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Dr. Michael Neumann

ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Dr. Betsy van Schlun

ist Lehrende (British and American Studies) der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld.

Zum Buch

»Die Revolution ist vorbei, ich bin die Revolution.«

NAPOLEON BONAPARTE

Das 19. Jahrhundert ist geprägt von Umschwüngen und anhaltendem Wandel. Neue Denkweisen und Theorien in den Wissenschaften und Künsten sowie der in Gesellschaft baten Mutigen Platz, sich zu beweisen und historischen Nachhall zu genießen. So entwickelten sich zum einen reale Größen, zum anderen aber bildeten sich um diese und in den Künsten neue Mythen. Dieser Sammelband verbindet die Mythologie rund um real existierende Personen des 19. Jahrhunderts mit derjenigen der literarischen Figuren, die bis heute Eingang in Lebens- und Lesenswelten finden und diese nachhaltig beeinflussen.

Mit Texten zu u. a. Ludwig van Beethoven, Wilhelm Busch, Sherlock Holmes, Napoleon und Leo Tolstoj.

Menschen, die
Geschichte schrieben

Betsy van Schlun

Michael Neumann (Hrsg.)

Menschen, die
Geschichte schrieben

Das 19. Jahrhundert

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Alle Rechte vorbehalten

© by marixverlag in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2014 Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2014
Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen
und Passionen mbH, Hamburg Berlin
Bildnachweis: Napoleon Bonaparte überquert die Alpen über den Sankt-Bernard-Paß,
Gemälde, 1800, von Jacques Louis David, akg-images / Laurent Lecat GmbH, Berlin eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0455-4

www.verlagshaus-roemerweg.de/marixverlag

INHALT

Einleitung

von Betsy van Schlun

Der Napoleon-Mythos in der Literatur des 19. Jahrhunderts

Erinnerte Größe in kleinen Zeiten

von Barbara Beßlich

Der ‚Mythos Beethoven‘ und die Kompositionen der Imagination

„So pocht das Schicksal an die Pforte“

von Angelika Corbineau-Hoffmann

Frankenstein und die literarische Figur des verrückten Wissenschaftlers

von Joachim Schummer

Erfindung und Selbstfindung eines Helden

Giuseppe Garibaldi als Mythos der Freiheit

von Friederike Hausmann

Arminius

Karriere eines Freiheitshelden

von Volker Losemann

„Der Wilde“ als Mythos in der deutschen kulturellen Wahrnehmung

von Karsten Fitz

Die Femme fatale

von Sabine Haupt

Sherlock Holmes

oder: Die Ängste der Großstadt

von Michael Neumann

Thomas Alva Edison

von Elmar Schenkel

Leo Tolstoj

Mythen im Fadenkreuz der Vernunft

von Horst-Jürgen Gerigk

Max und Moritz

von Joachim Kalka

Autorinnen und Autoren

Abbildungsverzeichnis

Editorische Vorbemerkung

Die mittlerweile rund 90 Bände umfassende Buchreihe marixwissen, in der nun Menschen, die Geschichte schrieben – Das 19. Jahrhundert vorliegt, steht seit vielen Jahren für Publikationen, die aus kompetenter Hand komplexe Zusammenhänge einer breiten Leserschaft zugänglich macht. Aus diesem besonderen Grund legen wir nun eine siebenbändige Reihe wieder auf, die vormals im Pustet Verlag erschienen ist und seinerzeit leider nur einem kleinen Publikum zugänglich war. Die diesen Bänden zugrundeliegende Ringvorlesung Die Mythen Europas fasziniert durch ihre thematische Breite und löst darüber hinaus das Ziel unserer marixwissen-Reihe ein, humanistische Bildung und das Wissen Europas lebendig zu halten. Die zentralen Begriffe „Mythen“, „Europa“ und „Schlüsselfiguren“ sind heute von einer ebenso großen, wenn nicht noch größeren Bedeutung getragen. Wir legen Ihnen die Bände in ihrer Textgestalt unverändert vor, lediglich die Titel wurden der Reihe marixwissen angepasst.

… und Du wirst finden,wie viele irrende Schritte in den dunklen Zeiten gestrauchelt sind über die Schwelle der gewaltigen Wissenschaft, und wie sie wähnten, eingedrungen zu sein in den Tempel.

Lord Edward Bulwer-Lytton
(englischer Schriftsteller und Politiker,
aus seinem Roman Zanoni)

EINLEITUNG

von Betsy van Schlun

Der sechste Band der Mythen Europas gilt dem 19. Jahrhundert. Diese Epoche, die in etwa den Zeitraum von 1789 bis 1918 umfasst – also ihren Anfang in den Umbrüchen der Französischen Revolution nimmt und ihren Auslauf in den Wirren des Ersten Weltkrieges findet –, ist ein Spannungsfeld von Gegensätzen: Revolution gegen Konterrevolution, Eroberungs- gegen Befreiungskriege, Verstand gegen Phantasie, Wissenschaft gegen Kunst, Technologie gegen Natur, die Masse gegen das Individuum. Die Freiheitsbestrebungen und Demokratisierungsprozesse, die ihren Ausgang in der Französischen Revolution hatten, waren gleichzeitig auch immer wieder verbunden mit Regressionen, Tyrannei und Diktatur. Weiterhin rückte die Wissenschaft ins Zentrum, eine Wissenschaft, die sich seit dem 18. Jahrhundert zunehmend in separate Fachwissenschaften spezialisierte. Wachsende Industrialisierung, urbane Ballungsräume und die Massengesellschaft mit ihrer Anonymität schienen den natürlichen Bedürfnissen des Menschen entgegenzulaufen. Schon Jean-Jacques Rousseau hatte in der zunehmenden Zivilisierung eine Gefahr für die menschliche Moral gesehen: Nur in seinem naturverhafteten Urzustand bleibe der Mensch menschlich. Diese Idee lenkte den Blick dann auch auf Völker, die man noch in diesem ursprünglichen Einklang mit der Natur vermutete, auf die exotischen ‚Wilden‘ der Neuen Welt.

