahen wir Berghänge, einige in der Nähe der Täler bewaldet; weiter oben wurde die Vegetation spärlicher.

»Wer von uns ihn wohl sehen wird?« flüsterte Lydia.

»Keine«, gab Frieda zurück.

Monique lachte. »Ich bestimmt nicht, weil ich ja schon vergeben bin.«

Darauf lachten wir alle.

»Ich glaube, was Elsa erzählt, ist halb geschwindelt«, meinte ich.

»Ob sie wirklich verarmt ist?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich nachdenklich. »Elsa hat etwas Besonderes an sich. Es könnte stimmen. Andererseits kann sie’s auch erfunden haben.«

»Wie die Visionen vom Pilcherberg«, ergänzte Frieda. »Sie lacht uns bestimmt aus, wenn wir zurückkommen.«

Das Geräusch der Pferdehufe wirkte beruhigend, als wir munter daherrumpelten. Ich würde diese Ausflüge vermissen. Aber es würde natürlich wunderbar zu Hause bei Tante Patty sein.

»Da ist der Berg«, sagte der Fuhrmann und deutete mit seiner Peitsche hinauf.

Wir schauten hin. Von dieser Stelle aus wirkte er sehr eindrucksvoll. Er sah aus wie ein runzliges altes Gesicht ... braun, zerklüftet und feindselig.

»Ob das der Pilcher sein soll?« meinte Monique.

»Wer war dieser Pilcher überhaupt?«

»Da müssen wir Elsa fragen«, sagte ich. »In derlei Dingen scheint sie bestens bewandert.«

Wir waren jetzt im Wald. Der Wagen hielt an, und unser Kutscher sagte: »Ich warte hier. Gehen Sie diesen Weg entlang. Er führt geradewegs zum Fuß des Felsens. Dort steht eine große Eiche, die sogenannte Pilchereiche.«

»Zu der wollen wir«, bestätigte Monique.

»Keine halbe Meile.« Er sah auf seine Uhr. »Ich bringe Sie in, sagen wir, eineinhalb Stunden zurück.

Sie dürfen sich nicht verspäten.«

»Vielen Dank«, sagten wir und begaben uns auf den unebenen Pfad zu dem großen Felsen.

»Hier muß eine gewaltige vulkanische Eruption stattgefunden haben«, bemerkte ich. »Daraus ist der Pilcher entstanden, und viel später wuchs hier die Eiche. Samenkörner, die ein Vogel fallenließ, nehme ich an. Die meisten Bäume hier sind Tannen. Duften sie nicht köstlich?«

Wir waren fast bei der Eiche angelangt, die dicht beim Felsen wuchs. »Das muß sie sein«, sagte Lydia. Sie ließ sich fallen und streckte sich im Gras aus.

»Der Duft macht mich schläfrig.«

»Oh, dieser köstliche Wohlgeruch«, seufzte ich, kräftig schnuppernd. »Ja, er hat etwas Einschläferndes.«

»Und was machen wir jetzt?« fragte Frieda.

»Hinsetzen ... und abwarten.«

»Ich finde es albern«, meinte Frieda.

»Immerhin, es ist ein Ausflug. Tun wir so, als kauften wir Handschuhe für meine Tante Patty. Ich möchte ihr noch welche besorgen, bevor ich fortgehe.«

»Sprich nicht immer von fortgehen«, sagte Lydia.

»Das mag ich nicht.«

Frieda gähnte. »Ach ja,« gestand ich, »mir ist auch zum Gähnen.«

Ich streckte mich im Gras aus, und die anderen taten es mir nach. So lagen wir da, die Hände unter den Köpfen verschränkt, und blickten durch die Äste der Eiche nach oben.

