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ÜBER DEN AUTOR

Yishai Sarid wurde 1965 in Tel Aviv geboren, wo er bis heute lebt. Nachdem er als Nachrichtenoffizier in der israelischen Armee tätig gewesen war, studierte er in Jerusalem Jura und machte in Harvard einen Abschluss in »Öffentliche Verwaltung«. Später arbeitete Yishai Sarid als Staatsanwalt in Strafprozessen und ist heute als Rechtsanwalt tätig. Er veröffentlichte Artikel in verschiedenen Zeitungen und publizierte 2000 seinen ersten Roman mit dem Titel The Investigation of Captain Erez.

ÜBER DAS BUCH

Ein israelischer Geheimdienstler – auf Selbstmordattentate spezialisiert – erhält einen ungewöhnlichen Auftrag. Er soll über die Schriftstellerin Daphna Kontakt zu einem todkranken Dichter aus dem Gazastreifen herstellen, dessen Sohn des Terrorismus verdächtigt wird. Doch schon bald fühlt sich der Ermittler zu Daphna hingezogen und gerät in den Sog der Ereignisse. Je tiefer er ins Geschehen eintaucht, desto mehr gerät sein Weltbild ins Wanken. Im zypriotischen Limassol steht er schließlich vor der Entscheidung: Soll er an seinen Überzeugungen und seinem Auftrag festhalten oder seinen unerwarteten Gefühlen nachgeben und den Schuldigen decken? Limassol ist ein packender Roman von kühnem Realismus, der den Leser in die Abgründe der zerrissenen israelischen Gesellschaft hinabstößt und wagt, die Frage nach Richtig und Falsch, Gut und Böse noch einmal neu zu stellen.

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Ich blieb noch einen Moment im Auto sitzen, um einen Blick auf das alte Foto von ihr zu werfen und mir Here Comes the Sun zu Ende anzuhören. Harrison wird selten im Radio gespielt, und gute Morgenlieder wie dieses gibt es nur wenige. Vor der ersten Begegnung mit einem Menschen studiere ich seine Gesichtszüge stets genau, das beugt Überraschungen vor. Auf dem Bild sah sie sehr schön aus, nach hinten gestrafftes, hochgebundenes Haar, eine kluge Stirn. Sie war auf irgendeinem Intellektuellentreff und lächelte einem Araber zu.

Ein Morgen Ende Juli. Die Straße verströmte die städtische Gelassenheit der großen Ferien. Katzen klettern auf Müllcontainer und angeln nach Futter, zwei Freunde, die Surfbretter unterm Arm, schlendern sorglos lachend unter Tamarisken zum Meer. Ich wohne im dritten Stock, hatte sie am Telefon gesagt. An den Briefkästen klebten schichtenweise Schildchen mit den hebräischen Namen junger, häufig wechselnder Mieter, daneben lateinisch geschriebene, europäische Namen von Menschen, die schon nicht mehr lebten. Das Gebäude war ziemlich heruntergekommen, Putz bröckelte von den Wänden. Die vor Dreck undurchsichtigen hohen, schmalen Fenster im Treppenhaus erinnerten an ein verlassenes Kloster. Daphna öffnete mir barfuß, das Haar hinten zusammengebunden; ihre Augen blickten tief. Das merkte ich gleich.

»Ich bin am Telefon«, sagte sie, »kommen Sie rein.« Ich bekam das Ende des Gesprächs mit. Ein kurzes Lachen, einige praktische Hinweise. »Ich muss jetzt Schluss machen; hier wartet jemand auf mich.« Ich spähte ins Wohnzimmer. Zwei bequeme Sofas aus den Siebzigern, ein großes Fenster mit Blick in die üppige Krone eines Feigenbaums, ein kleiner Fernseher, an den Wänden interessante Arbeiten, die ich mir jetzt nicht genauer anschauen konnte. Die Wohnung ging auf einen Innenhof und war von Licht durchflutet. Aus irgendeinem Grund hatte ich düstere Gemächer erwartet.

»Wir setzen uns in die Küche«, rief sie. Auf dem runden Tisch mit der bunten Häkeldecke lag ein Stapel Papiere, in einer Schale reiften Pfirsiche. Im Radio spielte leise klassische Musik, vielleicht Chopin, vielleicht ein anderer, den ich nicht kannte.

»Warum haben Sie sich an mich gewandt?« Ihre Stimme klang erstaunlich jung.

»Sie wurden mir empfohlen. Ich brauche Hilfe bei meinem Text«, antwortete ich. »Ich möchte schreiben lernen.«

»Ist Ihnen das wirklich wichtig? Sind Sie bereit, Zeit zu investieren?« Sie lächelte verhalten, setzte sich auf einen Stuhl und schlug ein Bein unter. Ich sah, dass sie locker fallende Hosen aus einem weichen Stoff trug.

»Ja, deswegen bin ich hier.«

»Müssen Sie denn nicht arbeiten? Wovon leben Sie?«, forschte sie nach. Ihre Züge verhärteten sich; in ihrer Konzentration wirkte sie fast männlich.

