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Julie Smith

Touristenfalle

Krimi

Ins Deutsche übertragen von Bettina Thienhaus

Edel eBooks

 

1

»Ich gehe mit und erhöhe. Um einen Vierteldollar.«

»Ich bin raus.«

»Ich auch.«

Also war ich dran. Ich hatte zwei offene Könige und eine offene Neun und zwei verdeckte Sieben. Wir spielten Baseball, eine Art Stud-Poker, bei dem Neunen und Dreier Joker sind und Vieren zu einer neuen Karte berechtigen. Ich hatte schon das, was die anderen ein ›full boat‹ nannten, und mir stand noch eine Karte zu. Das klingt zwar gut, aber bei diesem Spiel sind fünf gleiche Karten nicht ungewöhnlich, soviel hatte ich schon mitgekriegt.

Alan Kruzick, mein Sekretär, hatte drei Asse, zwei davon eigentlich Neunen. Daß Kruzick mir meinen letzten Vierteldollar wegschnappte, kam der Wirklichkeit nur allzu nahe. Er war ja nicht nur mein Sekretär, sondern auch der Freund meiner Schwester Mickey und für mich eine tägliche Plage. Ich wollte gerade aussteigen – wie es meiner konservativen Natur entspricht –, als ich den kobaltblauen Blick von Rob Burns auffing. Er schüttelte den Kopf und deutete auf den Vierteldollar. Ich hatte noch nie gepokert und hielt es für besser, den Tip zu beachten. Widerstrebend schubste ich die Münze in den Pott. Es spielten nur noch Alan und ich, Rob teilte aus. Er gab uns die letzte Karte, verdeckt. Ich hatte eine Zwei. Eine Lusche – würden die anderen sagen. Kruzick erhöhte um einen Vierteldollar.

»Ich bin raus«, sagte ich. »Total pleite.«

Chris Nicholson, meine Kanzleipartnerin, brachte zwei Cents ein: »Warum läßt du nicht sehen?«

»Lieber nicht.«

»Guckt euch meine Chefin an«, sagte Alan. »Das feige Huhn.«

Das gab den Ausschlag. Ich lieh mir zwei Cents aus dem Pott. »Dein Vierteldollar und meiner.«

»Und einer dazu«, legte Alan nach.

Nach dreimal Bieten war Schluß, also konnte ich nur weiter bluffen. Ich pumpte mir noch einen Vierteldollar. Alan hatte ein Paar Sechsen.

»Du bist entlassen«, sagte ich.

»Du kannst mich nicht rausschmeißen, ich bin schwanger.«

»Alan!« entfuhr es Mickey.

Und dann herrschte tödliche Stille.

Bob Tosi, Freund von Rob und mir und Chris’ neueste Flamme, stand auf, um eine neue Flasche Wein zu holen. Schließlich fragte ich Alan, wie er das gemeint hatte.

Mickey machte zuerst den Mund auf. »Er will sagen, ich bin schwanger.«

»Hey, ich bin nicht sexistisch. Wir sind schwanger.«

»Mickey, Goldstück«, sagte Chris. »Herzlichen Glückwunsch! Ich meine, wenn’s okay ist.«

Mickey wand sich auf ihrem Stuhl. »Ich bin mir nicht ganz sicher.« Sie schaute flehend zu mir. »Klar, ich weiß, daß ich schwanger bin. Ich weiß nur nicht genau, ob ich – Rebecca, ich wollte nicht, daß du es so erfährst!«

Mir fiel dazu nur eins ein und natürlich das Falsche: »Wie kann einer Mitarbeiterin der Gruppe ›Bewußte Elternschaft‹ sowas passieren?«

Mickey brach in Tränen aus, und Chris nahm sie in den Arm. »Du armer Pfirsich.«

Sie sah mich an, als hätte ich meine eigene Schwester geschlagen. Rob, der Gute, nahm mich in den Arm. Ich brauchte auch Trost.

»Deshalb trinkst du also nichts«, versuchte ich mir die Dinge zu erklären. »Mickey, Kleines, hör zu, es tut mir leid. Wenn du damit glücklich bist –«

Sie machte sich von Chris los. »Ich weiß nicht, was ich will. Doch – ich will nach Hause.«

Kruzick und sie verschwanden auf der Stelle. Chris und Bob gingen auch.

»Mitternacht«, sagte Rob. »Frohe Ostern!«

Das löste die Spannung. Plötzlich sah die Welt nicht mehr so grimmig aus. Mickey würde abtreiben, und alles wäre wieder in Ordnung. Viele schwangere Frauen taten es; Mickey müßte das wissen, sie beriet sie ja tagtäglich.

Rob gab mir einen Brandy. »Alles in Ordnung?«

»Ich glaube schon. Ich bin eine schreckliche Schwester. Aber eine Sekunde lang dachte ich, wir hätten Kruzick für den Rest aller Zeiten am Halse.«

Da rief Mickey an. »Herzlichen Glückwunsch! Du wirst Tante. Ich habe mich entschieden.«

»Mickey, hör zu, es tut mir leid –«

»Das macht nichts. Es war ja auch ein Schock für dich.«

»Ich bin froh, daß du nicht sauer bist. Dafür werde ich auf deiner Hochzeit tanzen.«

