Cover

Marion Zimmer Bradley 






Die Landung

Ein Darkover Roman



Ins Deutsche übertragen von Martin Eisele


Edel eBooks

Marion Zimmer Bradley – Der “Darkover”-Romanzyklus bei EdeleBooks:

ISBN 978-3-95530-591-8 Die Landung
ISBN 978-3-95530-598-7 Herrin der Stürme
ISBN 978-3-95530-597-0 Herrin der Falken
ISBN 978-3-95530-609-0 Der Untergang von Neskaya
ISBN 978-3-95530-608-3 Zandrus Schmiede
ISBN 978-3-95530-607-6 Die Flamme von Hali
ISBN 978-3-95530-594-9 Die Zeit der hundert Königreiche
ISBN 978-3-95530-592-5 Die Erben von Hammerfell
ISBN 978-3-95530-593-2 Die zerbrochene Kette
ISBN 978-3-95530-603-8 Gildenhaus Thendara
ISBN 978-3-95530-595-6 Die schwarze Schwesternschaft
ISBN 978-3-95530-596-3 An den Feuern von Hastur
ISBN 978-3-95530-588-8 Das Zauberschwert
ISBN 978-3-95530-599-4 Der verbotene Turm
ISBN 978-3-95530-589-5 Die Kräfte der Comyn
ISBN 978-3-95530-586-4 Die Winde von Darkover
ISBN 978-3-95530-601-4 Die blutige Sonne
ISBN 978-3-95530-602-1 Hasturs Erbe
ISBN 978-3-95530-585-7 Retter des Planeten
ISBN 978-3-95530-587-1 Das Schwert des Aldones
ISBN 978-3-95530-600-7 Sharras Exil
ISBN 978-3-95530-590-1 Die Weltenzerstörer
ISBN 978-3-95530-604-5 Asharas Rückkehr
ISBN 978-3-95530-606-9 Die Schattenmatrix
ISBN 978-3-95530-605-2 Der Sohn des Verräters

1

Die Landeausrüstung war beinahe noch die geringste ihrer Sorgen; doch es war ein schwieriges Problem, hinein- und hinauszukommen. Das große Sternenschiff lag in einen Fünfundvierziggradwinkel gekippt, die Ausstiegsleitern und Rutschen kamen nirgends auch nur in die Nähe des Bodens, und die Luken führten ins Nichts. Noch war nicht aller Schaden eingeschätzt – nicht einmal annähernd – doch sie nahmen an, dass etwa die Hälfte der Mannschaftsquartiere und drei Viertel der Passagiersektionen unbewohnbar waren.

Schon war eilends ein halbes Dutzend kleiner, einfacher Unterkünfte sowie das zeltähnliche Notlazarett auf der großen Lichtung errichtet worden. Sie waren größtenteils aus Plastikplanen und den harzigen Stämmen der einheimischen Bäume gefertigt, welche mit den Kreissägen und der Holzfällerausrüstung aus den Versorgungsbeständen für die Kolonisten geschlagen worden waren. Dies alles hatte entgegen Captain Leicesters ernsthaften Protest stattgefunden; er hatte sich nur einer Spitzfindigkeit gefügt. Solange das Schiff im Raum war, galten ausschließlich seine Befehle, auf einem Planeten jedoch hatte das sogenannte Koloniale Expeditionskorps die Leitung inne.

Die Tatsache, dass dies hier nicht der richtige Planet war – das war eine Spitzfindigkeit, womit sich niemand fertig zu werden für fähig gehalten hatte ... bis jetzt.

Es war, überlegte Rafael MacAran, während er auf dem niederen Gipfel stand, der über das Raumschiff aufragte, ein schöner Planet. Jedenfalls das, was sie davon sehen konnten, was überhaupt nicht viel war. Die Schwerkraft war ein wenig geringer als diejenige der Erde, was an sich für jeden auf der Erde Geborenen und dort Aufgewachsenen ein gewisses Gefühl des Wohlbefindens und der Euphorie bedeutete. Niemand, der – wie Rafael MacAran – auf der Erde des 21. Jahrhunderts aufgewachsen war, hatte je zuvor eine so süße und würzige Luft geschmeckt oder ferne Hügel durch einen solch klaren, strahlenden Morgen gesehen.

Die Hügel und die fernen Berge erhoben sich in einem offenbar endlosen Panorama rings um sie her, Wellenkamm hinter Wellenkamm, und verloren mit der Entfernung allmählich an Farbe, verwandelten sich zuerst in ein blasses Grün, dann in ein schwächeres Blau und schließlich zu blassestem Violett und Purpur. Die große Sonne glühte tiefrot, die Farbe von vergossenem Blut, und an diesem Morgen hatten sie die vier Monde gesehen, die gleich großen, bunten Juwelen an den Hörnern der fernen Berge hingen.

MacAran stellte sein Bündel ab, zog den verstellbaren Theodoliten hervor und machte sich daran, das Stativ aufzuklappen. Er bückte sich, justierte das Instrument und wischte sich daraufhin den Schweiß von der Stirn. Gott, wie heiß es nach der grimmigen Eiseskälte der letzten Nacht und nach dem plötzlichen Schneesturm zu sein schien, der so rasend schnell von der Bergkette heruntergefegt war, dass ihnen kaum Zeit geblieben war, Schutz zu suchen. Und jetzt, als er seinen Nylonparka auszog und die Stirn abtupfte, lag der Schnee in schmelzenden Rinnsalen ausgebreitet.

Er richtete sich auf und blickte sich nach geeigneten Horizontpunkten um. Dank des neuen Höhenmesser-Modells, das vier unterschiedliche Gravitationsebenen kompensieren konnte, wusste er bereits, dass sie sich etwa tausend Fuß über dem Meeresspiegel befanden – oder was dem Meeresspiegel entsprach; falls es auf dieser Welt überhaupt irgendwelche Meere gab, wessen sie sich noch nicht sicher sein konnten. In der Anspannung und den Gefahren der Bruchlandung hatte außer dem weiblichen Dritten Offizier niemand einen klaren Blick auf den im Raum schwebenden Planeten werfen können, und sie war zwanzig Minuten nach dem Aufprall gestorben, noch während die anderen die Leichen aus den Trümmern der Brücke geborgen hatten.

