cover
cover

 

»Um in den Himmel zu gelangen,

muß man in der Erde graben.«

1

Der letzte Satz der Beethoven-Symphonie war im Schmettern der Blechbläser verklungen. Jeannes Schädel hallte noch von diesem Finale wider, und sie mußte sich auf das nächste Stück konzentrieren, um es überhaupt wahrzunehmen. Unmerklich ergriff die Melodie Besitz vom Innenraum des Autos, und die wehmütigen Harmonien ließen Jeanne den Atem stocken. Die Klage war bitter und eindringlich wie ein antiker Trauergesang, ein getragener, einfacher Refrain, der so einnehmend und unabwendbar war wie das Leben.

Ravels Pavane für eine tote Infantin, erkannte die junge Frau. Sie wandte das Gesicht zum Seitenfenster, damit der Mann, der den Wagen lenkte, nicht die Wehmut sah, die diese Melodie stets in ihr hervorrief.

Trotz der Septembersonne war die Landschaft, die draußen vorüberzog, fahl wie der Tod. Dies und die Musik trieben ihr die Tränen in die Augen.

Pierrot, mein Bruder, dachte sie, das ist dein Gesang – der Gesang deines so kurzen Lebens, in dem es keinen Zorn gab, nur lauter Zärtlichkeit …

Wie Pierre kannte auch Ravels Infantin kein Aufbegehren. Sie ließ sich im Traum dahinraffen, im Klang der Flöten, die sie aufnahm wie engelsgleiche Glutfunken, und im tiefen Vibrato der Geigen. Der Komponist hatte zu einem irritierenden Schluß gefunden: Man hörte ein zärtliches Aufbäumen, dann kampfloses Hinnehmen, und sanft, beinahe friedlich blieb der Atem der Musik stehen und ließ den Zuhörer auf eine erneute Aufnahme des Refrains warten, die aber nicht kam. Es war zu Ende, aber Jeanne konnte nicht anders als weiterzuwarten auf die fehlenden Noten, wie auf eine Hoffnung auf die Auferstehung.

Sie schaltete das Radio aus, um ihrer Rührung den Garaus zu machen.

»Aha«, sagte sie mit bebender Stimme, »wir sind an der Abzweigung nach Le Havre vorbei. Also fahren wir Richtung Caen und Basse-Normandie. Hoffentlich bringst du mich nicht nach Deauville. Ich habe wirklich keine Lust, das mondäne Paris aufmarschieren zu sehen.«

»Ich weiß«, gab François ruhig zurück. »Keine Sorge, wir fahren nicht nach Deauville. Glaub mir, du wirst bestimmt nicht enttäuscht sein. Wir machen uns ein romantisches Wochenende voller Geheimnisse, wie du es magst.«

»Cabourg?« fragte Jeanne. »Du wirst es doch nicht etwa so weit treiben, mich in dein Haus in Cabourg zu entführen?«

François errötete. Er hatte wegen seines Verhältnisses mit Jeanne schon genügend Schuldgefühle; er würde es nie wagen, sie in sein Ferienhaus nach Cabourg mitzunehmen, das Marianne gehörte, seiner Frau.

Jeanne merkte, welches Unbehagen sie mit ihrer Bemerkung bei ihm ausgelöst hatte. »Entschuldige, François«, sagte sie, »das war ungeschickt von mir. Ich bin wirklich nicht eifersüchtig auf deine Frau und deine Kinder. Ich interessiere mich nur für alles, was mit dir zu tun hat, und du hast gerade einen ganzen Ferienmonat mit ihnen verbracht, aber nichts davon erzählst du mir!«

»Ich interessiere mich auch für alles, was mit dir zu tun hat, Jeanne – und sogar für das, was dich nicht unmittelbar betrifft.« François verspürte keine große Lust, über seine Familie zu sprechen. »Aber im Gegensatz zu dir bin ich sehr wohl eifersüchtig!«

»Wirklich?« Jeanne gab vor, überrascht zu sein.

»Ja. Da ist ein anderer Mann, der deine Gedanken in Beschlag nimmt und der alles, was du tust, bestimmt – und das pausenlos!«

Jeanne runzelte die Stirn.

»Du hast diesen Sommer keine Ferien gemacht, damit du bei ihm sein konntest«, fuhr François fort. »Na ja, eher vielleicht bei seinem Gespenst, denn ihn selbst suchst du zwar überall, aber bis jetzt ist er ja unsichtbar geblieben.«

Jeanne begriff, wen François meinte. Sie lachte herzhaft auf und streichelte die breite Hand ihres Liebhabers. »Du redest von ihm wie von einem Rivalen! Du bist eifersüchtig auf Hugo von Semur, den Abt von Cluny, gestorben 1109! Darf ich dich daran erinnern, daß ich es dir verdanke, daß sich mein Leben allein um ihn dreht?«

»Ja, aber wenn ich gewußt hätte, daß er dich dermaßen in Beschlag nimmt … Außerdem ist dein Liebhaber zwar vielleicht im 12. Jahrhundert gestorben, aber sein bleiches Knochengerippe fasziniert dich offenbar mehr als meines!«

»Ich lege Wert auf den Hinweis, daß ich mich erst seit zwei Jahren in Cluny aufhalte«, antwortete Jeanne. »Aber ich gebe nicht auf: Ich bin sicher, daß das Grab dort ist, und ich werde es finden, auch wenn ich mein ganzes Leben darauf verwenden muß – was mich übrigens nicht daran hindert, auch an dir Geschmack zu finden.«

»Also ich weiß nicht – dein ganzes Leben in Cluny, in diesem Loch zusammen mit den Toten! Du wirst noch im gleichen Zustand enden wie dein verehrter Hugo!«

Jeanne ließ François’ Hand los. »Mach dich nur über mich lustig! Wenn wir sein Grab endlich finden würden«, fuhr sie fort, den Blick träumerisch verhangen, »ist dir klar, was das bedeuten würde, auch für dich? Ein seit Jahrhunderten verschollenes Grab, von dem niemand weiß, wo es liegt und ob es überhaupt noch existiert? Das Grab des Abts, der an der Spitze des Klosters stand zur Zeit seiner größten Blüte, der also wie ein König war? Ein mittelalterlicher Tutenchamun! Stell dir doch mal vor, was für Schätze sein Grab bergen muß. Wenn wir es entdecken, könnten wir so viel Neues über diese Zeit erfahren.«

»Alles klar, jetzt hält sie sich für Howard Carter im Tal der Könige und träumt vom großen Ruhm!«

»Der Ruhm ist mir völlig egal, so wie er auch Carter egal war«, entgegnete sie in schneidendem Ton. »Außerdem vergißt du gerade, daß ich bei dieser Ausgrabung assistiere und nicht die Leiterin bin. Also werde nicht ich die Entdeckerin des Grabes sein, falls wir es eines Tages finden sollten. Und das ist mir auch völlig gleich. Alles, was ich will, ist graben, graben und noch mal graben!«

»Genau das habe ich ja gesagt – eines Tages wirst du noch zum Maulwurf!«

Jeanne wurde nachdenklich. Ihr Beruf, die Archäologie, war nicht ihre zweite, sondern ihre eigentliche Natur. Wo immer sie hinkam, konnte sie nicht anders und mußte auf die Botschaft der von Menschen bearbeiteten Steine lauschen. Und die Steine sprachen zu ihr. Selbst wenn sie verschüttet waren, erzählten ihr die Mauerreste zauberhafte Geschichten, und rastlos versuchte sie, diese Geschichten aus der Erde wieder auferstehen zu lassen, unter der sie begraben lagen wie unter dem Vergessen selbst. François bedrückte es, daß sie sich für ein Leben entschieden hatte, das nicht in erster Linie den Lebenden galt, sondern eben der Liebe zu allem Toten.