»Wer redet denn von Hochzeit?«

»Aber ich dachte –«

»Klar, das Baby will ich haben, aber warum gleich heiraten?«

Alan übernahm den Hörer: »Das wird sie noch wollen.«

Rob schenkte Brandy nach. »Mom Schwartz wird entzückt sein.«

»Zum Glück ist sie in Israel.«

»Wie fühlst du dich?«

»Wie betäubt. Ich brauche eine Cola.«

Rob holte die Cola und setzte sich mir gegenüber aufs weiße Sofa. Er sah mich an, als wollte er etwas sagen und könnte es nicht, weil jemand seine Zunge abgeschnitten hatte. »Wie fürchterlich«, sagte ich. »Wenn ich Alan rausschmeiße, stehle ich meiner eigenen Nichte das Brot aus dem Mund.«

»Oder deinem Neffen.«

»Neffe, ja. Wenigstens kann Mickey ihn nicht Alan nennen.«

»Warum nicht?«

»Weißt du das nicht?« Rob ist zwar halber Jude, hat aber keine Ahnung von jüdischer Tradition. Er schüttelte den Kopf. »Man darf ein Kind nicht nach einem lebenden Verwandten nennen.«

»Das macht nichts. Tante Chris nennt es sowieso ›Diddley-bop‹.«

Das stimmte. Chris konnte sich weder Namen noch Alltagsbegriffe merken und ersetzte sie durch phantasievolle Unsinnsgebilde.

Das brachte mich wieder zum Lachen.

Rob legte seine Hand auf meinen Oberschenkel. »Lust auf ein Abenteuer?«

»Klar.« Ich stand auf. Was wir in den nächsten Stunden vorhatten war eine irre Sache – jedenfalls für mich, auch wenn ich mit meinen bald dreißig Jahren alles mitgemacht hatte, was in und um San Francisco möglich war. Ich war sogar mal in einem Nobelbordell als Klavierspielerin aufgetreten – die dümmste Idee meines Lebens. Worauf ich bisher allerdings verzichtet hatte, war der Besuch des Ostergottesdienstes auf Mount Davidson. Aus verständlichen Gründen: ich bin Jüdin und hasse außerdem Frühaufstehen. Dieses Jahr nun sollte Rob, er ist Reporter beim ›San Francisco Chronicle‹, darüber berichten. Er vermutete hinter dem Auftrag eine Strafaktion seiner Chefs. Mich hatte Rob zu seiner Begleiterin auserkoren, und auch das All-Night-Pokerspiel war auf seinem Mist gewachsen. Alle hatten zugesagt, aber niemand wollte die ganze Nacht wachbleiben. Robs neuer Plan hieß: (fast) die ganze Nacht pokern, dann mit Bob Tosis Kleinbus zum Mount Davidson fahren und vor Sonnenaufgang noch etwas Schlaf fassen.

Der Bus stand vor meiner Tür, ausgerüstet mit einer Luftmatratze und Schlafsäcken. Ich fütterte die Flossenfreunde in meinem 380-Liter-Salzwasseraquarium, dann brausten wir los.

Gegen zwei Uhr früh waren wir am Mount Davidson. Es war sehr, sehr still. Ich fühlte mich schwach und trug schwer an der Vorstellung, Alan Kruzick könnte mein Schwager werden. Wie sollte ich Mom beibringen, daß ihre Jüngste eine ledige Mutter würde?

Rob stellte seinen Armbanduhrwecker, und wir kuschelten uns auf der Luftmatratze aneinander – angekleidet, darauf hatte ich bestanden. Falls ein Bulle an die Scheibe klopfte, hätte ich gerne eine Schicht Anstand zwischen Rob und mir.

»Rebecca, wenn du schwanger wärst, würdest du mich dann heiraten?«

»Vielleicht, falls du dafür verantwortlich wärst.«

Warum ich so was Blödes sagte, weiß ich nicht, aus Streß wahrscheinlich, jedenfalls drehte er sich von mir weg. Das war schon unangenehm genug, aber dann fing irgendwoher in der Ferne ein Hund an zu bellen. Ich konnte nicht einschlafen.

»Kannst du nicht still liegen?« war der ganze Trost, der mir zuteil wurde.

Und dann heiratete Mickey doch. Ich bekam die Einladung mit der Post. Aber es war gar nicht Mickey, sondern eine Frau mit einem französischen Namen und die heiratete Alan. Oder Alan war ihr Vater oder so. »Mr. und Mrs. Alan DuPinquelle«, hieß es auf der Karte, »teilen die Hochzeit ihrer Tochter Anni mit.« Anni DuPinquelle. Mit zwei Jahren Französisch auf der High School wußte ich, daß das Dühpinkel ausgesprochen wurde. Aber wer mochte das sein?

Die Suche nach der Lösung dieses Rätsels weckte mich. Also hatte ich doch geschlafen. Konnte das stimmen? Anscheinend ja, denn jetzt war ich hellwach und der Traum hatte recht – ich mußte pinkeln. Eine öffentliche Toilette gab es am Mount Davidson nicht, aber Gebüsch in Hülle und Fülle – ich mußte nur aussteigen und so tun, als würde ich zelten.

Die Morgendämmerung war nicht mehr fern, doch der dichte Nebel ließ eher an Mitternacht denken. Ein Bulle brauchte schon Röntgenaugen, um mich in flagranti zu erwischen. Ich verzog mich ins Gebüsch, ließ die Hosen runter und – konnte nicht. Mein Leben lang habe ich gezeltet, aber mit dem Pinkeln in freier Natur habe ich immer Schwierigkeiten gehabt.