»Ich wüßte gern, wie das war, als sie die Leute heruntergestoßen haben«, überlegte ich laut. »Stellt euch nur mal vor, ihr werdet auf den Gipfel gebracht und wißt, daß ihr heruntergeworfen werdet ... oder vielleicht sagt man euch, ihr sollt springen. Womöglich ist jemand gerade hier an dieser Stelle heruntergestürzt.«

»Du machst mir eine Gänsehaut.« Lydia schüttelte sich.

»Ich schlage vor«, meinte Frieda, »daß wir zum Wagen zurückgehen und doch noch in die Stadt fahren.«

»Diese petits fours sind zu köstlich«, sagte Monique.

»Haben wir denn noch Zeit?« fragte Frieda.

»Nein«, sagte Lydia.

»Still«, gebot ich. »Lassen wir’s auf einen Versuch ankommen.«

Wir verstummten, und just in dem Augenblick trat er durch die Bäume.

Er war groß und sehr blond. Seine stechenden blauen Augen fielen mir sogleich auf. Sie schienen jenseits von uns in Regionen zu blicken, die wir nicht sehen konnten. Vielleicht bildete ich mir das aber auch erst hinterher ein. Er war dunkel gekleidet, was seine Blondheit noch unterstrich. Sein Anzug war elegant geschnitten, aber nicht gerade nach der neuesten Mode. Sein Rock hatte einen Samtkragen und Silberknöpfe, und er trug einen schwarzen, hohen, glänzenden Hut.

Wir waren still, als er näherkam – vor Überraschung sprachlos, nehme ich an, und im Augenblick von jeglichem Schaffenbruckener Schliff verlassen.

»Guten Tag«, sagte er auf Englisch. Er verbeugte sich. Dann fuhr er fort: »Ich habe Ihr Lachen gehört und verspürte einen unwiderstehlichen Drang, Sie zu sehen.«

Wir schwiegen noch immer, und er fuhr fort: »Sie sind von der Schule, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete ich.

»Auf einem Ausflug zum Pilcher?«

»Wir haben Rast gemacht, bevor wir zurückkehren«, erklärte ich, da es den anderen anscheinend die Sprache verschlagen hatte.

»Ein interessanter Recken«, fuhr er fort. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich ein wenig mit Ihnen unterhalte?«

»Natürlich nicht«, erwiderten wir wie aus einem Mund. Die anderen hatten sich also von ihrem Schrecken erholt.

Er ließ sich ein wenig entfernt von uns nieder und betrachtete seine langen Beine.

»Sie sind Engländerin?« fragte er mit einem Blick auf mich.

»Ja ... ich und Miss Markham. Dies hier sind Mademoiselle Delorme und Fräulein Schmidt.«

»Eine kosmopolitische Gruppe«, bemerkte er. »Ihre Schule wird von jungen Damen aus ganz Europa besucht, habe ich recht?«

»Ja, das stimmt.«

»Warum haben Sie ausgerechnet heute diesen Ausflug zum Pilcher gemacht? Sollte man das nicht lieber im Sommer tun?«

»Wir wollten ihn gern sehen«, erwiderte ich, »und ich werde sonst vermutlich keine Gelegenheit mehr dazu haben. Ich gehe Ende des Jahres von der Schule ab.«

Er hob die Augenbrauen. »So? Und die anderen jungen Damen?«

»Wir bleiben noch ein Jahr«, sagte Monique.

»Und dann kehren Sie nach Frankreich zurück?«

»Ja.«

»Sie sind alle so jung ... so vergnügt«, stellte er fest.

»Es war hübsch, Ihr Lachen zu hören. Ich fühlte mich davon angezogen und mußte mich einfach zu Ihnen gesellen. Ich wollte an Ihrer Ungezwungenheit teilhaben.«

»Wir wußten gar nicht, daß wir so anziehend sind«, sagte ich, und alle lachten.

Er blickte um sich. »Was für ein schöner Nachmittag! Fühlen Sie die Stille in der Luft?«

»Ja, ich glaube schon«, antwortete Lydia.