»François«, murmelte sie und küßte seine Finger, »dein Maulwurf verspricht dir, sich um dich zu kümmern, zumindest dieses Wochenende. Ich werde dich mit einem kleinen Pinsel kitzeln wie einen romanischen Stein und harte Spatenstiche vermeiden.«

Er beugte sich zur Seite und versuchte sie zu küssen, wobei er den Blick von der Autobahn abwandte.

»He, Vorsicht!« schrie sie.

Brummend fand er auf seinen Platz zurück.

Jeanne lachte und schaute in die Landschaft. Sie hatten gerade die Gegend von Caen erreicht. »Also, François, was hast du dir für dieses Wochenende einfallen lassen?«

»Ich habe mir nichts einfallen lassen«, erklärte er trocken. »Ich mag es nicht, Marianne anzulügen. Ich habe ihr gesagt, daß ich eine künftige Ausgrabung besichtigen fahre, ein heikler, komplizierter Fall, und daß ich den vom Denkmalschutzamt abgestellten Verwalter treffen muß. Ob du dabei bist oder nicht, jedenfalls habe ich die Wahrheit gesagt!«

Jeanne nahm ihre kleine Brille ab und knabberte mit mißtrauischem Blick an einem der Bügel. »Denkmalschutz … Was erzählst du da?«

Soeben ließ François Caen und die Autobahn rechts liegen und nahm eine Landstraße Richtung Saint-Lô, bevor er auch an diesem Städtchen vorbeifuhr und den Wagen weiter Richtung Südwesten steuerte.

»Also nicht die Normandie«, schloß Jeanne. »Bretagne? Denkmalschutz … Saint-Malo?«

François strahlte sie mit seinem schönsten Lächeln an. »Eine Überraschung bleibt eine Überraschung! Ich sage dir nichts, bevor wir nicht da sind!«

»Na gut, wenn es so ist, dann schlafe ich eben. Der urlaubsreife Grubenarbeiter ruht sich aus, um nachher fit zu sein.«

»Ich beeile mich!«

Sie kuschelte sich in ihren Sitz, schloß die Augen und fragte sich, wohin sie wohl unterwegs waren. Ein bißchen ärgerte sie sich schon, daß François schon wieder Arbeit und Vergnügen miteinander verband, aber sie wußte ja, daß er sich irgendwie mit seinen Schuldgefühlen gegenüber Marianne arrangieren mußte, damit sie sich weiterhin sehen konnten. Plötzlich fühlte sie sich sehr müde. Vielleicht hätte sie doch Urlaub nehmen sollen, richtig Ferien machen – sie hatte noch so viele Urlaubstage übrig. Aber ihre Freunde hatten sich nicht freinehmen können, und allein hatte sie nicht wegfahren wollen. Und dann war da dieses Grab, von dem sie einfach sicher war, daß es existierte, auch wenn ihre Nachforschungen noch nichts ergeben hatten. Und wenn sie sich getäuscht hatte und es anderswo lag? Nein, wirklich, sie grübelte ja schon wieder über die Arbeit! Nein, nicht dieses Wochenende! Sie war bei ihm und nicht in ihrem Graben. Sie legte François die Hand auf den Oberschenkel und döste ein.

François umgab eine Aura von Intelligenz und Zärtlichkeit, die sie sogleich fasziniert hatte, als sie sich vor zwei Jahren in einem schlammigen Loch in Cluny zum erstenmal begegnet waren. Er hatte an den besten Elitehochschulen Frankreichs Geschichte und Verwaltung studiert und war inzwischen Stellvertretender Direktor der Abteilung für Archäologie im Kulturministerium.

In Begleitung seines Stabes von Mitarbeitern war er nach Cluny gekommen, um eine neue Ausgrabungsstätte zu begutachten, die sein Amt in Auftrag gegeben hatte und finanzierte. Eigentlich war das nicht seine Aufgabe. Seine Aufgabe, die gewisse Begehrlichkeiten hervorrief und ihn häufig unter Druck setzte, war es, in einem Pariser Büro zu hocken und im Namen des Ministers zu beschließen, welche Ausgrabungen von nationalem Interesse waren und genehmigt oder abgelehnt wurden. Doch er mochte solche Ausflüge auf das Terrain der alten Steine, und er setzte viel auf das Gespräch mit den Leuten vor Ort.

An jenem Tag war er allein durch die traurigen Reste des burgundischen Klosters gestrichen. Paul, der Leiter der Ausgrabung, war nicht dagewesen, und so war Jeanne mit ihren Kollegen aus der Grube geklettert, um den hochrangigen Staatsvertreter zu empfangen. Sie erinnerte sich, wie sehr er sie sofort beeindruckt hatte: mit seiner hochgewachsenen Gestalt, seinem tadellos sitzenden Anzug und seiner hochoffiziellen Funktion. Sie hatte sich wegen ihrer verdreckten Kleider geschämt, und schüchtern hatte sie ihm gegenübergestanden, eher wie ein U-Bahn-Arbeiter als wie die Spezialistin für mittelalterliche Archäologie, die sie war. Er aber hatte ihr seine feste und zugleich feingliedrige Hand hingehalten und sie mit dem Blick seiner Bernsteinaugen offen und interessiert angeschaut. Da hatte sie sich entspannt, und während sie ihm durch die Ausgrabung führte, hatten sie lange über ihre ungeheuere Leidenschaft gesprochen, über das Salz ihres Lebens: die romanische Kunst, die ihn ebenfalls begeisterte. Trotzdem hatte François fast ein Jahr gebraucht, um Jeanne zu erobern. Doch der Grund für den langen Widerstand hatte weniger bei der jungen Frau gelegen, die sofort von ihm eingenommen gewesen war, als bei ihm selbst: Trotz seines Charmes war er kein Verführer, noch weniger ein Schürzenjäger, und er hatte panische Angst empfunden bei dem Gedanken, seine Ehe aufs Spiel zu setzen. Der Grund dafür war keine falsche Moral gewesen, sondern eine tiefe, aufrichtige Liebe zu seiner Frau, der er schlicht kein Leid zufügen wollte.