Normalerweise lache ich über den sogenannten Penisneid, aber in Augenblicken wie diesen dachte ich gelegentlich, der gute Doktor aus Wien könne recht haben. Ich holte tief Luft und versuchte es wieder. Da ertönte ein lautes Krachen, gefolgt von einem »Uff!«. Rob schoß aus dem Bus: »Rebecca! Rebecca!«

»Ich bin hier. Beim Pinkeln.« Das war eine Lüge. Ich kämpfte mit dem Reißverschluß. Mein Slip hatte sich darin verhakt. Keine Zeit, das zu entwirren. Ich zog meinen Pullover so tief nach unten wie nur möglich und flitzte aus den Büschen. Rob rannte den Berg hinauf. Ich holte ihn ein, und wir liefen weiter. Vor uns hörten wir kratzende Geräusche, die Richtung stimmte also. Man konnte nicht die Hand vor Augen sehen.

Wir rannten wie die Weltmeister, warum weiß ich nicht. Es lag wohl am »Uff«. Vielleicht war jemand unter dem gigantischen Gipfelkreuz überfallen worden. Andererseits war es nicht übel, frühmorgens im Nebel bergauf zu joggen, während Eukalyptusduft einem die Nasenflügel verätzte. Aber ich wurde müde. Rob war eine Biegung vor mir und rief plötzlich »O mein Gott!«

Erst konnte ich nicht erkennen, was ihn erschreckt hatte. Ich sah nur das Kreuz, und das war in der Tat beeindruckend. Daß ein geschnitzter Jesus dranhing, hatte ich nicht gewußt. Der Nebel hob sich sekundenlang. »Jesus!« sagte ich und log schon wieder. Das war kein Jesus oder das, was sich ein Künstler darunter vorstellte, das war nicht einmal ein übler Streich. Ans Kreuz genagelt hing ein blutüberströmter, weißhaariger Mann in Jeans und grünem Cowboyhemd.

 

2

Zu Füßen des Kreuzes lagen eine Leiter und ein Tau. Plötzlich raschelte es neben uns im Gebüsch: ein großes Tier schien stampfend das Weite zu suchen. Rob drehte kurz seinen Kopf in diese Richtung und blickte dann wieder zu dem Mann am Kreuz. »Vielleicht ist er überhaupt nicht tot«, sagte ich. Aber seine weitaufgerissenen starren Augen sahen sehr tot aus. Und das flüchtende Tier war eindeutig ein Zweibeiner – kein Reh oder Hund bewegte sich so schwerfällig. Rob machte sich an die Verfolgung. Ich betrachtete den Toten.

Warum war ich so sicher, eine Leiche vor mir zu haben? Leider hatte ich auf dem Gebiet bereits Erfahrungen gesammelt, Expertin war ich allerdings nicht. Falls der Mann noch lebte, konnte ich ihn nicht so hängenlassen. Das war mein erster Gedanke. Ich war sauer, daß Rob mich in dieser Situation allein ließ.

Der Nebel hob sich schlagartig, und ich fühlte mich plötzlich schutzlos. Vielleicht jagte Rob gar nicht den Mörder, sondern einen harmlosen Landstreicher oder gar einen ehrenwerten Bürger auf dem Weg zum Ostergottesdienst. Der Mörder lauerte womöglich in meiner Nähe. Ich bekam eine Heidenangst.

Es kostete mich viel Überwindung, nicht in Richtung Auto zu rennen. Doch mußte ich unbedingt feststellen, ob der Mann wirklich tot war. Ich hievte die Leiter ans Kreuz und kletterte los – eine scheußliche Aufgabe. Leitern sind mir eh ein Greuel, und dazu kam die Angst vor zweibeinigen Ungeheuern. Langsam und betont locker begann ich den Aufstieg. Nur keine Hysterie.

»Bleiben Sie, wo Sie sind!« Das war eine Frauenstimme. Ich zuckte zusammen, fiel mit der Leiter um und rollte mich blitzschnell nach rechts, um nicht von ihr getroffen zu werden. Das Geräusch, das wir vor einigen Minuten gehört hatten, mußte von einem ähnlichen »Unfall« herrühren.

Mit erhobenen Händen drehte ich mich nach der Polizistin um – oder wer mich da gestellt hatte. Aber meine Nemesis war eine magere Frau in den Dreißigern mit dünnem Haar, ungeschminkt. Wenn sie für ihr Kleid mehr als zwei Dollar fünfzig bei einem Wohltätigkeitsbasar bezahlt hatte, war das Wucher. Eine Hand verbarg sie in ihrem zerlumpten Anorak, und der Wölbung nach zu urteilen, konnte sie in dieser Hand sehr wohl eine Pistole halten. Oder eine Bierflasche. Ich vermutete letzteres. Sie kam näher. »Sind Sie verletzt?«

Ich schüttelte den Kopf, zu verblüfft, um zu sprechen.

»Stehen Sie auf.«

Ich machte einen Schritt auf sie zu, die Hände immer noch erhoben. Sie wich zurück, aber ich hatte ihre Alkoholfahne schon bemerkt.

»Das ist keine Pistole, nicht wahr?«

»Bleiben Sie stehen!«

Ich bewegte mich auf sie zu. »Wenn es eine Pistole ist, lassen Sie sie sehen.« Ich hatte keine Angst, vielleicht, weil die Frau so zerbrechlich wirkte. Falls sie doch eine Pistole hatte, wirkte sie viel zu schwach, um auf den Abzug zu drücken. Vielleicht spürte ich auch instinktiv ihre Angst. Es heißt, daß man unter extremer Belastung zum primitiven Vorzeitmenschen regrediert. Das hier war eine extreme Belastung. Ich war an einem stillen Ostermorgen auf eine Leiche gestoßen, fand mich von meiner großen Liebe verlassen, fiel von einer Leiter, und wurde schließlich von einer angetrunkenen Vogelscheuche bedroht. Aber das war nicht das Schlimmste. Ich war kurz davor, in die Hose zu machen. Also keinen Unsinn mehr!