Er blickte zum Himmel empor. »Nachsommer«, sagte er leise. »Weihnachten fahren Sie wohl alle nach Hause?«

»Ja, Weihnachten fahren wir immer alle. Und im Sommer. Ostern, Pfingsten und so, na ja ...«

»Die Reise ist zu weit«, endete er an meiner Stelle. »Und Ihre Angehörigen werden Sie gebührend empfangen«, fuhr er fort. »Man wird für Sie Bälle und Bankette geben, und Sie werden alle heiraten und glücklich leben immerdar, ein Schicksal, wie es allen schönen jungen Damen beschieden sein sollte.«

»Was es aber nicht immer ist ... oder nicht oft«, warf Monique ein.

»Da haben wir ja eine Zynikerin. Sagen Sie«, seine Augen ruhten auf mir, »glauben Sie an das Schicksal?«

»Ich glaube, das Leben ist das, was man daraus macht«, zitierte ich Tante Patty. »Was den einen unerträglich, ist den anderen ein Trost. Es kommt darauf an, wie man es betrachtet.«

»Man bringt Ihnen in dieser Schule wahrhaftig etwas bei.«

»Das stammt aber von meiner Tante.«

»Sie haben keine Eltern.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

»Nein. Sie sind in Afrika gestorben. Meine Tante hat sich um mich gekümmert.«

»Das ist eine fabelhafte Person«, sagte Monique. »Sie leitet eine Schule. Sie ist das genaue Gegenteil von Madame Guérin. Cordelia hat es gut. Sie wird in der Schule ihrer Tante arbeiten, und eines Tages wird ihr das Institut gehören. Kann man sich Cordelia als Schulvorsteherin vorstellen?«

Er lächelte mich offen an. »Ich kann mir Cordelia als alles vorstellen, was sie zu sein wünscht. Sie ist also eine vermögende Dame?«

»Wenn Sie mich fragen, so hat sie’s von uns allen am glücklichsten getroffen«, bemerkte Monique.

Er blickte mich unverwandt an. »Ja«, sagte er, »ich glaube, Cordelia kann wahrhaftig glücklich sein.«

»Warum sagen Sie, ›sie kann‹?« fragte Frieda.

»Weil es von ihr selbst abhängt. Ist sie vorsichtig? Zögert sie, oder ergreift sie die Gelegenheiten, die sich ihr bieten?«

Die Mädchen sahen sich gegenseitig an, dann blickten sie zu mir.

»Ich würde sagen, ja«, meinte Monique.

»Die Zeit wird es an den Tag bringen«, entgegnete er.

Er hatte eine eigenartige, etwas altväterliche Art. Vielleicht lag es an seinem Englisch, das wohl nicht seine Muttersprache war, wenngleich er es fließend sprach. Ich glaubte, eine Spur von einem deutschen Akzent herauszuhören.

»Immer müssen wir warten, bis die Zeit etwas an den Tag bringt«, sagte Frieda verdrießlich.

»Was wünschen Sie denn, meine junge Dame? Einen Blick in die Zukunft zu tun?«

»Das wäre spaßig«, lachte Monique. »In der Stadt war eine Wahrsagerin. Madame de Guérin hatte es zwar verboten, aber ich glaube, ein paar sind doch hingegangen.«

»Es kann sehr aufschlußreich sein«, sagte er.

»Sie meinen ... in die Zukunft zu blicken?« kam es von Monique. Er beugte sich vor und ergriff ihre Hand. Sie stieß einen leisen Schrei aus. »Oh ... können Sie etwa die Zukunft voraussagen?«

»Die Zukunft voraussagen? Wer kann das schon? Allerdings gibt es manchmal Visionen ...«

Wir waren wie gebannt. Mein Herz klopfte wild. Diese Begegnung war überaus ungewöhnlich.