Diese Anhänglichkeit hatte Jeanne keineswegs entmutigt, sondern sie im Gegenteil beruhigt: Sie hatte gerade ein stürmisches Abenteuer mit einem anderen Archäologen hinter sich, und in ihrer nächsten Beziehung wollte sie vor allem Ruhe und Frieden. Wenn der Preis für eine harmonische Liebe, die sich nicht auf den Sinn ihres Lebens – also ihre Arbeit – niederschlug, der war, daß sie diesen Mann mit einer anderen Frau teilen mußte, dann würde sie diesen Preis eben bezahlen.

Inzwischen hatte sie François mit ebensoviel Geduld wie Taktgefühl davon überzeugen können, daß sie trotz der Gefühle, die sie für ihn empfand, niemals seine Ehe gefährden würde: Seit zehn Monaten waren sie ein Paar, trafen sich in allergrößter Heimlichkeit. Gelassen nahm Jeanne die Gesetze des Dreiecksverhältnisses hin, und da ihre Beziehung zu François auf so unregelmäßige Treffen begrenzt blieb, konnte sie sich weiterhin auf ihre Ausgrabungen konzentrieren, und das war ihr am wichtigsten.

Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf ein Schild, und sie wurde sofort blaß. Hastig setzte sie ihre Brille auf, um sich zu vergewissern: Doch, es stimmte, sie hatte nicht geträumt.

»Ah, da bist du ja wieder!« rief François. »Wir sind fast da. Hast du gut geschlafen?«

Jeanne blieb stumm. Obwohl sie ganz bleich geworden war, bemühte sie sich, ihre Verstörtheit, ja, ihre Panik zu überspielen.

»Na, hat dein Schläfchen dir die Sprache verschlagen?« fragte er. »Du hast ja die Schilder gesehen – jetzt weißt du, wohin wir fahren.«

Jeanne wußte es nur allzu gut. Ihre Finger lagen verkrampft auf ihren Beinen, sie starrte auf einen eingebildeten Fleck auf der Windschutzscheibe und war unfähig, einen Ton von sich zu geben.

»Geht’s dir nicht gut?« Beunruhigt schaute François sie an. »Ist dir schlecht? Du bist ja ganz bleich im Gesicht! Aber … sag doch was!«

»Ich … es geht schon«, brachte sie mühsam hervor. »Mir ist ein … ein bißchen übel von der ganzen Reise wahrscheinlich. Erst der Zug von Mâcon aus, dann die Autofahrt. Ich hätte nicht schlafen sollen. Mir ist ganz dusselig …«

François öffnete das Handschuhfach und hielt Jeanne ein paar Erfrischungstücher hin. »Hier, mein Herz, tupf dir das Gesicht ab, dann wird dir besser. Zum Glück sind wir gleich da, und am Ziel erwartet uns ein schnuckeliges Hotelzimmer … Oh, schau doch, schau!« rief er voller Begeisterung.

Hinter einer Kurve zeichnete sich im Dunst der Dämmerung eine unglaubliche Silhouette über einem Feld voller lila Blumen ab. Das Auto fuhr ein paar Kilometer an der Umfriedung entlang, und der steinerne Kegel kam näher. François war stumm vor Staunen, Jeanne vor Schreck.

Plötzlich wich die Erde vom Fuß des riesenhaften Totems, machte dem tosenden Wasser Platz, und wenig später rollte das Auto über den Damm.

»›Ein Feenschloß mitten im Meer‹«, deklamierte François. »›Grauer Schattenriß vor dem vernebelten Himmel … Die Unendlichkeit des Sandes leuchtete rot im Sonnenuntergang, die ganze riesenhafte Bucht war rot; nur die steil aufragende Abtei, die da draußen emporwuchs, so fern von der Erde wie ein Zauberschloß, verblüffend wie ein Traumpalast, unwahrscheinlich fremd und schön, blieb beinahe schwarz im Purpur des dahinsterbenden Tageslichts!‹ Natürlich Maupassant! – Heute ist Tagundnachtgleiche, und so darf ich dir den Mons Sancti Michaelis de Periculo Maris bei Flut vorstellen – den ›Mont-Saint-Michel zum Trutz des Meeres‹!«

Eine halbe Stunde später saß Jeanne auf dem Rand eines Doppelbetts. François kniete vor ihr, hielt ihre Hüften umschlungen und knabberte an ihrem Hals. Sie sank auf den Rücken, er knöpfte ihr die Bluse auf und griff an ihre Brüste. Sie legte ihre Hände sanft auf seinen Oberkörper, auf diese Haut, die sie so verstörte – eine braune, dunkle, haarlose Fläche, makellos. Eine irgendwie einladende Haut, leicht glänzend und seidig, wie unter einem Schwarm von Liebkosungen poliert.

Das Weiß der Zimmerdecke war so kalt, so glatt. Aber nach und nach glitten Bilder darüber hinweg. Sie schaute François an, um sie nicht sehen zu müssen, verkrampfte die Finger in seinen Haaren, saugte sich an seinen Lippen fest und atmete an seinen Schultern – sie liebte den Duft seines Schweißes … Zucker, Wärme … Sie legte ihr Gesicht in François’ Halsbeuge und zitterte wie eine Katze. Sein Körper war breit und groß, auf angenehme Weise füllig, aber zugleich fest, weich und kuschelig. Ihr eigener Körper reagierte auf dieses wohlbekannte und unwiderstehliche Gefühl und rief sie. Ihr Blick aber starrte hoch zur weißen Decke, wo eine menschliche Gestalt tanzte, eine dunkle Figur mit verschwommenen Konturen.

Sie schloß die Augen, als er in sie eindrang. Er sagte etwas, aber sie hörte ihn nicht. Dafür waren da andere Worte, und ein Satz grub schmerzende Furchen in ihre Stirn, ihren Nacken, ihren Hals, vermengte das Jubilieren ihres Körpers mit dem Leid ihres Denkens. Dunkle Steine erschienen auf der Decke, eine Treppe führte hinauf ins Nichts. Ihr Blick erklomm die Stufen und traf auf eine schwarze Gestalt, die sich langsam umdrehte …

Sein eigener Schrei ließ François wieder zur Besinnung kommen. Den Blick noch immer verschwommen, spürte sie, daß er noch in ihr war. Schließlich löste er sich von ihr.

»Jeanne …« François kam langsam wieder zu Atem. »Jeanne«, wiederholte er und drückte sie an sich, »war es in Ordnung für dich? Ich hatte das Gefühl, du warst so weit weg. War es nicht gut?«

»Doch, doch, mein François.« Sie schmiegte sich an ihn. »Das hast du dir nur eingebildet. Ich schwör’ es dir, es ist alles bestens. Laß mich nicht los, halt mich fest …«

Er gehorchte ihr mit grenzenloser Zärtlichkeit, glücklich, mit ihr zusammenzusein. Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung, als er sie zum erstenmal gesehen hatte, in ihren schmutzstarrenden Stiefeln, den ausgewaschenen Jeans im gleichen Himmelblau wie ihre Augen hinter der kleinen Brille, mit dem stolzen Kinn, der hohen, vom Schlamm verschmierten Stirn, den lustigen Sommersprossen auf der Nase, den langen braunen Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, und der Baseballmütze darüber. Der Beruf des Archäologen war hart, elitär und ein Stück weit frauenfeindlich, man traf dort also nur wenige Frauen, und – hatte er sich gesagt – so schöne wie sie eigentlich überhaupt nicht.