Sie wussten, dieses System umfasste drei Planeten: Einer war ein übergroßer Riese aus gefrorenem Methan, der andere ein kleiner, kahler Felsbrocken, von seinem individuellen Orbit abgesehen, mehr Mond als Planet, und schließlich diese Welt. Sie wussten, diese Welt gehörte in die Kategorie, die vom Kolonialen Expeditionskorps der Erde als M-Klasse bezeichnet wurde – ungefähr erdähnlich und wahrscheinlich bewohnbar. Und jetzt wussten sie, dass sie sich auf dieser Welt befanden. Abgesehen von dem, was sie in den zurückliegenden zweiundsiebzig Stunden zusätzlich entdeckt hatten, war das aber auch so ungefähr alles, was sie wussten. Die rote Sonne, die vier Monde, die Temperaturextreme, die Berge – dies alles war erfasst worden in den schrecklichen Zeiträumen zwischen dem Bergen und Identifizieren der Toten, der Errichtung eines behelfsmäßigen Feldlazaretts und der Rekrutierung jeder körperlich einigermaßen zu Hilfszwecken geeigneten Person – die Verletzten mussten versorgt, die Toten begraben werden ... und natürlich brauchte man Behelfsunterkünfte, solange das Schiff unbewohnbar war.

Rafael MacAran kramte seine Vermessungsinstrumente aus dem Gepäckbündel, bediente sie jedoch nicht. Er hatte diese kurze Atempause allein nötiger gebraucht, als ihm bewusst gewesen war, ein wenig Zeit, sich von den wiederholten und furchtbaren Schockmomenten der letzten paar Stunden zu erholen – dem Absturz und einer Gehirnerschütterung, die ihn auf der überbevölkerten, medizinisch überempfindlich reagierenden Erde sofort ins Krankenhaus gebracht hätte. Hier hatte der Medo-Offizier, selbst von schlimmeren Verletzungen gequält, nur kurz seine Reflexe überprüft, ihm ein paar Kopfschmerztabletten in die Hand gedrückt und sich dann wieder um die ernsthaft Verletzten und Sterbenden gekümmert. Sein Schädel fühlte sich noch immer wie ein übermächtig schmerzender Zahn an, obwohl die visuelle Trübung nach dem Schlag der ersten Nacht verklungen war. Am darauf folgenden Tag war er abkommandiert worden, zusammen mit allen anderen körperlich tauglichen Männern, die nicht zum medizinischen Stab oder zu den Technischen Mannschaften im Schiff gehörten, Massengräber für die Toten auszuheben. Und dann hatte er diesen herzzerreißenden Schock erfahren und Jenny unter ihnen entdeckt.

Jenny. Er hatte sie in Sicherheit und wohlauf geglaubt, mit ihren eigenen Aufgaben zu beschäftigt, um ihn aufzuspüren und zu beruhigen. Dann hatte er die unverwechselbaren, silberglänzenden Haare seiner einzigen Schwester unter den verstümmelten Toten gesehen. Es war nicht einmal Zeit für Tränen geblieben. Da waren zu viele Tote. Er tat das Einzige, was er tun konnte. Er meldete Camilla Del Rey, die Captain Leicester bei dem Identifizierungs-Sonderauftrag vertrat, dass der Name Jenny MacAran von der Liste der nicht aufgefundenen Überlebenden auf diejenige der mit Sicherheit identifizierten Toten übertragen werden konnte.

Ein knappes, ruhiges »Danke, MacAran« war Camillas einziger Kommentar gewesen. Es gab keine Zeit für Sympathiebekundungen, keine Zeit für Trauer oder auch nur einen menschlichen Ausdruck der Freundlichkeit. Und doch war Jenny Camillas enge Freundin gewesen, sie hatte dieses verdammte Del-Rey-Mädchen wie eine Schwester geliebt, nur warum, das hatte Rafael nie erfahren, doch Jenny hatte sie geliebt, und es musste einen Grund dafür gegeben haben. Irgendwo tief unter der Oberfläche begriff er, dass er gehofft hatte, Camilla würde die Tränen für Jenny vergießen, die zu weinen er nicht fertig bringen konnte. Irgendjemand musste um Jenny weinen, und er konnte es nicht. Noch nicht.

Er wandte seine Konzentration wieder den Instrumenten zu. Wenn sie ihren genauen Standort auf der geografischen Breite dieses Planeten gekannt hätten, wäre es leichter gewesen, aber der Höhenstand der Sonne über dem Horizont würde ihnen zumindest eine grobe Vorstellung davon geben.

Unter ihm, in einer großen, mit niedrigem Gestrüpp und verkümmerten Bäumen überzogenen Senke von mindestens fünf Meilen Durchmesser, ruhte das abgestürzte Raumschiff. Als Rafael es aus dieser Entfernung betrachtete, verspürte er ein seltsames Verzagen. Captain Leicester würde vermutlich gemeinsam mit der Mannschaft daran arbeiten, den Schaden zu veranschlagen und die Zeit abzuschätzen, welche für die zu bewältigenden Reparaturen benötigt wurde. Rafael kannte sich mit der Funktionsweise eines Sternenschiffes nicht aus – sein Wissensgebiet war die Geologie. Doch für ihn sah es nicht danach aus, als würde sich dieses Schiff jemals wieder erheben.

Dann schob er diesen Gedanken beiseite. Das sollten gefälligst die Technischen Mannschaften feststellen. Sie wussten Bescheid; er nicht. Aber er hatte in diesen Tagen schon einige durch das Ingenieurwesen vollbrachte Beinahe-Wunder gesehen. Schlimmstenfalls mochte dies hier ein unbequemer Zwischenaufenthalt von einigen wenigen Tagen oder ein paar Wochen werden, dann würden sie wieder unterwegs sein, und auf den Sternenkarten des Kolonialen Expeditions-Korps würde ein neuer bewohnbarer, zur Kolonisierung geeigneter Planet verzeichnet werden. Dieser sah, trotz der brutalen Kälte der Nacht, äußerst bewohnbar aus. Vielleicht gelang es ihnen sogar durchzusetzen, an den Aufspürhonoraren beteiligt zu werden, was dazu beitragen würde, die Coronis-Kolonie abzusichern – in der sie zu jenem Zeitpunkt leben würden.