Andrerseits eröffneten neue technische Erfindungen wie Dampfmaschine, Eisenbahn, Gaslaterne, Telegraph und Telephon ganz neue Möglichkeiten. Sie überwanden Distanzen und ließen die Welt enger zusammenwachsen – dem wirkte wachsender Nationalismus allerdings gleichzeitig wieder entgegen. Die Maschinen und Apparate machten das Leben komfortabler. Sie beschleunigten aber auch die menschlichen Erfahrungs- und Wahrnehmungsprozesse und führten zu einem neuen Raum- und Zeitverständnis. Jahrhundertealte Traditionen wurden so umgehend hinweggeräumt.

Schreibmaschine und Telephon eröffneten den Arbeitsmarkt für den weiblichen Teil der Bevölkerung und mit den ersten Emanzipationsansätzen veränderte sich auch das Bild der Frau. Die emanzipierte Frau, vor allem die sexuell emanzipierte, wirkte bedrohlich. Im Gegenzug zu diesem neuen Frauenbild verkörperte das Bild der tugendhaften Hausfrau und Mutter die traditionellen Werte. Eine Dominanz männlicher Schlüsselfiguren ist im vorliegenden Band nur allzu offensichtlich. Dass weibliche Figuren wie Salomé, Judith, Lilith, Medusa, Pandora, Venus oder die Vampirin, die einen prägenden Einfluss auf die Epoche ausübten, hier nicht in ihrer individuellen Eigenständigkeit gewürdigt werden, liegt daran, dass sie unter dem Motiv der femme fatale zusammengefasst wurden – eine programm-strategische Überlegung, die es ermöglichte, einige Figuren mehr aufzunehmen als der begrenzte Rahmen der Reihe es üblicherweise zulässt. Ob diese Erklärung das Ungleichgewicht rechtfertigt, mag dahingestellt bleiben.

Das 19. Jahrhundert läutete die so genannte „Moderne“ ein, eine Zeit, welche die Lebensumstände der Menschen entscheidend veränderte und teilweise zu einer tiefen Zerrissenheit und Entfremdung führte. Viele der hier behandelten Schlüsselfiguren vereinen in sich Gegensätze und wirken so in sich gespalten. Hier deutet sich ein ‚Zerbrechen‘ in der modernen Zeit an, das sich bis ins 20. Jahrhundert hin noch steigern sollte.

Barbara Beßlich zeigt, wie NAPOLEON zu einer europäischen Größe hochstilisiert wurde. Sie spannt den Bogen der deutschen Mythisierung von der Zeit der Befreiungskriege und dem Vormärz bis hin zum Dritten Reich und enthüllt dabei ein Napoleonbild, das zwischen revolutionärem Heros und Dämon, Heiland und Höllensohn, schöpferischem Genie und „Weltzertreter“, Symbolfigur des Liberalismus und machtgierigem selbstgekröntem Kaiser wechselt. Für ihre Untersuchung stützt sie sich in erster Linie auf die Literatur, von Hölderlins Unsagbarkeitstopos über die napoleonfeindlichen Schriften von Arndt, Fichte, Kleist und Hoffmann bis hin zu Heines verklärender Ballade von den beiden Grenadieren und schließlich Nietzsches Invertieren des vormärzschen Napoleons zum Anti-Bürger. Dabei zeigt sie, wie das Medium Literatur „Teil der kulturellen Sinnproduktion“ einer Gesellschaft und ihres nationalen Selbstverständnisses ist.

Den Künstler-Mythos BEETHOVEN verfolgt Angelika Corbineau-Hoffmann von der Französischen Revolution bis in die Wirren des Ersten Weltkrieges. Sie entwickelt ihn aus Beethovens Musik heraus, genauer aus der Fünften Symphonie, der so genannten Schicksalssymphonie: In dieses Werk habe Beethoven sein persönliches Schicksal hineinkomponiert – die Schicksalsschläge wie deren Überwindung, den leidenden Menschen wie den trotzenden Künstler. Die Komposition als solche definiert die Autorin als Imagination, und die Imagination als „die Fähigkeit zur andersartigen Anordnung des Vorgefundenen“, als die Fähigkeit, Einzelteile zu einem Ganzen neu zusammenzufügen. Somit wird dann auch der Mythos Beethoven in letzter Konsequenz zu einer ‚Komposition‘ der Fakten seines Lebens und seines Schaffens, die zu einem neuen Bild zusammengefügt und bis ins Göttliche überhöht werden.

An der Figur FRANKENSTEIN zeichnet Joachim Schummer die Evolution des Topos vom „verrückten Wissenschaftler“ (mad scientist) nach, vom Alchemisten bis zu Mary Shelleys Romanhelden. Er ergründet den literarischen Topos exemplarisch quer durch die europäische Literatur hindurch: durch die Werke Chaucers, Godwins, Goethes, Turgenews, Balzacs und Dumas’, bis hin zu den amerikanischen Romantikern Poe und Hawthorne. Er deckt aber auch auf, dass Frankenstein die Wissenschaftsgeschichte verkörpert: die Entwicklung der Epochen der Wissenschaft, von den Alchemisten über Descartes bis hin zum modernen, empirischen Chemiker.

Als ein Mythos der Freiheit bewegt sich GARIBALDI vorzugsweise zwischen Italien und Südamerika. Als „Apostel der Freiheit“ hatte er gegen die Fürsten eines politisch zersplitterten Italiens revoltiert und für ein geeintes republikanisches Italien gekämpft; anschließend kam er als Flüchtling nach Brasilien. Hier wurde er zur Symbolfigur der Freiheit und Unabhängigkeit der Völker. Doch der Befreier gerät zeitweise auch zum Unterdrücker derer, die er eigentlich befreien will, und er endet schließlich verbittert und in Abgeschiedenheit. Mythisiert wird Garibaldi schon zu Lebzeiten, sogar seine Niederlagen werden zu Siegen umgedeutet und seine spektakuläre Flucht vor den französischen, österreichischen und bourbonischen Truppen bietet Stoff für einen Heldenroman. Noch zu Lebzeiten wird seine Autobiographie, von seinem Freund Alexandre Dumas romantisch bearbeitet, zu einem Bestseller in Europa. Nach seinem Tod wird der romantische Visionär dann vom italienischen Staat vereinnahmt, zunächst vom Königreich Italien, dann von den Faschisten, Antifaschisten, der Republik und, wie Friederike Hausmann ausführt, bis hin in die Zeit des Irak-Krieges und Libanoneinsatzes.

