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Ein Porträt von

André Boße und Dennis Plauk

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www.hannibal-verlag.de

Impressum

Originalausgabe

© 2010 by

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

ISBN 978-3-85445-341-3

Die Autoren

André Boße, Jahrgang 1974, ist freier Journalist, spezialisiert auf Porträts und Interviews. Nach seinem Studium in Münster volontierte er bei einer Tageszeitung. 2004 ging er zunächst als Redakteur zum Interviewmagazin Galore. Von 2005 bis zur Einstellung des Magazins 2009 war er dort Chefredakteur und interviewte in dieser Zeit mehr als 100 Persönlichkeiten. Heute schreibt er Band- und Musikerporträts für das Magazin Visions und ist freier Autor, unter anderem für die Süddeutsche Zeitung und den Rolling Stone. Seine Geschichte als Pop-Hörer geht zurück bis ins Jahr 1983. Damals faszinierten ihn Depeche Mode und die Lieder von Martin Gore nicht nur – sie irritierten ihn auch ein wenig. André Boße lebt in Dortmund.

Dennis Plauk, Jahrgang 1981, ist Chefredakteur des Dortmunder Musikmagazins Visions, das sich seit 20 Jahren den Spielarten alternativer Rockmusik widmet. Nach seinem Journalismus-Studium arbeitete er als Autor und Online-Redakteur für die Pop-Postille Musikexpress und betrieb nebenher die deutsche Website des Red Hot Chili Peppers-Gitarristen John Frusciante. 2005 wechselte er in die Printredaktion von Visions, die er seit 2007 leitet. Sein Interesse gilt vor allem Interviews und Reportagen. Daneben schrieb er für das Visions-Schwestermagazin Galore. Für beide Hefte traf er Martin Gore und Depeche Mode mehrfach – was ihn in seinem langjährigen Dasein als „Devotee“ noch bestärkt hat. Dennis Plauk lebt in Essen.

Lektorat: Eckhard Schwettmann, Gernsbach

Layout und Satz: buchsatz.com, Innsbruck

Coverdesign: bw-works.com, Wien

Coverfoto: © Todd Plitt/Contour by Getty Images

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags nicht verwertet oder reproduziert werden. Das gilt vor allem für Vervielfältigungen, Übersetzungen und Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Inhaltsverzeichnis

Begegnungen

Die Jahre vor Depeche Mode

Warum Gores Heimatstadt keine Geschichte hat, welche Rolle ein Ziegelstein bei seiner Erziehung spielte und wie er die Texte der größten Siebziger-Hits lernte.

Speak & Spell

Warum Gore der beliebteste Kerl in Basildon war, wer ihn dazu brachte, seinen Job bei der Bank zu kündigen, und was ihn in einer Juni-Nacht 1981 vom Schlaf abhielt.

Endlich wieder Abenteuer

Punk bringt Farbe ins graue England der Siebziger – und Martin Gore profitiert davon.

A Broken Frame

Was ein Huhn auf Gores Arm zu suchen hatte, wie wichtig ihm seine ersten Texte waren und warum eingeschneite Farmer ihre Hoffnungen auf seine Gesichtszüge setzen sollten.

Sie schwitzen nicht

Martin Gore und sein gespaltenes Verhältnis zum Synthie-Pop der frühen Achtziger.

Construction Time Again

Welche Bücher Gore in seinem Lesekoffer hat, was seine Ex von Nackten im Fernsehen hielt und wie er eine italienische TV-Legende für einen Moment sprachlos machte.

Insel in stürmischer See

Daniel Millers Mute Records – seit 30 Jahren die künstlerische Heimat Martin Gores.

Some Great Reward

Warum Gore plötzlich wieder Liebeslieder schrieb, was er über Fletchers Brustwarzen denkt und wie er an den Mädchenslip kam, den er beim Konzert in Leicester trug.

Arm und sexy

Methode Gore: Berlin als Teilzeitdomizil für Musiker auf der Suche nach Besonderem.

Black Celebration

Worin Gore sich von Morrissey unterscheidet, warum Schleswig-Holstein der letzte Ausweg für ihn war und warum er nicht groß trennte zwischen Liebe, Sex und Trinken.