Und in fünfzig oder sechzig Jahren, wenn sie bereits alte Siedler der Coronis-Kolonie waren, würden sie alle eine Menge zu erzählen haben.

Aber wenn sich das Schiff nie wieder vom Boden erhebt ...

Unmöglich. Dies war kein katalogisierter Planet, weder zur Besiedlung freigegeben noch bereits erschlossen. Die Coronis-Kolonie – Phi Coronis Delta – war bereits Standort einer blühenden Bergbauniederlassung. Es gab einen betriebsbereiten Raumhafen, und eine ganze Mannschaft von Ingenieuren und Technikern war schon seit zehn Jahren damit beschäftigt, den Planeten zur Besiedlung vorzubereiten und seine Ökologie zu studieren. Unvorstellbar, dass man sich unvorbereitet und ohne technische Hilfsmittel auf einer völlig unbekannten Welt niederließ. Das war nicht zu schaffen.

Jedenfalls ... auch dies war jemandes anderen Aufgabe, und er tat jetzt wohl besser seine eigene. Er bewältigte seine Standort- und Lagebestimmung, so gut es ihm möglich war, notierte sämtliche Beobachtungen in seinem Taschennotizbuch, packte das Stativ wieder zusammen und machte sich auf den Rückweg. Leichtfüßig schritt er den felsbesäten Abhang hinunter, durch struppiges Unterholz und an den Bäumen vorbei, und die geringe Schwerkraft sorgte dafür, dass er sein Gepäck mühelos tragen konnte. Die Umgebung war hier sauberer, die Wanderung leichter zu bewältigen als auf der Erde, und er warf den fernen Bergen einen sehnsüchtigen Blick zu. Wenn sich ihr Aufenthalt auf mehr als nur ein paar Tage ausweitete, so konnte er vielleicht entbehrt werden und zu einer kurzen Klettertour dorthin aufbrechen. Gesteinsproben und ein paar geologische Anmerkungen müssten dem Kolonialen Expeditions-Korps der Erde durchaus etwas wert sein, und es würde zudem eine Menge mehr Spaß machen als eine Kletterpartie auf der Erde, wo vom Yellowstone bis zum Himalaya jeder Nationalpark dreihundert Tage im Jahr an den Touristen erstickte, die in großen Jets herbeigekarrt wurden.

Er nahm an, dass es nur fair war, jedem eine Chance zu bieten, in die Berge zu kommen, und gewiss erleichterten es die bis zu den Gipfeln des Mount Rainier und Mount Everest und Mount Whitney installierten Gleitbänder und Lifts den alten Frauen und Kindern, dort hinaufzugelangen und Gelegenheit zu haben, das Panorama zu genießen. Trotzdem, dachte MacAran sehnsuchtsvoll, einen wahrhaftigen, bisher unbezwungenen Berg zu ersteigen – einen Berg ohne Gleitbänder, ohne einen einzigen Sessellift! Er war auch auf der Erde geklettert, aber man kam sich doch ziemlich dumm vor, wenn man sich eine Felsenklippe hochmühte, während Teenager in Sessellifts auf ihrem mühelosen Weg zum Gipfel an einem vorbeischwebten und über den Anachronisten kicherten, der es auf die schwierige Art und Weise schaffen wollte.

Einige der näher liegenden Hänge waren von den Narben alter Waldbrände geschwärzt, und er vermutete, dass die Lichtung, in der das Schiff lag, vor ein paar Jahren von einem solchen Feuer geschaffen worden war. Glücklicherweise hatten die Feuerschutzsysteme des Schiffes beim Aufschlag einen neuerlichen Brand verhindert – andernfalls hätte es gut möglich sein können, dass die Überlebenden buchstäblich aus der Bratpfanne in einen tobenden Waldbrand entkommen wären. In diesen Wäldern würden sie vorsichtig sein müssen. Die Erdenmenschen hatten ihre einstigen Waidmannskünste längst vergessen und waren sich nicht mehr darüber im Klaren, was Waldbrände anrichten konnten. Er merkte sich das für seinen Bericht vor.

Als er wieder in den Absturzbereich zurückkam, schwand seine kurze Euphorie. Durch das halbtransparente Plastik des Schutzmaterials konnte er im Innern des Feldhospitals Reihen um Reihen von bewusstlosen oder halb bewusstlosen Körpern liegen sehen. Eine Gruppe von Männern schnitt Äste von irgendwelchen Baumstämmen zurecht, eine weitere kleine Gruppe errichtete eine auf dreieckigen Stützen basierende Dymaxion-Kuppel – von der Art, die man an einem halben Tag zusammenbauen konnte.

Er begann sich zu fragen, wie der Bericht der Technischen Mannschaft ausgefallen war. Auf den zerknitterten Verstrebungen des Sternenschiffes konnte er eine Gruppe von Ingenieuren herumkriechen sehen, doch es sah nicht danach aus, als sei viel erreicht worden. Tatsächlich sah es überhaupt nicht danach aus, als könne man guter Hoffnung sein, sehr bald von hier wegzukommen.

Als er an dem Hospital vorbeikam, trat ein junger Mann in einer fleckigen und zerknitterten Medo-Uniform heraus und rief ihm etwas zu.