»Verhaftung durch eine Bürgerin«, sagte diese Vogelscheuche, nur hörte es sich an wie »Vrhaffung duchn Böerin«.

Ich kicherte. Im Angesicht einer Leiche mochte das respektlos sein, aber ich konnte nicht anders. Es war einfach komisch.

Die Frau bewegte den Gegenstand in ihrer Tasche. In der Ferne wurde ein Motor angelassen.

»Also gut«, sagte ich und nahm die Hände runter, »lassen Sie uns drüber reden.« Ich streckte ihr die Hand entgegen mit der Handfläche nach oben, so wie es die Bullen im Fernsehen machen, wenn sie den Bösewicht eingeschüchtert haben und er bereit ist, seine Geiseln freizulassen. Die Frau hätte die Bierflasche oder die Pistole oder was es auch war, friedlich in meine Patschhand legen sollen, statt dessen schmetterte sie die Waffe mitsamt dem Anorak gegen meine Hand. Das tat verdammt weh. Vielleicht war es doch eine Pistole.

Instinktiv zog ich den verletzten Körperteil zurück. An der These mit den primitiven Instinkten ist was dran. Ich scheuerte der Frau eine und nahm sie in den Schwitzkasten. Jetzt merkte ich, wie zart und schwach sie wirklich war. Sie packte mich mit ihrer freien Hand, rammte mir das Knie in den Bauch und warf mich zu Boden.

Ich zog sie an den Haaren, worauf sie sich in meine Wolle verkrallte. Unsere Gesichter berührten sich fast; sie stank schauderhaft nach Alkohol. Wenn ich mir nicht in die Hose machte, würde ich mich übergeben.

Ich trat ziellos um mich. Sie tat dasselbe, und wir ruinierten uns gegenseitig die Schienbeine. Mein rechter Arm wurde von ihrem Gewicht eingeklemmt, und ich versuchte ihn rauszuziehen, um sie wegzustoßen. Aber sie war schwerer, als sie aussah, und bewegte sich keinen Millimeter. Plötzlich preßte sie mir ihre schmierige Hand eisenhart aufs Gesicht.

»Aber, aber meine Damen!« sagte eine freundliche Männerstimme. Durch die Finger der Unbekannten sah ich, wie sich eine schwarze Hand auf ihre Hand legte und sie von mir wegzog. Sie wand sich heftig, wurde aber von dem älteren Herrn im cremeweißen Anzug weiter festgehalten.

»Danke«, sagte ich und atmete wieder normal.

»Ruhig, ruhig«, sagte der Schwarze, und die Frau entspannte sich. Das konnte ich ihr nicht vorwerfen. Der Typ wirkte in der Tat vertrauenerweckend.

»Ihre Tasche«, keuchte ich. »Sie hat vielleicht eine Pistole.«

»Ich habe keine Pistole.« Ihre Stimme klang mürrisch. Sie holte eine Bierdose hervor.

Schwere Schritte nahten. »Rebecca, was ist hier los?« rief Rob.

Ich stand auf und fiel ihm in die Arme.

»Hast du ihn erwischt?«

Er schüttelte den Kopf. »Er war offenbar mit dem Auto gekommen. Ich hörte ihn nur noch wegfahren.«

»Leute, wer hilft mir mit diesem armen Mann?«

Der elegant gekleidete Schwarze, dem es offenbar nichts ausmachte, über drei Verrückte und eine mögliche Leiche zu stolpern, versuchte die Leiter ans Kreuz zu lehnen. Da wollte sich die Vogelscheuche davonmachen. Ich stellte ihr ein Bein. Nicht gerade zivilisiert, aber meine Instinkte stammen noch aus der grauen Vorzeit. Sie fiel fluchend hin. Ich wollte ihr helfen, doch sie schlug wild um sich.

»Rebecca!« Rob war schockiert.

»Sie behauptete, sie habe eine Pistole –«

Sirenengeheul unterbrach mich. Ich sah wieder zu dem Mann am Kreuz. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, nur der Nebel hatte sich soweit verflüchtigt, daß der Leichnam von weitem sichtbar sein mußte. Vielleicht hatte ein Zeitungszusteller oder ein anderer Frühaufsteher die Polizei alarmiert.

»Junge Frau«, sagte der schwarze Mann, »Ihr Reißverschluß ist offen.«

»Wer sind Sie?« fragte Rob, als ich meinen Pullover runterzog. »Reverend Ovid Robinson von der Third Baptist Church. Ich halte die Predigt heute früh. Und wer sind Sie, Sir?« Er gab Rob nicht die Hand, kein Wunder.

Aber mehr brauchte Rob nicht. Er riß die Führung an sich, ganz der Reporter bei einem Auftrag, die selbsternannte Autorität. Er stellte uns beide vor, erklärte, was wir vorgehabt hatten, verbreitete sich über die Entdekkung der höchstwahrscheinlichen Leiche und kam zum Thema Vogelscheuche, als ihn Reverend Ovid Robinson unterbrach.

»Schön und gut, Mr. Burns. Aber wären Sie jetzt so freundlich, mir bei diesem armen Mann zu helfen?« Er zeigte nach oben, zum Kreuz. Er mußte förmlich schreien wegen der herannahenden Sirenen.

»Er ist tot«, sagte die Vogelscheuche. »Das sehen Sie doch.«

Die Sirenen verstummten, und wir hörten hastige Schritte. Mr. Robinson schien gemerkt zu haben, daß für die verspätete Rettung die Bullen zuständig waren. Er trat beiseite und überließ dem rasenden Reporter die Führung.

»Wie heißen Sie?« fragte Rob die Vogelscheuche.