Music For The Arbeiterklasse

7. März 1988: Depeche Mode geben ein bis heute legendäres Gastspiel in Ost-Berlin.

Music For The Masses

Warum Gore nicht lange in London bleiben wollte, was ihn mit Mark Knopfler verband und wie durch sein Mitwirken ein Weizenfeld in ein amerikanisches Stadion kam.

Kleine Gemeinheiten

Song-Analyse, erster Teil:

Drei Depeche-Mode-Hits auf dem Prüfstand.

Counterfeit & Violator

Warum Gore für sein Solodebüt auf fremde Songs setzte, wie er Depeche Mode beinahe um ihren größten Hit gebracht hätte und was er anstellt, wenn er einen sitzen hat.

Leder lebt

Martin Gores Mode-Metamorphose und ihre Folgen für ein ostdeutsches Kinderleben.

Songs Of Faith And Devotion

Wie Gore von der Lebenslüge seiner Mutter erfuhr, warum er in Dur nicht schreiben kann und was die »zügelloseste Tour der Rock-Geschichte« mit ihm anstellte.

Der emotionale Schwamm

Liebeskummer, Tanzstunden und was Musiker sonst noch mit Martin Gore verbinden.

Ultra

Wie Gore einmal lieber als Mitglied der Rolling Stones durchgegangen wäre, warum er dreimal das Ende seiner Band gekommen sah und wer ihn eines Besseren belehrte.

Der unsichtbare Popstar

Martin Gore ist kein geborener Live-Entertainer – macht aber mit der Zeit Fortschritte.

Exciter

Wie Gore sich seine erste Schreibblockade einfing, was er seiner texanischen Frau nach elf Jahren England schuldig war und warum er seinen Vorgruppen Schutzkleidung empfiehlt.

Connecting People

Piano-Sessions, DJing, Remixe, Gastbeiträge: Martin Gore als musikalischer Missionar.

Counterfeit2 & Playing The Angel

Warum Gore nach seiner Solotour vor einem Berg Scherben stand, wie er mit einer statt zwei Trennungen davonkam und was er als Gockel verkleidet in einem Jules-Verne-Film trieb.

Mit Misstrauen in den Mainstream

Song-Analyse, zweiter Teil:

Drei weitere Depeche-Mode-Hits auf dem Prüfstand.

Sounds Of The Universe

Wie Gore sich als Single Dad schlägt, warum er sich ohne nennenswerte Gegenwehr zum »Allmächtigen« ernennen konnte und was er machen wird, wenn er mal richtig alt ist.

Insight – Das Gespräch

Diskografie

Videografie

Tourografie

Danksagung

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Erste Begegnung, 7. September 2005. Der Weg zu Martin Gore führt durch die sonnengefluteten Straßen von Berlin, vorbei an Strömen vom Schweiß gezeichneter Menschen, die den unerhört heißen Spätsommer mindestens innerlich verfluchen, quer über den Potsdamer Platz, hinein in das fahl ausgeleuchtete Foyer eines sehr teuren, sehr diskreten Hotels. Kühler Marmor, schwere Kronleuchter, schwer beschäftigte Geschäftsmänner, versunken in Sesseln, versunken in Zeitungen: Endspurt im Bundestagswahlkampf, Merkel gegen Schröder. In New Orleans kämpft man derweil ums Überleben, mehr als eine Woche nach Hurrikan Katrina herrscht in der Stadt noch immer der Ausnahmezustand. Und hier in Berlin schimpfen sie auf das Wetter. Irgendwas ist immer. Der Empfangsmann lotst uns zum Pagen, der Page lotst uns zum Fahrstuhl, und der spuckt uns einige Stockwerke höher auf einen langen Flur aus. Am Ende des Flurs wartet die Dame von der Plattenfirma. »Augenblick noch«, sagt sie, »Martin ist gleich fertig.«