»Gearbeitet habe ich genug«, gab ich zurück, »jetzt möchte ich endlich schreiben. Das ist mir wichtiger.« Ich hielt mich streng an meinen Text. Abweichen kam nicht in Frage.

»Manche erwarten, dass ich ihnen die Arbeit abnehme«, sagte sie und legte die Hände nebeneinander auf die Tischplatte. Sie hatte saubere, kurz geschnittene Fingernägel. »Aber da spiele ich nicht mit. Wenn Sie etwas veröffentlichen wollen, müssen Sie sich schon selbst anstrengen.«

Vor den vergitterten Küchenfenstern standen Töpfe mit Gewürzkräutern. Viele regnerische Winter und der ewige Salzatem des Meeres hatten Risse in den Wänden hinterlassen, von der Decke blätterte Putz. Sie schlug ein Bein über das andere und erkundigte sich nach meinem Beruf.

»Ich habe dreizehn Jahre lang einen Investmentfonds geleitet. Das waren die fetten Zeiten im Markt. Aber ich bin ausgestiegen. Vielleicht gehe ich irgendwann zurück. Momentan habe ich Geld genug. Jetzt ist die Kreativität dran. Seit meiner Kindheit träume ich davon, ein Buch zu schreiben.« Unglaublich, dass mir so was über die Lippen kam. Such dir eine Rolle aus, sagte ich mir, entscheide, wer du sein willst.

»Ein seltsames Thema für einen Investmentberater. Wie sind Sie darauf gekommen?«, fragte sie.

»Ich habe Geschichte studiert«, erklärte ich, »bis ich Geld verdienen musste. Damals stieß ich zufällig auf einen Artikel über einen Etroghändler aus der Antike, und er ging mir nie wieder aus dem Sinn. Eine Prüfung der Quellen ergab, dass er in unterschiedlicher Form auch in der Mischna und in hellenistischen Dokumenten auftaucht. Seitdem kreist meine Phantasie um ihn.«

An ihren schmalen, gebräunten Händen glänzten etliche feine goldene Ringe. Ihre Augen waren unergründlich, ich konnte kaum hineinsehen, ohne verlegen zu werden. Am grazilen Hals zeigten sich Fältchen, doch das störte mich nicht, das störte mich nicht im Geringsten. Den Unterlagen zufolge war sie sieben Jahre älter als ich. Als sie zur Armee eingezogen worden war, ging ich gerade in die fünfte Klasse.

»Das ist nichts weiter als eine Skizze. Sie stehen noch ganz am Anfang.«

»Ich habe es nicht eilig«, versicherte ich ihr.

»Das geht auf keinen Fall schon morgen in Druck. Aber sagen Sie mir trotzdem, was Sie erwarten. Ich möchte Sie vor Enttäuschungen bewahren. Das würden wir beide nicht überstehen.« Sie lachte auf. »Aus Mangel an Talent haben sich schon mehr Menschen erhängt als aus unerwiderter Liebe.«

»Keine Angst«, lachte ich zurück, »Broker springen eher von Hochhäusern. Aufhängen kommt für mich nicht in Frage. Ich möchte einfach nur ein gutes Buch schreiben. Ich bin kein Kind mehr, und Ausdauer habe ich. Ich war Langstreckenschwimmer.«

»Ich schwimme auch.« Sie schüttelte sich leicht und lächelte wieder. Es war mir gelungen, ihre Neugier zu wecken.

»Wo schwimmen Sie denn?«, wollte Daphna interessiert wissen.

Ich erzählte ihr, dass ich als Kind im Becken des Weizmann-Instituts in Rechovot trainiert hatte und bei der israelischen Jugendmeisterschaft auf der 1500-m-Kraulstrecke Fünfter geworden war. Kein überragender Schwimmer, aber ein beharrlicher. Drei bis vier Mal wöchentlich trainiert und nie einen Termin versäumt. Den meisten Menschen wird es im Wasser langweilig, Stunde um Stunde nur mit sich allein, ich aber liebte die Losgelöstheit.

»Ich kraule ein paar Mal in der Woche«, sagte Daphna, »jeweils 2000 Meter, manchmal mit Flossen, manchmal mit Fußbrettern.« Wir tauschten uns über Schwimmbäder, Strecken, Stile aus. Jetzt kannte ich den Ursprung ihrer gelassenen Frische. Schon immer hatte ich Leute gemocht, die das Schwimmen ernst nahmen.

Sie fragte, woher ich sei.

»Aus Rechovot«, antwortete ich. »Vater Professor an der landwirtschaftlichen Fakultät, Mutter Lehrerin – die für ein Hochschulkaff übliche Geschichte.«

»Die übliche Geschichte gibt es nicht«, stellte sie fest. »Allein über diesen Satz ließen sich tausend Romane schreiben. Ich bin sicher, dass Sie etwas zu erzählen haben.«

Jetzt errötete ich. Sie bemerkte es und lachte. Sieh dich vor, sagte ich mir, sie ist viel klüger als du.

»Womit wollen Sie anfangen?«, fragte sie. Ein Vogel setzte sich auf eine der Pflanzen im Küchenfenster und trillerte sein Lied.