ARMINIUS mit seinem spektakulären Sieg über die Römer im Teutoburger Wald avanciert schon bei Tacitus zu einer Schlüsselfigur der nationalen Befreiung. Volker Losemann beschreibt die Karriere dieses Freiheitshelden im deutschen kulturellen Gedächtnis. Bei den Frühhumanisten und im Umfeld der Reformation verbinden sich mit der Figur Arminius antirömische Effekte und die Idee einer Befreiung von Rom, also von Papst und katholischer Kirche. Bei Klopstock wiederum wird der Freiheitsheld zum „aufgeklärten Diener seines Volkes“ und im Kontext der napoleonischen Befreiungskriege wird die römisch-germanische Auseinandersetzung mit dem Kampf gegen Napoleon synchron gesetzt. Auch die nationale Kunst des 19. Jahrhunderts greift auf Arminius zurück, wie beispielsweise in dem Großprojekt des Hermanns-Denkmals, und nutzt die Figur als Impuls für die Reichsgründung. Schließlich mündet die Karriere des Freiheitshelden Arminius in seiner Vereinnahmung durch die Völkischen.

Dem Mythos des EDLEN WILDEN geht Karsten Fitz am Beispiel der Indianer nach. In der deutschen Wahrnehmung manifestiert er sich besonders in der Figur Winnetous. Auf frühen Entwürfen Rousseaus fußend und beeinflusst von den Indianer-Bildern Karl Bodmers, welche die Vorstellung einer aussterbenden Reiterkultur propagierten, entwirft Karl May das romantisierte Bild seines Indianerhäuptlings, der als eine Schlüsselfigur der Tugend die deutsche Imagination prägen sollte. Winnetou wie auch andere deutsche Indianerdarstellungen entlarvt Fitz als europäische Projektionsfläche und als zutiefst deutsch. Der berühmte Apache ist gar kein Indianer, er ist vielmehr eine Idee, eine Geburt der nationalen Phantasie, ein „deutscher Traum“. Das Phänomen des „edlen Wilden“ konsolidiert sich durch die Dichter, Schriftsteller und ‚ethnographischen‘ Maler in Text und Bild, es wird nationalisiert und durch die Massenpresse sowie die Völkerschauen popularisiert. Doch die Stilisierung fixiert den Indianer letztlich im statischen Bild einer Vergangenheit und negiert ihn so als real existierende Kultur der modernen Welt.

Das Motiv der FEMME FATALE entwickelt sich von seinen frühen Vorstufen der antiken sowie der jüdisch-christlichen Tradition bis hin zum heutigen Hollywood-Klischee. Sabine Haupt richtet den Blick auch auf Widersprüche in diesem scheinbar so bekannten und eindeutigen Motiv. Zunächst arbeitet sie die strukturellen Grundlinien des Mythos heraus, die erotische Funktion der femme fatale, die sexuelle Begierde, das Triebhafte und die damit verbundene Dichotomie von Moral gegen Sexualität, die entschieden durch die christliche Tradition geprägt wird. Die femme fatale ist aber nicht nur gefährliche Verführerin, sondern auch selbst Opfer – das Opfer einer männlichen Doppelmoral, wie etwa in Wedekinds Lulu, wo sich hinter der Larve der femme fatale letztendlich eine missbrauchte junge Frau verbirgt. Im wilhelminischen Kontext dient sie dem Rückschlag gegen neue Rechte der Frau: Der Stereotyp präsentiert ein abschreckendes Gegenbild zur gesitteten Bürgerin. Im Fin de Siècle wirken Psychiatrisierung des Anderen und Ästhetisierung des Dämonischen auf die femme fatale. Das Motiv der belebten Statue gerät ebenso in ihren Bannkreis wie das des weiblichen Vampirs – beide werden in ihr zusammengeführt.

Das urbane Leben in den Metropolen Europas forderte von seinen Bewohnern völlig neue Verhaltens- und Orientierungsweisen, da alte Zuordnungsmethoden, wie Kleiderordnungen oder Umgangskonventionen, weggefegt wurden. Dies verlangte nach einem modernen Fährtenleser wie SHERLOCK HOLMES, der mit seinem außergewöhnlich geschärften Blick fürs Detail jede Spur im Londoner Großstadtdickicht aufzuspüren vermag. Michael Neumann versteht den Meisterdetektiv weiterhin als einen Nachfahren der Aufklärer, einen Förderer der Erkenntnis, und als „Lichtträger“, der Erleuchtung in die Undurchschaubarkeit und das Dunkel der Londoner Unterwelt bringt. Der Detektiv wird zum neuen, urbanen Helden, der den Ängsten, welche die Großstadt generiert, mutig entgegentritt, und zum Garanten einer Bewältigung dieser Ängste. Er ist sowohl (Natur-)Wissenschaftler als auch Künstler und zieht so Legitimität aus zwei im 19. Jahrhundert antipodischen Bereichen. Es ist diese ungewöhnliche Kombination aus Künstler und Wissenschaftler, die Holmes so faszinierend macht. Darüber hinaus rücken wissenschaftliche Methode und empirische Forschung Holmes in die Nähe der großen Ingenieure und Erfinder seiner Zeit, der Faraday, Maxwell oder Edison.

Als ein Mythos der Technik und des Fortschritts hat der Amerikaner Thomas Alva EDISON nicht nur die US-amerikanische, sondern auch die europäische Vorstellungskraft geprägt. An der historischen Figur, die der Metropole New York aus der Nacht verhalf, indem sie die Stadt mit einem Netz elektrischer Straßenbeleuchtung ausstattete, lässt sich abermals das Bild des modernen Lichthelden der Großstadt vorführen, das Neumann am fiktiven Sherlock Holmes entwickelt. Elmar Schenkel bindet Edison an eine sich über Jahrhunderte erstreckende lange Kette europäischer Schlüsselfiguren des Lichts: von Gott über Luzifer und Prometheus bis zu Newton. Edison ist „eine Art Freiheitsstatue der Technik“, der Prometheus der Glühbirne. Nachdem das Phänomen Licht die Phasen Mythologie, Philosophie und Physik durchlaufen hat, verwirklicht das Erfindergenie letztendlich seine kollektive Anwendung. Edison ist der Held des elektrischen Zeitalters, der das alte mythische Anliegen, den Tod zu überwinden, technisch verwirklicht, indem er mit Hilfe seines Grammophons die Stimme eines Menschen über dessen Tod hinaus bewahren kann. Bereits zu Lebzeiten wurde Edison durch hagiographie-ähnliche Biographien und Science Fiction-Erzählungen zum Mythos. Er selbst hat daran mitgearbeitet, indem er sich beispielsweise vor seinem Phonographen in der Pose Napoleons nach einer Schlacht photographisch verewigen ließ.