Die Überraschung hatte sich in heftige Zuneigung gewandelt, als Jeanne mit blitzenden Augen von der romanischen Kunst zu sprechen begann. Mit achtundzwanzig hatte sie ihre Doktorarbeit über Cluny III in der Tasche gehabt und die Aufnahmeprüfung in die nationale Forschungsgesellschaft im selben Aufwasch bestanden. Dieses dreiunddreißigjährige Mädchen, das so fasziniert erzählte, wie Tonnengewölbe und Rundbogen aufgekommen waren, hatte etwas ganz Außergewöhnliches. Diese junge Frau strahlte eine machtvolle Leidenschaft für ihre Kunst aus, die ihn auf Anhieb für sie eingenommen hatte. Dann hatte er Angst bekommen, panische Angst davor, daß er sich in sie verlieben könnte, und vor den verheerenden Folgen für seine Familie, die ihm Halt im Leben gab, die sein Sinnstifter war, seine einzige Energiequelle. Er hatte gegen seine Gefühle angekämpft, gleichermaßen um sich selbst zu retten wie um Marianne zu schützen. Aber Jeanne war stärker gewesen. Jedesmal, wenn sie sich getroffen hatten, hatte ihn ungeheures Verlangen gepackt – nie zuvor hatte er das verspürt, auch nicht für seine Frau –, eine solche Lust nach dem sinnlichen wie nach dem geistigen Genuß, daß er zu guter Letzt die Waffen gestreckt hatte. Er litt unter den Gesetzen des Dreiecksverhältnisses, aber da seine Beziehung zu Jeanne heimlich blieb, konnte er seine Familie aus der Sache heraushalten, und das war ihm am wichtigsten.

Sie verließen das Hotel, und François zog seine Begleiterin auf einen frühabendlichen Spaziergang um die Befestigungsmauern aus dem hundertjährigen Krieg. Sie fühlte sich dabei wie ein Ritter auf dem Wachrundgang. Sie hatte ihre enge Hose und die weich fallende Bluse gegen ein kurzes Seidenkleid getauscht und trug rote Ballerinas, aber obwohl das Kleid leicht und luftig war, spürte sie eine Beklemmung wie von einer eisernen Rüstung.

»Du siehst wunderbar aus«, flüsterte er ihr zu. »Genauso zauberhaft wie dieser Ort hier … Übrigens, ich habe dir gar keine Gelegenheit dazu gegeben, mir zu sagen, was du von meiner Überraschung hältst: Ich denke mal, du dürftest den Berg in- und auswendig kennen, aber diesmal werden wir ihm gemeinsam erliegen.«

Jeanne zwang sich, tief durchzuatmen, bevor sie antwortete. »Ich … ich werde dich jetzt wohl auch überraschen, aber ehrlich gesagt habe ich mich in der kurzen Zeit sehr auf Cluny und Vézelay spezialisiert, und da das Kloster auf dem Mont-Saint-Michel in keinster Weise von Cluny abhängig war, kenne ich mich hier alles andere als wirklich gut aus.«

François blickte zuerst verwundert drein, dann strahlte er. »Das ist ja unglaublich! Du hast dich nie mit dem Berg befaßt! Wunderbar – dann kann ich dich in seine Mythologie einweihen! Sie fasziniert mich seit meiner Kindheit, und ich kann endlos davon erzählen.«

In tiefer Niedergeschlagenheit beobachtete Jeanne die grauen Wellen, die an den Stützpfeilern des Damms nagten, die Parkplätze überfluteten, an den Wachtürmen leckten.

»Die Bucht zum Beispiel: Die Gezeiten kamen hier früher in einem unglaublichen Tempo! Einen Meter pro Sekunde, bei fünfzehn Meter Tidenhub! Ich sage ›früher‹, weil das hier im Jahr 1000 eine vom Festland abgeschnittene Insel war, ohne Damm und ohne Polder, die das Land teilweise haben versanden lassen. Zum Glück soll das alles wieder rückgängig gemacht werden, und auch diese lächerliche Landzunge soll weg, die den Felsen mit dem Festland verbindet. Wenn das geschehen ist, muß man hier demnächst wieder zu Fuß gehen, so wie die Pilger damals. Dann ist Schluß mit diesen verdammten Autos hier! Seine Motorkutsche muß man dann drüben stehen lassen, am anderen Ufer, und dann nimmt man die Fähre oder geht wie damals über einen Steg auf Pfählen!«

Jeanne blieb stumm. François nahm dieses Schweigen als den Mißmut der Gelehrten auf.

»Du hast ja recht, Liebling, ich bin ein schlechter Führer – ich fange mit dem Ende an! Dabei muß man mit dem Anfang beginnen. Und um das zu tun, muß man hinaufsteigen, die Stufen hoch, um in der Zeit zurückzugehen. Komm!«

Aufgeregt nahm er sie bei der Hand und zog sie über die gepflasterten Straßen und die engen Treppen, die durchs Dorf führten. Auf beiden Seiten hingen an den zahllosen Touristenlädchen mehr oder weniger geglückte Imitationen der gußeisernen Ladenschilder von einst. Die Wohnhäuser im Dorf waren herrlich restauriert, stellten ihr Fachwerk zur Schau und trugen so klangvolle Namen wie »Haus Artischocke«, »Logis Tiphaine«, »Du Guesclin« oder »Zur rennenden Sau«.

Während sie die Steintreppen emporstiegen, kamen sie auch immer wieder an Gärtchen vorbei und an über hundertjährigen Bäumen, bis sie schließlich oben anlangten: Imposant und majestätisch reckte sich die vergoldete Turmspitze in den Himmel, und die Abtei ließ beide den Kopf in den Nacken legen und die Münder aufsperren.

»Hier!« erklärte François, noch immer atemlos. »Hier hat vor dreizehnhundert Jahren alles angefangen! Laß uns noch nicht hineingehen, einverstanden? Lieber erst nachher, nach dem Abendessen. Jetzt komm erst mal mit!«

Auf wieder anderen Stufen stiegen sie noch weiter hinauf und gelangten auf den Vorplatz der Klosterkirche, außer Atem und mit weichen Knien. Das herrliche Panorama mit seinem zart-romantischen Ambiente zog zahlreiche Besucher an, vor allem Paare.

Das Wasser umspülte inzwischen den Fuß des Berges, den der unselige Damm mit dem Rest der Welt verband. Die Fluten berührten den Himmel, dessen Blau immer mehr verblaßte und über den rosa Streifen hinwegzogen. Jeanne setzte sich auf die Brüstung, tief berührt vom Anblick der roten Scheibe der ersterbenden Sonne. François räusperte sich und legte ihr die Hände auf die Schultern, während sich sein Blick über dem Meer verlor.

