Andreas von Heyl

Seelsorge

Ein Leitfaden

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© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

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Umschlaggestaltung: agentur Idee

Umschlagmotiv: © Corbis

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Buch) 978-3-451-61240-4

ISBN (E-Book) 978-3-451-80252-2

Inhalt

Einleitung

1. Seelsorge – erste Annäherungen

2. Seelsorge als Sorge um die Lebendigkeit

3. Hauptamtliche und ehrenamtliche Seelsorge

4. Seelsorgliche Kompetenz

5. Gesundheit und Krankheit

6. Menschen in Krisensituationen

7. Kommunikation

8. Wahrnehmen und Annehmen

9. Sehen und Hören

10. Sprechen

11. Die Bedeutung der Gefühle

12. Die Ambivalenz

13. Sich einfühlen

14. Die geistliche Dimension

15. Fehler und Fettnäpfchen

16. Kranke besuchen

17. Die Frage nach dem Leid

18. Trösten

19. Zu sich kommen

20. Die erste uns anvertraute Seele ist unsere eigene

Einleitung

Liebe Leserin, lieber Leser,

Sie haben sich dieses Buch zum Thema Seelsorge gekauft oder ausgeliehen, vielleicht haben Sie es auch geschenkt bekommen. Das heißt, Sie sind jemand, der sich für Seelsorge interessiert oder von dem man weiß, dass Sie sich dafür interessieren. Vielleicht können Sie einfach gut zuhören und in Ihrem Bekanntenkreis spürt man, dass man bei Ihnen auch einmal sein Herz ausschütten kann. Unter Umständen werden Sie an Ihrem Arbeitsplatz manchmal von Kollegen1 angesprochen, die sich in Schwierigkeiten fühlen. Womöglich kommen Sie häufiger mit Menschen, die in Not sind, in Kontakt, als Mitarbeiterin im Besuchsdienst, bei der Tafel für mittellose Menschen, bei der Bahnhofsmission, bei der Betreuung von Asylbewerbern oder bei anderen diakonischen Aktivitäten. Eventuell sind Sie aber auch in irgendeiner Form noch stärker und direkter in der Seelsorge engagiert, als ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Klinikseelsorge, beim Hospizverein, in der Altenheimseelsorge oder bei der Telefonseelsorge.

Dieses Buch möchte Ihnen ein kleiner Leitfaden sein für die Dinge, die bei einer seelsorglichen Tätigkeit wichtig, bedenkens- und beachtenswert sind. Es kann und will jedoch in keiner Weise eine praxisbezogene Seelsorgeausbildung ersetzen. Die Fähigkeit, seelsorglich tätig zu werden, ist zwar auch ein Charisma, eine Begabung, die der einen mehr und dem anderen weniger gegeben ist. Die professionell ausgeübte Seelsorge ist vor allem aber ein »Handwerk«, das man lernen muss – und kann. Deswegen verlangt die Kirche von denen, die in ihrem Auftrag seelsorglich tätig sind, dass sie sich für diese Tätigkeit ausbilden lassen. Für die Hauptberuflichen erfolgt diese Ausbildung in der Regel nach dem abgeschlossenen Theologiestudium im Rahmen so genannter »KSA-Kurse« (Klinische Seelsorge-Ausbildung bzw. Kommunikations- und Seelsorge-Ausbildung). Während dieser Kurse sind die Teilnehmenden mehrere Wochen in einer Ausbildungsgruppe zusammen und üben innerhalb dieser Gruppe und in einem Praxisfeld, normalerweise einer Klinik, die seelsorgliche Haltung und Gesprächsführung ein. Die Klinik wird als Praxisfeld gewählt, weil man dort am intensivsten mit Menschen in Kontakt kommt, die sich in vielerlei Notlagen befinden.