»Miranda.«

»Miranda wie?«

»Miranda Warning.« Sie gackerte los bei diesem Kalauer.1

Rob hakte nicht nach. Ich wußte, was er dachte. Ihren Namen würden ihm die Bullen verraten, aber nicht das, was sie wußte. Er hatte nicht viel Zeit, also entschied er sich für die Schockmethode. Mit einer knappen Handbewegung in Richtung Kreuz fragte er: »Haben Sie ihn umgebracht?«

»Himmel, nein. Ich hatte mich im Auto versteckt, hinten auf dem Boden. Wissen Sie, wo dieser Betrüger war? Im Gelben Papagei. Wissen Sie, was das ist?«

Rob nickte. »Eine Schwulenbar.«

»Der Typ war eine Schwuchtel, von Anfang an. Ich hätte es wissen müssen, so wie er mich behandelt hat.«

»Er war im Gelben Papagei, und was dann?«

»Weiß ich nicht.«

»Das wissen Sie nicht? Was soll das heißen, Sie wissen es nicht?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich bin eingeschlafen. Ich hatte einen Sechserpack Bier mitgenommen, für alle Fälle. Den habe ich beim Warten getrunken; dann habe ich mir noch einen besorgt. Als ich aufwachte, war ich immer noch im Auto, und es stand unten am Mount Davidson. Ich hörte Lärm und kam her. Ich dachte, sie« – sie zeigte auf mich – »hätte ihn umgebracht, und ich versuchte sie zu verhaften.«

»Wie heißt er?«

Sie antwortete nicht.

»Na los, die Bullen werden das sowieso gleich erfahren.«

Rob geht zu hart ran, dachte ich und berührte warnend seinen Arm, aber er wehrte ab; er lief ein Stück den Berg hinunter, um nachzusehen, ob die Bullen schon auftauchten, und kam wieder zurück. »Miss Warning, warum sagen Sie uns nicht einfach seinen Namen?« Er fixierte sie mit seinen kobaltblauen Augen – und schon strauchelte er, fiel hin und verstauchte sich den Knöchel.

Ich wollte ihm aufhelfen, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Miranda verdrückte sich seitlich ins Unterholz. Ich setzte ihr nach; Robs Knöchel konnte warten.

Sie schien in dem dichten Buschwerk verborgene Pfade zu kennen und kam besser voran als ich. Aber dann ließ mich ein Fall auf meinen Allerwertesten gleich sechs Meter am Stück bergab rutschen. Jetzt hatte ich Miranda wieder im Blick.

»Hände hoch!« kam es durch ein Megaphon. »Polizei! Hände hoch, oder wir blasen Ihnen die Rübe weg!«

Rüben. Sie hätten Rüben sagen müssen. Oder sahen Sie nur mich? Miranda blieb nicht stehen, genausowenig wie ich. Und dann gab es einen schauerlichen Knall. Wie aus einem Hundertpfünder.

Ich warf mich auf den Bauch und biß auf die Erde.

»Nicht schießen! Nicht schießen – es ist Rebecca!« brüllte Rob. »Martinez, Sie Idiot – das ist Rebecca da unten!«

Martinez. Oh, nein. Mein unliebster Bulle. Und Rob hatte ihn Idiot genannt. Martinez würde ihn bestimmt wegen Beamtenbeleidigung verhaften – wie gut, daß Rob seine Anwältin dabei hatte.

»Wenn Sie das da unten sind, Miss Schwartz, stehen Sie auf, Hände über dem Kopf.«

Hände über dem Kopf! Martinez war ein Idiot. Warum behandelte er ein Mitglied der kalifornischen Gerichtsbarkeit – er kannte mich ja – wie einen gemeinen Kriminellen? Aber dies war nicht der Augenblick, ihm Manieren beizubringen. Ich stand auf und hob die Hände über den Kopf.

»Nun kommen Sie den Berg herauf.«

Er wollte nur demonstrieren, wie widerlich er sein konnte. Martinez erkannte mich eindeutig und ließ mich trotzdem mit erhobenen Händen den Hügel heraufklettern. Das würde ich nicht tun, basta. Ich nahm die Hände runter.

»Hände hoch, verdammt noch mal!«

Es ist eine nationale Schande, daß unser Strafverfolgungssystem über keine besseren Mitarbeiter verfügt. Nein, das nehme ich zurück, es gibt natürlich in unserem großen Heimatland Tausende von guten, engagierten und höchst intelligenten Polizeibeamten. Ich weiß nur nicht, warum ich immer das Pech habe, an Martinez und seinen glanzlosen Genossen Inspector Curry zu geraten. Ich hob die Hände erneut. »Sie entkommt uns!«

»Wer, Miss Schwartz?« brüllte Martinez mit müder Stimme. »Wer entkommt uns?«

Was sollte ich sagen? Miranda Warning? Sollte mich die ganze Polizei auslachen? Ich schwieg und ging weiter, wobei ich in einen meditativen Zustand verfiel. Nach zehn Schritten kam mir die todsichere Idee, wie ich es Martinez heimzahlen konnte. Ich schlug mich in die Büsche.

»Miss Schwartz, was tun Sie da?«

»Ich komme gleich, Inspector.«

»Was tun Sie da, Miss Schwartz? Antworten Sie!«

Gut. Er sah also nicht, was ich gerade tat: ich kämpfte mit meinem Reißverschluß.

Ich antwortete honigsüß: »Ich erleichtere meine Blase, Inspector.«

Ich ließ mir gehörig Zeit. Schlenderte dann gemächlich den Hügel hinauf, die Arme locker schwingend. Martinez schien seinen Hände-hoch-Befehl vergessen zu haben. Konzentrationsschwäche, vermute ich.