»Was meinen Sie denn?«

»Vielleicht sollten wir noch ein wenig über Ihren Helden reden.«

»Was ich über ihn weiß, habe ich aufgeschrieben«, sagte ich. »Er ist ein jüdischer Händler, der nach der Zerstörung des Tempels in See sticht, um von einer griechischen Insel Etrogfrüchte für das Ritual beim Sukkothfest zu holen.«

»Kennen Sie ihn gut?«, wollte sie wissen.

»Ich glaube schon«, sagte ich, »er ist in mir gereift, bevor ich anfing zu schreiben. Es gab eine Phase, da musste ich geschäftlich oft ins Ausland, und meistens hat er mich begleitet. Manchmal bin ich sogar in seine Haut geschlüpft. Ich habe in den Bibliotheken sämtliche Versionen seiner Geschichte recherchiert. Über die Insel habe ich mich ebenfalls informiert. Im letzten Jahr war ich sogar da. Wenn es ein Paradies auf Erden gibt, dann liegt es auf Naxos. Man baut dort übrigens immer noch Etrogfrüchte an.«

»Und wie sieht er aus, Ihr Etroghändler? Woran denkt er? Was treibt ihn an? Was isst er zum Frühstück?« Daphna bombardierte mich mit Fragen. Das rasche Sprechen, die geschmeidigen Bewegungen, der kleine Spalt zwischen den Vorderzähnen – all das ließ sie jung erscheinen.

Wie bin ich nur in dieses Spiel geraten?, fragte ich mich. Ich hätte ihr von vornherein eine andere Geschichte vorlegen sollen. Aber ich hatte keine andere parat.

»Er ist jemand, der überlebt hat. Ein praktisch veranlagter Typ, der nicht zum Grübeln neigt«, fabulierte ich. »Nach der entsetzlichen Katastrophe versucht er, sich in seiner Nische durchzuschlagen.«

»Einen Menschen, der nicht zum Grübeln neigt, gibt es nicht«, belehrte sie mich. »Sie lassen ihn eine zweiwöchige Schiffsreise antreten, da muss doch sein Kopf vor lauter Gedanken bersten. Es wird viel mehr gegrübelt als gehandelt.«

Innerlich widersprach ich ihr. Es gibt Leute, die ununterbrochen handeln, um nicht grübeln zu müssen.

Sie stand auf und machte Kaffee. Nichts in ihrer Küche war neu, der Gaskocher war sogar von der ganz alten Sorte, der Backofen glich dem meiner Großmutter in Rechovot, der Kühlschrank stammte aus den sechziger Jahren. Aber alles blitzte vor Sauberkeit, und das milde Licht schien von draußen herein wie durch einen Filter.

»Sie möchten sicher Milchkaffee«, seufzte sie, »und ausgerechnet den habe ich nicht.«

»Falsch geraten«, lachte ich, »ich trinke lieber schwarzen türkischen Kaffee.«

»Wie ein Banker wirken Sie eigentlich nicht«, sagte sie mit dem Rücken zu mir, »etwas an Ihnen irritiert mich. Wie viel Zucker?«

Wir sprachen noch ein wenig über meinen Etroghändler, der von Kleinasien nach Naxos segelte. Ich beschrieb ihr in allen Einzelheiten, wie die Segelboote der Antike gebautt waren. Darüber hatte ich mich vorher gründlich informiert. Sie wiederum half mir mit ihren gezielten Fragen auf die Sprünge:

»Ist er verheiratet? Liebt er jemanden?«

»Er ist fünfunddreißig«, erläuterte ich. »Zu seiner Zeit gab es keine fünfunddreißigjährigen Singles. Er hat eine Frau und viele Kinder. Aber er ist gern unterwegs. Als er aufbricht, herrschen in Judäa katastrophale Zustände.«

»Sehnt er sich unterwegs nach seiner Frau, oder sieht er anderen Frauen nach?«, möchte sie lachend wissen.

»Ich hab doch geahnt, dass etwas fehlt«, ich spielte den Naiven: »Wir brauchen Sex, damit das Buch sich besser verkauft. Soll ich ihn im Hafen von Smyrna mit einer Prostituierten schlafen lassen?«

»Bloß das nicht!«, sie lachte und hob protestierend die Hände. »Und das Wort Prostituierte ist unmöglich.«

Während der Unterhaltung machte ich mir Notizen auf einem gelben Block, der mir literarisch vorkam. Ich versprach Daphna, den Anfang bis zum nächsten Treffen neu zu schreiben. Dann stand ich auf und legte, wie am Telefon vereinbart, einen Hundert-Schekel-Schein auf den Küchentisch. Sie brachte mich zur Tür; ich hatte schon die Klinke in der Hand, da sagte sie leise: »Ich verspreche nichts. Ich kann nicht garantieren, dass Ihr Buch veröffentlicht wird. Es kann sein, dass Sie mich bezahlen, ohne jemals Resultate zu sehen.«

»Das ist völlig in Ordnung. Ich hab Ihnen ja gesagt, dass ich ein großer Junge bin.«

»Ich möchte Ihnen nur eine Enttäuschung ersparen«, wiederholte sie. »Es gibt Dinge, die kann man einfach nicht versprechen.«

»Das ist doch klar, Daphna.« Zum ersten Mal nannte ich sie beim Namen. Wir verabredeten uns für die nächste Woche.