»Inmitten einer Wüste aus Sand und Wasser, umwabert von Nebeln, so daß Legenden dort besonders gut gediehen, lag einst ein granitener Felsen namens Mont Tombe, der Grabberg. Als steinerne Statue, die zum Himmel aufragte, war der Berg den Kräften der Natur ausgeliefert, seit im 8. Jahrhundert der umliegende Wald von Scissy, der sich bis Brocéliande hinzog, in einem höllischen Sturm vernichtet worden war. Seitdem folgte das Meer mit seinen Fluten zweimal am Tag dem Ruf der Sonne und des Mondes, erhob sich und umspülte den Felsen mit seiner schäumenden Wut, so daß er vom Rest der Welt abgeschnitten wurde.«

Jeanne lächelte und schien sich zu entspannen. François war nicht nur ein kundiger Historiker, sondern er wußte auch, wie er sie mit seinen Erzählungen zum Träumen bringen konnte.

»Am äußersten Rand der Wolken am Himmel und der irdischen Ufer«, fuhr er fort, »zwischen dem Hier und dem Jenseits, war diese seltsame ›Toteninsel‹ zum Wohnort eines göttlichen Erzengels geworden, der nach Christus der oberste Fürst in Gottes Reich ist und der die Seelen in die andere Welt geleitet: Der heilige Michael war Aubert, dem Bischof von Avranches, im Traum erschienen, damit der ihm auf dem Mont Tombe eine Andachtsstätte errichtete. Dreimal hatte der Prälat den Erzengel im Traum gesehen, und bei der dritten Erscheinung entschloß er sich, den Befehl von Gottes Herold zu befolgen.«

»Wann war das?« fragte Jeanne, die François an den Lippen hing.

»Immer noch im 8. Jahrhundert, meine Liebe. Am 16. Oktober 709 segnete Aubert das Oratorium, das dem heiligen Michael geweiht war – ein Gotteshaus, das direkt auf dem Felsen aus den Steinen des Berges errichtet wurde. Trotz der zahlreichen Gefahren, denen sie sich aussetzten – der Treibsand, die Gezeiten, Unwetter und Wegelagerer –, kamen von da an die Pilger zur Andachtsstätte, in der zwölf bretonische Kanoniker von den Almosen der Christen lebten, von den Fischen, die das Meer auf die Ufer spülte, vom Ertrag der Erde und einer wunderbaren Quelle, die der heilige Michael aus dem Felsen hatte entspringen lassen: dem Saint-Aubert-Brunnen. Den gibt es immer noch – sieh nur dort unten!«

Jeanne wagte einen Blick in die Tiefe, aber die Höhenangst packte sie, so daß sie lieber in die Ferne schaute.

François drückte ihr einen Kuß ins Haar und fuhr fort: »Im 11. Jahrhundert trat der König von Frankreich den Mont-Saint-Michel an die Bretonen ab. Aber der bretonische Frieden dauerte nicht lange an, denn die Horden der barbarischen Wikinger kamen auf ihren seltsamen Drachenbooten aus dem Norden, und der König von Frankreich mußte einem skandinavischen Piraten namens Rollo ein Gebiet abtreten, das später …«

»… die Normandie wurde!« rief Jeanne.

»Ja. Du weißt, wie es weiterging: Im Jahr 933 traten die Wikinger oder Normannen mit ihren Horden den Bretonen entgegen und schlugen sie in einer gewaltigen Schlacht. Der König von Frankreich mußte die Halbinsel Cotentin an Wilhelm Langschwert abtreten, Rollos Sohn, und so wurde der Mont-Saint-Michel normannisch, sehr zum Unwillen der Bretonen! Die Grenze zwischen den beiden Nachbargebieten, die fortan Feinde waren – und zwar für viele Jahrhunderte –, liegt hier vor deinen Augen – jedenfalls bei Ebbe: Es ist der Fluß Couesnon, der zu Füßen dieses berühmten Felsens fließt und noch heute die Grenzlinie zwischen Bretagne und Normandie darstellt. Doch die barbarischen, blutrünstigen Piraten bekehrten sich schließlich zum Christentum und entwickelten sich allmählich zu den normannischen Feudalherren, und diese Fürsten bedachten den Klerus vom Mont-Saint-Michel mit großzügigen Gaben in Form von Geldspenden, von Ländereien und Lehndörfern.«

»Dabei waren die Kanoniker, die seit dem 8. Jahrhundert auf dem Mont lebten, doch Bretonen, oder?« fragte Jeanne.

»Richtig. Und der normannische Herzog Richard I., der nicht ohne Grund den Beinamen ›Ohnefurcht‹ trug, hegte auch bald schon seine Zweifel an der Loyalität der bretonischen Kanoniker, die in ihren eher ›lockeren‹ Sitten, so die normannischen Legenden, lieber das Abendmahl mit den Dorfbewohnern teilten, als dem heiligen Michael ihre Ehrerbietung zu erweisen.

Mit der Zustimmung des Papstes verjagte Richard deshalb im Jahre 966 die Kanoniker gewaltsam vom Mont-Saint-Michel und überließ die heilige Stätte zwölf Benediktinermönchen aus normannischen Klöstern. Und so begann die goldene Legende des Mont-Saint-Michel, die die Benediktiner über die Jahrhunderte ausgestaltet haben. Ohne Unterlaß mehrten sie das Ansehen dieses Ortes, indem sie diese riesige Abtei erbauten, die reichste in der Gegend, ein Ort der Verehrung und der Wallfahrt, einst einer der bedeutendsten im ganzen westlichen Christentum!«

Bei diesen Worten konnte Jeanne in ihrem Trägerkleid, obwohl ihr die Haare bis auf die Schultern herabfielen, einen Schauer nicht unterdrücken.

»Du zitterst ja!« François war beunruhigt. »Etwa, weil ich von den Benediktinern spreche und dabei weder deinen lieben Hugo von Semur noch Cluny erwähne?«

Jeanne wandte in einer abweisenden Geste das Gesicht von ihm ab, und ihr Blick verlor sich in der hereinbrechenden Dunkelheit.

»Oh, entschuldige, ich wollte dich nicht kränken!« flüsterte er. »Nimm das hier!« Er legte ihr seine Jacke um die Schultern. »Dieses Kleidchen ist wirklich süß, aber für die Meeresbrise hier ist es zu leicht! Was hast du? Geht es dir nicht gut?«

»Nicht besonders. Dein Bericht war spannend, aber ich habe seit heute morgen nichts zwischen die Zähne bekommen. Gleich wird mir übel«, antwortete sie. »Gehen wir essen.«

Ihr Tisch stand auf einer Terrasse fern von der Menge, und von dort aus hatten sie einen herrlichen Blick auf die inzwischen tintenschwarze Bucht. Jeanne ging sich die Hände waschen, kam zurück und sank auf den Stuhl. Sie war sehr blaß.

»Laß uns schnell bestellen«, erklärte François. »Du bist sicher unterzuckert. Kein Wunder, besonders viele Reserven hast du ja nicht gerade!« Er tätschelte ihr den nackten Schenkel.