Wer ehrenamtlich in der Seelsorge tätig werden möchte, wird vor der Entsendung in den Dienst in der Regel einen »KESS-Kurs« (Kurs für ehrenamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger) oder einen »KSPG-Kurs« (Kurs für seelsorgliche Praxis und Gemeindearbeit) besuchen.2 Die Kosten werden weitgehend von der Kirche bezuschusst. Für die seelsorgliche Arbeit in einer Klinik oder einem Altenheim ist der Besuch eines solchen Kurses ebenso Voraussetzung wie die Absolvierung bestimmter Spezialkurse für die Mitarbeit im Hospizverein oder in der Telefonseelsorge.

Wenn man nun aber Seelsorge nur durch die Praxis und im Rahmen spezieller Schulungsprogramme lernen kann, wozu dann dieses Buch? Weil jede Art von Praxis auch ihre theoretische Begleitung und »Unterfütterung« braucht. Wer etwas tut, muss wissen, warum er es tut, und warum er es gerade so und nicht anders tun sollte, damit es wirksam wird. Wer auf Menschen zugeht, die sich in Not befinden, sollte zumindest ein Stück weit ahnen, wie es sich anfühlt, wenn man sich in einer Notlage befindet. Er bzw. sie sollte wissen, welche Form der Begegnung hilfreich ist und welche Fettnäpfchen man meiden sollte. Wer seelsorglich tätig sein möchte, sollte ein Gefühl dafür entwickeln, was die Seele eines Menschen braucht und was nicht, was das Herz eines Menschen öffnet und was es verschließt. Insofern möchte ich Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, mit diesem Buch einen Begleiter für Ihre seelsorgliche Praxis an die Hand geben, in dem Grundaufgaben und Grundzüge einer hilfreichen Seelsorge beschrieben sind und ein wenig der Horizont umrissen wird, unter dem Seelsorge geschieht. Ich konzentriere mich in meinen Beispielen vor allem auf den Besuch im Krankenhaus. Die angesprochenen Dinge haben aber auch bei allen anderen Formen von Besuchsdienst ihre Gültigkeit. Gleiches gilt für die konfessionelle Gebundenheit. Die Zielgruppe dieses Buches sind ehrenamtlich Mitarbeitende in der evangelischen Kirche. Seine Aussagen sind jedoch ebenso auf Mitarbeitende in der katholischen Kirche oder in einer Freikirche übertragbar.

1. Seelsorge – erste Annäherungen

Was ist das eigentlich: Seelsorge? Stellt man Menschen diese Frage, kommt heraus, dass die meisten eigentlich wissen, was Seelsorge ist. Sie können es nur nicht so gut in Worte fassen. Wir spüren, ob uns ein Mensch guttut, ob uns ein Wort oder ein Gespräch weiterbringt oder ob das Gegenteil passiert. Wir sagen: Da ist jemand, mit dem ich reden kann. Wir wissen, an wen wir uns wenden würden, wenn wir in einer schwierigen Lebenssituation sind, und wem wir da lieber aus dem Weg gehen. Wir erinnern uns, wann wir in unserem Leben Seelsorge gebraucht und bekommen haben, wer dann da war und sich um unsere Seele »gesorgt« hat, uns gab, was in diesem Moment für unseren inneren Menschen wichtig war. Ebenso erinnern wir uns, wann und von wem wir enttäuscht worden sind. Solche negativen Erfahrungen bleiben lange im Gedächtnis.

