Stefan König, geboren 1959 in München, lebt als freier Schriftsteller am Nordrand von Penzberg – mit Blick auf die Benediktenwand. Das Gebirge ist dem begeisterten Kletterer, Wanderer und Mountainbiker Inspiration für seine Romane und Erzählungen. Und es spielt in seinen Bergkrimis und auch in seinen anderen Veröffentlichungen immer eine Hauptrolle.

Mit „Stumme Rache“ legt er „Tobs Thanners zweiten Fall“ vor – wer „Abgrund“ gelesen hat, wird mit Spannung auf das neue Abenteuer des jungen Privatermittlers gewartet haben, dem zunächst alle Voraussetzungen für seine kriminalistischen Aufgaben zu fehlen schienen.

Wie „Abgrund“ ist auch „Stumme Rache“ wieder ein echter Krimi – kein Regionalkrimi mit Anspielungen auf lokale Prominenz, kein Pseudokrimi mit mehr Humor als Spannung. Königs Storys (in einer anderen Reihe sind die Alpenkrimis „Schattenwand“ (2009), „Kalter Fels“ (2010) und „Gletscherkalt“ (2012) erschienen) sind hart, psychologisch genau und höchst authentisch, wenn es um die Berge und das Bergsteigen geht.

„Stumme Rache“ fesselt von der ersten bis zur letzten Seite.

Stefan König

Stumme Rache

Tobs Thanners zweiter Fall

Bergkrimi

Bergverlag Rother

Ein guter Tag

Der Mann zitterte am ganzen Körper. Nackt lag er auf dem kalten Betonboden des fensterlosen Raumes, die Hände waren ihm nach hinten gebogen und mit den Füßen zusammengebunden worden, die Schultern, die Handgelenke, die Knie und die Hüfte, alles schmerzte fürchterlich und er zitterte vor Kälte und vor Angst.

Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand und wie er hierhergekommen war. Das Letzte, woran er sich erinnern konnte und was hinter den Mauern dieses furchtbaren Gefängnisses lag, war, dass er seine Freundin besucht hatte und dass er eigentlich bei ihr hatte übernachten wollen, dass sie dann aber – wieder einmal – gestritten hatten.

Ich bin zum Auto gegangen, dachte er. Wollte zurückfahren. Wütend war ich und ein bisschen deprimiert auch. Und dann …

Er war so wütend und so deprimiert gewesen, dass er nicht den kleinsten Hauch jener Gefahr verspürt hatte, die in seinem Rücken lauerte.

Jetzt, zitternd, verbogen, voll Todesangst auf dem Beton liegend, glaubte er sich zu erinnern, dass er die Wagentür aufgeschlossen hatte – mit dem Schlüssel im Schloss (weil die Batterie der Fernbedienung lange schon leer war), dass er sodann die Tür geöffnet hatte und im Begriff war, einzusteigen. Dann aber … nichts mehr … Finsternis … kein Schmerz, keine Erinnerung.

So muss der Tod sein, wenn er es gut meint mit einem, dachte er und zitterte noch mehr als ohnehin schon.

Er konnte nicht sehen, dass er unbekleidet war. Die Finsternis war total. Nur spüren konnte er, dass er nackt und schutzlos war. Der Raum roch modrig und wie ewig nicht mehr gelüftet.

Er spürte sein Herz klopfen. Schnell. Panisch. Und er hörte es sogar. Bumm … bummbummm … bummbumm … schlug es, und einen Moment lang glaubte er, dass man es weit hören musste, dass der Raum, in dem er sich befand, die Herzschläge wie ein großer Resonanzkörper weitertrug. Doch dieser Irrglaube hielt sich kaum länger als ein paar Sekunden. Niemand hörte ihn. Niemand war da. Niemand würde ihn finden. Grausam gefesselt, würde er hier krepieren: verhungern, verdursten, verrecken.

Er spürte, wie ihm sein Urin warm über den Oberschenkel rann. Selbst hier, in dieser kalten Hölle, allein und verdammt, war ihm das peinlich. Doch die Panik drängte alles andere zurück. Die Panik, hier verenden zu müssen.

Er schrie. Schrie, so laut er nur konnte. Schrie, bis er keine Luft mehr bekam, und hörte dann schwer hechelnd dem unwirklich erscheinenden Klang seiner Stimme nach: Die Schreie hallten von den Wänden wider, dumpf, bleiern, ausweglos.

Er versuchte den Atem zu beruhigen, das Pochen seines Herzens nicht mehr zu hören und dafür in das schwarze Nichts zu lauschen, das ihn umgab. Wo war er? Drang von hinter den Mauern irgendetwas an ihn heran, das ihn wenigstens hätte vermuten lassen, wo er sich befand – in einer Stadt mit Verkehrslärm oder in einem Wald oder an einem Fluss, ob über der Erde oder unter ihr, ob noch halb im Leben oder schon ganz in einem Grab?

Er hielt das nicht aus, schrie wieder. Und als er nicht mehr schreien konnte, begann er zu schluchzen, so heftig, dass sein ganzer Körper davon geschüttelt wurde.

Kopfschmerzen hatte er und er spürte eine leichte Übelkeit aufsteigen. Doch beides, der Schmerz im Kopf und die Übelkeit, wäre erträglich gewesen. Das Schlimmste an allem war, nicht zu wissen, nicht verstehen zu können, wie er in diese Situation geraten war.

Was wollte man von ihm? Ich bin doch niemand, dachte er verzweifelt. Ich bin nichts und habe nichts. Niemand könnte mich erpressen wollen. Aber was dann? Was will man von mir?