Kurz darauf saß die junge Frau vor einem Berg Scampi, die auf einer riesigen Platte mit Meeresfrüchten thronten. Sie war vollauf mit dem grünen Fleisch eines Taschenkrebses beschäftigt, während sich François über eine riesige Auster aus dem nahen Cancale hermachte.

»Schenkst du mir bitte noch etwas Wein nach?« bat sie ihn.

»Gern. Sag mal, Jeanne …« Er zögerte. »Wir kennen uns jetzt seit fast zwei Jahren, seit einem Jahr sind wir zusammen, und ich habe dich noch nie in so einem Zustand erlebt. Du bist immer so stark, so energisch, aber auf einmal fehlen dir die Worte, wirst du leichenblaß, bist du … bist du woanders, wenn wir uns lieben. Du kannst nicht mehr richtig laufen, du trinkst mehr als sonst … Bist du nicht glücklich, mich wiederzusehen? Gibt es etwas, was du mir sagen willst? Wenn es das ist, dann …«

Jeanne hörte auf zu kauen, blickte auf und schaute ihm direkt in die Augen. »Es geht nicht um dich«, sagte sie.

»Nicht um mich? Worum denn dann?« François wurde auf einmal rot im Gesicht. »Um deine Arbeit? Oder bist du … bist du etwa einem … anderen begegnet?«

Sie konnte sich ein mitleidiges Lächeln nicht verkneifen, das sie aber hinter ihrem Weißweinglas verbarg. François war tief verstört und erwartete eine Erklärung. Sie fand ihn rührend wie einen ausgesetzten Welpen.

»Ja, ich bin jemandem begegnet – vor sehr langer Zeit, genau hier, und diese Begegnung hat mein Leben völlig verändert.«

François hüstelte – vor Erleichterung ebenso wie vor Verwirrung. »Erzähl es mir«, bat er und griff nach ihrer Hand, die auf der Tischdecke lag.

Jeanne zögerte, dann gab sie dem erwartungsvollen Blick ihres Geliebten nach. »Es ist eine verrückte Geschichte. Ich habe noch nie jemandem davon erzählt«, begann sie. »Aber sei’s drum. Ich war sieben Jahre alt – das heißt, ich wurde am 15. August sieben Jahre alt. Meine Eltern und ich waren in den Sommerferien in Agon-Coutainville im Cotentin, wo wir eine zauberhafte Hütte gemietet hatten. Das war mal etwas anderes als die Drôme und der Mistral. Nun, meine Mutter, frömmlerisch wie sie war, erklärte meinem Vater, daß sie am 15. August zur Messe auf den Mont-Saint-Michel wollte. Falls du deinen Katechismus nicht mehr parat haben solltest, das ist das Fest Mariä Himmelfahrt. Und dieser Tag war also auch mein Geburtstag und für meine Eltern und mich zugleich auch ein schmerzlicher Tag, denn es ist auch der Geburtstag von Pierre, meinem Zwillingsbruder, der … der mit drei Monaten an plötzlichem Kindstod gestorben ist! Ja, ich weiß, ich habe dir nie davon erzählt. Aber ich rede eben nie davon, und ich habe natürlich keinerlei Erinnerung an ihn. Also, wir gingen alle drei auf den Mont-Saint-Michel. Wir waren zum erstenmal hier, und wie die anderen Tausenden von Touristen waren wir sehr beeindruckt davon, wie schön es hier ist. Dort oben in der Klosterkirche herrschte trotz der Menschenmenge eine ganz eigene Atmosphäre! Das Hochamt, die kühlen Mauern, der Weihrauch, die allgegenwärtige Vergangenheit, die Inbrunst in den Gesängen der Pilger, die über das Watt gekommen waren … als wäre die Zeit stehengeblieben. Und so hatten wir überhaupt keine Lust, nach Coutainville zurückzufahren.«

»Ja, ja, die Magie der alten Steine!« faßte François zusammen, noch immer erstaunt darüber, daß Jeanne einen Zwillingsbruder gehabt hatte.

»Bestimmt. Nach der Messe zog sich meine Mutter in eine kleine Chorkapelle zurück, um im Gedenken an meinen Bruder zu beten, und mein Vater und ich stiegen hinunter ins Dorf, um für die Nacht ein nicht allzu teures Hotelzimmer zu finden. Ich erinnere mich sogar, daß Papa mir einen riesigen roten Lolli in Form eines heiligen Michael gekauft hat. Wir haben ein Zimmer gefunden …«

Sie schenkte sich etwas Sancerre nach, bevor sie fortfuhr:

»Ich konnte überhaupt nicht einschlafen. Mir war so heiß. Unter der rosa Bettdecke erstickte ich fast. Schließlich dämmerte ich doch in den Schlaf – und da sah ich …«

Jeanne blickte um sich wie ein verängstigtes Tier.

»Da sah ich … einen engen gemauerten Raum voller Seilzüge, wahrscheinlich einen Glockenturm. Ein Mönch stand reglos am Rand der riesigen dunklen Öffnung, dann stürzte er! Plötzlich endete sein Fall – in einem Geräusch von berstenden Knochen. Unten trat ich an den Turm heran. Der Wind pfiff, es war dunkel, aber ich konnte das Klatschen der Wellen hören. Ich stand unterhalb einer Abtei, die aufs Meer hinausging, vielleicht war es der Mont-Saint-Michel, vielleicht auch nicht. Aber was ich weiß, ist, daß da oben, mir gegenüber … die Leiche des unseligen Mönchs hing! Sie schaukelte in der Luft wie eine Marionette. Ich konnte das Gesicht nicht sehen, nur seine Kutte von grobem Wollstoff, mit einem langen Strick zusammengehalten, die gegen den Glockenturm schlug. Ein Gehängter – ja, ein Gehängter! Vor Entsetzen blickte ich zu Boden, und plötzlich war ich woanders, an einem unbekannten Ort, eine Kapelle ohne Licht, mit unverputzten Steinen. Dunkle steinerne Gewölbe.

Eine dicke Kerze brannte auf einem Altar, über dem sich ein Bogen spannte, und darüber waren die Stufen einer endlosen Treppe. Von hinten sah ich einen Mönch, der genauso gekleidet war wie der Erhängte. Er stieg langsam nach oben – und plötzlich drehte er sich zu mir um!«

Jeanne schloß für einen Moment die Augen. François hing an ihren Lippen.

»Da merkte ich plötzlich, daß ihm … daß er keinen Kopf hatte! Da war nur ein leeres schwarzes Loch in der Kapuze seiner Kutte. Er hob die Arme, faltete die Hände zum Gebet, und … und eine tiefe, feierliche, hohl klingende Stimme artikulierte überdeutlich jede Silbe wie in einem Urteilsspruch des letzten Gerichts: Ad accedendum ad caelum, terram fodere opportet. Die Steine der Kapelle warfen das Echo dieser seltsamen Worte zurück …«

François verstand die Bedeutung des Satzes, aber er hielt sich zurück. Jeanne seufzte. Es war ein befreiendes Seufzen.