 

3

Martinez und Curry brachten uns natürlich zur Hall of Justice2, das heißt, wir durften in unserm Leihwagen fahren und waren noch eine Weile unter vier Augen. Hob nutzte prompt die Gelegenheit, sich darüber zu mokieren, mit welchen Mitteln ich Martinez ausgetrickst hatte.

Ich hatte noch ein Erfolgserlebnis gehabt. Als ich auf dem Gipfel ankam, fragte Martinez wieder: »Wer soll da entkommen sein, Miss Schwartz?«

Mit der Antwort »Miranda Warning« war das Überraschungsmoment auf meiner Seite, und alle lachten: über ihn, nicht über mich.

Er zahlte es mir in der Hall wieder heim und ließ mich stundenlang warten. Reverend Ovid Robinson und Rob befragte er zuerst. (Miranda war natürlich entwischt.)

Der Mann am Kreuz war eindeutig tot. Er hatte keinerlei Papiere bei sich und wies mehrere Schußwunden im Brustbereich auf, die ihm zugefügt worden waren, bevor man ihn ans Kreuz nagelte. So sah es Martinez; ein lebendes Wesen hätte wohl kaum für eine Kreuzigung stillgehalten.

Als Martinez uns endlich gehen ließ, kamen die Gottesdienstbesucher schon wieder aus den Kirchen. Ich hätte auf dem Nachhauseweg lieber geschlafen, aber Rob wollte unbedingt quatschen. Was ich von Miranda Warning dächte?

Ich raffte meine armseligen Verstandeskräfte zusammen. »Ihrer Kleidung nach zu urteilen, lebt sie wahrscheinlich im Rotlichtbezirk, in Tenderloin. Sie war angetrunken und sprach undeutlich, aber nicht immer, was heißt, daß sie ihre Sprache noch kontrollieren konnte, wenn sie daran dachte. Was wiederum dafür spricht, daß sie ziemlich viel Übung darin hat. Ihr ausgemergelter Körper und ihre schlampige Kleidung lassen vermuten, daß sie Alkoholikerin ist und ziemlich heruntergekommen. Ich würde sie in den Hausfluren von Tenderloin suchen.«

»Die klassische Bag Lady?«

Ich überlegte. »Kurz davor. Sie kampiert noch nicht im Hausflur. Vielleicht in einer Absteige. Aber etwas ist komisch – der tote Mann sah eher proper aus.«

»Und sie sagte, er sei ihr Liebhaber.«

»Sie sagte das nicht ausdrücklich, meinte es aber sicher. Vielleicht war er ihr Freier.«

»Aber ihrer Kleidung nach ist sie keine Nutte.«

»Nein, und was sie von ihm erzählte, klang nicht nach Freier. Also streich das durch und mich auch. Ich bin tot.« Ich gähnte. Rob hielt vor meinem Haus.

»Ich stell’ den Wecker auf Dienstag«, sagte ich. »Ruf mich dann an.«

Ich betrat meine Wohnung, fütterte die Fische und dankte im stillen dem Gott meines Volkes, den ich in Notfällen beschwor, daß Mom und Dad in Israel waren. Sonst würde Mom in der Sekunde anrufen, in der sie im Radio von dem Mord erfuhr.

Dafür klingelte es drei Stunden später, ungefähr anderthalb Tage bevor ich mich fit genug fühlte, um ranzugehen. Ich hob ab und hörte das Freizeichen. Also die Türglocke, und die klingelt überhaupt nicht wie das Telefon. Ich mußte im Koma gelegen haben. Ich stolperte zur Sprechanlage: »Lassen Sie sich was verdammt Überzeugendes einfallen.«

»Ich heiße Michael Anthony und habe hier einen Scheck für Sie über eine Million Dollar.«

Ich seufzte und drückte auf den Summer. Natürlich Rob. »Ich habe gelogen«, sagte er beim Reinkommen. »Eigentlich vertrete ich die William Morris Agentur. Ich bin auf einer landesweiten Talentsuche und ...«

»Sagen Sie nichts. Sie drehen ein Remake von Vom Winde verweht und wollen mich als Scarlett O’Hara.«

»Genauer gesagt für In den Wind geschrieben. Wir dachten, jetzt, mit der Frauenbewegung und so, da wollten wir Clarence Darrow von einer Frau spielen lassen. Ein Kollege hat Sie vor Gericht bewundert.«

»Oh! Und was hat er gesehen? Mein Eröffnungs- oder mein Schlußplädoyer?«

»Davon hat er nichts gesagt.«

»Was hat er denn gesagt?«

»Sie hätten tolle Titten.«

»Verdammt. Ich bin müde.« Ich ließ mich aufs Sofa fallen in der Hoffnung, daß Rob sich dazugesellen würde. Aber er ging in die Küche und setzte Kaffeewasser auf. »Ich brauche deine Hilfe.«

»Hm.« Meine Augen fielen zu.

»Die Bullen haben am Rande des Parks eine Brieftasche gefunden. Sie gehört dem Mann am Kreuz. Laut Führerschein heißt er Jack Sanchez, ein Tourist aus Gallup, New Mexico.«

»Ein Tourist! Er lebte gar nicht hier?« Ich machte die Augen wieder auf.