Er hatte kein Zeitgefühl. Doch er spürte, dass die Phasen größter Panik mit Phasen der Beruhigung und der Klarsicht abwechselten, dass die höllische Angst wie in Wellenbewegungen daherkam – und genauso wieder verebbte. Allerdings nicht für lange …

In den Minuten der Beruhigung – oder waren es nur Sekunden? – konnte er immerhin so viel Klarheit gewinnen, dass er seine Lage ein wenig besser einzuschätzen wusste.

Ich bin entführt worden. Betäubt und entführt. Als ich aus Tesis Wohnung kam … nein, als ich zum Auto ging … vielleicht in dem Augenblick, als ich einsteigen wollte. Ja, ich glaube, so war es: Als ich einsteigen wollte, genau in dem Moment, müssen die mich überfallen haben.

Er roch seinen Urin. Und er spürte die Nässe jetzt kalt auf seiner Haut.

Wenn die mich töten wollen, dachte er weiter, dann hätten sie es gleich getan. Am Auto. Oder hier. Dann hätten die mich doch nicht nur gefesselt und hierher gelegt, oder? Nein, das hätten die gleich gemacht. Jede Verzögerung wäre für die doch gefährlich. Aber warum? Warum sollten die mich überhaupt töten wollen?

Ihm kam der Gedanke, dass dieses Verließ, seine Nacktheit, die völlige Finsternis Teil des Mordes sein könnten, der an ihm begangen wurde.

Da schrie er wieder. Mit all der Kraft, die seinem nach hinten gebundenen Körper zu entlocken war. Er schrie, schrie, schrie, bis seine Stimme leiser und leiser wurde und schließlich nichts mehr da war als ein klägliches, weinendes Wimmern.

Er versuchte, seine Lage zu verändern, aber es gelang ihm kaum. Die schmerzende Hüfte konnte er ein wenig entlasten, aber es dauerte nicht lange, bis der Druck genauso stark, wenn nicht noch vehementer, zurückkam.

Wer?

Wer macht das?

Was wollen die von mir?

Ich hab kein Geld. Meine Alten haben auch kein Geld. Da ist nichts zu holen. Die wollen was anderes von mir. Die wollen was – aber ich weiß nicht was.

Plötzlich hörte er ein Geräusch: laut, metallen, brachial. Und dann fiel Licht in sein Gefängnis. Es war so grell, dass er die Augen schließen musste. Und es kam durch eine Öffnung – war es eine Tür? War es ein Fenster? War es sonst irgendwas? –, die sich hinter seinem nackten Rücken befinden musste.

Das Licht war gleißend. Sobald er die Augen wieder ein klein wenig öffnen konnte, sah er es beinahe weiß auf kahlen Betonwänden.

Ein scharfkantiges Lichttrapez fiel auf die gegenüberliegende Wand, drei oder vier Meter von ihm entfernt. Luft, nicht kühl und dennoch erfrischend, erfüllte den Raum. Betonwände, hart, kalt und wahrscheinlich meterdick – das sah er jetzt, erkannte es als sein Gefängnis, als seine Gruft, aus der er vielleicht niemals wieder herauskommen würde, nicht lebend zumindest.

Er versuchte den Kopf zu drehen, über die Schulter zu schauen, dorthin, wo das Licht einfiel. Irgendjemand musste dort sein.

War es eine Einladung, sich zu befreien? Oder würde jetzt jemand zu ihm ins Verließ kommen, gebückt wahrscheinlich, denn auch das konnte er erkennen: dass der Raum nicht hoch war, kein Zimmer wie bei ihm zu Hause oder in Tesis kleiner Wohnung.

Ob Tesi wusste, dass er entführt worden war?

Er dachte an seine Freundin und die Tränen liefen ihm über die Wangen.

Nimm dich zusammen, dachte er.

Tesi ist jetzt nicht wichtig.

Wichtig ist, dass die Tür offen ist, dass ich Luft bekomme, dass dort draußen die Freiheit ist.

Einen Moment lang stiegen Zweifel in ihm auf – was ist, wenn dort nicht die Freiheit ist, sondern nur ein Stück Brachland, umgeben von Stacheldraht? Doch es gelang ihm, die Zweifel zu verdrängen und stattdessen jenen allerletzten Rest an Optimismus wachzurufen, der in seiner Situation noch verfügbar war.

Er horchte. Horchte hinein in die Stille. Sein Herz hörte er schlagen. Ein Vogel zwitscherte. Ganz fern das Geräusch eines Automotors. Aber niemand kam. Keine Schritte auf dem kalten Boden. Kein Schatten, der in den Lichtschein fiel. Nicht der geringste Laut.

Er spannte seine Muskeln an und versuchte mit den Handgelenken Druck auf seine Fesseln auszuüben. Die Tür stand offen, er konnte sie nicht sehen, aber er sah das Licht und er atmete die Luft, die den strengen Geruch seines Urins beinahe überdeckte. Das Licht war Hoffnung. Dort draußen konnte die Rettung sein.

Er wusste, dass er jede Chance ergreifen musste, um hier rauszukommen. Aber es gab keine.

Er hörte Metall auf dem Steinboden. Es klang wie ein blecherner Hundefressnapf. Und Sekunden später hörte er, dass noch etwas hinter ihm abgestellt wurde.

Plastik, dachte er. Ein Plastiknapf.

Dann wurde das Licht von der Wand gewischt, eine Tür (oder irgend so etwas) fiel schwer ins Schloss, er lag wieder in völliger Dunkelheit und er hörte, wie ein starker Riegel vorgeschoben wurde.