Die Bibel – ein Seelsorgebuch

Das Wort »Seelsorge« kommt so in der Bibel nicht vor. Aber in einer Vielzahl von biblischen Geschichten geschieht das, was wir als Seelsorge bezeichnen. Im Grunde genommen ist die ganze Bibel ein einzigartiges Seelsorgebuch, das fortwährend davon erzählt, wie Gott, Jesus und dann auch die Apostel seelsorglich am Menschen handeln bzw. gehandelt haben. Diese seelsorgliche Dimension der Bibel hat der ehemalige Leipziger Professor für Praktische Theologie, Jürgen Ziemer, einmal schön beschrieben. Er unterscheidet zwischen: »Seelsorge der Bibel, Seelsorge mit der Bibel und Seelsorge in der Bibel«.3 In der ersten Perspektive wird die Bibel als die zentrale Ur-Kunde der Seelsorge gesehen, als das Buch, in dem von Anfang bis Ende die Rede ist von Gottes Liebe zu den Menschen und seiner Sorge um ihre Seele, um ihr Wohl und ihr Heil. Die zweite Perspektive betrachtet die Bibel als eine reichhaltige Sammlung von Erzählungen und anderen Texten, die Menschen trösten und ermutigen können – und als solche in der Seelsorge Verwendung finden. In der dritten Perspektive kommt in den Blick, wie Gott, die Propheten, Jesus und die Apostel Menschen im Einzelnen seelsorglich begegnet sind. Daraus können wir für unsere heutige Art, Seelsorge zu betreiben, viel lernen. Allerdings geht es nicht um simple Imitationsversuche. Wir sind weder Jesus noch Paulus. Aber an der Art und Weise, wie in den biblischen Geschichten im Sinne Gottes und Jesu mit Menschen umgegangen wird, richten sich die Grundwerte der christlichen Seelsorge aus.

Die Psalmen: Seelsorgliche Poesie

Die Psalmen sind eine ganz eigene »Seelsorgeliteratur«. Es handelt sich um eine Sammlung von bildstarken und emotionalen Gebeten und Liedern, die vielen Menschen aus dem Herzen sprechen, nicht zuletzt auch darum, weil die dunkle und leidvolle Seite des Menschseins darin nicht verschwiegen wird. Die Beter, die vor bald dreitausend Jahren ihre Gefühle in Worte kleideten, bringen Erfahrungen zum Ausdruck, die auch wir Heutigen noch machen:

»Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Knochen haben sich voneinander gelöst; mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs.« (Psalm 22,18)

»Meine Tage sind vergangen wie ein Rauch, und meine Gebeine sind verbrannt wie von Feuer. Mein Herz ist geschlagen und verdorrt wie Gras, dass ich sogar vergesse, mein Brot zu essen. Mein Gebein klebt an meiner Haut vor Heulen und Seufzen. Ich bin wie die Eule in der Einöde, wie das Käuzchen in den Trümmern. Ich wache und klage wie ein einsamer Vogel auf dem Dache. Denn ich esse Asche wie Brot und mische meinen Trank mit Tränen.« (Psalm 102,4–10)

Aber nicht nur leidvolle Empfindungen werden in den Psalmen zur Sprache gebracht, sondern auch die tiefe Gewissheit des Geborgenseins bei Gott, etwa im 23. Psalm, wo der Beter bekennt:

»Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.«

Oder im 139. Psalm:

»Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht schon wüsstest. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen.«

Wieso kann man solche Texte als seelsorglich bezeichnen? Viele Menschen, damals wie heute, tun sich schwer damit auszudrücken, wie ihnen ums Herz ist. Die Psalmen bieten Worte an, mit denen das gelingt. Worte, mit denen man einem anderen Menschen sagen kann: »Schau her, genau so geht es mir. So sieht es in meinem Inneren aus.« Worte, mit denen man auch ein Gebet formulieren kann: »Sieh, Vater im Himmel, so wie dem Beter im 102. Psalm geht es mir. Hilf mir!« oder: »Ich fühle mich so geborgen bei dir, wie es im 139. Psalm aufgeschrieben ist.« Menschen, die sich in Not befinden, aber auch viele, die ein starkes Gottvertrauen in sich spüren, fühlen sich von diesen Betern verstanden. Sich von einem anderen Menschen verstanden zu fühlen ist eine der wichtigsten Erfahrungen in der Seelsorge.