»Rafe! Der Maat hat gesagt, du sollst dich in der Ersten Kuppel melden, sobald du zurück bist ... dort findet eine Versammlung statt, und sie möchten dich dabeihaben. Ich gehe auch hinüber, um meinen Medo-Bericht abzugeben – ich bin der erfahrenste Mann, den sie entbehren können.« Er kam langsam näher und blieb neben MacAran stehen. Er war schmächtig und klein, mit hellbraunen Haaren und einem kleinen, lockigen braunen Bart, und er sah müde aus, als hätte er keinen Schlaf gefunden. MacAran fragte zögernd: »Wie geht es im Hospital voran?«

»Nun, seit Mitternacht keine weiteren Todesfälle; vier weitere Personen haben wir von der Liste der kritischen Fälle streichen können. Es war offenbar doch kein Leck in den Atomkonvertern – das Comm-Mädchen ist, wie sich herausgestellt hat, nicht strahlenverseucht; das Erbrechen war offenbar nur auf einen bösen Schlag in den Solarplexus zurückzuführen. Gott sei Dank für diese kleinen Gnadenerweise – wenn die Atomkonverter leckgeschlagen worden wären, dann wären wir jetzt vermutlich alle tot und ein weiterer Planet verseucht.«

»Ja, die M-AM-Antriebssysteme haben eine Menge Leben gerettet«, stimmte MacAran zu. »Du siehst furchtbar müde aus, Ewen – hast du überhaupt schon geschlafen?«

Ewen Ross schüttelte den Kopf. »Nein, aber der Alte ist mit Aufputschmitteln recht großzügig gewesen, und jetzt rast mir noch immer die Pumpe. Irgendwann am frühen Nachmittag werde ich wahrscheinlich zusammenbrechen und dann drei Tage lang nicht mehr aufwachen – aber bis dahin halte ich durch.« Er zögerte, wobei er seinen Freund schüchtern ansah, dann sagte er: »Ich habe das von Jenny gehört, Rafe. Pech. Von den Mädchen aus diesem hinteren Bereich haben es so viele nach draußen geschafft ... ich war davon überzeugt, sie sei in Ordnung.«

»Das war ich auch.« MacAran machte einen tiefen Atemzug und empfand die reine Luft wie ein großes Gewicht auf seiner Brust. »Ich habe Heather nirgends gesehen – ist sie ...«

»Mit Heather ist alles in Ordnung. Man hat sie zum Krankenpflegedienst verpflichtet. Sie hat keinen Kratzer davongetragen. Mir ist klar, dass man nach dieser Versammlung die vervollständigten Listen der Toten, der Verwundeten und der Überlebenden aushängen wird. Was hast du eigentlich gemacht? Del Rey hat mir gesagt, du seist hinausgeschickt worden – aber ich weiß nicht, warum.«

»Vorvermessung«, erwiderte Rafael MacAran. »Wir haben keine Ahnung, wo genau wir uns befinden, auf welchem geografischen Breitengrad, keine Ahnung von der Größe oder Masse des Planeten, keine Ahnung vom Klima oder den Jahreszeiten oder was auch immer. Ich habe festgestellt, dass wir wohl nicht allzu weit vom Äquator entfernt sein können, und – nun, ich werde den Bericht drinnen erstatten. Gehen wir hinein?«

»Ja, in die Erste Kuppel.« Halb unbewusst hatte Ewen diese Silben ehrerbietig ausgesprochen, und MacAran dachte daran, was für ein menschlicher Zug es doch war, Lage und Orientierung sofort festzulegen. Erst drei Tage waren sie hier, und schon war diese erste Unterkunft die Erste Kuppel und der notdürftig zusammengezimmerte Feldunterstand für die Verwundeten das Hospital.

Im Innern der Plastikkugel gab es keine Sitze; es waren nur ein paar Leinen-Zeltbahnen ausgebreitet und leere Vorratskisten aufgestellt worden, und irgendjemand hatte einen Klappstuhl für Captain Leicester heruntergeholt. Neben ihm saß Camilla Del Rey auf einer Kiste, eine Schreibplatte mit einem Notizbuch auf den Oberschenkeln: ein großes, schlankes, dunkelhaariges Mädchen mit einem langen, ausgezackten Schnitt quer über die Wange, der mit Plastikspangen zusammengedrückt wurde. Sie war in die warme Arbeitsuniform eines Mannschaftsmitglieds gehüllt, hatte das schwere, parkaähnliche Oberteil jedoch abgelegt, und darunter trug sie nur ein dünnes, eng anliegendes Baumwollhemd. MacAran sah hastig weg ... Verdammt, was hat sie vorwarum sitzt sie so gut wie in der Unterwäsche dort vorn – vor der halben Mannschaft! Zu einer Zeit wie dieser ist das nicht anständig ... Aber dann sah er das verzerrte und verwundete Gesicht des Mädchens und entschuldigte ihr Verhalten. Ihr war heiß – jetzt und hier drinnen war es wirklich heiß –, und schließlich war sie im Dienst, und sie hatte ein Recht darauf, sich behaglich zu fühlen.

Wenn hier jemand aus der Reihe tanzt, dann bin ich das ... weil ich zu einer solchen Zeit ein Mädchen derart ansehe ...

Stress. Das ist alles. Es gibt verdammt zu viele Dinge, an die sich zu erinnern oder darüber nachzudenken nicht ratsam ist ... Captain Leicester hob sein graues Haupt. Er sieht aus wie der Tod, dachte MacAran. Wahrscheinlich hat auch er seit dem Absturz nicht mehr geschlafen. Er fragte das Del-Rey-Mädchen: »Sind das alle?«

»Ich glaube, ja.«

»Damen und Herren«, begann der Captain. »Wir wollen keine Zeit mit Formalitäten verschwenden, deshalb sind die Vorschriften der Etikette für die Dauer dieses Notfalles aufgehoben. Da mein Protokolloffizier im Hospital liegt, hat sich Erster Offizier Del Rey freundlicherweise bereit erklärt, in dieser Versammlung als Nachrichten-Protokollführer zu fungieren. Zuallererst: Ich habe sie zusammengerufen, einen Vertreter von jeder Gruppe, damit sie ihren Mannschaften zuverlässig darüber berichten, was hier vor sich geht, und damit wir das Anwachsen von Gerüchten und ähnlichem Geschwätz über unsere Lage verhindern können. Und überall, wo mehr als fünfundzwanzig Leute versammelt sind, erheben sich nun einmal Gerüchte und Klatsch – wie ich von meinen Pensacola-Tagen her noch recht gut weiß. Also holen sie sich ihre Informationen hier, und verlassen sie sich nicht darauf, was irgendjemand irgendjemandes bestem Freund vor ein paar Stunden erzählt und jemand anders im Messeraum gehört hat – in Ordnung? Maschinenbau – ihr fangt an. Wie ist die Lage bei den Antriebsmaschinen?«