Die Freiheit war draußen. Herinnen roch es nach Essen. Gulasch? Hackfleisch? Spaghetti Bolognese?

Er würde dorthin robben müssen, mit Händen und Füßen, die ihm hinter dem Rücken zusammengebunden waren. Seiner Nase folgend, würde er den Napf suchen müssen – in völliger Dunkelheit. Und dort würde er einen Fraß fressen müssen, gedemütigt wie ein geprügelter Hund.

Nur, dass er nicht den geringsten Hunger hatte.

Warum?, fragte er sich. Warum bin ich hier?

Er fand keine Antwort.

Nur Angst und Verzweiflung.

Sein Magen rebellierte, verkrampfte sich, sein Darm wollte sich entleeren.

Er hörte die gurgelnden Geräusche in seinem Bauch, spürte die Schmerzen, die ihm das Zurückhalten seiner Notdurft verursachten – und konnte irgendwann nicht mehr an sich halten.

Es war fürchterlich, in der eigenen stinkenden Brühe zu liegen. Und doch brachte die unfreiwillige Entleerung eine kleine Linderung mit sich. Es war ihm, als hätte er viel Übles von sich gegeben, als wäre er ein wenig leichter geworden und als könnte er nun damit beginnen, die Gedanken und Gefühle besser zu ordnen. Klarheit in diese Angelegenheit bringen, das war es, was er wollte, was er schaffen musste!

Freilich konnte von Klarheit keine Rede sein.

Immerhin lüftete sich ein Schleier in seiner Erinnerung, so wie ein hartnäckiger Nebel sich eines Morgens aus einem Park verzog und wenigstens ein bisschen etwas von der Wiese und den Stämmen freigab, die nicht mehr zu sehen gewesen waren.

Ein Lichtblick?

Vielleicht.

Aber es stank. Es stank so verdammt fürchterlich, dass er bestimmt bald kotzen würde.

***

Brunner stieg in den Wagen des jungen Mannes, den er ein gutes Stück entfernt abgestellt hatte, ließ den Motor an und fuhr davon. In den letzten Jahren hatte er sich wieder und wieder überlegt, wie er vorgehen würde, wenn ihm die Kerle in die Hände fielen, die seiner Tochter das angetan hatten.

Unzählige Szenarien hatte er in Gedanken durchgespielt, er hatte Urteile gesprochen und wieder verworfen, hatte jede Kleinigkeit geplant, wissend, dass kein noch so guter Plan bei seiner Umsetzung ohne Improvisation auskommt. Er hatte dafür Zeit gebraucht und er hatte sich Zeit gelassen – immer den irgendwo aufgeschnappten Spruch im Hinterkopf: „Die Liebe musst du heiß, die Rache kalt genießen …“

Brunner sah auf die Uhr. Kurz nach eins. Die Sonne stand hoch am Himmel.

Mittlerweile könnte jemand den Kerl als vermisst gemeldet haben, dachte er. Allzu lange kann ich nicht mehr in seinem Auto rumkutschieren.

Er mied die Autobahn, fuhr auf der Landstraße Richtung Osten, von Jenbach nach Kufstein und dann, auf deutscher Seite, über Oberaudorf und Brannenburg nach Rosenheim. Auf dem Bahnhofsparkplatz stellte er den Wagen ab, dann ging er zu Fuß in die Altstadt. Er kannte Rosenheim, mochte es aber nicht, hatte es nie gemocht.

Eine blöde Stadt, hatte er immer schon gedacht.

Jetzt brauchte er einen Ort wie die Innenstadt Rosenheims, wo ihn nicht leicht jemand kennen würde, wo er seine Ruhe hatte und nachdenken konnte.

Er setzte sich in ein Café unter den Laubengängen, es war ziemlich voll, doch ganz hinten in der Ecke, gleich neben der Tür zum WC, war noch ein kleiner Tisch frei. Es störte ihn nicht, dass es ein wenig nach Urin und ein wenig mehr nach Urinal-Seife roch. Die Hauptsache war ihm, für eine halbe Stunde aus der Welt zu sein.

Nachdenken, dachte er. Ich muss nachdenken.

Er nahm sich eine der Zeitschriften, die zum allgemeinen Gebrauch auflagen – Wohnidee, Landlust, Alps –, und tat so, als würde er darin blättern, manches auch lesen, während er seinen Cappuccino in kleinen Schlucken trank und in ebenso kleinen Bissen eine Himbeerschnitte aß.

Er las nicht, allenfalls die eine oder andere Überschrift, er dachte nur nach.

Als er dann zahlte und das Café verließ, war ihm ziemlich klar, was er an diesem Tag und an den nächsten Tagen zu tun haben würde.

Er holte alles aus dem Auto, was ihm gehörte, rieb Lenkrad, Schaltung, Türgriffe gründlich mit ein paar Erfrischungstüchern ab und verriegelte die Türen.

Anschließend ging er zum Bahnhof, löste am Automaten ein Ticket nach München und setzte sich in den bald darauf einfahrenden Zug.

Er war zufrieden mit sich und der Situation.

Einen habe ich, dachte er. Der eine wird mich zum anderen führen, wenn er erst einmal lange genug um sein Leben gefürchtet hat. Jetzt geht es darum, meine Fußabdrücke zu verwischen, falsche Fährten zu legen, einmal im Kreis zu fahren und damit jedem Ermittler ein Rechts und Links, ein Vorn oder Hinten gründlich durcheinanderzuwirbeln.