Fünf Minuten später öffnet sie die Tür zu seiner Suite und schickt uns hinein. Mitten im Raum sitzt Martin Gore an einem Flügel und improvisiert, den Kopf von uns weggewandt, hin zur breiten Fensterfront, durch die das weiße Licht der Mittagssonne eindringt. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als genieße er die Aussicht auf das Hochhaus-Ensemble am Potsdamer Platz. Doch Gore hat die Augen geschlossen, während er spielt. Vielleicht denkt er in diesem Moment daran zurück, wie dieser Ort auf ihn wirkte, als er ihn kennenlernte, vor mehr als 20 Jahren: noch keine Spielwiese für Architekten, sondern ein Niemandsland im Schatten der Mauer. Unvollendet wie die bildhübsche, bittersüße Melodie, die ihm gerade aus den Fingern fließt. Andernorts in Berlin, in den Musikerkneipen von Kreuzberg oder der Wohnung seiner damaligen deutschen Freundin, kam er der besonderen Stimmung zwischen Ausbruch und Dekadenz in der geteilten Stadt näher. Das Berlin der Achtzigerjahre war das Berlin Martin Gores. Heute ist er nur noch als Tourist hier, ein Superstar auf der Durchreise.

Damals fand Gore in Berlin das Kontrastprogramm zu seiner Heimatstadt Basildon im Osten Englands, die ihm eng und enger wurde, je mehr er mit Depeche Mode von der Welt sah. Bald tauschte er die Prüderie seiner britischen Jugendliebe ein gegen die Körperlichkeit einer deutschen Nachtschwärmerin; die lähmende Klaustrophobie Basildons gegen das belebende Chaos Berlins. Dieser Ort und diese Zeit haben seine extravagante Erscheinung geprägt, die scheinbar im Widerspruch steht zu seinem introvertierten Wesen, für manch einen sogar im Widerspruch zu seiner sexuellen Orientierung. Und als wolle Gore, dreifacher Vater, den Geist jener Tage ein letztes Mal heraufbeschwören, hat er seinen untersetzten Oberkörper heute Morgen in ein enges, halbdurchsichtiges T-Shirt gezwängt und sich die Fingernägel schwarz lackiert. Minutenlang gleiten seine Hände nun über die Klaviatur, immer auf der Suche nach dem nächsten melancholischen Griff in die Tasten. Denn im schweren Moll, sagt er, schreibt es sich für ihn leichter als in Dur. Lebensnäher. Leidenschaftlicher. Dann öffnet er die Augen, schaut unter den langen blonden Locken auf und lässt die Töne verhallen. »Ich habe euch gar nicht bemerkt«, sagt er, und vielleicht ist das nicht mal gelogen.

Gore bittet zum Interview an einen Tisch im Nebenraum. Beklagt sich über den Kater, den er sich letzte Nacht bei einer ausgiebigen Weinverkostung zu italienischem Essen zugezogen habe, und bestellt trotzdem das dritte Weißbier des Tages. »My favourite beer in the world is Hefeweizen«, schwärmt er, als der Kellner wieder gegangen ist. Gore führt das Glas zum Mund, vergräbt die Nase in der Schaumkrone und quittiert die bayerischen Braukünste mit dem seligen Blick eines Säuglings, dem man die schreiend verlangte Flasche gibt. In diesen Sekunden lässt sich erahnen, mit welchem Eifer er sich auf die Trinktouren begibt, die sich traditionell an Depeche-Mode-Shows anschließen und aus Fan-Sicht im Idealfall mit einem heillos betrunkenen Gore enden, der in der Bar seines Hotels am Klavier ein Privatkonzert gibt. Gore mag die vermeintliche Einfältigkeit seiner Landsleute in anderen Lebensbereichen oft kritisiert haben (und ihr bis nach Amerika entflohen sein) – in seinem Ausgehverhalten folgt er streng britischen Idealen: Viel trinken und dann laut werden. Dass er kurz davor steht, ihnen abzuschwören, ahnt man am 7. September 2005, dem Tag unserer ersten Begegnung, jedenfalls noch nicht.