Im Büro angekommen, verschickte ich von meinem Schreibtisch aus einen kurzen Bericht per Intranet. Gleich darauf rief Chaim mich zu sich. Sein Zimmer lag am anderen Ende des Ganges. Unterwegs grüßte ich flüchtig in alle Räume. Chaim saß, wie immer von Papierbergen fast verdeckt, entspannt vor dem Computer.

»Wie war’s?«, fragte er. Er hatte sich nicht rasiert, wahrscheinlich beging die Orthodoxie wieder einen Fasttag.

»Wie in einer Nachhilfestunde«, sagte ich. »Sie hat meine Geschichte zerrissen. Ich glaube nicht, dass ich das durchhalte.«

»Musst du aber«, erwiderte Chaim mit schiefem Grinsen. »Dass deine Geschichte schwach ist, habe ich dir gleich gesagt. Keine Ahnung, wo du die her hast. Die Etrogfrüchte wurden immer hier im Land Israel angebaut. Deswegen hat noch nie jemand nach Griechenland segeln müssen.«

Ich zeigte ihm erneut die Stelle in der Mischna, aber er winkte ab. »So etwas passiert, wenn Anfänger die alten Texte ohne Anleitung lesen«, sagte er. »Ihr seht die Seele nicht, ihr haltet euch nur an die Fakten. Du solltest einmal wöchentlich mit uns lernen, dann würdest du das Eigentliche erfassen.« Dann fragte er, wann wir den Mann aus Gaza herausholen könnten.

»Vielleicht in der nächsten Woche, vielleicht auch erst in der übernächsten. Ich muss noch einmal zu ihr. Wenn sie überhaupt zur Zusammenarbeit bereit ist«, antwortete ich.

»Was meinst du? Wird sie mitmachen?« Chaim blickte aus rotgeränderten Augen zu mir auf.

»Ich schätze, ihr bleibt keine Wahl.«

»Halt mich auf dem Laufenden. Du weißt, an dieser Sache sind nicht nur wir allein dran. Ich will über jedes Detail Bescheid wissen.«

In ihrer Akte lagen hauptsächlich alte Zeitungsausschnitte, lobende Feuilletonkritiken über ihr erstes Buch, lauwarme über das zweite. Ein Foto aus einem linksliberalen, inzwischen eingegangenen Wochenmagazin zeigte sie als junge Frau von Anfang zwanzig im Minirock, auf der Nase eine riesige Sonnenbrille. Sie und Dahn Ben-Amotz, das Enfant terrible der damaligen Literaturszene, saßen auf einem Balkon in Alt-Jaffa und verspeisten eine Wassermelone, darunter ein Klatschartikel.

Es waren auch heimlich mit Teleobjektiv geschossene Fotos dabei, die wie die Vorbereitung auf ein Attentat wirkten: eine jüdisch-arabische Tagung 1981 in Nazareth, eine Demonstration gegen die Errichtung von Siedlungen in Samaria. Sie tauchte auf Bildern vier, fünf solcher Veranstaltungen auf, aber nur in einem Fall hatte der Fotograf Daphna direkt aufs Korn genommen und dabei ein atemberaubendes Bild eingefangen. Die Augen groß und leuchtend, in der Hand ein hebräisch und arabisch beschriftetes Schild, unterhielt sie sich mit einem greisen Araber auf einem Feldweg vor einem Olivenhain. Jemand hatte bei seiner Arbeit gepfuscht, es fehlten Ortsangabe und Datum. Auf keinem der Bilder wirkte sie wütend, auch wenn neben ihr geschrien wurde und sie selbst protestierend ihre Stimme zu erheben schien. Sie war nicht mehr als eine Statistin. Bevor man mich mit dieser Sache betraute, gab es für sie nicht einmal eine eigene Akte. Die Unterlagen waren aus den Dossiers anderer und wichtigerer Leute zusammengestellt worden.

Ihr erstes Buch handelte von einer Kindheit in Tel Aviv, am Meer, in der Nähe des Carmel-Marktes. Der Vater ein Bauarbeiter aus Bulgarien, die Mutter nach dem Krieg allein aus Mitteleuropa nach Tel Aviv gespült. Bei der Geburt ihrer ersten Tochter waren die Eltern längst nicht mehr jung, aber leidgeprüft. Trotz alledem leuchtete der Text vor Lebensfreude. Ich stieß auf einen wunderbaren Absatz über das Meer; der Vater hält seine kleine Tochter in den Armen und trägt sie zum ersten Mal ins Wasser. Das Buch erschien 1978, Daphna war gerade erst dreiundzwanzig. Es erhielt ausgezeichnete Kritiken; man schrieb, die hebräische Literatur sei um eine neue weibliche Stimme reicher, die heilige Kühe schlachtete, ohne auf Empathie zu verzichten. Ich musste mir den Titel in der Universitätsbibliothek heraussuchen, denn in den Buchläden war er vergriffen.