In München angekommen, nahm er unverzüglich den nächsten Zug nach Garmisch-Partenkirchen. Er fand einen der wenigen freien Plätze, es herrschte bereits Berufsverkehr, die Pendler traten ihre Heimwege an, die Waggons rochen nach Schweiß und schlechten Zähnen.

Ihm kam es sehr gelegen, dass die müden Menschen, die von der Arbeit zurückkehrten, kaum Notiz von ihm nahmen. Die meisten dösten vor sich hin, das Kinn auf der Brust oder den Kopf im Nacken und dabei den Mund weit aufgerissen. Nur einige lasen oder tippten irgendwas in die Tastaturen ihrer Laptops.

In Garmisch-Partenkirchen stieg er um in einen Zug nach Innsbruck. Während der Wartezeit schaute er hinauf zu den Gipfeln von Alpspitze, Zugspitze und Waxenstein, die sich in bestem Abendlicht zeigten.

In Seefeld stieg er aus. Er war jetzt wieder in Österreich, wieder in Tirol, und gar nicht weit entfernt von seiner Hütte, die er in den Sommermonaten bewirtschaftete. Dieses Jahr hatte er schon Mitte September zugemacht und war mit Lonni ins Tal zurückgekehrt. Das war erst vor ein paar Tagen gewesen – irgendwie hatte er genug gehabt vom Dasein auf zweitausend Metern Höhe. Was nur die halbe Wahrheit war: Vor allem wollte er hinunter, um den über die Jahre gesammelten Gerüchten, die immer mehr Kontur angenommen hatten, nachzugehen und endlich herauszufinden, wer diese Kerle waren, die seine Tochter vergewaltigt hatten.

Jetzt war er dran. Der gestrige Tag war ein guter gewesen, der beste seit Langem. Der heutige noch besser, keine Frage, es war sein Glückstag.

Das Leben hatte ihm beigebracht, dass an Tagen, die schlecht anfingen, alles schlecht ausging. Dass aber Tage, an denen er am Morgen schon Glück hatte, durchgängig erfolgversprechend waren.

Er dachte einen Moment lang an den jungen Mann – Tobs Thanner –, der einige Wochen zuvor bei ihm auf der Hütte Zuflucht gesucht hatte. Brunner war es gelungen, ihm aus einer gehörigen Misere herauszuhelfen. Und Thanner hatte ihm beim letzten Treffen gesagt, dass auch er ihm helfen wollte. Doch wie solltest du mir helfen?, dachte Brunner, als er den ziemlich vereinsamten Bahnsteig in Seefeld entlangging.

Vom Bahnhof zur Spielbank waren es nur ein paar Hundert Meter. Er holte den Geldbeutel des jungen Mannes aus seiner Jackentasche, nahm den Fünfzig-Euro-Schein heraus, warf noch einmal einen Blick auf den Ausweis und die Bankcard – Mario Demhardter – und ließ dann alles bis auf den Fünfziger durch den Schlitz eines Gullis fallen.

Für fünfzig spiel ich, dachte er. Fünfzig und keinen Cent mehr. Scheint schließlich mein Glückstag zu sein. Gustav Gans.

Beinahe hätte er laut über sich selbst gelacht.

Gustav Gans hat vielleicht noch mehr Glück, dachte er weiter. Wenn der Zufall es will, bekomme ich nicht nur ein Alibi für heute, sondern gleich auch noch für gestern Abend. Wär nicht dringend notwendig, kann aber auch nicht schaden.

Obwohl Brunner nur eine legere Jacke und einen Rolli trug, wurde er ins Casino eingelassen. „An die Tische können Sie so aber nicht!“, sagte der Mann, der im schwarzen Anzug am Eingang stand.

„Macht nichts“, gab Brunner zurück. „Will nur wieder ein paar Euro an den Automaten riskieren.“

Zur Antwort bekam er ein kleines Nicken.

Am Empfang wurde er von einem weiteren Herrn in Schwarz und mit Fliege freundlich begrüßt.

„Sie wollen an die Automaten? Herzlich willkommen. Wenn ich Ihren Ausweis sehen dürfte …“

„Meinen Ausweis?“

„Ich bitte um Verständnis“, sagte der Mann. „Die Vorschriften sind einfach so.“

Ich probier es, dachte Brunner.

„Meinen Ausweis? Ist das neu? Ich war gestern Abend auch hier und bin reingekommen, ohne dass mich wer nach dem Ausweis gefragt hat.“

Der Mann sah ihn skeptisch an. Schüttelte verständnislos den Kopf.

„Das muss ein Versehen sein“, sagte er dann. „Mein Kollege hätte Sie gestern auch schon erfassen müssen. Bedaure …“

„Ist ja kein Problem“, sagte Brunner und legte sein Ausweiskärtchen auf den Tresen. „Dann tragen Sie mich halt heute ein. Für heute und für gestern, wenn Sie möchten. Vielleicht hab ich heute mehr Glück. Gestern hat es für mich nichts zu holen gegeben.“

Der Casino-Mann gab die Daten von Brunners Ausweis in den Computer ein, wechselte ihm dann den Fünfziger in Coins und wünschte ihm viel Spaß und viel Glück.

Brunner bedankte sich. Er ging die paar Stufen hinauf zu dem leicht separierten Automaten-Bereich; der Saal, wo an den Spieltischen die Roulettekugeln rollten und Croupiers die Karten gaben, interessierte ihn kein bisschen.

Er hatte, was er brauchte. Und er hatte Glück. Beinahe mehr, als er zu hoffen gewagt hätte.