Die Figur Napoleon spielt auch bei TOLSTOJ wieder eine entscheidende Rolle: Krieg und Frieden präsentiert eine Destruktion des Mythos Napoleon. Mit den Instrumenten der Vernunft entlarvt Tolstoj das aus dem Geist der Institution geborene, romantisch idealisierte Genie des Krieges als einen „Feind des Menschengeschlechts“: Eine solche Idealisierung verführe zu ästhetischer Selbstvergessenheit und verfälschter Wahrnehmung der Wirklichkeit und verliere sich stattdessen in einer konstruierten Phantasiewelt. Tolstoj, so Horst-Jürgen Gerigk, prangert die Institutionen an, die zur Mythisierung und somit zur Verfälschung der Wirklichkeit animieren. Er verneine den „ästhetischen Zustand“ im Sinne Nietzsches und zeige anhand von Napoleon die Gefahr auf, die dem Charisma des „ästhetischen Zustands“ innewohnt. Durch Tolstojs Feder wird Napoleon zu einem „Künstler“ der Macht, der das Wirkliche zum Spektakel formt. Dieser Ästhetisierung der Realität, die Tolstoj für menschenfeindlich erachtet, setzt er die reale menschliche Körperlichkeit und Natürlichkeit entgegen und benennt so seine eigene anthropologische Grundidee einer das Leben befürwortenden Moral und einer Ethik der Vernunft.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass Gerigk sich sowohl thematisch als auch mit seiner Terminologie in der Zeit der Décadence bewegt. Die mit dieser Zeit verbundenen Ideen und Begriffe einer im Deutschen oft ‚entartet‘ genannten Ästhetisierung sind durch den Nationalsozialismus für den heutigen Leser ideologisch stark belastet. Der Autor verweist selbst auf diese Problematik, wenn er anmerkt, dass er den Begriff der „arterhaltenden Ethik“ Tolstojs in einem ideologiefreien Sinne verwendet.

Tolstojs literarisches Werk steht als Warnung vor aller Mythisierung. In diesem Sinne führt Gerigk kritisch zusammen, was im Vorfeld der anderen Schlüsselfiguren der Imagination oftmals schon anklang: Dass die Mythologisierung einer Figur immer ein Neu-Anordnen oder Kom-Ponieren und damit unabdingbar verbunden eine Verfremdung des Vorgefundenen ist, oft genug eine Abkehr von der Wirklichkeit und Hinwendung zur Phantasie, zur romantisierten und ästhetisierten Fiktion, zum Künstlichen aber auch zum Kunstwerk. Der durch die Imagination generierte ‚Mythos‘ kann den Menschen aus dem realen Morast seiner Wirklichkeit in einen höheren Zustand der Begeisterung entführen. Er ermöglicht es ihm, Abstrakta, Ideale und auch Emotionen – sogar die eines Kollektivs – in ein Bild zu fassen.1 Der Mythos kann ihn einerseits zu Höherem beflügeln, er birgt andrerseits aber immer auch die Gefahr des Verlusts von Wirklichkeit und Menschsein, da die Figur des Mythos losgelöst ist von Körperlichkeit und menschlichen Bedürfnissen, die unser Menschsein letztendlich ausmachen. Zugleich ist der ‚Mythos‘ als künstlerischer Akt wiederum eng mit einem zentralen Aspekt des Menschseins verknüpft: den Emotionen. Diese Emotionen können – individuell wie kollektiv – dank einer Schlüsselfigur der Imagination visualisiert und kommuniziert werden. Der Mythos birgt die Gefahr der Verblendung sowie das Potential des Erkennens.

Die Reihe der Mythen des 19. Jahrhunderts scheint schließlich mit einer humoristischen Note auszuklingen. Joachim Kalka widmet sich der Topik des „Streichespielens“ und entwirft eine umfassende Genese der Lausbuben und Schelme: vom mittelalterlichen Till Eulenspiegel, der geradezu grausam seinen Schabernack mit anderen treibt, über den neuzeitlichen Don Juan und die typischen rascals des 19. Jahrhunderts, wie Mark Twains Tom Sawyer und Huckleberry Finn, bis hin zu klassischen und zeitgenössischen Comic-Figuren, wie Disneys Tick, Trick und Track sowie dem Junge-Tiger-Gespann Calvin und Hobbes. Diese Kinder-Schelme brechen oft in die Erwachsenenwelt ein wie ein Sturm und werfen sie mit ihren provozierten Unfällen und ihren spielerisch gewalttätigen Untaten aus den eingefahrenen Bahnen. Dem Lausbuben ist ein anarchisches Element eigen und das Aufeinandertreffen von boshaft gewitztem Kind und vernünftigem Erwachsenen beschreibt einen Generationenkonflikt. Kalka geht dem Streich innewohnenden Sadismus, der Schadenfreude, besonders anhand der Geschichte von MAX UND MORITZ nach. An ihr verfolgt er das Schwanken zwischen Komik und Grausamkeit, das ein prägendes Merkmal des Genres ist. Unter dem Deckmantel des Streiches findet er eine oft kalte Grausamkeit und ein monomanes Behagen daran, anderen Menschen zu schaden, – und so trügt letztendlich auch hier der Schein, wird der Mythos des lustigen Bubenstreichs demontiert.

Die hier erfassten Beiträge wurden im Wintersemester 2007/08 an der Katholischen Universität Eichstätt als Vorträge gehalten. Die Konzeption sowie Organisation des Programms lag in den Händen von Christine Gottstein-Strobl, Andreas Hartmann, Michael Neumann, Alexei Rybakov und Betsy van Schlun. Für die souveräne redaktionelle Einrichtung des Bandes sowie seine zuverlässige Mithilfe bei der Durchsicht des Manuskripts sei John Andreas Fuchs herzlich gedankt.