Gottes Sorge um uns als Grund unserer Seelsorge

Vom Standpunkt des Glaubens aus kann man sagen: All unsere menschliche Seelsorge ist im Grunde nichts anderes als die Konsequenz der göttlichen Seelsorge, der Tatsache, dass wir Gott am Herzen liegen. Er hat den Menschen als sein Gegenüber geschaffen und ihm diese wunderbare Erde als Heimat gegeben. Er hat sich ihm in liebender Sorge zugewandt, bedingungslos und absolut. Seine Liebe zu den Menschen gipfelt im Tod Jesu am Kreuz. Die Folge ist, dass Menschen, die sich Gott verbunden wissen, sich nun auch ihrerseits anderen Menschen in liebender Sorge zuwenden. In der Bibel werden für diese Zuwendung verschiedene Worte gebraucht, z.B. Trösten, Ermahnen, Zurechthelfen, Beistehen, Füreinander-Sorge-Tragen, einander Dienen. Das Wort »cura«, das in der lateinischen Bibel oft in diesem Zusammenhang gebraucht wird, hat eine doppelte Bedeutung: »Sorge; sorgen; sich kümmern« und: »Heilung; am Prozess der Heilung mitarbeiten«. Wo Menschen sich um andere Menschen kümmern, verringert sich deren Kummer. Wo Menschen sich um andere Menschen sorgen, beginnt der Prozess der Heilung.

»Allgemeine« und »spezielle« Seelsorge

In der Kirchengeschichte begann man bald zu unterscheiden zwischen der Seelsorge, die durch den gesamten Dienst der Kirche am Menschen geschieht, vor allem durch Wortverkündigung, Sakramentsverwaltung, Diakonie und Unterricht (lateinisch: cura animarum generalis), und der speziellen Seelsorge (cura animarum specialis), dem explizit seelsorglichen Handeln im jeweiligen Einzelfall.

Nach wie vor betrachten die führenden Vertreter der Amtskirche die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Sakrament als wichtigste Aufgabe der Kirche. Die Menschen, die in den großen Kirchenumfragen der letzten Jahrzehnte zu Wort kommen, sehen das anders. Für sie rangieren an der ersten Stelle dessen, was sie von der Kirche erwarten, Seelsorge und Diakonie. Die Mehrheit der Bevölkerung ist der Meinung: Die Kirche soll sich der Menschen mit ihren inneren und äußeren Nöten annehmen. Dazu ist sie da. Tut sie das nicht, braucht man sie nicht. Wenn sie es aber tut, kommt ja die Verkündigung auch zu ihrem Recht. Seelsorge und Diakonie sind letztlich nichts anderes als die »tätige« Verkündigung des Evangeliums der Liebe Gottes zu den Menschen. Das Wort Gottes kommt hier zwar nicht so zur Sprache wie in einem Gottesdienst oder einer Unterrichtsstunde. Aber es ereignet sich, es geschieht der Wille Gottes, wenn jemand einem anderen zuhört oder ihm Gutes tut.

Dilettantische Seelsorge brüskiert und verletzt

Weil Seelsorge tiefe Schichten der Persönlichkeit eines Menschen erreicht, werden durch sie auch tiefe Wirkungen erzielt, durch gute Seelsorge gute, durch schlechte Seelsorge schlechte. Immer wieder einmal erleben Seelsorgende, dass ihnen Menschen von ihrer tiefen Enttäuschung mit der Kirche erzählen, etwa, weil ein Pfarrer sie vor vielen Jahren durch eine barsche Äußerung brüskiert hat, oder weil er eine gewünschte Amtshandlung aus formalistischen Gründen abgelehnt hat. Ähnliche Frustrationen können entstehen, wenn sich der Hilfe- oder Ratsuchende vom Seelsorger falsch verstanden oder sogar manipuliert fühlt. Solche Verletzungen schmerzen oft über Jahre. Die Betroffenen sprechen darüber natürlich auch im Familien- und Freundeskreis und so geschieht es, dass durch dilettantisches Verhalten von Seelsorgenden oft eine ganze Gruppe von Menschen von »ihrer« Kirche enttäuscht wird und auf Distanz geht. Dilettantisch wird die Seelsorge immer da, wo der Gesprächspartner in seiner Befindlichkeit nicht oder nicht ausreichend wahrgenommen und angenommen wird (hierzu siehe unten, Kapitel 9).