»Tourist: eine Person, die auf Touren geht. Keine Person, die hier lebt.«

»Miranda hörte sich so an, als ob sie mit ihm zusammenlebt.«

»Vielleicht ist sie auch Touristin. Sanchez ist seit vorgestern hier.«

»Das ist sie bestimmt nicht. Sie muß gelogen haben.«

»Wir sollten ihre Geschichte überprüfen. Trink deinen Kaffee.«

Ergeben setzte ich mich auf und nahm einen Schluck. »Du meinst also, wir sollten sie überprüfen. Du bist doch seit zehn Jahren Reporter?«

»Seit elf.«

»Und plötzlich brauchst du meine Hilfe. Welches meiner Talente ist denn auf einmal so gefragt?«

»Wie ich schon sagte, du hast tolle Titten.«

»Titten.« Das war rätselhaft. »Brauchst du die als Augenweide beim Tippen? Als zarte Inspiration?«

»Ich brauche weibliche Begleitung für den Gelben Papagei.«

Ich lachte lauthals. »Warte, bis ich das Chris erzähle. Unerschrockener Reporter traut sich ohne Dame nicht in Schwulenbar. Nein, ich sag’s lieber deinem Boß.«

»Ich dachte, du kämst gerne mit.«

Er wirkte so gekränkt, daß ich schon wieder lachen mußte. »Okay, Pussycat, ich zieh’ mich an.«

Er folgte mir ins Schlafzimmer. Durch seine Schmeicheleien angetörnt, zog ich das T-Shirt über den Kopf und gab Rob einen Kuß. Aber er guckte nur auf die Uhr: »Los, Kleines. Es ist bald Redaktionsschluß.«

Ich hätte es wissen müssen. Ein Reporter auf der Jagd nach einer Story ist wie ein Teenager beim Rendezvous: nur hinter dem EINEN her; was aber etwas anderes ist. Soviel zu meinen angeblichen Vorzügen. Manche Kerle sagen eben alles mögliche, nur um ihr Ziel zu erreichen.

Als ich mich anzog, schnupperte er an meinem Nacken. »Ich hätte dich nicht aufwecken sollen.«

»Ist schon gut.«

»Du hast dir meinetwegen die ganze Nacht um die Ohren geschlagen.«

»Ist schon in Ordnung.«

»Dir wären eine Prügelei, eine Leiche und ein Morgen mit deinem bestgehaßten Bullen erspart geblieben!«

»Ehrlich – was ich über Mickey erfahren habe, war viel schlimmer.«

»Du brauchst Entspannung, Rebecca. Wie wär’s mit einem Schlammbad?«

»Wie bitte?«

»Wir nehmen ein Schlammbad in Calistoga. Oder ein Mineralbad und eine Massage.«

»Das kapiere ich nicht. Ich dachte, du wärst total in Zeitdruck?«

»Nicht jetzt. Nächsten Samstag. Wir könnten den ganzen Tag dort zubringen und den Rückweg mit ein paar Weinproben anreichern.«

»Wirklich?« Das war die beste Idee seit der Erfindung des Haarföns. Die doppelte Reinigung: Poren und Psyche.

»Wirklich! Samstag früh fahren wir los.«

Ich gab ihm noch einen Kuß und streifte schwarze Lederhosen und einen purpurroten Pullover über – wenn der Gelbe Papagei eine Lederbar war, wollte ich passend angezogen sein.

Es war aber keine Lederbar, sondern nur ein finsteres Loch, in dem ein paar Typen Bier tranken. Der Barkeeper hatte eine Punkfrisur – kurze braune Haare mit einer langen Locke im Nacken. Ein Einundzwanzigjähriger hätte damit süß ausgesehen, aber er war um die Vierzig. »Seid ihr Touristen? Dann muß ich euch was sagen. Diese Kneipe hier ...« Er sah aus, als wollte er es uns schonend beibringen.

»Wir sind vom ›Chronicle‹«, sagte Rob und erklärte, was wir wollten. Ich hatte keine Ahnung, wie ein Reporter so was macht – ob er sich für jemand anderen ausgeben würde oder was sonst. So gut ich Rob auch kannte – ich hatte ihn nie gefragt, wie er eigentlich arbeitete. Aber er sagte schlicht und einfach, worum es ging. Daß ein Tourist ermordet und auf dem Mount Davidson ans Kreuz genagelt worden war und daß dieser Tourist einer Zeugenaussage zufolge am Abend vorher den Gelben Papagei besucht hatte.

Der Barkeeper reagierte wie ein Haufen Kinder vor einer Fernsehkamera: er riß sich drum dabeizusein. Und wir hatten Glück – der Barkeeper (Jake Nestor – »mit o, nicht mit e«) hatte auch am Abend zuvor Dienst gehabt.

»Er trug ein grünes Cowboyhemd«, sagte Rob.

»Schon älter? Graue Haare?«

Rob nickte.

»Yeah, ganz sicher. Den habe ich gesehen. Er war ein paar Stunden hier. Ein Amaretto Spezi.«

»Wie bitte?«

»Das hat er getrunken. Amaretto Cream.«

»Oh. Haben Sie gemerkt –«

»Mann, sah der aus. Hundert Prozent Gallup, New Mexico.«

»Er hat also gesagt, woher er kam?«

»Ja. Er sei Rancher. Gibt es in Gallup Ranches?«

Rob zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht. Hat er –«

»Er sagte, ihm gehöre halb New Mexico. Aber sein Satinhemd war von J. C. Penney’s, vom Wühltisch wahrscheinlich. Synthetic City, Sie verstehen?«

Rob lachte. »Rhinestone Cowboy?«

»Er hatte nicht mal Stiefel an. Nur Adidas.«

Rob wurde wieder ernst. »Jetzt liegt er jedenfalls nackt auf dem Seziertisch.«

Jake zuckte ernüchtert zusammen. »Tot. Sie glauben doch nicht, daß ...?«

»Doch. Seinen Mörder traf er hier.«

»Sweet Jesus«, sagte Jake.