ANMERKUNG

1Vgl. dazu auch Michael Neumann, „Einleitung“, in: Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Antike, hg. v. Andreas Hartmann und Michael Neumann, Regensburg, 2003, S. 9–11.

DER NAPOLEON-MYTHOS IN DER LITERATUR DES 19. JAHRHUNDERTS

Erinnerte Größe in kleinen Zeiten

von Barbara Beßlich

Heinrich Heine nannte ihn den „weltlichen Heiland“, Goethe pries ihn als „Kompendium der Welt“. Friedrich Hebbel begegnete ihm oft im Traum als sein Kammerdiener, Friedrich Nietzsche sah in ihm die „Synthesis von Unmensch und Übermensch“. Und Victor Hugo stöhnte entnervt auf: „Immer nur er! Er überall!“1

Dass Napoleon für die politische und gesellschaftliche Realität in Deutschland im 19. Jahrhundert von nicht zu überschätzender Bedeutung war, ist beinahe müßig festzustellen. Und dies wird vielleicht besonders sinnfällig in dem Satz, mit dem der Historiker Thomas Nipperdey seine Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts beginnen ließ: „Am Anfang war Napoleon.“2 Dass diese Wirkung Napoleons sich aber nicht in der staatlichen Modernisierung Deutschlands und dem Nationalismus der Befreiungskriege erschöpfte, sondern sich im kollektiven Gedächtnis der Deutschen weit über 1848 hinaus festschrieb, ist in Deutschland nach 1945 nur noch selten betont worden. Napoleon ist aber für das gesamte 19. Jahrhundert in Europa eine der Schlüsselfiguren der Imagination. Ich werde mich auf die Wirkung Napoleons in der deutschen Literatur konzentrieren. Diese literarischen Napoleon-Texte reflektieren dabei niemals nur die napoleonische Vergangenheit, sondern immer auch die deutsche Gegenwart ihrer Entstehungszeit und wirken als Teil der kulturellen Sinnproduktion der Gesellschaft auf diese Gesellschaft zurück. Literatur ist hier nicht nur das Medium der Reflexion, sondern beweist ihre produktive Potenz, diese Gesellschaft deutend zu bestimmen.

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Napoleon im Zentrum eines Strahlenkranzes; Gemälde von Laurent Dabos nach Anne-Louis Giradet-Trioson, Paris 1804/06

NAPOLEON UND DIE DEUTSCHEN

Wenn unmittelbar nach 1945 Deutsche auf den deutschen Napoleon-Mythos zu sprechen kamen, so beschränkten sie sich zumeist entweder auf die liberale Napoleon-Legende des Vormärz oder sie deuteten vage an, dass hier etwas nicht ganz Geheures thematisiert werde. Golo Mann erinnerte 1955 nur noch allgemein daran, „der Napoleon-Mythos habe nachmals in Deutschland kräftiger geblüht und wirksamere Folgen [gehabt] als in Frankreich selber.“3 Friedrich Sieburg verglich 1956 das englische und französische Napoleon-Bild mit dem der Deutschen und wurde etwas deutlicher:

Von ganz anderen Kräften ist das deutsche Napoleon-Bild bestimmt. Es ist für unser eigenes Wesen bezeichnender als für das des Eroberers. Nirgendwo hat er eine so unausgeglichene und hitzige Bewunderung gefunden wie in unserer Literatur. […] Aber wer auch die Feder führen, wer auch die Stimme erheben mag, ein gelassenes Verhältnis zu Napoleon bringt kein Deutscher auf. Die besondere Art seiner Größe rührt in uns Saiten an, deren Schwingungen keine Harmonie ergibt.4

Diese Zitate deuten an, dass Napoleon in der historischen Mythologie der Deutschen bis 1945 eine erhebliche Rolle gespielt hat. Friedrich Stählin fühlte sich 1952 bemüßigt, Napoleons Glanz und Fall mit der unmittelbaren deutschen Vergangenheit in Verbindung zu bringen und sprach blümerant über ein „geschichtliches Gleichnis“, das die Deutschen für ihre eigene Situation 1945 in der Betrachtung von Napoleons Schicksal finden könnten.5

In diesen Zitaten klingt ein zugleich identifikatorisches und problematisches Verhältnis ‚der Deutschen‘ zu Napoleon an, das freilich nie ganz exakt bestimmt, sondern lediglich raunend als prekär verklärt wird. Was die deutsche Literatur zwischen 1800 und 1945 immer wieder und in unterschiedlicher, aber eben doch auffallend „unausgeglichener“ Weise dazu veranlasste, sich mit Napoleons kometenhaftem Aufstieg aus dem Nichts zum Herrscher über Europa, mit seinem widerspruchsvollen Verhältnis zur Revolution und seinem schroffen Untergang auseinanderzusetzen, ist lange Zeit kaum analysiert worden. Dieser Aufsatz möchte einen kleinen Einblick in diese Napoleon-Literatur vermitteln.

Es geht in diesen Texten nicht nur um das Verhältnis zur Französischen Revolution und napoleonischen Diktatur, sondern immer auch um ein nationales und kulturelles Selbstporträt, um das spannungsreiche Verhältnis zur historischen Größe, um messianische Hoffnungen, um den Bezug zu veränderten Begriffen von Politik, Staat, Macht, Charisma, Krieg und Erfolg, um den Mythos vom starken Mann und um das Genie, das sich selbst erschafft, um die Sehnsucht nach Außeralltäglichkeit, kinetischer Kraft und Heroismus. Begriffe wie ‚Schicksal‘ und ‚Dämonie‘ durchziehen die deutsche Napoleon-Literatur leitmotivisch. Dabei wird Napoleon immer mehr zum Argument in der zivilisationskritischen Beweisführung, dass es in einer entzauberten Welt und technisierten Massengesellschaft doch noch auf das Individuum ankommt.