Der Chefingenieur – sein Name war Patrick, aber MacAran kannte ihn nicht persönlich – stand auf. Er war ein hoch aufgeschossener, hagerer Mann, der dem Volkshelden Lincoln ähnlich sah. »Schlecht«, antwortete er lakonisch. »Ich will nicht behaupten, dass sie nicht repariert werden können, aber der ganze Antriebsraum ist ein Schlachtfeld. Geben Sie uns eine Woche, ihn in Ordnung zu bringen, und wir können abschätzen, wie lange es dauern wird, die Maschinen zu reparieren. Wenn der ganze Schlamassel erst einmal weggeräumt ist, würde ich sagen – drei Wochen bis einen Monat. Aber auf diese Schätzung würde ich ungern mein Gehalt verwetten – ich habe keine Ahnung, wie nahe ich der tatsächlichen Dauer gekommen bin.«

Leicester sagte: »Aber sie können repariert werden? Sie sind nicht hoffnungslos zerstört?«

»Das würde ich nicht meinen«, erwiderte Patrick. »Verdammt, das ist besser nicht der Fall! Eventuell müssen wir nach Treibstoffen schürfen, aber mit dem großen Konverter ist das kein Problem, jede Art von Kohlenwasserstoff wird genügen ... selbst Zellulose. Das betrifft natürlich nur die Energie-Umwandlung für das Lebenserhaltungssystem. Der Antrieb selbst funktioniert mit Antimaterie-Implosionen.« Er erging sich in technischen Erklärungen, doch bevor MacAran hoffnungslos überhaupt nicht mehr folgen konnte, unterbrach Leicester.

»Sparen Sie sich das, Chief. Das Wichtigste haben Sie uns gesagt: Die Antriebsmaschinen können repariert werden – geschätzte Zeit: drei bis sechs Wochen. Officer Del Rey, wie sieht es auf der Brücke aus?«

»Dort sind die Monteure inzwischen an der Arbeit, Captain, aber sie müssen Schneidbrenner verwenden, um das verbogene Metall herauszubekommen. Die Computer-Konsole ist ein einziges Durcheinander, aber die Haupttafeln sind in Ordnung und das Bibliothekssystem ebenfalls.«

»Wo hat es den schlimmsten Schaden gegeben?«

»Wir werden in der gesamten Brückenkabine neue Sitze und Gurte brauchen – das können die Monteure bewerkstelligen. Und wir werden unser Ziel natürlich von der neuen Position aus neu programmieren müssen – aber sobald wir genau wissen, wo wir sind, müsste das für die Navigationssysteme einfach genug sein.«

»Dann gibt es also auch hier nichts Hoffnungsloses?«, meinte Leicester.

»Ehrlich gesagt – um das behaupten zu können, ist es noch zu früh, Captain, aber ich glaube nicht. Vielleicht ist es nur Wunschdenken, aber ich habe noch nicht aufgegeben.«

Captain Leicester sagte: »Nun, im Moment sieht es ungefähr so schlimm aus, wie es nur aussehen kann – ich denke, wir alle neigen dazu, primär die böse Seite zu betrachten. Vielleicht ist das gut so. Alles, was besser ist als das Schlimmste, wird eine angenehme Überraschung sein. Wo steckt Dr. Di Asturien? Der Mediziner?«

Ewen Ross erhob sich. »Der Chief war der Meinung, nicht Weggehen zu können, Sir. Er hat eine Mannschaft zusammengestellt, um sämtliche medizinischen Vorräte zu bergen. Er hat mich geschickt. Es hat keine weiteren Todesfälle gegeben, und alle Toten sind begraben. Momentan gibt es kein Anzeichen einer ungewöhnlichen Krankheit unbekannter Herkunft, aber wir sind noch mit der Überprüfung der Luft- und Bodenproben beschäftigt und werden dieselben auch weiterhin durchführen – mit dem Zweck, bekannte und unbekannte Bakterien zu klassifizieren. Auch ...«

»Fahren Sie fort.«

»Der Chief will einen Befehl darüber ausgegeben wissen, dass nur die ausgewiesenen Latrinenbereiche benutzt werden, Captain. Er hat darauf hingewiesen, dass wir alle nur erdenklichen Arten von Bakterien in unseren Körpern tragen, die der einheimischen Flora und Fauna schaden könnten, und uns ist es möglich, die Latrinenbereiche ziemlich gründlich zu desinfizieren – allerdings sollten wir Vorsichtsmaßnahmen gegen das Infizieren äußerer Bereiche treffen.«

»Ein guter Punkt«, meinte Leicester. »Bitten Sie jemanden, diese Anordnungen anschlagen zu lassen, Del Rey. Und setzen Sie einen Sicherheitsbeauftragten ein, der dafür zu sorgen hat, dass jeder weiß, wo die Latrinen sind – und sie auch benutzt. Kein Wasserlassen im Wald, nur weil man sich zufällig dort aufhält und es keine Abfallbeseitigungsgesetze gibt.«

»Ein Vorschlag, Captain«, wandte Camilla Del Rey ein. »Bitten Sie die Köche, mit ihrem Abfall genauso zu verfahren, für eine Weile jedenfalls.«

»Ihn desinfizieren? Ein guter Vorschlag. Lovat, in welchem Zustand befindet sich der Synthonahrungsprodukter?«