Seelsorge geschieht »nichtdirektiv« und »partnerzentriert«

In den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelte der amerikanische Psychologieprofessor Carl Ransom Rogers (1902–1987) die von ihm so genannte »Gesprächspsychotherapie«. Rogers war ein typischer Vertreter der neuen »humanistischen« Psychologie, die ihr Ziel vor allem darin sieht, bei den Klienten die in jedem Menschen vorhandenen Selbstheilungskräfte und Wachstumsenergien freizusetzen und zu stärken.

Er formulierte verschiedene Bedingungen für eine gelingende therapeutische Beziehung: Sie hat vor allem »nichtdirektiv« und »klientenzentriert« zu sein, d.h. der Gesprächspartner mit seinen Bedürfnissen und Gefühlen steht im Mittelpunkt, er gibt die Richtung, das Thema und das Tempo der Gespräche vor. Der Therapeut ist kein »Lehrer« oder »Führer«, sondern ein »Begleiter« und »Partner«. Die Beziehung zum Klienten wird als symmetrische Beziehung, als Begegnung von zwei Individuen auf der gleichen Ebene verstanden. Die Grundhaltung der Therapeutin ist geprägt von Aufmerksamkeit, menschlicher Wärme und dem Wunsch, dass die Klientin ihren eigenen, für sie richtigen Weg findet. Von besonderer Bedeutung ist dabei die »Einfühlung« in die Gefühlswelt der Klientin, d.h. die Therapeutin bemüht sich, die Gefühle ihrer Gesprächspartnerin möglichst genau nachzuempfinden und zu erfassen, wie sie die Welt, in der sie lebt, versteht und wie sie die Beziehungen zu ihren Bezugspersonen wahrnimmt und gestaltet. Dabei enthält sich die Therapeutin jeglicher Form von Bewertung dessen, was ihr von der Klientin angeboten wird.

Eine weitere Voraussetzung für das Gelingen des therapeutischen Kontakts ist für Rogers die Echtheit, die Authentizität des Therapeuten. Er muss nicht alles sagen, was er denkt, aber was er sagt, muss wahr sein. Das Psychologenehepaar Reinhard und Anne-Marie Tausch, die zu den Ersten gehörten, die das Rogers’sche Gedankengut in Deutschland bekannt gemacht haben, bringen Rogers’ Grundsätze auf folgende eingängige Formel: »Einfühlendes nicht-wertendes Verstehen, Achten-Wärme-Sorgen, Echtsein – Ohne-Fassade-sein«.4

Rogers war davon überzeugt – und hat es mit einer Fülle von Fallbeispielen belegt –, dass Klienten in einem so gestalteten therapeutischen Setting und im Kontakt mit einem Therapeuten, der in der Beachtung dieser Grundsätze geschult ist, im Laufe der Behandlung mit ihren Problemen besser fertig werden, ja mehr noch, dass sie »aufblühen« und dass ihr Selbstbewusstsein gestärkt wird.5

Seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts gewannen die von Rogers formulierten Theorien und Methoden zunehmend an Einfluss auf die kirchliche Seelsorgelehre und -praxis. Inzwischen sind sie Allgemeingut der kirchlichen Seelsorge geworden. Seelsorge im Rahmen der Kirche versteht sich heute im Wesentlichen als »partnerzentrierte Seelsorge«, die versucht, sich in die Gesprächspartner einzufühlen und sie zu begleiten, statt zu dirigieren.

2. Seelsorge als Sorge um die Lebendigkeit

Was ist das eigentlich: die Seele?

Wer Seelsorge anbieten will, muss sich zunächst darüber klar werden, was es mit diesem geheimnisvollen Etwas auf sich hat, das wir die Seele nennen.