Zweite Begegnung, 22. Februar 2009. Der Weg zu Martin Gore führt durch die regenverhangenen Straßen von Berlin, vorbei an Strömen vom Schauer gezeichneter Menschen, die den hartnäckigen Winter mindestens innerlich verfluchen, quer über den Bebelplatz, hinein in das fahl ausgeleuchtete Foyer eines sehr teuren, sehr diskreten Hotels. Marmor, Kronleuchter, Geschäftsmänner in Sesseln über Zeitungen: Merkels Regierung ringt mit dem »Finanzmarktstabilisierungsgesetz« – was wohl Schröder gerade macht? In L.A. vergeben sie am Abend die Oscars, Heath Ledger wird seinen nicht mehr entgegennehmen. Und hier in Berlin rollen sie den roten Teppich ein statt aus: Die Echo-Verleihung fand schon gestern statt. Depeche Mode stellten ihre neue Single Wrong vor und ließen dafür sogar die plumpen Annäherungsversuche der Moderatorin Barbara Schöneberger über sich ergehen. Gore spielte ein bisschen mit: »Wir sind nur für dich hier, Barbara«, sprach er auf Deutsch zu ihr. Irgendwas ist immer. Der Empfangsmann lotst uns zum Fahrstuhl, und der spuckt uns einige Stockwerke höher auf einen langen Flur aus. Auf halbem Weg wartet die Dame von der Plattenfirma. »Martin ist schon fertig«, sagt sie, »hier entlang.«

Die schwarz lackierten Fingernägel, mit denen er später auf den Tisch vor ihm trommelt, sind die augenfälligste Gemeinsamkeit zwischen dem Martin Gore unserer letzten Begegnung und dem von heute, 47 Jahre alt. Als wir sein kleines, schmuckloses Zimmer betreten, steht er am Fenster, in dämmeriges Licht gehüllt, und blickt hinaus auf den Innenhof des Hotels. Gore sieht einen Biergarten ohne Gäste; Regenwasser, das von den Schirmen auf die Tischdecken rinnt und von den Tischdecken auf den Boden. Irgendwo bellt ein Hund, irgendwo hupt ein Auto. Dann dreht er sich um und lächelt zögerlich. »Hallo«, sagt er mit sonorer Stimme und weichem englischem Akzent. Zehn Jahre Kalifornien, und Gore klingt doch immer noch wie der hüftsteife Bankangestellte aus Basildon, der sich 1979 von seinem Bankangestelltengehalt den ersten Synthesizer kaufte – die eigentliche Grundsteinlegung von Depeche Mode. »Setzen wir uns.« Seine Augen sind unter seiner tief ins Gesicht gezogenen schwarzen Wollmütze kaum auszumachen. Doch was man sofort sieht: Schlank ist er geworden.

Bald sind es drei Jahre, seit er trocken ist. Im Nachhinein spielt es keine Rolle, ob Gore unter medizinischen Gesichtspunkten alkoholabhängig war oder nicht. Wenn er seinem Vorsatz treu bleibt (und danach sieht es aus), wird er es auch nie erfahren. Dann gibt es keinen Moment der Schwäche, der ihn auf Anhieb in alte Verhaltensmuster zurückwerfen könnte – Chaos, Kontrollverlust, körperliche Grenzerfahrungen, wie sie auf dem Gipfel der Songs Of Faith And Devotion-Tour Mitte der Neunzigerjahre fast an der Tagesordnung waren. Am Ende trug Gore mit seinem außer Kontrolle geratenen Alkoholkonsum vielleicht den langwierigsten Schaden davon. Dave Gahan überwand seine Heroinsucht, Andy Fletcher die Depressionen, und Alan Wilder überwand alles, was mit Depeche Mode zu tun hatte. Am 1. Juni 1995, knapp ein Jahr nach Abschluss der Tour, verkündete Wilder der Welt seinen Ausstieg, weil er sein Engagement vor allem von Gore nicht gewürdigt sah. Depeche Mode waren nun wieder ein Trio – ähnlich wie damals, als Vince Clarke ging und Gore von heute auf morgen zum künstlerischen Leiter aufstieg. Ob er wollte oder nicht. Die anderen wollten.