»Zugänglich und funktionierend, Sir, wenigstens zeitweise. Es wäre jedoch keine schlechte Idee, einheimische Nahrungsquellen zu prüfen und uns zu vergewissern, ob wir diese Früchte und Wurzeln notfalls essen können. Wenn das Ding erst einmal zu stottern anfängt – und es war nie dafür vorgesehen, für längere Zeiträume unter planetaren Schwerkraftverhältnissen zu laufen –, dann wird es zu spät sein, mit dem Durchtesten der hier vorhandenen Vegetation anzufangen.« Judith Lovat, eine kleine, stämmig gebaute Frau Ende dreißig mit dem grünen Emblem der Lebenserhaltungssysteme am Kittel, blickte zur Kuppeltür hinüber. »Dieser Planet scheint dicht bewaldet zu sein; dazu die Sauerstoff-Stickstoff-Verhältnisse dieser Luft ... es müsste für uns Genießbares geben. Chlorophyll und Photosynthese scheinen sich auf allen Planeten des M-Typs so ziemlich gleich zu sein, und das Endprodukt ist für gewöhnlich eine Anordnung von Kohlehydraten mit Aminosäuren.«

»Ich werde einen Botaniker darauf ansetzen«, versprach Captain Leicester. »Was mich zu Ihnen führt, MacAran. Haben Sie vom Berggipfel nützliche Informationen mitgebracht?«

MacAran erhob sich und sagte: »Es hätte mehr gebracht, wenn wir im Flachland gelandet wären – vorausgesetzt, es gibt solche Gebiete auf diesem Planeten –, aber ich habe doch ein paar interessante Details entdeckt. Vorab: Wir befinden uns hier etwa tausend Fuß über dem Meeresspiegel, zweifellos auf der Nordhalbkugel und – zieht man in Betracht, dass die Sonne für gewöhnlich ihre Bahn hoch am Himmel zieht – nicht allzu viele Breitengrade vom Äquator entfernt. Wir sind offenbar in den Vorbergen einer gewaltigen Gebirgskette heruntergekommen, und die Berge sind alt genug, um bewaldet zu sein – das heißt, es sind keine eindeutig erkennbaren, aktiven Vulkane in der Nähe und keine Berge, die wie ein Resultat vulkanischer Aktivität innerhalb der letzten paar Jahrtausende aussehen.«

»Anzeichen von Leben?«, fragte Leicester.

»Massenhaft Vögel. Kleine Tiere, vielleicht Säugetiere, aber ich bin mir nicht sicher. Mehr Baumarten, als ich zu identifizieren in der Lage war. Eine ganze Menge davon sehen unseren Koniferenarten ähnlich, aber es scheint auch Hartholzbäume zu geben, jedenfalls sehen sie so aus, des Weiteren ein paar Büsche, die Früchte oder andere Samen tragen. Ein Botaniker könnte Ihnen diesbezüglich eine Menge mehr erzählen. Allerdings keine Anzeichen von irgendwelchen Artefakten, kein Hinweis darauf, dass jemals irgendwo irgendetwas kultiviert und berührt worden ist. Soweit ich das sagen kann, ist der Planet bisher weder von menschlichen – noch von irgendwelchen anderen – Händen berührt worden. Aber wir können natürlich inmitten der Entsprechung unserer sibirischen Steppen oder der Wüste Gobi gelandet sein – weit, weit entfernt von allem Ungewöhnlichen.«

Er hielt inne, dann sagte er: »Etwa zwanzig Meilen genau östlich von hier gibt es einen alle anderen überragenden Berggipfel – man kann ihn nicht verfehlen –, von dem aus wir Sichtungen vornehmen und eine grobe Einschätzung der Planetenmasse bekommen können, selbst ohne komplizierte Instrumente. Wir könnten auch nach Flüssen, Ebenen, einer eventuellen Wasserversorgung oder irgendwelchen anderen Anzeichen von Zivilisation Ausschau halten.«

»Aus dem Raum war kein Anzeichen von Leben feststellbar«, wandte Camilla Del Rey ein.

Moray, der schwere, dunkelhäutige offizielle Vertreter des Kolonialen Expeditions-Korps und verantwortlich für die Kolonisten, warf ruhig ein: »Sie meinen doch sicher – keine Anzeichen einer technologischen Zivilisation, nicht wahr, Erster Offizier? Vergessen Sie nicht: Bis vor kaum vier Jahrhunderten hätte auch ein Sternenschiff, das sich der Erde nähert, dort kein Anzeichen intelligenten Lebens ausmachen können.«

»Selbst wenn es irgendeine Form prätechnologischer Zivilisation gäbe, was praktisch keine Zivilisation nach unseren Maßstäben entspräche«, sagte Captain Leicester knapp, »und unabhängig davon, was für eine Lebensform hier auch immer existieren mag, intelligent oder nicht – sie wird keinen Einfluss auf unsere Absicht haben. Sie könnten uns bei der Reparatur unseres Schiffes nicht helfen, und vorausgesetzt, wir sind vorsichtig genug, ihr Ökosystem nicht zu verunreinigen, besteht für uns auch kein Anlass, ihnen gegenüberzutreten und einen Kulturschock hervorzurufen.«

»Ich pflichte Ihrer letzten Bemerkung bei«, sagte Moray langsam, »doch ich möchte gerne eine Frage aufwerfen, die Sie noch nicht gestellt haben, Captain. Genehmigt?«

»Das Erste, was ich vorhin klargestellt habe, war, dass die Etikette für die Dauer unseres Hierseins aufgehoben ist – also los«, knurrte Leicester.

»Was wird getan, um diesen Planeten auf seine Bewohnbarkeit hin zu überprüfen – ich meine: für den Fall, dass die Antriebsmaschinen nicht repariert werden können und wir hier festhängen?«

MacAran empfand einen Augenblick des Schocks, der ihn erstarren ließ, dann eine kleine Woge der Erleichterung. Ein anderer hatte es ausgesprochen. Ein anderer hatte ebenfalls darüber nachgedacht. Er brauchte nicht derjenige zu sein, der es zur Sprache brachte.