Seit Jahrtausenden waren die Völker der Erde überzeugt, dass der Mensch eine Seele hat, dass er also mehr ist als Fleisch und Blut. Weit verbreitet war die Vorstellung, dass sich die Seele nach dem Tod vom Körper löst und in eine neue Welt eingeht. In beeindruckender Weise bezeugen dies die Monumente menschlicher Begräbniskultur von den Dolmengräbern der Steinzeit über die ägyptischen Pyramiden, die altgriechischen Königsgräber und römischen Mausoleen bis hin zu den christlichen Grabstätten.

Erst seit etwa 350 Jahren, seit der Entstehung des Rationalismus, begannen manche Gebildete in Europa in Frage zu stellen, dass es im Inneren des Menschen eine Seele gibt. Unterstützt wurden diese Zweifel durch Befunde der zunehmend naturwissenschaftlich orientierten Medizin, die keine Belege für das Vorhandensein einer Seele fand. Und es ist ja auch so: Mit welch komplizierten Untersuchungsmethoden auch immer man sich dem Körper, insbesondere dem Gehirn nähert, man stößt nur auf Physisches. Wenn der Geist oder gar die Seele im Körper vorhanden sein sollen, scheinen sie jedenfalls sehr gut darin versteckt zu sein. So klingt es auf den ersten Blick plausibel, wenn Rudolf Virchow, einer der führenden Pathologen des 19. Jahrhunderts, sagt: »Ich habe tausende von lebenden und toten Menschen aufgeschnitten, niemals jedoch die Spur einer Seele gefunden.«

Aber haben er und viele andere, die ähnlich denken und reden, wirklich recht? Die Tatsache, dass man die Seele nicht mit dem Seziermesser aus dem Körper herausholen kann, spricht noch nicht gegen ihre Existenz. Es gibt vieles, das zwar vorhanden ist, dessen Existenz sich aber mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht nachweisen lässt. Die Liebe zum Beispiel. Sie ist die stärkste Anziehungskraft zwischen Menschen, eine wahrhaft gewaltige Macht, die sich über alle Hindernisse hinwegzusetzen vermag. Und doch kann man sie weder sehen noch wiegen noch messen und auch nicht berechnen. Ihr Vorhandensein lässt sich nur an den Verhaltensweisen der Verliebten erkennen. Gleiches gilt, wenn Menschen bereit sind, für Überzeugungen mit ihrem Leben einzustehen, sei es für ihr Vaterland, ihre religiöse Einstellung oder bestimmte Ideale. Millionen von Patrioten, Idealisten und Gläubigen haben ihr Leben gegeben für das, wovon sie überzeugt waren, und ihre Überzeugung war so mächtig, dass sie den stärksten aller Triebe, den Selbsterhaltungstrieb, außer Kraft zu setzen vermochte. Was aber in diesen Menschen vorgegangen ist, lässt sich weder physikalisch noch biochemisch erklären. Hirnforscher können zwar die Erregung bestimmter Regionen im Gehirn nachweisen, aber wie genau aus der Aktivität von Nervenzellen, Hormonen und Botenstoffen Werte und Begehrlichkeiten werden, die unser Verhalten beeinflussen, bleibt nach wie vor ein Geheimnis. Ihr Vorhandensein aber lässt sich nicht bestreiten.

Die Seele nach dem biblischen Menschenbild

Um in der Frage nach der Seele weiterzukommen, muss man sich von einer »substantiellen« Sichtweise, nach der die Seele irgendeine Substanz innerhalb des menschlichen Organismus ist, lösen. Die Seele ist nicht »etwas«, das man »irgendwo« in unserem Inneren lokalisieren kann. Wenn man sie dagegen als eine Kraft oder Energie versteht, kommt man schon weiter. Das biblische Zeugnis jedenfalls führt auf diese Spur. Das Alte Testament sagt: Die Seele des Menschen ist seine ihm von Gott geschenkte individuelle Lebenskraft, seine Lebendigkeit.