Ihr nächstes Buch kam zwei Jahre später in einem kleineren Verlag heraus, die Liebesgeschichte zwischen einer jungen Frau und einem verheirateten Mann. Es schien düsterer und anspruchsvoller zu sein und hatte kaum gute Kritiken bekommen. Es war weder in den Läden noch in den Bibliotheken aufzutreiben. Danach hatte sie nichts Eigenes mehr veröffentlicht, jedoch eine ganze Reihe von Büchern herausgegeben und andere aus dem Englischen übersetzt. Eine Zeit lang hatte sie an einem Gymnasium Literatur unterrichtet.

Momentan war diese Sache nur eine Nebenbeschäftigung, der ich nicht allzu viel Zeit schenken konnte. Tag um Tag verhörte ich wie am Fließband Gefangene des Schabak, des Sicherheitsdienstes, für den ich arbeite. Ihnen widmete ich meine ganze Energie. Ich sprach mit ihnen, ich berührte sie, wir atmeten die gleiche stickige Luft ein, und auf die Uhr sah ich nie.

Manchmal blieb ich auch über Nacht, denn es wurden viele verhaftet. Die Luft stank nach einem Attentat. Ich versuchte, Sigi zweimal am Tag anzurufen. Sie erstattete mir kurze Berichte über den Jungen. Fragte ich, wie es ihr ginge, antwortete sie mir flüchtig. Sie wusste, dass meine Gedanken woanders waren, dass ich ihr nicht wirklich zuhörte. Ich kam zu unmöglichen Zeiten heim, völlig geschafft vor Müdigkeit. Sigi schlummerte tief oder tat so als ob. Frühmorgens – falls ich überhaupt da war, schlief ich noch – brachte sie den Jungen in den Kindergarten und fuhr von dort aus direkt zur Arbeit.

Ich bat um die letzten Kassetten. Zwar bekam ich regelmäßig schriftliche Zusammenfassungen aller Telefonate, doch ich wollte die Stimme der Zielperson hören, um ihr näherzukommen und den Menschen hinter den Worten besser zu verstehen. Die Kassetten wurden mir von einer älteren Frau mit langem weißem Zopf gebracht, die wie eine Bibliothekarin wirkte. Sie nahm mir gegenüber Platz, ohne dass ich sie darum gebeten hatte. Normalerweise arbeitete ich mit den Abhörern aus der Arabischabteilung zusammen; zu der Hebräischabteilung hatte ich bisher keinen Kontakt gehabt.

»In der Regel fordern die Ermittler die Originalgespräche nicht an«, sagte sie.

»Da arbeite ich anscheinend anders«, erwiderte ich.

»Ich hoffe, Sie geben das Material nicht weiter«, sagte sie streng.

Ich hob den Blick von den Unterlagen, die ich zur Vorbereitung auf die Verhöre der kommenden Nacht durchging. Ein junger Mann aus Nablus war seit drei Tagen verschwunden, und sein Vater hatte beharrlich versichert, er wisse nicht, wo sein Sohn sei.

»Entschuldigung?« Ich starrte sie groß an.

»Vielleicht ist das überflüssig«, versuchte sie sich zu rechtfertigen, »aber die Arbeit mit Juden ist anders. Ich erlaube mir diese Bemerkung, weil Sie zum ersten Mal mit uns zu tun haben. Bei uns ist das Risiko, dass etwas durchsickert, viel größer. Wir können nicht wissen, wer diese Dame sonst noch kennt. Vielleicht wohnt jemand von uns neben ihr, vielleicht hat einer mit ihr in der Armee gedient, das alles ist denkbar. Deswegen halten wir uns viel genauer an die Vorschriften.«

»Das ist in der Tat überflüssig«, sagte ich. »Ich arbeite nicht erst seit heute beim Schabak, und ich gebe das Material an niemanden weiter.«

»Sie hört sich an wie eine nette Frau«, meinte die Bezopfte. »Ich habe damals ihr Buch gelesen. Wirklich nicht schlecht. Wie auch immer …«, sie erhob sich, »Sie werden sie hoffentlich gut behandeln. Es ist alles hier in der Tüte. Geben Sie es zurück, sobald Sie fertig sind.«

Ich werde Daphna wohl kaum auf einen wackligen Stuhl setzen und ihr die Hände an der Rückenlehne festbinden, falls die Bibliothekarin das gemeint haben sollte, dachte ich. Ebenso wenig werde ich ihr einen nach Kot stinkenden Sack über den Kopf stülpen.

Spät am Abend, nach einem Tag voller Sitzungen, Lagebesprechungen und Mutmaßungen über das Attentat, das sich vor unserer Nase anbahnte, legte ich die Kassette in das Abspielgerät und setzte Kopfhörer auf. Die Telefonate reihten sich aneinander und waren nicht editiert. Ich konnte hin- und herspulen.