So kam Gore gerade auch deshalb zu seiner Rolle als einer der größten Songwriter seiner Zeit, weil er so schlecht Nein sagen kann. Zum Glück gezwungen, in doppelter Hinsicht. Gore war nie ein Karrieretyp mit einem Masterplan in der Tasche, und sicher liegt darin ein Schlüssel zu seinem Erfolg: Er ist authentisch. Ein Traditionalist, den man unzählige Male einen visionären Elektro-Musiker genannt hat und der trotzdem die 40 Jahre alten Rockplatten von The Velvet Underground für das Maß aller Dinge hält. Ein geschmackssicherer Idealist, der als Kind durch die Platten seiner Mutter Feuer fing und heute mit seinen eigenen Platten Menschen in Brand zu setzen vermag. Dabei meinte er es im Scherz (wie so vieles, was man als Ernst missverstand), als er 1987 seine neueste Standortbestimmung des Synthie-Pop mit Music For The Masses überschrieb. Das Album ging durch die Decke und Depeche Mode mit ihm. Plötzlich standen sie vor über 60.000 Menschen im Rose Bowl Stadium von Pasadena bei Los Angeles – dabei hatte Gore all die Jahre nicht mehr getan, als Lieder darüber zu schreiben, was in ihm vorgeht.

Mitte des letzten Jahrzehnts gestand er das Recht des Songwritings im Kontext Depeche Mode auch offiziell seinem Sänger Dave Gahan zu. Es war ein hartes Ringen, die Welt sah zu, und womöglich wären Depeche Mode kurz vor ihrem 25. Geburtstag daran gescheitert, hätte Gore sich verweigert. Doch sie bekamen die Kurve, nicht zuletzt weil Gore entgegen seinem sonstigen Umgang mit Konflikten einlenkte, statt schweigend auf Besserung zu vertrauen. Weil er die Dinge zur Sprache brachte, statt sie auszusitzen. So fand er sich am Ende nicht vor einem Scherbenhaufen wieder (wie es ihm zeitgleich mit seiner Ehe erging), sondern als unangefochtener Richtungsgeber einer demokratischer gewordenen Band. »Was ich damals fürchtete, war nicht so sehr Kontrollverlust, sondern Veränderung«, sagt er später im Interview, »mit Methoden zu brechen, die sich ein Vierteljahrhundert lang bewährt hatten. Die meisten Künstler behaupten, die größte Bedrohung für ihre Kunst wäre Routine. Doch das größte Problem ist es, sich plötzlich nicht mehr auf seine Routine verlassen zu können.«

Am Ende hat Martin Gore dieses Problem gemeistert. So blickt er mit Depeche Mode auch weiterhin auf eine beispiellose Karriere zurück, deren Ende nicht absehbar ist und deren Anfang nicht zu wiederholen. Nie wieder wird eine Band so viele Platten verkaufen, nie wieder so viel Zeit haben, sich zu entwickeln, nie wieder mit einem solchen Imagewechsel durchkommen: Gore begann als Synthie-Spieler einer Teenie-Truppe und ist heute Songwriter einer der größten Kultgruppen ihrer Zeit. Die Band hat er dafür nie wechseln müssen. Es ist nicht mehr die gleiche, aber immer noch dieselbe. Und immer noch und immer wieder wollen Menschen wissen, wie das alles kam. Wie es ist und wie es einmal sein könnte. »Setzen wir uns.« Gore rückt ans äußere Ende des Sofas und scheint bereit. Unser Gespräch beginnt mit einer einfachen Frage – und einer klaren Antwort: »Bist du eigentlich immer noch zufrieden mit deiner Rolle bei Depeche Mode?« – »Natürlich, warum sollte ich nicht?«

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Warum Gores Heimatstadt keine Geschichte hat, welche Rolle ein Ziegelstein bei seiner Erziehung spielte und wie er die Texte der größten Siebziger-Hits lernte.

Der Zweite Weltkrieg traf London hart. Deutsche Bomber richteten in einigen Vierteln der englischen Metropole große Zerstörungen an; ganze Wohnsiedlungen verschwanden – und für die vielen Menschen, die zu dieser Zeit in London lebten, fehlte plötzlich Wohnraum. Schon in den Dreißigerjahren gab es Bestrebungen der britischen Regierung, die enge Hauptstadt zu entvölkern und Bewohner in neu gegründete Städte außerhalb Londons anzusiedeln. Durch die Luftangriffe der Deutschen verschärfte sich diese Problematik; es entwickelte sich der sogenannte »London Overspill«: Städte, die man eigens für Menschen aus dem Boden stampfte, die in London keinen Platz mehr fanden. Eine dieser »New Towns« liegt 41 Kilometer östlich von London und heißt Basildon. Sie ist ein Zusammenschluss aus vier kleinen Dörfern – eine Stadt, entstanden in einem städtischen Planungsbüro. Ende der Vierzigerjahre lebten 34.000 Menschen in Basildon. Heute sind es fast viermal so viel.