***

Mario Demhardter lag in seiner eigenen Notdurft und zitterte vor Kälte und vor Angst. Er war eingeschlafen und wieder aufgewacht, weggedämmert und wieder zu sich gekommen, und in seinen kurzen, fieberartigen Träumen hatte er mehrfach geglaubt, frei und außer Gefahr zu sein. Umso schlimmer war dann das Erwachen gewesen: die Erkenntnis, dass er gefangen und gefesselt war, nackt und hilflos, ausgeliefert irgendwelchen Leuten, die ganz zweifellos völlig verrückt sein mussten. Im Wachzustand jagten albtraumhafte Vorstellungen durch seinen Kopf. Dass man ihn umbringen würde, erschießen, erstechen oder erdrosseln. Noch schlimmer war der Gedanke, dass er hier verenden würde, weil niemand mehr käme. Dass er verhungern und verdursten müsste, weil er sich irgendwo befand, wo es weit und breit keine Menschenseele gab. Niemanden, der ihn hören, niemanden, der ihn finden konnte.

Trotzdem schrie er, schrie um sein Leben, schrie um Hilfe, doch seine Schreie verhallten ungehört.

In sein verzweifeltes Schreien hinein drängte sich ein Gedanke. Ein Gedanke, der von weit her kam und der ihm nahelegte, dass er eine Schuld zu begleichen hatte, die er nie so schwerwiegend empfunden hatte.

Die hat es doch gewollt, dachte er. Die hat es doch selbst gewollt. Ich habe ihr doch nichts getan, gar nichts …

Noch konnte er sich nicht eingestehen, dass er sich selbst belog.

***

Brunner warf Plastikmünze um Plastikmünze in einen der Automaten. Er drückte die Start-Taste und fokussierte die Felder mit den bunten Früchten. Doch richtig bei der Sache war er nicht. Es war ihm eigentlich egal, ob eine Kirsche, eine Zitrone, ein Melonenschnitz nebeneinander zum Stehen kamen oder zwei Zitronen und eine Kirsche oder zwei Melonen und eine Zitrone. Mit seinen Gedanken war er in dem alten Bunker zwischen Jenbach und Stans, in dem er sich vor Jahren selbst versteckt gehalten hatte und wo jetzt dieser junge Scheißkerl gefangen war.

Er konnte ihn einfach in dem Betongemäuer verrecken lassen, nie mehr dorthin zurückkehren. Es wäre die gerechte Strafe für einen, der seiner Tochter Gewalt angetan hatte. Doch es ging um mehr. Er brauchte den Namen des Zweiten, den Namen des verdammten Schweinehundes, der Lonni vergewaltigt und ihr Leben ruiniert hatte.

Darfst leben, Mario Demhardter. Darfst noch leben, du Drecksau, dachte er.

Zitrone. Zitrone. Zitrone.

Drei Zitronen nebeneinander. Volltreffer.

Er hatte eine Plastikmünze im Wert von fünfzig Cent eingeworfen, drei Zitronen waren erschienen! Glückstag.

Er holte sich zwei der Becher, die überall bereitstanden, hielt einen davon an den Auswurfschlitz und drückte die WIN-Taste. Die Münzen begannen zu rasseln.

Außer ihm war noch ein älterer Mann an den Automaten zugange, außerdem eine Frau von schwer schätzbarem Alter. Er ordnete sie als verlebte Enddreißigerin ein, als gut erhaltene Fünfzigerin – oder irgendwo dazwischen. Der Alte und die Frau sahen zu ihm herüber. In den Augen des Mannes glaubte er unverhohlenen Neid zu erkennen. Die Frau hingegen lächelte, lächelte ihn an.

Noch ehe sein zweiter Becher voll war, verließ sie ihren Automaten, der einfach weiterlief, und kam zu ihm herüber.

„Glückwunsch“, sagte sie.

Brunner sah sie an und nickte.

Nach einer kleinen Weile fügte sie hinzu: „Sie könnten mich eigentlich auf ein Glas Wein einladen.“ Sie lächelte noch mehr.

Sie hatte rotbraunes Haar, ihr Gesicht war ein wenig zu stark geschminkt und sie hatte sehr lebhafte Augen, die anziehend wirkten. Mitte vierzig, dachte Brunner.

„Sie sind wohl ein wirklicher Glückspilz.“

Es gäbe Schlimmeres, dachte Brunner, als den Abend mit ihr zu verbringen. Doch er wusste auch, dass er die Frau jetzt nicht brauchen konnte.

„Warum nicht“, sagte er. Und er gab damit die Antwort auf ihre Selbsteinladung und auf die Frage nach seinem Glück.

Am Schalter tauschte er die unzähligen Coins in bares Geld um – es handelte sich um über sechshundert Euro –, dann führte er die Frau zur Bar, bestellte für sich ein Pils und für sie ein Glas Bordeaux, zahlte auch gleich, entschuldigte sich, weil er zur Toilette müsse, ging davon und kam nicht wieder.

Glück im Spiel, Pech in der Liebe, dachte er, als er mit großen Schritten das Casino verließ und um die nächste Ecke verschwand. Das kalte Licht der Straßenlaternen erzeugte eine blaue Stimmung zwischen den Häusern. Die Berge, von einem Dreiviertelmond angeleuchtet, standen in Grautönen über dem Ort.