»Am nächsten Morgen regnete es. Die Wassertropfen zeichneten Gitterstäbe auf die Fenster. Die Bucht war düster und verhangen. Ich erzählte nichts von meinem Traum. Papa zahlte, und wir fuhren zurück nach Coutainville. Ich schrieb schnell den Satz auf einen Heftrand, nach dem Gehör, ohne ihn verstanden zu haben – ich kannte diese Sprache nicht, ich dachte, es wäre die Sprache der Traumzauberer. Drei Jahre danach wurde mein Vater versetzt, und wir zogen in die Nähe von Paris. Mama hielt es in der Drôme nicht mehr aus. Vom Mistral bekam sie dauernd Migräne. Ich fand mich also in der 6. Klasse einer noblen Mittelschule in Fontainebleau wieder. Dort lernten wir Latein. Am Klang erkannte ich die Sprache wieder, die der Zauberer in meinem Traum gesprochen hatte, die Sprache des rätselhaften Satzes, die man eine ›tote Sprache‹ nannte. Da hielt ich es nicht mehr aus, und nach der Stunde zeigte ich meinem Lehrer das Heft; ich behauptete, ich hätte diesen lateinischen Ausspruch in einer Messe bei den Mönchen gehört. Er lächelte über meine Schreibfehler, flüsterte dann den Satz vor sich hin, und seine Augen begannen zu leuchten. Er korrigierte meine Patzer und meinte schließlich, das sei ›sehr schön und sehr wahr, eine Lektion fürs Leben‹, und ich sollte weiterhin Latein lernen. Ad accedendum ad caelum, terram fodere opportet: ›Um in den Himmel zu gelangen, muß man in der Erde graben.‹«

»Und du bist Archäologin geworden«, flüsterte François.

»Ja«, antwortete sie leise. »Ich weiß, das ist kein Zufall. Ich verbringe mein Leben damit, in der Erde zu graben, aber ich habe den enthaupteten Mönch nie wiedergesehen, und ich bin nie wieder am Mont-Saint-Michel gewesen – bis heute nicht.« Mit Tränen in den Augen und mit ausgetrockneter Kehle leerte sie ihr Glas auf einen Zug.

»So so!« sagte François gerührt. »Wirklich, Jeanne, du erstaunst mich immer wieder. Ich dachte, ich würde dir eine freudige Überraschung bereiten, indem ich dich hierher bringe. Du bist wirklich jemand ganz Außergewöhnliches – und jetzt verstehe ich dich besser. Jeanne, die brillante Mediävistin, Spezialistin der romanischen Kunst, Archäologin, die in der Erde von Cluny gräbt.«

Jeanne fiel ihm gereizt ins Wort. »Na und?«

»Na und? Du läufst einem Kindertraum nach! Deine wunderbare Berufung als Archäologin, deine wilde, nur auf eine Sache konzentrierte Leidenschaft rührt von einem Traum her, mein Liebes, von einem Alptraum aus Kindertagen, der Ausdruck deiner Phantasie ist und wohl vor allem des verdrängten Schuldgefühls gegenüber deinem toten Zwillingsbruder!«

Jeanne wurde stocksteif. Die Zornesröte stieg ihr ins Gesicht, und ihre Stimme war auf einmal schneidend wie eine Rasierklinge. »Spar dir deine Stammtischpsychologie. Ob es dir gefällt oder nicht: Ich habe immer das Gefühl gehabt, daß dieser Traum mir etwas Reales gezeigt hat, etwas so Reales, daß es mir davon noch immer kalt den Rücken hinunterläuft, als wäre ich Zeuge einer längst vergangenen Tragödie gewesen – einer Tragödie, so mächtig, daß sie viel später im Traum eines kleinen Mädchens wieder hochkommen mußte. Aber wer weiß, vielleicht hatten ja über die Jahrhunderte hinweg auch andere Leute schon denselben Traum. Haben die Steine nicht ein Gedächtnis?«

2

Durch die Fenster mit ihren Rundbögen wirkt der Himmel wie eine Mönchskutte: schwarz, schwer, undurchdringlich. Von unsichtbaren Kräften getrieben, rücken Wind und Wellen wie schneidende Peitschen dem Berg zu Leibe, brechen sich unten, aber ganz oben verstärkt das Echo ihres Ansturms noch das machtvolle Wehen, das auf die Kirche einstürzt.

»Michael archangele … gloriam predicamus in terris …«

Von einer Reihe nachtschwarzer Mönche steigt das gesungene Leuchten empor, flackernd wie die Flammen der Kerzen, die auf dem Altar brennen.

»Eius precibus adiuvemur in caelis …«

Taub gegenüber den Sturmböen, die durch die Öffnungen in der Mauer eindringen, antwortet eine zweite Reihe von Benediktinern, die parallel zur ersten steht, in harmonischem Wechselgesang.

Zwei lange Stunden hält sich das schwarze Heer inmitten der Dunkelheit aufrecht, wacht vor dem Altar, singt Psalmen, stellt dem Toben der irdischen Elemente die Macht des Wortes entgegen, einen Schild des Gebets, der mit der himmlischen Welt der Engel verbunden ist.

Die Ansprache des Priesters, der diese Woche die Messe liest, beschließt das Stundengebet der Vigil. In Zweierreihen verneigen sich die Mönche vor einem kleinen blauäugigen Greis, der jeden seiner Söhne segnet, bevor sie die Abteikirche in einer langsamen geordneten Bewegung verlassen. Draußen schlagen die Männer stumm die Kapuzen hoch und verschmelzen mit dem plötzlichen Dunkel. Der rasende Sturm stört nicht ihre Prozession, die von einer tanzenden Laterne angeführt wird. Gebäude aus Holz und Stein umgeben die Kirche wie ein Schutzwall in der Form eines Hufeisens.

Die Tempelwächter betreten den Schlafsaal, ein feuchter Raum, der mit Stoffbahnen in einzelne Zellen unterteilt ist. Jeder Diener des Erzengels tritt an sein Lager, eine Strohmatte, ein mit Heu gestopftes Kissen und eine dünne Decke, die auch sein Leichentuch sein wird, wenn einst seine Stunde gekommen ist.

Die Mönche legen zuerst das Messer ab, dann die wachsüberzogene Schreibtafel und den Griffel, die an ihrer Taille hängen, und anschließend ziehen sie das schwarze Skapulier mit der Kapuze aus und legen sich im Unterkleid hin.

In dieser frühen Herbstnacht ist es nicht sehr kalt, noch nicht. Doch in diesem entlegenen Winkel des Herzogtums Normandie ist es nicht der Schnee – der ist eher selten –, nicht die Kälte – an sie gewöhnt man sich –, sondern vielmehr das Meer, das die Männer fürchten, das erbarmungslose Meer, das den Berg von der Welt der Lebenden trennt und sich mit dem Schnauben des Luzifers verbündet, damit die Schiffe zerbersten oder sich in den undurchdringlichen Nebeln verirren, um die Pilger mit seinen Armen zu packen, sie zu ertränken oder fortzureißen. Das Meer, dessen brackige Ausdünstungen sowohl den Geistlichen wie den Laien das Herz zernagen und sie anfällig machen für die schlimmste aller Todsünden: acedia, die Trägheit, die Hoffnungslosigkeit.