Die ersten Familien aus dem übervölkerten London kamen 1951 nach Basildon. Später zogen auch Briten aus anderen Ecken der Insel nach Basildon, denn der Staat förderte die New Town: Fabriken entstanden, für damalige Verhältnisse schicke Wohnsiedlungen und eine beachtliche Infrastruktur. So entwickelten sich in Basildon besondere soziale Verhältnisse: Die neuen Einwohner der Stadt waren in familiärer Hinsicht entwurzelt und suchten daher Anschluss in anderen Gemeinschaften. Vereine und Pubs spielten dabei eine große Rolle; die Jugendlichen gründeten Gangs. Menschen, die am Tag ihres Umzugs lediglich einte, dass sie fortan zusammen in einer Stadt ohne Historie leben würden, schlossen sich zusammen – und manchmal hielten diese jungen Communities länger als tief verwurzelte Gemeinschaften, die zu jeder Zeit einen historischen Rucksack mit sich trugen. Dass mit Martin Lee Gore und Andrew John Fletcher zwei Charaktere aus Basildon das Rückgrat einer seit fast 30 Jahren aktiven Band bilden, ist daher mehr als ein Zufall.

Die Familie Gore – die Eltern David und Pamela sowie Martins zwei jüngere Schwestern Karen und Jacqueline – siedelten von Dagenham, Essex, im Speckgürtel von London 20 Meilen weiter östlich nach Basildon um. Anders als andere große Brüder in dieser Gegend war der junge Martin, geboren am 23. Juli 1961, kein Draufgänger. In einem Interview 1985 erzählt er von einem Ereignis aus seiner frühen Kindheit, das aus seiner Sicht seine scheue Art begründet: »Ich erinnere mich, dass ich bis zu meinem fünften Lebensjahr ein sehr braver Kerl war. Dann ging ich durch eine Phase, in der ich andere Kinder verdrosch. Eines Tages erwischte mich meine Mutter, als ich einen Ziegelstein auf den Kopf eines anderen Kindes schlug. Mein Vater wurde sehr wütend. Er drohte mir, ich solle nie wieder jemand anders schlagen. Heute bin ich froh, dass er mir das so klar gesagt hat. Seine Worte haben mich sehr passiv und harmlos werden lassen.« Gore ging gerne zur Schule. Später sagte er, er habe sich dort »sicher gefühlt«. Seine Stärke waren die Sprachen, Französisch und Deutsch fielen ihm leicht. Und doch: Das Reden an sich missfiel ihm. Egal wen man bis heute fragt, welchen Eindruck Martin als Teenager gemacht habe, alle sagen zunächst: »Er war schüchtern.« Erst später kommen sie dann fast alle mit der Anekdote, die von einem anderen Gesicht Gores erzählt. Ein Gesicht, das sich zeigt, wenn der dünne Junge mit den blonden Locken gehörige Mengen Alkohol konsumiert hat. Dann kommt es vor, dass dieser sonst so wortkarge Mann in geselliger Runde spätnachts plötzlich den Alleinunterhalter gibt – am liebsten mit der Akustikgitarre und fehlerfreien Versionen amerikanischer Middle-of-the-road-Songs.

Die Textsicherheit erwarb Gore als fleißiger Leser des britischen Magazins Disco 45. Das Heftchen – am Kiosk für zehn Pence zu haben – verstand sich als Songbook und bot weniger Neuigkeiten und Interviews aus der Musikszene der Siebzigerjahre als die Song-Lyrics der größten Hits eines jeden Monats. Manchmal verriet das Magazin sogar die Akkorde einiger Stücke. Gore hatte nach eigener Aussage Hunderte Ausgaben von Disco 45 zu Hause und ging vom ersten bis zum letzten Song alle Texte durch. Er bekam ein Gespür für Themen und Versmaße – und später, nachdem ihm ein Freund die ersten Akkorde auf der Akustikgitarre beigebracht hatte, auch für die musikalische Struktur eines erfolgreichen Hits. Eine seiner Lieblingsbands in den Siebzigern machte es ihm in dieser Hinsicht jedoch äußerst schwer: Gore stand – neben einer Leidenschaft für Gary Glitter – auf die Sparks, die Band um die Brüder Russell und Ron Mael, die sich 1970 in L.A. formierten und 1973 nach England zogen, weil sie dort mehr Fans hatten.