Er lief ein paar Schritte, bis er zwischen den Hausdächern hindurch zu jenem Bergzug hinaufblicken konnte, wo seine Hütte lag: hinter der Brunnsteinspitze und der Rotwandlspitze, in einem Geländesattel, der jetzt nicht zu sehen war. Er überlegte sich, hinaufzusteigen und in der Stille und Abgeschiedenheit der Berge die nächsten Schritte zu planen. Er sah an sich hinunter. Seine Schuhe, sportliche Trekkingschuhe mit guter Profilsohle, wären absolut in Ordnung für den Aufstieg. Den Schlüssel zur Hütte hatte er an seinem Schlüsselbund in der Hosentasche. Und da ja der Mond am Himmel stand, würde der oft schmale Steig auch bei Nacht gut zu sehen sein.

Soll ich, dachte er, oder soll ich nicht?

Er traf eine Entscheidung: Dieser Demhardter sollte ruhig in seiner Scheiße und seinem Gestank liegen.

Das Schwein soll warten und um sein Leben fürchten, dachte er.

Er wird mir alles sagen, was ich wissen muss.

Lächelnd machte er sich auf den weiten Weg.

EINS

Tobs Thanner stand am Einstieg zu einer langen Tour: achthundert Meter Wandhöhe, an den Schlüsselstellen fünfter bis sechster Schwierigkeitsgrad. Er war allein. Im Kletterrucksack hatte er nichts weiter als ein Seil (nur für den Fall, dass er umkehren musste), eine Trinkflasche, vier Müsliriegel und das abgeschaltete Handy.

Er hatte sich den Klettergurt angelegt und zwei Schlingen und zwei Karabiner daran befestigt. Wahrscheinlich würde er das nicht brauchen, aber die Erfahrung im Solo-Klettern hatte ihn gelehrt, dass es von Vorteil war, sich zum Ausruhen an einem Haken in der Wand selbst sichern zu können. Den Helm hatte er schon auf dem Kopf. Mit dem Rücken an den Fels gelehnt saß er da und sah hinab ins Kaisertal.

Er saß da und schaute und ließ seine Gedanken dahintreiben. Ein Ritual. Immer, wenn er sich an einen alpinen Alleingang machte, schaffte er es dadurch, zu innerer Ruhe und zu so etwas wie Gelassenheit zu gelangen. An diesem Tag aber fiel es ihm schwer, die unvermeidliche Aufregung vor der Solo-Tour in den Griff zu bekommen, seine Nerven zu beruhigen, seinen Atem in ein Gleichmaß zu bringen. So vieles ging ihm durch den Kopf, und es waren Gedanken, die beileibe nicht nur mit der jähen Felswand über ihm zu tun hatten.

Er dachte an den Hauptgrund dafür, dass er sich am Fuß der sogenannten Plattendirettissima befand: den tödlichen Absturz eines guten Bekannten vor einigen Monaten. Ein tragischer Bergunfall? Sehr wahrscheinlich. Und doch waren Zweifel aufgekommen und er war zu Rate gezogen worden. Wochenlang hatte er sich dagegen gewehrt, dem anderen Kletterer der Seilschaft, den er ebenfalls kannte und der unverletzt überlebt hatte, eine Tötungsabsicht zu unterstellen.

Er dachte auch an die Wanderung, die ihn gestern von der Kaindlhütte nach Hinterbärenbad geführt hatte. Ein völlig einsamer Steig, den er nie zuvor begangen hatte.

Mischwald, durchzogen von baumlosen Schrofenrinnen, wo er die Ausblicke auf die umstehenden Berge genießen konnte. Ringsum Laub, das sich gelb und rötlich zu verfärben begonnen hatte und das unwidersprechlicher Beleg dafür war, dass sich diese Klettersaison dem Ende zuneigte. Zumindest in den höheren Lagen würde vielleicht schon in ein paar Wochen der Winter mit einem ersten ergiebigen Schneefall Einzug halten – und dann die berühmten Kletterwände hier im Kaisergebirge für lange Monate in eine Art Dornröschenschlaf versetzen, unzugänglich, unerreichbar. Und das empfand er als schade, sehr schade. Umso mehr wollte er diesen Tag genießen, diesen und auch den nächsten, die Luft einsaugen, die Stille und die Einsamkeit nehmen wie ein wohltuendes Bad und das besondere Licht des Herbstes in seinem Gedächtnis speichern, damit er noch lange, vor allem an grauen, tristen Novembertagen, davon zehren konnte.

Das Grau aber war bereits in ihm.

Schon bei der Wanderung von der Kaindlhütte nach Hinterbärenbad war es ihm nicht gelungen, das Gehen und die Natur wirklich zu genießen. Immer hatten sich die Erinnerungen an Peter Henning, den tödlich verunglückten Kletterer, in den Vordergrund gedrängt. Und, mehr noch, die Erinnerung an die Begegnung mit Peters Eltern, die er aufgesucht hatte und deren Leid und deren verzweifelte Wut für ihn so schwer erträglich gewesen waren.

***

Eine Reihenhaussiedlung in Münchens Stadtteil Obermenzing. Alles ordentlich, mit gepflegten Vorgärtchen, Schöner Wohnen-Nippes auf den zu den Eingangstüren hinaufführenden Stufen, Orchideen an den Fenstern, von irgendwoher Rasenmähergeräusche und der Duft scharf angeschwitzter Zwiebeln. Diese beinahe aufdringliche Gediegenheit erinnerte ihn beim Eintreffen an den Anfang von Hermann Hesses Roman „Steppenwolf“, in dem ein Mann namens Harry Haller ein möbliertes Zimmer sucht und sichtlich erstaunt ist über die wohlgeordnete kleine Welt, die er da vorfindet und die ihm nicht allzu vertraut zu sein scheint.

Tobs hatte das Buch als Schullektüre gelesen, vor vielen Jahren, und es hatte ihn beeindruckt, beeindruckt bis in die heutige Zeit.