Während die meisten Brüder in den Schlaf sinken, den die Vigil unterbrochen hat, bleibt einer von ihnen wach: In der Mitte des Schlafsaals zündet der significator horarum, der Bewacher der vergehenden Zeit, die dritte Kerze dieser Nacht an, die letzte. Wenn sie heruntergebrannt ist, ist das Dunkel gegangen, und die Dorfbewohner, die Bauern und die Herren werden erneut erwachen und wieder ihren Platz in der Weltordnung einnehmen.

Die letzte Kerze brennt und sendet ihren Schein in das Schweigen der Menschen und den Zorn der Natur. Als sie halb niedergebrannt ist, tritt der Herr der Stunden zu einer Glocke in einer Ecke und läutet. Da erhebt sich das Heer, legt die Kukullen um und schreitet erneut zur Kirche. Wieder formieren sich die Reihen, und unversehens beginnt der Gesang der Laudes und übertönt das Klagen des Windes. Je länger die Psalmen und Wechselgesänge erklingen, desto mehr zerschmilzt der Himmel und verliert von seinem trüben Schwarz. Ein leichter Schleier verfärbt ihn grau, so langsam und allmählich, wie die Flamme auf dem Altar am Leib der Kerze knabbert. Die dicken Mauern, massive Quader mit Fugen aus Kalk und dem Sand der Dünen, heben sich von der Dunkelheit ab, und die beiden Reihen schwarzer Mönche wiederum von den Mauern.

Die Zeremonie der Laudes nimmt ihren Gang. Der Morgen graut, düster, noch ohne Sonne, doch der Kampf zwischen den beiden Mächten ist zu Ende, der Auftrag der Brüder erfüllt. Die Welt dort unten schlummert noch, aber am Rand von Himmel und Erde haben sie über die Seelen der Schlafenden gewacht, die verloren gewesen wären während der zwölf Stunden der Nacht, solange die Dämonen tobten. Die Mönche kehren ins Dormitorium zurück und schlafen noch einmal bis zur ersten Stunde, der Stunde, in der sich die Sonne siegreich erhebt, und alle, Laien und Geistliche, stehen auf, um nach dem Maß des göttlichen Lichts zu leben.

In den strohgedeckten Hütten klettern die Dorfbewohner nackt aus dem einzigen Familienbett, und jeder bekreuzigt sich dreimal, bevor er ein Gebet spricht. Während oben die Mönche ihre Skapuliere überziehen und Messer und Schreibwerkzeug am Cingulum befestigen, schlüpfen die Bauern in Hemd und Hose, Wams, Schuhe, Kappe, in die übrige Kleidung, und schließen ihre Gürtelschnalle. Dann waschen sich alle Hände und Gesichter. Unten schwatzt man und tut sich an Speck, Suppe, Brot mit Knoblauch, Senf und normannischem Wein gütlich, während die Mönche stumm wieder in die Kirche gehen, um die Prim zu zelebrieren, auf die die Morgenmesse folgt. Sie brechen das Fasten erst am Mittag, zur sechsten Stunde, wenn die Sonne hoch am Himmel steht.

Nach der Morgenmesse stülpt einer der Geistlichen die schwarze Kapuze über seine filigranen Züge. Eilig durchschreitet der Neunundzwanzigjährige das Klostertor, dann eine Lücke in jenem Bretterzaun, den Richard I. bei der Ankunft der Benediktiner hat errichten lassen. Seine braunen Brauen zusammengezogen und die Stirn in Falten gelegt, steigt er mit ausgreifenden Schritten ins Dorf hinab, das aus nicht mehr als ein paar Hütten mit Mauern aus Schiefer besteht, mit einem Dach aus Schilfrohr sowie Ölpapier anstelle von Fensterscheiben.

Er schaut hoch zur Sonne, die allmählich die Nebelbänke durchbricht, und legt auf dem schlammigen Pfad noch einen Schritt zu. Einen besorgten Blick aufs Meer gerichtet, erwidert er beiläufig den ergebenen Gruß der Dorfbewohner, die gerade Wasser vom Brunnen holen, die Hühner und Gänse füttern oder ihr steil am Hang gelegenes Gärtchen umgraben, wo sie ihr Gemüse anbauen, vor allem Bohnen, Kohl und Erbsen.

Bruder Roman gelangt endlich an den Strand, wo ihn ein kleines Segelboot und ein Fischer aus der Bucht erwarten. Kaum ist der Mönch an Bord, als sie sich vom günstigen Wind auf die hohe See treiben lassen. Romans Blick verliert sich auf den Wellen, die vom selben Anthrazit sind wie seine Augen. Seine schmalen Lippen, seine Adlernase und seine hohe Stirn verleihen seinem Gesicht trotz seiner Jugend großen Ernst. Seine blasse Haut, die langen feingliedrigen Hände eines Intellektuellen verraten seine aristokratische Herkunft, wie sie überall in den Klöstern keine Seltenheit bei Priestern ist. Zur Stunde der Terz erreicht das Boot Granville und wendet gen Westen.

Roman kniet im Schiffsheck nieder und betet im Stillen, so wie es die Regel des heiligen Benedikt verlangt. Kurz darauf ist Land in Sicht. Land – oder vielmehr eine Anhäufung kleiner Landflecken, vom Sturm niedergedrückt und manche vom wirbelnden Wasser überflutet, so daß sie nur dann existieren, wenn die Flut sinkt und das Wasser in den Prielen steht.

Das Boot legt an der größten Insel an. Roman verabschiedet sich von dem Fischer mit einer kurzen Geste, dann wandert er über die Felsenwüste. Keinerlei Besiedelung. Sandstrände wechseln ab mit steilen Klippen, und überall erheben sich nackte graue Felsen, von einer Riesenhand planlos verstreut wie Kiesel und zerfressen vom salzigen Atem des Himmels. Der Wind bläst stark, und Roman muß seine Kapuze auf der Tonsur festhalten.

Er gelangt auf ein unheimliches Gelände, eine Art römisches Amphitheater. Auf den riesigen Stufen haben Männer Löcher in den Fels gebohrt, in die sie Keile aus frischem Holz treiben. Diese werden mit Wasser aufgeschwemmt, so daß sie anschwellen und den Granit in Blöcke sprengen, die die Steinmetze direkt im Steinbruch behauen.

Jehan, der Meister der Steinmetzgesellen, empfängt Bruder Roman und führt ihn herum. Roman hat die Pergamente bei sich, auf denen Pierre de Nevers, der Mönch aus Cluny und Baumeister der neuen Abteikirche, seine Skizzen aufgezeichnet hat, und so kann er die Qualität des Materials und die Maße der Steinblöcke überprüfen.