Der erste Anruf kam von einem bestimmten Verlag. Man fragte an, was mit dem Buch sei, das sie herausgeben wollte. »Der Mist taugt nur für den Reißwolf«, sagte sie, »jede Seite ist die reinste Qual.« Am Schluss fragte sie, wo ihr Scheck bleibe, und der Verlagsmensch antwortete, es gebe ein Problem, ihr Honorar sei gepfändet worden. Das müsse sie erst in Ordnung bringen, sonst könne man sie nicht bezahlen.

»Was ist los, Daphna?«, fragte der Chefredakteur. »Wie bist du zu so einem Schuldenberg gekommen?«

»Lass nur«, antwortete sie, »du kannst mir ohnehin nicht helfen.«

Danach hatte sie einen Rechtsanwalt angerufen, der kurz angebunden und abweisend war und ein paar Mal wiederholte, er sei sehr beschäftigt. Sie flehte, sie griff ihn an, sie fragte, wann die Verhandlung sei. Der Anwalt entgegnete, er habe das Gutachten vom Sozialamt nicht erhalten, da Jotam nicht zum Termin erschienen sei. »Und das ist sehr schlecht!«, betonte er. »Das Gutachten ist seine einzige Hoffnung. Wie Sie wissen, ist er auf Bewährung verurteilt worden, und diese Richterin wird ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, ins Gefängnis schicken. Ich glaube nicht, dass Ihr Sohn für das Knastleben geschaffen ist. Man wird ihn dort lebendigen Leibes fressen. Wirken Sie auf ihn ein, damit er bei der Gutachterin erscheint, einen möglichst braven Eindruck macht und sich zum Entzug anmeldet. Sonst kann weder ich noch jemand anderes ihm helfen. Jetzt muss ich aber wirklich Schluss machen, hier warten Leute auf mich.«

Mir brannten die Augen. Ich musste noch in dieser Nacht zum Russenplatz fahren, dem Jerusalemer Bezirksgefängnis, und mir einige Inhaftierte vornehmen. Wann ich nach Hause käme, war nicht abzusehen. Dennoch spulte ich zum nächsten Telefonat weiter. Der Mann aus Gaza sprach ein schönes Hebräisch. In der Unterhaltung mit ihm war Daphna völlig verwandelt, eine ganz andere Frau: Nicht verzweifelt wie im Gespräch mit dem Rechtsanwalt, nicht ungeduldig und verbittert wie dem Chefredakteur gegenüber.

»Wie geht es dir?«, fragte sie herzlich und besorgt. »Hast du immer noch so starke Schmerzen?« Er erzählte, dass er am Nachmittag einen Blick aufs Meer geworfen habe, jemand war mit ihm zum Strand gefahren.

»Manche Familien hausen in den Sommermonaten in Zelten am Strand, denn in den Lagern erstickt man vor Hitze. Ganze Clans. Die Mädchen sind gekleidet wie in Saudi-Arabien und waten mit all ihren Gewändern ins Wasser.« Er hatte sich etwas von der Menge entfernen wollen, aber der ganze Strand war überlaufen gewesen. Nicht einmal das Meer bot ihm Hilfe.

»Komm einfach zu mir«, versuchte sie ihn lachend aufzumuntern, »dann spazieren wir hinunter zum Gordon-Strand. Weißt du noch, wie wir nachts ins Wasser gesprungen sind und du uns Verse von Abd al-Wahhab eingetrichtert hast?«

»Ich würde nur zu gern kommen«, sagte der Mann aus Gaza. »Ich sehne mich nach dir, Daphna. Gibt es etwas Neues in meiner Sache?«

»Ich weiß schon gar nicht mehr, an wen ich mich wenden soll«, sagte Daphna. »Ich habe jeden angeschrieben, der in Frage kommt. Mir fehlen die Kontakte. Früher hatte ich einen guten Bekannten bei der Armee, doch der ist inzwischen ausgeschieden. Im Büro von Schimon Peres habe ich es auch versucht. Man hat mir eine Antwort versprochen. Ich würde für dich die Welt auf den Kopf stellen, Hani, ich weiß nur nicht, wie ich das machen soll. Es ist nicht mehr wie damals. Bilde ich mir das ein, oder war es früher besser?«

»Es war immer beschissen.« Der Mann am anderen Ende lachte auf und setzte in seinem korrekten Hebräisch langsam hinzu: »Aber damals konnten wir uns noch freuen. Heute schießen sie dich ab wie einen räudigen Hund und lassen dich verfaulen … au, verdammt, tut das weh … entschuldige, Daphna, ich fluche, weil die Schmerzen einfach unerträglich sind.«

»Hast du denn kein Schmerzmittel?«, fragte sie.