Interessant an den Sparks: Neben dem Sänger Russell spielte Bruder Ron scheinbar eine Nebenrolle. Doch echte Fans wie Gore wussten nicht nur dessen exaltiertes Auftreten zu schätzen (vor allem natürlich sein legendäres Schnurrbärtchen), das John Lennon beim Anblick der Band in der TV-Show Top Of The Pops zu dem Ausruf animierte: »Jesus, die haben Hitler in der Sendung!«), sondern auch seine musikalischen Visionen, die er uneitel im Schatten seines singenden, im Scheinwerferlicht stehenden Bruders als heimliches Mastermind verwirklichte. Gore war früh klar: Um seine Rolle gut zu spielen, muss ein Chef nicht unbedingt singen. Auch in seiner ersten Band nutzte Gore das Mikrofon nur für gelegentliche Backing Vocals; ansonsten spielte er bei Norman & The Worms die begleitende Akustikgitarre. Die Stimme der Gruppe gab sein Schulfreund Philip Burdett. In einem frühen Feature über Depeche Mode beschrieb ein Journalist des Magazins Smash Hits, der das Duo und dessen spätere Backingband um 1978/79 live sah, Norman & The Worms als »eine am Westcoast-Sound orientierte Band, die ›nette Lieder‹ spielte«.

Die meisten davon stammten aus der Feder Burdetts, der bis heute Teil des Songwriter-Circuits rund um London ist (der Besuch seiner Seite auf MySpace gibt einen Eindruck davon, welchem musikalischen Stil sich Norman & The Worms gewidmet haben). Eine der wenigen Gore-Kompositionen hieß See You – und kam einige Jahre später auf ganz andere Weise nochmals zu Ehren. Auch die spätere Depeche-Mode-Nummer A Photograph Of You entstand zu dieser Zeit – ein recht naives Liebeslied, das Gore vielleicht seiner ersten Freundin Anne Swindell widmete, die wie er auf die St. Nicholas School ging. Dort drückte auch ein schlaksiger Kerl namens Andy Fletcher die Schulbank, dessen Familie von Birmingham nach Basildon gezogen war. Er und sein Klassenkamerad Gore bauten eine Beziehung auf, die das Wort »Freundschaft« nur zu einem Teil charakterisiert (was aber nichts damit zu tun hat, dass Fletcher zuvor mit Anne Swindell zusammen war).

Auf eine Art ergänzten sich die beiden: Fletcher war lange nicht so schüchtern wie Gore und Ende der Siebziger sogar ein fast missionarisch gesinnter Christ mit festem Willen, andere von seinem Glauben zu überzeugen. Außerdem war er in Basildon gut vernetzt und spielte früh in Bands. In den Anfangstagen seiner Beziehung zu Gore gab Fletcher den Ton an. Er war es, der nach der Schule einen Job in London annahm. Gore zog nach, denn für den Gang an die Universität fehlte es ihm an Motivation. Fletcher machte ihn zudem mit der Clubszene in und um Basildon vertraut. Bis dahin war Gore abends kaum aus gewesen; später sagte er, er habe als Teenager unter der »Anschauung eines Vorstadtlebens« gelitten. Und Fletcher hatte auch die entscheidenden Kontakte, die Gore schließlich in die Band führten, die bis heute sein Leben bestimmt. Martin Gore und Andy Fletcher: zwei Basildon Boys, die eigentlich kaum mehr eint, als dass sie beide aus einer Stadt kommen, die es zur Geburt ihrer Eltern noch gar nicht gab. Und die bis heute dennoch so stark miteinander verbunden sind, dass keine der vielen Turbulenzen, die sie zusammen erlebt haben, sie auseinanderbringen konnte.