Man kann in der deutschen Literatur eine Entwicklung kultureller Deutungsmuster über die Epochenschwelle von 1848 hinaus nachzeichnen, die Napoleon nicht mehr als Nationalfeind der Befreiungskriege darstellen, sondern sukzessive identifikatorisch auf Deutschland beziehen. Diese nationale Identifikation wird durch einen Dichter-Mythos vorbereitet. Die Dichter begreifen Napoleon bereits nach 1821 als schöpferisches Genie und vergleichen seine Tätigkeit mit der eines Künstlers, der alte Regeln zerbricht und sich neue autonom nach Bedarf setzt. Damit ist Napoleon nicht mehr der feindliche Eroberer und die fremde unbegriffene Macht, sondern er wird metaphorisch Teil der eigenen Welt. Gleichermaßen bedeutet dies eine (frühe) Politisierung des Genie-Gedankens und eine Ästhetisierung Napoleons. Als Genie der Dichter lebt Napoleon, vermittelt über die Literatur, im kulturellen Gedächtnis der Deutschen zwischen 1848 und 1870 fort, in einer Zeit, in der die deutsche Geschichtswissenschaft und die Politik eher napoleonkritisch eingestellt sind.

Nach 1890 hingegen wird der Napoleon-Mythos schließlich über die Literatur hinaus mehr und mehr national identifikatorisch auf Deutschland bezogen. Die historische Person Napoleons wird mit der deutschen Nation rhetorisch verglichen, indem Deutschland als personifiziertes Subjekt der Geschichte verstanden wird, dem ein napoleonischer Charakter und Willen zugesprochen wird. Die antienglische Stimmung im wilhelminischen Deutschland trägt zu solchen Vergleichen bei. Bei den 100-Jahr-Feiern der Befreiungskriege wird Napoleon auffällig als symbolischer Gegner ausgespart und gleichzeitig in eine nationale Mythologie der Deutschen eingebunden, so dass sich ein wackerer Bismarck-Verehrer und Napoleon-Gegner empört:

Diese Verherrlichung Napoleons ist […] ein seit Jahren immer mehr sich verbreitender Unfug. In den Schaufenstern trifft man ständig Büsten, Bilder und Bücher, die für Napoleon begeistern, und so mancher Deutscher hat über seinem Schreibtisch statt eines Bildes des Schmiedes der deutschen Einheit oder des Kaisers ein Napoleonbildnis hängen und ist stolz darauf.6

Dieses Echauffement verdeutlicht, wie die Erinnerung an Napoleon zusehends einen Platz einnimmt, der traditionellerweise in einer historischen Mythologie des zweiten deutschen Reichs eigentlich preußisch-deutschen Figuren zugedacht ist. Auch der Erste Weltkrieg ändert nichts an der napoleonischen Konjunktur, im Gegenteil: Die Deutschen vergleichen sich explizit mit Napoleon im Kampf gegen England und den Rest der Welt, und analogisieren nach 1918 das postrevolutionäre Deutschland mit Frankreich 1799, das auf einen Retter aus der demokratischen Krise wartet. Der identifikatorische Napoleon-Mythos grassiert in den 1920er Jahren derart intensiv in Deutschland, dass 1926 die – heute erstaunlich anmutende – Aussage von der „Wesensgleiche zwischen Napoleon und den Deutschen“ gemacht werden konnte und die Satire sich bereits mit „Napoleon I. als Nationalhelden der Deutschen“ auseinandersetzte.7

PROMETHEUS ODER HÖLLENSOHN?

Nur eine kurze Spanne über galt Napoleon den Deutschen in der Zeit der Befreiungskriege als Nationalfeind. Aber schon bevor die Publizistik der Befreiungskriege Napoleon zum Antichristen dämonisierte, hatten die deutschen Schriftsteller den General der Italienfeldzüge zum Halbgott verklärt. Die Verteufelungen Napoleons zum „Höllensohn“ reagierten bereits auf deutsche Divinisierungen Napoleons seit 1797. Die deutsche Literatur über Napoleon zu dessen Lebzeiten versucht, Napoleon zu vergleichen, in mythischen oder historischen Rollen zu stilisieren. Die von Napoleon begeisterten Schriftsteller schwärmten etwa von dem neuen Prometheus. Sie stellten Napoleon in eine militärische Reihe mit Alexander dem Großen, Hannibal, Caesar und Karl dem Großen. Solche affirmativen Mythisierungen wurden von Napoleon selbst lanciert. Vergleiche mit Hannibal oder Karl dem Großen förderte Napoleon in einer systematischen Öffentlichkeitsarbeit und Kunstpolitik. Während er politisch konsequent europäische Traditionen aushebelte, stellte er sich gleichzeitig ikonographisch in abendländische Zusammenhänge.

Die Gegner Napoleons suchten ebenfalls nach Vergleichsgrößen, die sie entweder in historischen, außereuropäischen, nicht-christlichen Gewaltherrschern fanden wie Attila, Tamerlan, Dschingis Khan oder Süleiman II., oder sie dichteten Napoleon in religiösen Mustern zum Gegner Gottes, sei es zum alttestamentarischen Pharao, der das auserwählte Volk knechtet, sei es zum apokalyptischen Drachen. In diesen Mythisierungen lassen sich antagonistische Reflexe beobachten. Dem orientalischen Despoten steht der europäische Friedensherrscher gegenüber, dem alttestamentarischen Brudermörder Kain der antike Halbgott Prometheus. Zur Zeit der Befreiungskriege reichte die Spanne der christlichen Mythisierungen für Napoleon in Deutschland vom Heiland bis zum „Höllensohn“. Chateaubriand beschrieb dieses mythologische Kaleidoskop, das sich zu Lebzeiten Napoleons zusammengesetzt und 1848 verfestigt hatte, folgendermaßen:

Bonaparte ist nicht mehr der wahre Bonaparte, er ist eine legendäre Gestalt, zusammengesetzt aus den Phantasien der Dichter, den Erinnerungen der Soldaten, und den Erzählungen des Volkes. Wie wir ihn heute sehen, ist er der Karl der Große und der Alexander der mittelalterlichen Epen. Dieser phantastische Held wird die reale Person bleiben, die anderen Porträts werden verschwinden.8

Soweit Chateaubriand. Hinter der Vielfalt der Deutungsangebote („Karl der Große und Alexander“) verschwand „die reale Person“ immer mehr. Chateaubriands Aussage illustriert die Inflation der Napoleon-Mythisierungen. In einer mythischen Bastelarbeit wurden Napoleon verschiedene Rollen angepasst, die nicht immer stimmig waren, aber als Bruchstücke der Geschichte eines Individuums Eingang fanden und aktualisiert wurden. Die „Phantasien der Dichter“ zielten darauf, die außergewöhnliche Gestalt Napoleons verständlicher zu machen. Dabei hatten diese vergleichenden Mythisierungen immer auch kompensatorischen und prophetischen Charakter. Das Überangebot an mythischen und historischen Vergleichsfiguren für Napoleon war ein Zeichen für die qualitative Unzulänglichkeit der einzelnen Analogien. Wenn beim einzelnen Vergleich die Unterschiede größer als die Ähnlichkeiten waren, wurde dies oft durch ganze Vergleichskataloge quantitativ ausgeglichen. Sie sollten den Zeitgenossen Unerklärliches erklären.