Doch auf Captain Leicesters Gesicht war der Schock nicht verschwunden, er war zu steifem, kaltem Zorn erstarrt: »Dafür besteht nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit.«

Moray erhob sich gewichtig. »Ja, ich habe gehört, was Ihre Leute gesagt haben, aber ich bin nicht restlos überzeugt. Ich denke, wir sollten augenblicklich damit anfangen, eine Inventur dessen zu machen, was wir haben und was hier ist – für den Fall, dass wir auf Dauer gestrandet sind.«

»Unmöglich«, wehrte Captain Leicester schroff ab. »Wollen Sie etwa behaupten, Sie würden über den Zustand unseres Schiffes besser Bescheid wissen als meine Mannschaft, Mr. Moray?«

»Nein. Ich habe verdammt noch mal keine Ahnung von Sternenschiffen und weiß auch gar nicht, ob ich überhaupt Ahnung davon haben will. Aber ich erkenne Trümmer, wenn ich welche sehe. Ich weiß, dass ein gutes Drittel Ihrer Mannschaft tot ist, einschließlich einiger wichtiger Techniker. Ich habe den Ersten Offizier Del Rey sagen hören, sie glaube – sie glaube –, der Navigationscomputer könne repariert werden, und ich weiß bestimmt, dass im interstellaren Raum ohne Computer niemand einen M-AM-Antrieb steuern kann. Wir müssen in Betracht ziehen, dass das Schiff vielleicht nirgendwo mehr hinfliegt. Und in diesem Fall werden auch wir nirgendwo mehr hinfliegen. Es sei denn, wir haben ein jugendliches Genie unter uns, das im Laufe der nächsten fünf Jahre mit den hier vorhandenen Rohstoffen und unserer Hand voll Leute einen interstellaren Kommunikationssatelliten bauen und eine Nachricht zur Erde oder zu den Kolonien auf Alpha Centauri oder Coronis senden kann, auf dass man komme, um die armen, verirrten Schäflein abzuholen.«

»Was wollten Sie damit erreichen, Mr. Moray?«, fragte Camilla Del Rey mit leiser Stimme. »Uns noch mehr demoralisieren? Uns ängstigen?«

»Nein. Ich versuche, realistisch zu sein.«

Leicesters Gesicht verfärbte sich rot, und er unternahm eine vortreffliche Anstrengung, seine Wut zu beherrschen. »Ich denke, Sie liegen falsch, Mr. Moray«, sagte er. »Unsere vordringlichste Aufgabe ist es, das Schiff zu reparieren, und für diesen Zweck mag es eventuell vonnöten sein, jeden Mann heranzuziehen, einschließlich der Passagiere aus Ihrer Kolonistengruppe. Wir können keine großen Kontingente abzweigen, die sich um irgendwelche anderen, fern liegenden Dinge kümmern«, fügte er nachdenklich hinzu. »Wenn das also eine Forderung war, betrachten Sie sie als abgelehnt. Gibt es noch eine weitere Angelegenheit?«

Moray setzte sich nicht. »Was geschieht, wenn wir in sechs Wochen entdecken, dass Sie Ihr Schiff nicht reparieren können? Oder in sechs Monaten?«

Leicester machte einen tiefen Atemzug. MacAran konnte die große Müdigkeit in seinem Gesicht sehen – und sein Bemühen, sie nicht zu zeigen. »Ich schlage vor, wir überqueren diese Brücke, falls und wenn wir sie in der Ferne auftauchen sehen, Mr. Moray. Es gibt da ein sehr altes Sprichwort, das lautet: Kommt Zeit, kommt Rat. Ich glaube nicht, dass eine Verzögerung von sechs Wochen gravierend genug ist, dass wir uns alle mit der Hoffnungslosigkeit und dem Tod abfinden. Was mich betrifft, so habe ich vor, zu überleben und dieses Schiff unbeschadet wieder nach Hause zu bringen, und jeder, der irgendwelches defätistisches Gerede aufbringt, wird mit mir rechnen müssen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Moray war offenbar nicht zufrieden, aber irgendetwas, vielleicht nur der Wille des Captains, ließ ihn schweigen. Er setzte sich, aber er blickte noch immer finster drein.

Leicester zog Camillas Schreibplatte zu sich herüber. »Gibt es noch etwas? Sehr gut. Ich glaube, das ist dann alles, Damen und Herren. Die Listen der Überlebenden und Verwundeten und deren Gesundheitszustand werden heute Abend angeschlagen. Ja, Pater Valentine?«

»Sir, man hat mich gebeten, an den Massengräbern ein Requiem für die Toten zu halten. Da der protestantische Geistliche bei dem Absturz getötet worden ist, entbiete ich meine Dienste gerne jedem, gleich welchen Glaubens, der sie für was auch immer gebrauchen kann.«

Captain Leicesters Gesicht wurde sanft, als er den jungen Priester ansah, der den Arm in einer Schlinge trug und dessen eine Gesichtshälfte stark bandagiert war. »Halten Sie Ihren Gottesdienst auf jeden Fall ab, Pater«, sagte er. »Ich schlage den morgigen Tagesanbruch vor. Wählen Sie jemanden aus, der sich um die Errichtung eines angemessenen Gedenksteins für die Gräber kümmern soll; eines Tages, vielleicht erst in ein paar hundert Jahren, wird dieser Planet vielleicht kolonisiert werden, und jene, die dann kommen, sollten davon wissen. Wir werden genügend Zeit dafür haben, nehme ich an.«

»Danke, Captain. Entschuldigen Sie mich jetzt, bitte? Ich muss ins Hospital zurückkehren.«

»Ja, Pater, gehen Sie. Jeder, der jetzt aufbrechen will, ist entschuldigt – oder gibt es noch Fragen? Sehr gut.«

Leicester lehnte sich in seinem Sitz zurück und schloss kurz die Augen. »MacAran und Dr. Lovat – bleiben Sie bitte noch einen Moment?«

MacAran ging langsam nach vorn, sprachlos überrascht. Er hatte noch nie zuvor mit dem Captain gesprochen, hatte nicht einmal geahnt, dass dieser ihn auch nur vom Sehen kannte. Was konnte er von ihm wollen? Der Reihe nach verließen die anderen die Kuppel. Ewen berührte ihn flüchtig an der Schulter und flüsterte. »Heather und ich nehmen an der Totenmesse teil, Rafe. Ich muss gehen. Komm im Hospital vorbei und lass mich nach deiner Gehirnerschütterung sehen. Nur ruhig, Rafe, bis bald.« Dann huschte er davon.