»Sie, Mademoiselle«, er sah Monique an, »werden Ihr Leben lang lachen. Sie werden in das Château Ihrer Väter zurückkehren.« Er ließ ihre Hand los und schloß die Augen. »Es liegt mitten im Land. Es ist von Weinbergen umgeben. Die Türme mit den Pechnasen reichen bis an den Himmel. Ihr Vater trifft Arrangements, die seiner Familie würdig sind. Er ist ein stolzer Mann. Werden Sie seinem Wunsch gemäß heiraten, Mademoiselle?«

Monique machte ein verblüfftes Gesicht. »Ich nehme an, ich werde Henri heiraten ... eigentlich habe ich ihn ganz gern.«

»Und etwas anderes würde Ihr Vater auch nicht zulassen. Und Sie, Fräulein, sind Sie ebenso fügsam wie Ihre Freundin?«

»Das ist schwer zu sagen«, erwiderte Frieda auf ihre nüchterne Art. »Manchmal denke ich, ich tu, was mir gefällt, und wenn ich dann zu Hause bin, ist alles ganz anders.«

Er lächelte sie an. »Sie machen sich nichts vor, und das ist im Leben ein großer Vorzug. Sie werden stets wissen, welchen Weg Sie gehen und warum – auch wenn es nicht immer der Weg Ihrer Wahl ist.«

Darauf wandte er sich an Lydia. »Ah, Miss«, fuhr er fort, »Welches ist Ihr Schicksal?«

»Das weiß der Himmel«, erwiderte Lydia. »Ich schätze, mein Vater kümmert sich mehr um meine Brüder. Die sind um einiges älter als ich und glauben immer, Knaben seien wichtiger.«

»Sie werden ein schönes Leben haben«, erklärte er ihr.

Lydia lachte. »Es ist fast, als sagten Sie uns unser Schicksal voraus.«

»Ihr Schicksal bestimmen Sie selbst«, erwiderte er.

»Ich habe lediglich ein gewisses ... wie soll ich sagen ... Feingefühl.«

»Jetzt ist Cordelia an der Reihe«, rief Monique.

»Cordelia?«

»Sie haben ihr noch nichts gesagt ... was aus ihr wird.«

»Ich habe gesagt«, entgegnete er freundlich, »daß das von Cordelia selbst abhängt.«

»Aber haben Sie ihr denn nichts zu sagen?«

»Nein. Cordelia wird Bescheid wissen ... wenn die Zeit reif ist.«

Wir verstummten. Das Schweigen des Waldes hüllte uns ein. Über uns ragte der grotesk geformte Felsen auf, der mit einiger Phantasie durchaus bedrohliche Züge annehmen konnte.

Dann ergriff Monique das Wort. »Es ist ziemlich unheimlich hier«, sagte sie schaudernd.

Plötzlich durchbrach ein Laut die Stille. Es war der Ruf des Fuhrmanns.

Seine Stimme schien auf dem Berg aufzutreffen und hallte durch den Wald wider.

»Wir hätten schon vor zehn Minuten aufbrechen müssen«, stellte Frieda fest. »Wir müssen uns sputen.«

Wir sprangen auf. »Auf Wiedersehen«, sagten wir zu dem Fremden.

Dann machten wir uns auf den Weg. Nach ein paar Sekunden blickte ich zurück. Der Fremde war verschwunden.

Wir kamen zu spät zurück, aber keiner sagte etwas, und niemand verlangte die Handschuhe zu sehen, die wir angeblich in der Stadt gekauft hatten.

Nach dem Abendessen kam Elsa in unser Zimmer. Es war die halbe Stunde vor dem Gebet, wonach wir uns für die Nacht zurückzogen.

»Na«, fragte Elsa, »habt ihr etwas gesehen?« Ihre Augen glitzerten vor Neugier.

»Da war etwas«, gab Frieda zu.

»Etwas?«

»Ja doch, ein Mann«, ergänzte Monique.