»Hat er jemand abgeschleppt?«

»Herrjemine. Da war dieser andere Cowboytyp ...«

»Kennen Sie ihn?«

»Nein. Er war irgendwie seltsam, fast unheimlich. Klar war er seltsam – Terry mochte ihn.«

»Terry?«

»Terry Yannarelli. Wohnt gleich um die Ecke. Sie können ja mit ihm reden.«

»Er gefiel Terry und ging nicht mit ihm weg?«

»Nein, und das ist verrückt. Es gibt Kerle, die würden einen Mord begehen, nur um mit Terry ins Bett zu gehen. Ich stehe nicht auf solche superadretten Typen, aber Terry wirkt wie Mr. Musterschüler persönlich – ich spendiere ihm Freidrinks, nur damit er lange hierbleibt.«

»Ein echtes As?«

»Die Ballkönigin.«

»Aber Rhinestones Freund hatte nichts für ihn übrig.«

»Langsam fällt mir alles wieder ein«, sagte Jake. »Terry spendierte ihm einen Drink. Er kam rüber, blieb aber nur fünf Minuten. Das habe ich noch nie erlebt.«

»Vielleicht mochte der Typ keine superadretten Jungs. Wie sah er aus?«

Jakes Bück ging in die Ferne, als versuchte er sich zu erinnern. Rob half nach: »Gutaussehend?«

»Das kann ich nicht sagen. Er trug eine dunkle Sonnenbrille und einen Cowboyhut, in die Stirn gezogen.«

»Sonst noch was?«

»Einen Bart. Viel kann ich wirklich nicht sagen. Ein mysteriöser Typ. Jesus – das muß der Mörder gewesen sein.«

Rob nickte.

»Wenn ich’s recht überlege, war er auch komisch angezogen. Der Hut und die Jeans waren okay. Aber sein Hemd. Zu bieder.«

»Synthetic City?«

»Keine Ahnung. Einfach zu bieder. Jessas. Ein Mörder. Und wissen Sie was?« sagte Jake. »Niemand sonst hatte Interesse an diesem armen Idioten.«

»An dem Mörder?«

»Nein. An Rhinestone. Der konnte keine Fliege verführen. Und da war noch was faul.«

»Mit Rhinestone?« Rob klang konfus.

»Nein, mit dem Mörder.«

»Was denn?«

»Sein Bart war nicht echt.«

Ich konnte mir gerade noch ein »Synthetic City?« verkneifen. Mittlerweile hatte sich eine aufgeregt murmelnde Volksmenge um uns versammelt. Die Stammkunden hatten mitgekriegt, daß letzte Nacht in ihrer Bar ein Mann einen anderen Mann abgeschleppt und ermordet hatte. Ihnen dämmerte, daß das jedem hätte passieren können und daß so was schon mal passiert war und wieder passieren konnte. Die schwule Version von Jack The Ripper.

Rob holte sich Terrys Adresse und nickte den Leuten zu, als wir gingen. »Die Angst geht um«, sagte er.

»Wie?«

»So heißt mein nächster Artikel. ›Die Angst geht um – Ein Irrer auf freiem Fuß‹.«

»So genau wissen wir das doch nicht. Der Killer hatte es offenbar direkt auf Rhinestone, ich meine auf Sanchez, abgesehen. Er muß ihn gekannt haben.«

»Gut, aber trotzdem wird das eine prima Artikelserie.«

Ich biß mir auf die Zunge, um nur keinen Streit anzufangen.

Falls Terry Yannarelli wirklich Italiener war, hatte er sich entweder die Nase richten lassen oder seine Mutter hieß MacGillicuddy. Ein gutaussehender Rotschopf ohne Sommersprossen, mit goldbrauner Haut, die auf häufige Solariumbesuche schließen ließ. Mir war klar, was die Typen in ihm sahen. Er trug nur ein Handtuch um die Hüften, als er uns die Tür öffnete. Seine Muskeln waren wunderbar entwickelt, sicher das Ergebnis von intensivem Training. Er war begierig, alles zu erzählen.

»Ich wußte, mit dem Kerl stimmt was nicht. Ich habe es Jake gesagt – hat er es Ihnen erzählt? Ich wußte es. Er sagte, der Typ ist eine taube Nuß.«

»Aber Sie haben sich mit ihm unterhalten?«

»Verflixt, nein. Ich habe es versucht, aber er wollte nicht. War eindeutig nicht interessiert. Er fragte mich, woher ich komme, und das war’s dann auch schon. Ich sagte: ›Ich wohne gleich um die Ecke‹, und blinzelte ihn mächtig an. Das wirkt sonst todsicher. Jake denkt, die Kerle mögen mich, weil ich so niedlich bin, aber sie mögen mich, weil ich so nah wohne. Die heimlichen Schwulen mögen das besonders.«

»Die heimlichen?«

»Na, Sie wissen doch. Die mit Frau und Kindern zu Hause – die einmal im Monat in die Castro Street kommen. Die verschwinden gern mal auf einen Quickie. Und genau die sind meine Schwäche.«

»Quickies?«

»Nein, die heimlichen. Ich erkenne sie sofort.«

»Und dieser Typ war so einer?«

»Darauf können Sie Gift nehmen. Er hat den Alten umgelegt, nicht? Das sind die, die durchdrehen. Sie hassen sich selbst, weil sie schwul sind, also verprügeln sie gerne Schwule.«

»Sind Sie auch schon verprügelt worden?«

»Gelegentlich. Ich bin nicht gerade scharf drauf. Aber mich reizt die Gefahr.«