Der Atem des Lebens

In der Vorstellungswelt des Alten Testamentes ist die Seele mit dem Atem verbunden. Der hebräische Begriff für das, was wir »Seele« nennen, lautet »Näfäsch«. Die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes war »Rachen«, »Kehle« oder »Schlund«, der Teil des Körpers also, durch den das, was den Menschen am Leben erhält, in den Körper aufgenommen wird: Atemluft, Nahrung und Flüssigkeit. Später hat man mit dem Wort »Näfäsch« den Atem selbst benannt.

Für die Verfasser der Bibel steht fest: Der Atem kommt von Gott. Mit ihm hat Gott dem Menschen das Leben eingehaucht.

»Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch eine lebendige Seele.« (Genesis 2,7)6

Die Verknüpfung des Atems mit der Seele hat sich auch in bestimmten Redewendungen erhalten. So sagte man zum Beispiel früher, wenn jemand starb: »Er hat seine Seele (bzw. sein Leben) ausgehaucht.« Im Atem wird dem Menschen das Leben geschenkt, unaufhörlich vom ersten bis zum letzten Atemzug. Wer nicht mehr atmet, ist tot. Über Jahrtausende hinweg galt der Atemstillstand (zusammen mit dem Herzstillstand) als das untrügliche Todeskennzeichen, bis man es durch das fragwürdige Kriterium des »Hirntodes« ersetzt hat (dazu siehe unten).

Gerade im Atem zeigt sich aber auch die Unverfügbarkeit des Lebens: Er hängt nicht vom Willen ab, er geschieht unwillkürlich. »Es« atmet in uns, auch wenn wir schlafen oder bewusstlos sind. Man kann den Atem willentlich anhalten – aber nur für kurze Zeit, dann verliert man das Bewusstsein und »es« fängt wieder in einem zu atmen an. So wird am Vorgang des Atmens eine elementare Gesetzmäßigkeit der menschlichen Existenz deutlich: Leben bedeutet, empfangen zu dürfen, aber auch wieder loslassen zu müssen. Wer sich diesem Rhythmus verweigert, verliert sein Leben. Goethe sprach im Blick auf den Atem von »zweierlei Gnaden«:

Im Atemholen sind zweierlei Gnaden,

Die Luft einziehen und sich ihrer entladen:

Jenes bedrängt, dieses erfrischt,

So wunderbar ist das Leben gemischt.

Du, danke Gott, wenn er dich presst,

und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt.

Der religiös gebundene Mensch sagt: Gott haucht uns mit jedem Atemzug aufs Neue das Leben ein, etwa zehn Mal in der Minute, in der Stunde sechshundert Mal, in einem siebzigjährigen Leben weit über dreihundert Millionen Mal – und das umsonst, ohne unser Zutun. Weil er will, dass wir leben.

Der Leib – das Lebenshaus

Leib, Geist und Seele sind nach biblisch-christlichem Verständnis zu einer untrennbaren Einheit miteinander verbunden. Die in der Kirche über viele Jahrhunderte verbreitete Vorstellung, dass Leib und Seele zwei verschiedenen Sphären angehören, der Leib der irdischen und die Seele der himmlischen (Leib-Seele-Dualismus), ist erst in nachbiblischer Zeit aus der spätgriechischen Philosophie in die christliche Theologie eingedrungen. Der Leib gehört zum Menschsein genauso wie der Geist. Er ist die Behausung, ohne die der Geist nicht existieren kann. Erst das Wechselspiel seiner leiblichen und geistigen Kräfte macht den Menschen zu dem Organismus, der er ist, zu einer Ganzheit. Die Seele aber ist die individuelle Lebenskraft dieser Ganzheit. Alle geistigen Regungen verschaffen sich ihren Ausdruck nur durch den Leib, ohne ihn gäbe es keine Äußerungen der Person in der Raum-Zeit, ja, es gäbe gar keine Person. Nur weil wir »leibhaftig« sind, können wir gehört, berührt und angesprochen werden. Nur darum können wir auch selbst etwas oder jemanden hören, berühren und ansprechen. Erst unser Leib ermöglicht es uns, eine individuelle Geschichte, unsere konkrete Biographie, zu gestalten, deren Erlebnis- und Ereigniszusammenhänge sich wiederum in die Physiognomie dieses Leibes hineinmodellieren. Welch fundamentale Bedeutung die Leiblichkeit für unser Dasein hat, wurde in den letzten Jahrzehnten vor allem durch die feministische Theologie wieder in den Blick gerückt.7