»Je mehr ich darüber nachdenke«, fügte Lydia hinzu, »um so merkwürdiger kommt er mir vor.«

»Erzählt schon«, rief Elsa, »erzählt doch.«

»Also, wir saßen dort ...«

»Lagen«, sagte Frieda, die Wert auf genaue Details legte.

»Unter dem Baum ausgestreckt«, fuhr Lydia ungeduldig fort, »als er plötzlich da war.«

»Du meinst, er ist erschienen?«

»So könnte man es nennen.«

»Wie sah er aus?«

»Gut. Eigentümlich ...«

»Weiter, weiter ...«

Wir schwiegen alle, während wir uns bemühten, uns zu erinnern, wie er ausgesehen hatte.

»Was ist denn mit euch los?« wollte Elsa wissen.

»Nun ja, es ist schon ziemlich merkwürdig, wenn man es recht bedenkt«, sagte Monique. »Ist euch aufgefallen, daß er von uns allen was wußte? Er hat das Château mitsamt Weinbergen und Türmen genau beschrieben.«

Frieda bemerkte trocken: »Viele Châteaux in Frankreich haben eigene Weinberge und Türme mit Pechnasen.«

»Ja«, gab Monique zu, »und doch ...«

»Ich glaube, am meisten hat ihn Cordelia interessiert«, verkündete Lydia.

»Wie kommst du darauf?« wollte ich wissen. »Er hat mir nichts gesagt.«

»Na ja, so wie er dich angeguckt hat ...«

»Ihr erzählt mir ja gar nichts«, beklagte sich Elsa.

»Ich hab’ euch dahin geschickt, vergeßt das nicht. Ich hab’ ein Recht zu erfahren, was los war.«

»Ich sag’ dir, was geschehen ist«, ließ sich Frieda vernehmen. »Wir waren so dumm, in den Wald zu gehen, statt uns in der Stadt an den köstlichen petits fours gütlich zu tun ... und weil wir so dumm waren, wollten wir unbedingt, daß etwas geschah. Es passierte aber nichts weiter, als daß ein Mann auftauchte, der sagte, er habe uns lachen hören und wolle sich ein Weilchen mit uns unterhalten.«

»Das sieht Frieda ähnlich, alles fein säuberlich zu erklären«, stellte Lydia fest. »Ich für mein Teil bin überzeugt, daß mehr dahintersteckt.«

»Ich wette, er ist der zukünftige Ehemann von einer von euch«, sagte Elsa. »So lautet die Sage.«

»Wenn du daran glaubst, warum bist du dann nicht mitgekommen, um deinen Zukünftigen zu sehen?« fragte ich.

»Ich konnte doch nicht weg. Ich werde beobachtet. Sie haben mich im Verdacht, daß ich mich vor der Arbeit drücke.«

»Sei beruhigt«, spottete Frieda, »dieser Verdacht wird sich bald bestätigen.«

Elsa lachte mit uns. Wenigstens sie war mit dem Ausflug zufrieden.

Den ganzen November schmiedeten wir Pläne für die Heimreise. Mir war sonderlich zumute. Einesteils widerstrebte es mir, allen Lebewohl sagen zu müssen, doch andererseits freute ich mich auf zu Hause. Monique, Frieda und Lydia sagten, wir müßten in Verbindung bleiben. Lydia wohnte in London, aber ihre Familie besaß ein Landhaus in Essex. Dort verbrachte sie meistens ihre Ferien, so daß wir nicht allzuweit voneinander entfernt sein würden.

Noch Tage nach jener Begegnung im Wald sprachen wir viel über unser Abenteuer am Pilcherberg. Wir hatten es rasch in ein unheimliches Erlebnis verwandelt und den Fremden mit allen möglichen Absonderlichkeiten ausgestattet. Laut Monique hatte er stechende Augen mit dem Widerschein eines unirdischen Lichtes. Sie bauschte auf, was er ihr erzählt hatte, und glaubte allmählich, daß er ihr eine akkurate, minuziöse Beschreibung vom Château ihres Vaters geliefert habe. Lydia behauptete, ihr seien Schauder über den Rücken gelaufen, und sie sei überzeugt, daß er kein menschliches Wesen gewesen sei.