Die Mythisierungen boten Deutungen an und verbanden Unbekanntes mit Bekanntem. Dieses Dichten in Mustern bot die Möglichkeit, eine Geschichte in der Vergangenheit oder im Mythos zu Ende erzählen zu können, von der man vor 1821 nicht wusste, wie sie sich in der Gegenwart weiter entwickeln würde. Die Mythisierungen fungierten als kompensatorische Prophetien. Im mythologischen Vergleich sollte entschlüsselt werden, was in der Realität verschlossen blieb. Dass solche Muster aber nie ganz der historischen Realität entsprachen, wird in einigen Texten besonders deutlich, welche die Unzulänglichkeit dieser Muster selbst reflektieren, etwa in einem Gedichtentwurf von Hölderlin.

Friedrich Hölderlin betrachtete 1797/98 in seinem Entwurf Buonaparte nicht so sehr den Revolutionsgeneral selbst, sondern seine historische Person als poetisches Problem. Das Verhältnis von Dichtung und Geschichte wird am Beispiel Bonapartes reflektiert:

Buonaparte

Heilige Gefäße sind die Dichter,

Worin des Lebens Wein, der Geist

Der Helden, sich aufbewahrt,

Aber der Geist dieses Jünglings,

5

Der schnelle, müßt er es nicht zersprengen,

Wo es ihn fassen wollte, das Gefäß?

Der Dichter laß ihn unberührt wie den Geist der Natur,

An solchem Stoffe wird zum Knaben der Meister.

Er kann im Gedichte nicht leben und bleiben,

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Er lebt und bleibt in der Welt.9

Bonaparte wird im gesamten Gedicht nicht beim Namen genannt. Allein der Titel gibt Aufschluss über die Identität des als „Jüngling“ bezeichneten Helden des Gedichts. Das Lebensalter wird zum Charakteristikum des bedichteten Bonaparte. Aufgabe der Dichtung sei es, Heldentaten („des Lebens Wein, den Geist Der Helden“) ästhetisch festzuhalten, das Leben lyrisch auf Dauer zu stellen und der Nachwelt zu überliefern. Diese Kompetenz der Dichter sakralisiert sie zu „heilige[n] Gefäße[n]“ (V. 1). Ganz im antiken Sinn wird den Dichtern die Aufgabe des Rühmens zugedacht. Damit beschreibt die erste Strophe eine allgemeine Zuständigkeit der Poesie. Aber die zweite Strophe, die vom Allgemeinen zum Besonderen und vom Plural in den bestimmten Singular wechselt, macht deutlich, dass für den konkreten Fall „dieses Jünglings“ (V. 4), nämlich Bonaparte, die allgemeinen Regeln nicht gelten. Die doppelte Metapher der ersten Strophe von den Dichtern als „Gefäßen“ für den „Wein“ heroischen Geistes wird fragend fortgeführt. Nachgestellt wird Bonapartes Geist als „Der schnelle“ (V. 5) charakterisiert, der das poetische „Gefäß“ „zersprengen“ würde: Bonapartes Lebensintensität übersteigt somit poetisches Fassungsvermögen. Die Charakterisierung Bonapartes als „schnell“ mag ihren historischen Rückhalt in dem so rapide geführten Italienfeldzug haben. Aus dieser Geschwindigkeit resultiert eine Kraft, die sich poetisch nicht mehr fassen lässt.

Die beiden abschließenden Strophen ziehen die Konsequenz aus dem Problem und erlassen die poetologische Direktive, Bonaparte als Thema zu meiden. Bonaparte wird aus dem Bereich der Geschichte katapultiert und in den der Naturgewalt transformiert. Er ist nicht mit historischen Kategorien zu messen, sondern er gleicht dem „Geist der Natur“ (V. 7). Für ihn gelten nicht die Regeln historischer Dichtung. Hölderlin enthistorisiert die Gestalt Bonapartes und entrückt ihn in den Bereich der Natur über menschliche Sphären hinaus beinahe ins Göttliche hinein; Bonaparte wird so zum Numinosum. Die letzte Strophe stellt noch einmal in einer Quintessenz Leben und Poesie gegeneinander. Das Gedicht trennt chiastisch die Welt und die Kunst als gegensätzliche Sphären, von denen nur die Welt für Bonaparte gedacht ist. Hölderlin schrieb so ein Gedicht über das Problem, dass man auf Bonaparte keine Gedichte schreiben kann. Damit widerlegte er sich performativ einerseits selbst und gab andererseits schon in der verknappten Entwurfs-Form Hinweise darauf, dass er diesen Unsagbarkeitstopos durchaus ernst nahm. Hölderlins Gedicht-Entwurf demonstriert nicht nur die Unzulänglichkeit bestimmter literarischer Muster für Bonaparte, sondern steigert das Problem ins Generelle: Schlechterdings kein literarisches Muster mag Hölderlin für Bonaparte hinreichend erscheinen.

DER KAISER

Begeisterte man sich in Deutschland für den Revolutionsgeneral Bonaparte, so stand man dem Konsul auf Lebenszeit schon sehr viel skeptischer gegenüber. Die Kaiserkrönung 1804 schließlich löste europaweit intellektuelle Wutausbrüche aus. Beethoven, nachdem er von der Kaiserkrönung erfahren hatte, soll zornig das Titelblatt der Partitur seiner Eroica zerrissen und damit die ursprüngliche Widmung an Napoleon getilgt haben. Mit der Gründung des Rheinbundes gewann die Gegenwärtigkeit napoleonischen Machtstrebens für die Deutschen eine neue Dimension. Napoleon wurde nun nicht mehr nur unter politischen, sondern mehr und mehr auch unter nationalen Parametern wahrgenommen. Aus dem kritisch beäugten Revolutionsbändiger wurde allmählich ein Nationalfeind konzipiert. Das lässt sich gut in den Schriften von Ernst Moritz Arndt und Joseph Görres nachvollziehen, die keineswegs von Anfang an napoleonfeindlich gesonnen waren.