Im biblischen Sinn gehört zur Seelsorge ganz selbstverständlich auch die Leibsorge. Jesus hat sich immer wieder auch um das leibliche Wohl der Menschen gesorgt, man denke nur an das Weinwunder bei der Hochzeit zu Kana oder an die Speisung der 5000 oder an die vielen Heilungsgeschichten im Neuen Testament.

Leib – Körper

Das Wort »Leib« klingt heutzutage eher altmodisch. Wir sind es gewohnt, vom »Körper« zu sprechen, wenn wir die physische Form unserer Existenz meinen. Sind Leib und Körper lediglich zwei verschiedene Ausdrücke für dasselbe? Ja und Nein. Oft werden sie synonym verwendet. Und doch ist der Leib mehr als der Körper. In früheren Zeiten hat man vom Leib gesprochen, wenn man den lebendigen Körper des Menschen meinte, und vom Körper, wenn man ihn im gegenständlichen Sinne sah, als kranken oder toten Körper etwa. Im Begriff des Leibes schwingt mehr mit als in dem des Körpers. Das zeigt sich schon im Sprachgebrauch: Das Wort »Leib« wird auch symbolisch verwendet, das Wort Körper nicht. Wir sprechen von der Kirche als dem »Leib Christi«. Niemand würde sagen: der Körper Christi. Auch beim Abendmahl würde niemand im Blick auf die Hostie sagen: »Das ist der Körper des Herrn«. Wir sagen: »Bleib mir vom Leib«, nicht »vom Körper« und meinen damit, der andere soll uns als ganzen Menschen in Ruhe lassen. Die Leibeigenen des Mittelalters gehörten ihrem Fürsten nicht nur mit ihrem Körper, sondern mit »Leib und Seele«, sie waren als ganze Person sein Eigentum.

Der Körper ist die biologische Form unserer Existenz, er altert, er wird krank, er wird sterben und für immer vergehen. Dieser wie auch immer beschaffene Körper gehört uns, er ist das, was wir »haben«, was uns zur Verfügung steht, mit dem wir machen können, was wir wollen. Der Leib hingegen ist das, was wir »sind«. Zusammen mit unserem Geist bildet er unsere Identität, unsere Persönlichkeit, die uns von allen anderen Personen unterscheidet. Wenn wir jemandem nach einer längeren Trennung begegnen, erkennen wir nicht seinen Körper wieder, sondern seine Person. Vielleicht hat er sich körperlich völlig verändert, aber wir erkennen ihn, wie er »leibt und lebt«. Unser Leib wird, so sagt es Paulus im 15. Kapitel des ersten Korintherbriefes, nach unserem Tod als »geistlicher Leib« wieder auferstehen.

Von unserem Körper können wir uns distanzieren, wir können ihn objektivieren, ggf. auch instrumentalisieren, sodass wir ihn nur noch als ein Mittel zum Erreichen bestimmter Zwecke sehen. Viele machen das ja auch, vor allem Männer, die ihren Körper eher nur in der Perspektive eines »Dienstleibes« wahrzunehmen vermögen, eines Gebildes also, das zu gehorchen hat, dessen Zweck vor allem darin besteht, den Kopf zu tragen, ihn von A nach B zu befördern und mit Energie zu versorgen.8 An unserer Leibgebundenheit aber können wir nichts ändern.