»Unsinn«, meinte Frieda, »er machte einen Spaziergang im Wald, als er auf uns traf und dann eine kleine Unterhaltung mit uns kichernden Mädchen führte.«

Ich wußte nicht recht, was ich denken sollte, und wenn mir auch klar war, daß diese Begegnung beträchtlich ausgeschmückt worden war, so hatte sie dennoch einen tiefen Eindruck auf mich gemacht.

Die Schulferien begannen Ende der ersten Dezemberwoche. Da die meisten von uns eine weite Reise vor sich hatten, sorgte Madame de Guérin stets dafür, daß wir abreisten, bevor dichter Schnee die Straßen unpassierbar machte.

Sieben Mädchen aus England reisten zusammen. Fräulein Mainz brachte uns zum Zug, und es war so arrangiert, daß uns in Calais jemand von einer Reiseagentur auf die Fähre begleitete. In Dover würden wir dann von unseren Angehörigen abgeholt werden.

Ich hatte die Reise schon mehrmals gemacht, aber da dies das letzte Mal war, kam uns alles ganz anders vor.

Wir hatten ein Abteil für uns allein. Die Jüngeren brachen, wie wir auf früheren Reisen, angesichts der Großartigkeit der Bergwelt in Ahs und Ohs aus und blieben am Fenster, während wir durch die majestätische Schweizer Landschaft fuhren. Auf die älteren – darunter auch Lydia und ich – machte das keinen Eindruck mehr.

Die Fahrt erschien endlos; wir redeten, wir lasen, machten Spiele, nickten ein.

Die meisten waren eingeschlummert. Als ich zufällig in den Gang hinausblickte, sah ich einen Mann vorbeigehen. Er warf einen Blick in unser Abteil. Mir stockte der Atem. Er schien mich anzusehen, aber ich war nicht sicher, ob er mich erkannte. Binnen Sekunden war er vorüber.

Ich drehte mich zu Lydia um, die schlafend neben mir saß, sprang auf und trat in den Gang. Von dem Mann war nichts zu sehen.

Ich kehrte auf meinen Platz zurück und stieß Lydia an. »Ich ... ich hab’ ihn gesehen«, flüsterte ich.

»Was hast du gesehen?«

»Den Mann ... den Mann im Wald ...«

»Du träumst«, sagte Lydia.

»Nein. Ich bin ganz sicher. Er war wie der Blitz verschwunden.«

»Warum hast du ihn nicht angesprochen?«

»Er war zu schnell vorüber. Ich bin hinterhergegangen, aber er war verschwunden.«

»Du hast geträumt«, murmelte Lydia und schloß die Augen wieder.

Ich war aufgewühlt. Konnte es sich um eine Erscheinung gehandelt haben? Es war so schnell vorüber. Er war dagewesen ... und dann war er weg. Er muß sich sehr geschwind den Gang entlang bewegt haben. War es wirklich der Mann gewesen, oder hatte ich geträumt? Vielleicht hatte Lydia recht.

Ich hielt während der Weiterfahrt nach Calais nach ihm Ausschau, aber er war nicht da.

Der Zug kam wegen Schneetreibens mit acht Stunden Verspätung in Calais an. Das bedeutete, daß wir die Nachtfähre nehmen mußten. Es war gegen zwei Uhr morgens, als wir an Bord gingen.

Lydia fühlte sich nicht wohl; ihr war kalt und ein wenig übel. Sie hatte unten ein Plätzchen gefunden, wo sie sich in eine Decke hüllen und hinlegen konnte. Ich hatte das Bedürfnis nach frischer Luft und sagte ihr, ich werde an Deck gehen. Ich ließ mir eine Decke geben und nahm mir einen Stuhl. Sicher, eswar kalt, aber unter meiner Decke war mir recht behaglich. Lydia hätte gewiß klüger daran getan, mit mir nach oben zu kommen, statt sich im unbelüfteten Teil des Schiffes aufzuhalten.