„Kommen Sie herein, Tobias“, sagte der Mann, der ihm die Tür öffnete, kaum dass gerade mal fünf Sekunden vergangen waren, seit Thanner den Klingelknopf betätigt hatte. Herr Henning, Peter Hennings Vater, schien ungeduldig gewartet zu haben.

Das Haus war erfüllt vom Schmerz. Es herrschte eine bedrückende Stille … ja, eine Totenstille. Nur eine Uhr tickte irgendwo und aus der Küche schien das scharrende Geräusch des Kühlschrank-Kompressors zu kommen. Keine Musik, kein Radio, kein Fernsehen, nichts.

Wo er hinsah, hingen oder standen Bilder von Peter. Sie waren derart präsent, dass sie alles andere im aufgeräumten Flur und dem sich daran anschließenden Wohnzimmer in den Hintergrund zu drängen schienen. Sogar die Frau, Peters Mutter, war beinahe unsichtbar. Oder durchsichtig. Sie saß auf der Couch, vor sich zwei Päckchen Papiertücher, ein zerknülltes hielt sie in den Händen, und sie knetete es unablässig.

„Meine Frau“, sagte der alte Henning. „Ich weiß nicht, ob Sie sie kennen.“

Tobs kannte sie nicht. Er kannte ja auch Peters Vater nicht. Aber dass der ihn beim Vornamen genannt hatte, zeigte ihm, dass Peter seinen Eltern von ihm und wahrscheinlich von den gemeinsamen Bergerlebnissen berichtet hatte. Was er auch sogleich bestätigt bekam.

„Peter hat oft von Ihnen erzählt.“

„Oft nicht“, sagte die Frau, und es klang, als ob sie einen starken Schnupfen hätte. „Er war ja nicht oft daheim, nicht oft bei uns.“

„Aber wenn er da war“, korrigierte ihr Mann sie energisch, „dann hat er oft von Ihnen erzählt.“ Und nach einer kurzen Pause, nach zermürbenden Momenten des Schweigens fügte er hinzu: „Auch ein Grund, warum wir uns an Sie gewandt haben.“

„Sie haben in Ihrem Brief starke Anschuldigungen ausgesprochen“, sagte Tobs. Er holte ein Kuvert aus der Jackentasche und nahm besagten Brief heraus. „Sie schreiben, dass Sie nicht an einen Unfall glauben, sondern dass Sie Peters Seilpartner verdächtigen, Ihren Sohn umgebracht zu haben. Wörtlich schreiben Sie …“

Frau Henning schniefte laut. Ihre Stimme klang noch verschnupfter als zuvor. „Bitte“, sagte sie, „bitte ersparen Sie uns das. Wir wissen, was wir Ihnen geschrieben haben.“

Ihr Mann nickte.

„Setzen Sie sich doch“, sagte er. „Setzen Sie sich doch erst einmal hin.“

Tobs setzte sich in einen der Sessel, allerdings rückte er dabei ganz nach vorn, so als wäre er auf dem Sprung. Und das war er in der Tat auch: Er wollte weg von hier, so schnell es ging wieder weg.

„Sie haben diesen Verdacht doch gewiss auch der Polizei mitgeteilt“, sagte er. „Ich kann mir nicht vorstellen …“

„Die Polizei!“ Henning sagte das nicht, er schrie es beinahe aus sich heraus. Wut und Verzweiflung lagen dabei in seiner Stimme. „Die Polizei unternimmt nichts. Sie glaubt der Version von diesem … von diesem Dreckskerl. Sieht keinen Anlass, seinen Bericht anzuzweifeln. Wir haben x Anläufe unternommen. Schon bevor wir uns an Sie gewandt haben. Und danach auch noch.“

Tobs fühlte sich wie ein Fuchs in der Falle. Er hatte Peter Henning gekannt, gut gekannt, und er kannte Phil Reichhardt. Mit beiden war er geklettert, mit beiden hatte er freudvolle Stunden erlebt. Peter war beinahe so etwas wie ein Freund geworden. Phil war vor allem ein guter Seilpartner, darüber hinaus waren sie sich aber nicht allzu nahe gekommen. Jetzt hockte er mit seinem halben Hinterteil auf dem Sessel und wäre am liebsten einfach aus dem Haus gerannt. Natürlich, auch ihm war es wichtig zu erfahren, wie sich die Tragödie an der Kleinen Halt wirklich zugetragen hatte. Natürlich war er bereit, die Wahrheit zu überprüfen – und für ihn gab es nicht den geringsten Zweifel daran, dass in Wahrheit ein tragischer Unfall passiert war –, um mit dieser Bestätigung den Eltern von Peter zu einem wie auch immer gearteten Frieden zu verhelfen. Er war nicht in der Lage, sich einen Mord vorzustellen, eine derart grausame Tat inmitten der so grandiosen Berglandschaft – und Phil Reichhardt als Mörder.

Warum? Warum hätte Phil so etwas tun sollen?

Die Frage schien ihm auf die Stirn geschrieben, denn er brauchte sie nicht auszusprechen. Henning kam ihm mit der Antwort zuvor.

„Wir saugen uns diese Vermutung nicht aus den Fingern. Das dürfen Sie mir glauben“, sagte Henning.

Seine Frau schniefte und knetete das Taschentuch in ihren Fingern.

„Es geht um diese Frau“, sagte Henning. „Julia. Wir haben sie immer akzeptiert.“ Er sah zu seiner Gattin, der Tränen über die Wangen liefen. „Wir haben sie akzeptiert, weil unser Sohn mit ihr glücklich war. Aber …“

Er wischte sich selbst über die Augen.