Captain Leicester war auf seinem Stuhl zusammengesunken, und er sah erschöpft und alt aus, doch als sich Judith Lovat und MacAran näherten, richtete er sich mühelos auf. »MacAran«, sagte er, »Ihre Kurzbiografie besagt, dass Sie Bergerfahrung haben. Was ist Ihr berufliches Spezialgebiet?«

»Geologie. Es stimmt, ich habe viel Zeit in den Bergen verbracht.«

»Dann setze ich Sie als Leiter einer kurzen Vermessungsexpedition ein. Erklettern Sie diesen Berg, wenn Sie das können, und nehmen Sie vom Gipfel aus Ihre Sichtungen vor – schätzen Sie die Masse des Planeten und so weiter. Gibt es in der Kolonistengruppe einen Meteorologen oder Wetterspezialisten?«

»Das nehme ich an, Sir. Mr. Moray dürfte es bestimmt wissen.«

»Das wird er in der Tat, und es wäre wohl eine gute Idee meinerseits, ihn mit Nachdruck zu fragen«, sagte Leicester. Er war so milde, dass er fast murmelte. »Wenn abzusehen ist, wie sich das Wetter in den nächsten paar Wochen entwickelt, können wir entscheiden, wie wir den Leuten am besten Unterschlupf gewähren können. Außerdem könnte dem Kolonialen Expeditions-Korps jede Information über Rotationsperiode und dergleichen wertvoll sein. Und Sie, Dr. Lovat, spüren einen Zoologen und einen Botaniker auf, vorzugsweise bei den Kolonisten, und schicken sie mit MacAran los. Nur für den Fall, dass der Synthonahrungsprodukter seinen Geist aufgibt. Sie können Tests machen und Proben nehmen.«

»Dürfte ich noch einen Bakteriologen vorschlagen, falls einer zur Verfügung steht?«, erkundigte sich Judith.

»Gute Idee. Plündern Sie die Reparaturmannschaften nicht allzu sehr, aber nehmen Sie, wen Sie brauchen, MacAran. Noch jemand, den Sie mitnehmen wollen?«

»Einen Medotechniker oder wenigstens eine Krankenschwester«, bat MacAran, »falls jemand in eine Felsspalte stürzt oder von der einheimischen Entsprechung der Tyrannosaurus Rex angenagt wird.«

»Oder ein scheußliches einheimisches Insekt aufgabelt«, sagte Judith. »Ich hätte daran denken sollen.«

»Also, in Ordnung – wenn der Medo-Chef jemanden erübrigen kann«, stimmte Leicester zu. »Noch etwas. Der Erste Offizier Del Rey begleitet Sie.«

»Darf ich fragen, weshalb?«, erkundigte sich MacAran leicht verblüfft. »Nicht dass sie nicht willkommen wäre, obgleich es für eine Frau ein recht anstrengendes Unternehmen sein könnte. Wir sind hier nicht auf der Erde, und diese Berge sind nicht mit Sesselliften ausgestattet.«

Camillas Stimme war leise und etwas rau. Er fragte sich, ob das der Kummer oder Schock verursachte oder ob es ihr natürlicher Tonfall war. Sie sagte: »Captain, MacAran weiß offenbar das Schlimmste noch nicht. Also: Was wissen Sie über den Absturz und dessen Ursache?«

Er zuckte mit den Schultern. »Nur Gerüchte und den üblichen Klatsch. Alles, was ich wirklich weiß, ist, dass die Alarmglocken zu läuten begannen, dass ich einen Sicherheitsbereich aufgesucht habe – einen so genannten«, setzte er bitter hinzu, als er Jennys verstümmelten Körper vor Augen hatte, »und dann erinnere ich mich nur noch daran, dass ich plötzlich aus der Kabine gezogen und eine Leiter hinuntergehievt wurde. Punkt.«

»Also gut, dann passen Sie auf. Wir wissen nicht, wo wir sind. Wir wissen nicht, was für eine Sonne das ist. Wir wissen nicht einmal annähernd, in welchem Sternhaufen wir sind. Ein Gravitationssturm hat uns aus unserem Kurs geschleudert – das ist die Laienerklärung, und ich werde mir nicht die Mühe machen zu erklären, was ihn verursacht hat. Bereits beim ersten Stoß waren unsere Orientierungssysteme verloren, und dabei mussten wir erst noch das nächste Sonnensystem mit einem potenziell bewohnbaren Planeten ausfindig machen und in aller Eile herunterkommen. Ich muss also astronomische Beobachtungen vornehmen, so gut es geht, und darauf hoffen, ein paar bekannte Sterne zu entdecken – das lässt sich mit spektorskopischen Beobachtungen schaffen. Von diesem Punkt an bin ich etwa in der Lage, anhand einer Dreiecksberechnung unsere Position im Galaktischen Arm zu ermitteln und später wenigstens einen Teil der Computer-Neuprogrammierung von der Planetenoberfläche aus vorzunehmen. Astronomische Beobachtungen sind ab einer gewissen Höhe leichter vorzunehmen, weil dort die Luft dünner ist. Selbst wenn ich den Gipfel des Berges also nicht erreiche, werden mir jede zusätzlichen hundert Meter Höhe bessere Bedingungen für genaue Beobachtungen bieten.« Das Mädchen sah ernst und nachdenklich aus, und er spürte, dass sie mit ihrer absichtlich didaktischen und professionellen Art ihre Furcht im Zaum hielt. »Wenn Sie mich also auf Ihre Expedition mitnehmen wollen – ich bin stark und leistungsfähig, und einen langen Marsch fürchte ich nicht. Ich würde meinen Assistenten mitschicken, aber der hat auf über dreißig Prozent seiner Hautfläche Verbrennungen, und selbst wenn er sich erholt – und es ist nicht sicher, dass es dazu kommt –, wird er für eine lange, lange Zeit nirgendwo hingehen. Und ich fürchte, außer mir gibt es niemand, der so viel über Navigation und Galaktische Geografie weiß, und deshalb würde ich meinen eigenen Beobachtungen mehr trauen als denen irgendeines anderen.«