»Sie haben hier nichts, es ist katastrophal. Ich kann vor Schmerzen nicht schlafen. Ich habe es mit Haschisch versucht, doch das hat nicht geholfen, hat mir nur böse Gedanken eingeflößt. Alkohol ist verboten. Ich warte auf das Ende, Daphna. Das ist kein Leben mehr.«

»Ich denke an dich«, sagte Daphna leise. »Ich hole dich dort raus, keine Sorge. Ich werde alles tun, was getan werden muss. Ruf mich in ein paar Tagen wieder an.«

Ich hatte diesem Literatengeplauder viel zu lange gelauscht; plötzlich bemerkte ich, dass es schon sehr spät war. Ich hastete hinunter zum Parkplatz und raste auf der Ayalon-Stadtautobahn Richtung Jerusalem. Mein Mobiltelefon war voller Nachrichten, mehrmals hatte man mich dringend angefordert. In der Luft lag eine Bedrohung, die sich unserer Kontrolle entzog. Ein junger Mann aus Nablus strich mit einem einsatzbereiten Sprenggürtel voller Nägel durch die Gegend, durch erleuchtete Straßen, vorbei an belebten Cafés, auf der Suche nach einem Lokal mit Action, wo er sich von seiner Last befreien könnte, inmitten lebendiger Leiber, die sich auf der Stelle in totes Fleisch verwandeln würden. Und uns war es bis jetzt nicht gelungen, ihn aufzuspüren.

Hinter Latrun geriet ich in einen riesigen Stau, anscheinend ein Unfall. Ich setzte das Blaulicht aufs Dach und zog auf dem Seitenstreifen an der Schlange vorbei. Die Polizisten neben dem Autowrack blickten mich kurz an und winkten mich mit ihren Leuchtstäben weiter. Den Abhang vor Motza nahm ich in rasendem Tempo. Ich öffnete das Fenster, der frische Wind der Jerusalemer Berge hatte die drückende Schwüle der Küstenebene weggefegt.

Der Russenplatz lag verlassen da, als ich ankam, aber die weißen Türme der russischen Kirche wurden malerisch angestrahlt – für die ausgebliebenen Touristen. Vor dem mit Stacheldraht eingezäunten Gelände stieg ich für einen Moment aus dem Auto und rief zu Hause an. Ich bat Sigi, mir den Jungen zu geben. »Der schläft längst«, sagte sie. »Wo bist du? Wann kommst du?« Ich begab mich in den Menschenpferch, in dem ich die Nacht verbringen würde.

Ich hatte Chaim überzeugen wollen, mir diesen Nebenjob zu erlassen. Chaim, fast fünfzig und einer der Letzten seiner Generation, die sich im Schabak hielten, war von seiner Arbeit besessen. Bei einem schiefgelaufenen Einsatz im Libanon hatte er sich ein zerschmettertes Bein eingehandelt. Als ich ihn kennenlernte, trug er kein Käppchen, obwohl er schon damals religiös war. Seit einigen Jahren saß eine schwarze Kipa auf seinem Kopf.

»Du könntest diese Sache jedem übertragen«, sagte ich. »Nimm lieber einen Kollegen aus der Hebräischabteilung, am besten eine der Frauen. Für literarische Nachhilfestunden ist mir meine Zeit zu schade. Ich hetze mich ab wie verrückt, habe seit vorgestern nicht mehr geduscht und stinke schlimmer als die Verhafteten. Tu mir den Gefallen, Chaim, schaff mir das vom Hals.«

Chaim antwortete aufbrausend, dass ich der Einzige sei, der diese Rolle spielen könnte. »Die Geschichte ist kompliziert, und nur du kannst dich in sie einfinden. Ich kann dieser Literatin unmöglich jemand von den Schlächtern schicken und erst recht keine Frau. Und außerdem kannst du schreiben. Es ist immer eine Freude, deine Berichte zu lesen. Du verfällst nicht ins Schablonenhafte wie die anderen. Und vergiss nicht: In deinem Einstellungsgespräch hast du angegeben, dass du an einem Kurs für kreatives Schreiben teilnimmst. Das fanden wir schlimmer, als wenn du gesagt hättest, du spritzt dir Heroin.« Chaim lachte. »Ich hatte große Mühe, die anderen zu überzeugen. Sie wollten keine Bohemiens. Befürchteten sogar, du könntest ein Schnüffler von der Zeitung sein. Bedauerst du nie, dass du kein Schriftsteller geworden bist?«

»Bitte schaff mir diese Sache vom Hals.«

»Du hättest glatt Schriftsteller werden können.« Chaim verlegte sich aufs Schmeicheln. »Du hast einen scharfen Blick. Die wirklich Klugen bedienen sich der Vernunft und nicht der Gewalt. So einer muss selbstsicher genug sein, um sich Empfindsamkeit zu erlauben, und darf sich nicht zu Brutalitäten hinreißen lassen. Man muss sein Gegenüber als Menschen wahrnehmen und sich in seine Lage versetzen, anstatt ihm gleich in die Fresse zu schlagen.«

Ich versuchte, mich an die Verhafteten zu erinnern, die ich in letzter Zeit verhört hatte, doch kein einziges Gesicht hatte sich mir eingeprägt.