Ein blasser Halbmond schien, und an dem klaren Nachthimmel waren Myriaden von Sternen zu sehen. Nicht weit entfernt hörte ich die Stimmen der Mannschaft, und ich genoß das sanfte Schaukeln des Schiffes. Es ging kein Wind, und ich rechnete nicht mit einer rauhen Überfahrt.

Ich dachte an die Zukunft. Mit Tante Patty würde es stets Spaß geben. Ich stellte mir lange gemütliche Abende am Kaminfeuer im Wohnzimmer vor, während sie heiße Schokolade trank und Makronen knabberte, für die sie eine besondere Vorliebe hegte. Wir würden über die Geschehnisse des Tages lachen, denn mit ihr würde es immer etwas zum Lachen geben. O ja, ich freute mich darauf.

Schläfrig schloß ich die Augen. Die Reise war ermüdend gewesen, und beim Einschiffen hatte es viel Wirbel gegeben. Ich durfte jedoch nicht fest einschlafen, weil ich zurück zu Lydia mußte, bevor das Schiff anlegte.

Ich nahm eine schwache Bewegung an meiner Seite wahr und öffnete die Augen. Ein Stuhl war leise verrückt worden und stand nun mitsamt seinem Insassen neben mir.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?«

Mein Herz begann wild zu hämmern. Dieselbe Stimme. Dasselbe Flair, als sei er nicht ganz von dieser Welt. Es war der Mann aus dem Wald.

Einen Augenblick war ich so erschrocken, daß ich nicht sprechen konnte.

Der Mann sagte: »Ich werde still sein, wenn Sie schlafen möchten.«

»O nein ... nein ... Sie sind ... Sie sind es doch?«

»Wir sind uns schon einmal begegnet«, begann er.

»Waren ... waren Sie im Zug?«

»Ja.«

»Ich sah Sie am Fenster vorbeigehen.«

»Ja.«

»Wollen Sie nach England?«

Eine alberne Frage. Wo hätte er auf der Kanalfähre denn sonst hinwollen?

»Ja«, erwiderte er. »Ich bin sicher, daß wir uns während meines Aufenthaltes dort sehen werden.«

»O ja. Es wäre mir ein Vergnügen. Sie müssen uns besuchen. Grantley Manor, Canterton, Sussex. Nicht weit von Lewes. Es ist ganz leicht zu finden.«

»Ich werde es nicht vergessen«, sagte er. »Wir werden uns wiedersehen.«

»Sind Sie auf dem Weg nach Hause?«

»Ja.«

Ich wartete, aber er sagte mir nicht, wohin. Er hatte etwas Zurückhaltendes, etwas, das mich warnte, Fragen zu stellen.

»Sie freuen sich gewiß auf Ihre Frau Tante.«

»O ja.«

»Sie ist anscheinend eine recht großzügige Dame.«

»Großzügig? Ja, das ist sie wohl. Sie ist warmherzig und liebenswert, und ich glaube nicht, daß sie jemals jemandem etwas Böses gewünscht hat. Sie hat Witz und Humor, dabei ist sie aber nie verletzend ... es sei denn, jemand verletzt sie oder die, die ihr nahestehen. Dem würde sie es genüßlich heimzahlen. Sie ist ein wunderbarer Mensch.«

»Sie hängen offenbar sehr an ihr.«

»Sie war mir eine Mutter, als ich sie nötig hatte.«

»Sichtlich eine einzigartige Persönlichkeit.« Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Erzählen Sie mir von sich.«

»Sie möchten wohl nicht gern über sich reden«, gab ich zurück.

»Später. Jetzt sind Sie an der Reihe.«