„Aber meine Frau und ich … wir haben sie nie gemocht … nie. Wir waren uns immer sicher, dass sie nicht die Richtige für ihn war. Schlimmer noch: dass sie nicht nur nicht die Richtige war, sondern dass sie ihn unglücklich machen würde. Ja, das war unsere Meinung.“

„Gesagt haben wir ihm das aber nie“, flüsterte Hennings Frau mehr, als dass sie es deutlich aussprach. Doch Tobs verstand. Die Alten waren eifersüchtig gewesen auf Peters Freundin, und jetzt schoben sie ihr also auch noch die Verantwortung zu – für einen tragischen Bergunfall. Oder für einen Mord.

Die Tränen, die Peters Mutter übers Gesicht liefen, rührten ihn zutiefst. Das Leid stand im Haus wie restlos verbrauchte Luft. Allein das war schon unerträglich. Doch mehr noch als dieses Elend erschütterte ihn dieser Hass auf Peters Freundin. Das Leid der Hennings war ihm nur zu verständlich. Auch dass sie so verzweifelt waren, konnte er gut nachvollziehen. Doch dieser Hass … dieser jeder Grundlage entbehrende Hass stärkte noch den Fluchtreflex in ihm.

Ich will weg, dachte er. Nur weg. Nichts mit dieser ganzen verfluchten Geschichte zu tun haben.

„Ich möchte jetzt lieber gehen“, sagte Tobs. Er stand auf, wollte etwas unbeholfen einen ersten Schritt tun, doch Henning drückte ihn an den Schultern sanft, aber entschieden in den Sessel zurück.

„Sie müssen sich anhören, was wir Ihnen zu berichten haben“, sagte er. „Ich bitte Sie, Tobias: Hören Sie uns an.“

***

Daran dachte er am Einstieg der Plattendirettissima. Es waren die falschen Gedanken vor einer solchen Tour. Das war ihm völlig klar.

Ich sollte wie ein islamistischer Scheiß-Terrorist an zweiundsiebzig Jungfrauen im Paradies denken, dachte er. Nicht an die alten Hennings. Nicht an das, was sie mir erzählt haben und was sich in mich reingebohrt hat wie ein Splitter, der jetzt zu eitern beginnt. Einfach an irgendetwas Schönes.

Tobs stand auf, schüttelte seine Beine, machte Dehnübungen mit den Armen, presste die Finger beider Hände gegeneinander, bis die Gelenke knackten, und zog den Helmgurt zu. Er kannte die Route, wusste, dass sie leicht begann.

Das meiste ist leicht, dachte er.

Es tat ihm gut, an die vielen leichten Seillängen zu denken, an Genussklettereien im dritten und vierten Schwierigkeitsgrad. Doch das Wissen um die schwierigen Passagen, Seillängen im fünften und sechsten Grad, schob sich dazwischen, verfinsterte seinen Himmel wie plötzlich aufziehende Wolken.

Drei überhängende Dachriegel waren zu überwinden, mal in brüchigem und kleinsplittrigem Fels, mal in einem Schulterriss. Insbesondere in jenem Abschnitt, wo das Gestein nicht zuverlässig war, würde er gute Nerven brauchen.

Hab ich das?, fragte er sich. Habe ich heute gute Nerven?

Tobs kletterte los.

Es ist leicht, dachte er. Wenn ich das Nervenflattern kriege, kann ich immer noch umkehren. Und ich könnte morgen …

Gendi Koch fiel ihm ein. Er hatte ihn in Hinterbärenbad getroffen. Eigentlich hieß er Richard Koch, aber die Kletterszene kannte ihn nur als Gendi. Es gab verschiedene Vermutungen, was seinen Spitznamen betraf. Er selbst äußerte sich nicht dazu. So konnte sich diese Version durchsetzen: dass der Name Gendi von Gandhi kommt, dem indischen Sozialrevolutionär, englisch ausgesprochen. Es konnte etwas dran sein. Schließlich hatte Gendi etwas von einem Asketen. Man konnte ihn meditieren sehen, er aß, so hieß es, ausschließlich vegetarisch und lebte spartanisch. Gendi war ein exzellenter Kletterer, dünn, sehnig, kraftvoll, und seine Bewegungen am Fels glichen weit mehr einem Tanz oder einem Schweben als einem vom Adrenalin befeuerten Klettern.

„Was hast du vor?“, hatte Tobs ihn gefragt. „Ich möchte zur Kleinen Halt. Wir könnten zusammen …“

Gendi hatte den Kopf geschüttelt. „Geht nicht. Übermorgen ginge es. Aber morgen bekomme ich einen Gast, dem ich eine Tour aufs Totenkirchl versprochen habe.“

Tobs kletterte ruhig und in gleichmäßigem Tempo. Der Fels fühlte sich angenehm kühl an. Das Klettern würde seine düsteren Gedanken verscheuchen, hoffte er. Seine Sinne ganz auf Tritte und Griffe ausrichten, auf die paar Meter grauen Fels in seinem Gesichtsfeld. Pure Konzentration, alles andere abstreifen, verdrängen. Doch verdrängen, was heißt das schon? Zwischenlagern? Eine Bombe verstecken, die gnadenlos weitertickt?

Der Himmel war fast makellos blau, nur ein paar Kondensstreifen von Flugzeugen zogen weiße Bahnen ins Azur. Tief unter ihm leuchtete der Laubwald gelb und rostrot. Es war schön. Einfach nur schön.

Kein Tag, um zu sterben.