»Das Einfühlungsvermögen geht mir verloren, Chaim«, sagte ich. »Ich bin auf dem besten Weg, ein Schlächter wie die anderen zu werden. Ich nehme mir schon keine Zeit mehr für Raffinesse. Du musst vom ersten Augenblick an brutal sein. Kommst du ihnen einfühlsam, verstehen sie dich nicht. Auch sie kennen die Spielregeln und sind auf Demütigungen, Schläge, vollgeschissene Unterhosen gefasst. Das liefert ihnen die Rechtfertigung, wenn sie reden. Sie hassen uns sowieso, und diesen Hass wollen sie sich ehrlich verdienen. Wir haben zu viele in der Mangel, es nimmt ja kein Ende. Wer hat noch Zeit für ein Gespräch bis tief in die Nacht, für eine Zigarette, für die Geschichte vom Großvater, der während der Nakba auf einem Esel geflohen ist, bis man dann allmählich auf den explodierten Bruder zu sprechen kommen kann. Die Eleganz ist tot, Chaim, es ist nicht mehr wie zu deiner Zeit.«

Chaim musterte mich leicht erschrocken. Sonst war ich eher wortkarg.

»Du brauchst Ruhe«, sagte er von weither, »wann warst du das letzte Mal zu Hause? Wann hast du mal einen Abend mit deiner Frau verbracht?«

»Lass gut sein, Chaim. Das sind Phantasien. Ich kann das Rennen gerade jetzt nicht unterbrechen, das brauche ich einem wie dir eigentlich nicht zu sagen. Auch zu Hause bin ich in Gedanken da unten.«

»Du musst dich ab und zu erholen«, beharrte Chaim, im Blick eine Besorgnis, die mir neu war. »An etwas anderes denken, den Kopf frei machen. Wenigstens am Schabbat. Das Neujahrsfest steht vor der Tür. Man sollte keine weltlichen Gedanken in die Gebete mischen, nicht von Geld reden. Deswegen habe ich mich wieder der Religion zugewandt. Im Laufe der Zeit erschließt sich einem ihre Größe. Setz dich zu deiner Frau an den Tisch, widme dich der Familie. Macht noch ein Kind. Wenn ihr das jetzt nicht tut, wirst du es später bereuen. Wirf einige Belastungsfaktoren ab, es wird deinen Wert für uns nicht mindern. Und lass dir nicht die Hand ausrutschen. Das macht dich kaputt.«

Chaims Blick begleitete mich stundenlang, sogar viele Tage lang, doch am selben Abend, als ich vorhatte, früh genug zu Hause zu sein, um den Jungen zu baden, lief mein Handy sich heiß mit Botschaften über den verschwundenen Burschen, der sich so schön gegürtet hatte wie ein Bräutigam an seinem Hochzeitstag. Sofort fuhr ich dorthin, wo ich gebraucht wurde. Gegen Morgen war ich heiser vom vielen Schreien. In jener Nacht hatte ich weder Eleganz noch Feingefühl gezeigt.

Zum zweiten Treffen erschien ich pünktlich, sauber und rasiert, in Dreiviertelhosen, genau wie einer, der in der Hightechindustrie einen Coup gelandet und sich frühzeitig zur Ruhe gesetzt hat. Ich war ein wenig aufgeregt. Auf der Treppe atmete ich schwer, ich konnte es kaum erwarten, in der kühlen, nach Rosmarin duftenden Küche zu sitzen, über meinen Phantasietext zu plaudern, mich mit einem sympathischen, kultivierten Menschen wie Daphna auszutauschen.

Doch diesmal lag die Wohnung im Dunkeln, die Rollläden waren geschlossen, Daphna öffnete mir im Bademantel mit zerzaustem Haar, als hätte ich sie aus dem Schlaf gerissen.

»Entschuldigung«, murmelte ich und blieb verlegen auf der Schwelle stehen, »habe ich mich vielleicht in der Stunde geirrt?« Die Situation war rundum unangenehm.

»Nein, nein, kommen Sie nur«, sagte sie mit gesenktem Kopf. »Ich brauche nur eine Minute, dann bin ich so weit. Setzen Sie sich ins Wohnzimmer. Ich öffne das Fenster.«

Etwas Licht fiel ins Zimmer, und Daphna verschwand im inneren Teil der Wohnung. An der Wand hing ein großer Druck von Tumarkin. Eine Frau stand in einem Steinkreis am Grab eines Scheichs, darüber schwebte die Skizze einer Kathedrale. Vielleicht war das Daphna selbst, vor zwanzig Jahren.

Nach ein paar Minuten erschien sie in Jeans und einem langen, ausgebleichten T-Shirt, das ihre Formen verbarg. Sie hatte schwarze Ringe unter den Augen, war blass und wirkte erschöpft. Ich suchte nach Anzeichen von Schlägen, fand aber keine.

»Was ist passiert?«, fragte ich.

»Ach, nur ein bisschen Action«, grinste sie. »Ich hatte ungebetene Gäste. Tut mir leid, dass ich Sie so empfange. Ich musste mich kurz hinlegen, bevor Sie kamen. Jetzt geht es schon wieder.«

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte ich.

Plötzlich wirkte sie klein und verletzlich, schutzbedürftig.

Sie bat um ein paar weitere Minuten. Ich hörte sie in den inneren Zimmern und in der Küche rumoren. Sie raffte fiebrig Dinge zusammen und warf sie irgendwohin, riss Fenster auf, um zu lüften, beseitigte Spuren des Geschehens.

Als sie wieder erschien, wirkte ihr Gesicht etwas entspannter, das Haar war zusammengebunden.

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