In den Befreiungskriegen schließlich fühlten sich Johann Gottlieb Fichte und Heinrich von Kleist bemüßigt, schriftstellerisch gegen Napoleon tätig zu werden. Auch E. T. A. Hoffmann schrieb eine antinapoleonische Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden. In der zahlreichen Lyrik der Befreiungskriege wird vor allem eine religiöse Bildsprache gewählt. Nationalismus und religiöses Sprechen vermischen sich hier. Nicht nur die Apokalypse war ein wichtiger Bildspender für die antinapoleonische Literatur der Befreiungskriege, auch das Alte Testament wurde metaphorisch beliehen. Der strafende und rächende Kriegsgott des Alten Testaments sollte einen wirksamen Rückhalt im Kampf gegen Napoleon bieten. Als Herr der Heerscharen sollte Gott im Befreiungskrieg wie im Alten Testament dem Heer als Führer voranziehen, in die Schlacht eingreifen, sein Volk schützen, schließlich siegen und Napoleon bestrafen. Die religiöse Bildsprache der Befreiungskriegslyrik wurde Mittel zum nationalen Zweck. Wie sehr dabei der Pietismus die patriotisch-politische Sprache beeinflusste, hat die Forschung hinlänglich untersucht. Der Kampf gegen Napoleon wurde rhetorisch zum nationalen Erweckungserlebnis überformt mit Gelöbnisformeln und appellativ-pathetischem Ausdruck. Die Poesie der Befreiungskriege bemühte sich, aus den Trümmern des Heiligen Römischen Reiches eine Nation zu erdichten, in der jenseits politisch realer Grenzen Des Deutschen Vaterland kulturnational dort ausgemacht wurde, wo „die Deutsche Zunge klingt“. Dass das eine Projektion einer bildungsbürgerlichen Minderheit war und es mithin falsch ist, von einer allgemeinen „nationalen Erhebung“ 1813 zu sprechen, hat die neuere Nationalismus-Forschung betont. Es scheint vielmehr sinnvoll, von einer poetischen Antizipation der Nation in der Befreiungskriegslyrik auszugehen, die sich vor allem in der Ausrichtung gegen Napoleon als Feind profilierte. Das konnte dann zu regelrechten Schimpfkanonaden führen wie die von Johann Friedrich Schink. Dessen Dem Korsen gewidmete Schand- und Schimpfode erschöpfte sich in einer wilden Rüpelei.

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Napoleon Bonaparte am 20. Mai 1800 „die Alpen überschreitend“; Gemälde von Jacques-Louis David, Versailles, Musée du Château

Abschaum der Menschheit, der mit Schwert und Feuer

Die Welt durchzog, verbreitend Ach und Weh!

Brandmark der Zeiten, Wütrich, Ungeheuer,

Wie keines war, keins ist, keins sein wird je!

Blutsauger, Völkergeißel, Weltzertreter,

Pest, Räuberhauptmann, Henker und Bandit,

Du menschgewordner Satan, Missetäter,

Wie selbst der Abgrund keinen sah und sieht!10

DER ENTRÜCKTE

Zwischen 1815 und 1821 rückten die Schriftsteller aber erstaunlich schnell ab von solchen politischen Invektiven und verklärten zusehends den nach St. Helena Verbannten zum Märtyrer. St. Helena wurde zum romantischen Nebelreich ästhetisiert und gegen ein prosaisches Europa abgesetzt. Es muss betont werden, wie auch in Deutschland noch zu Lebzeiten Napoleons nach 1815 aus dem Nationalfeind alsbald wieder eine zu verehrende legendarische Gestalt wurde. Der Verbannung Napoleons folgte eine sukzessive Verklärung. Relativ rasch verschob sich die Haltung in der deutschen Literatur von der ängstlich-zornigen Befreiungskriegs-Abwehr in eine größere Gelassenheit, die Napoleons Schicksal in balladeskem Ton als historisch distanzierbare Geschichte erzählte. Die nationale Perspektive trat zurück, die Aggression verflüchtigte sich. Je weniger bedrohlich Napoleon erschien, desto weniger wurden auch übermenschliche Kräfte zu seiner Deutung und Bekämpfung beschworen.

Zur Gruppe dieser balladesk verklärenden Gedichte gehören auch Heinrich Heines berühmte Grenadiere, die nicht Napoleon selbst, sondern den volkstümlichen Bonapartismus in den Blick nehmen. Die Größe Napoleons spiegelt sich hier in der Größe der Verehrung, die er hervorruft. Das napoleonlose Europa wird als eine öde und sinnentleerte Welt konfrontiert mit der Vision von dem wiederkehrenden Kaiser. Die Entstehungszeit des Gedichts ist unsicher, Heine selbst erinnerte ex post das Jahr 1816; wahrscheinlicher ist 1819/20 als Entstehungszeit anzunehmen. Populär geworden vor allem auch durch die Vertonungen von Robert Schumann und Richard Wagner, schildert die volkstümliche Ballade die grenzenlose Napoleon-Verehrung zweier französischer Grenadiere, die aus russischer Kriegsgefangenschaft nach 1815 zurückkehren. In Deutschland erfahren sie, dass Napoleon gefangen genommen wurde. Innerhalb des Buchs der Lieder bilden Die Grenadiere ein Gegenstück zu der Romanze Belsatzar, die das Bild eines blasphemisch-tyrannischen Herrschers zeichnet, dem die Gefolgschaft aufgekündigt und der ermordet wird. Die Grenadiere variieren das Thema Herrschaft und Gefolgschaft in einen positiv-heldischen Entwurf – zur Treue der Grenadiere zu Napoleon über den Tod hinaus:

Die Grenadiere

Nach Frankreich zogen zwei Grenadier’,

Die waren in Rußland gefangen.

Und als sie kamen in’s deutsche Quartier,

Sie ließen die Köpfe hangen.

5

Da hörten sie beide die traurige Mähr:

Dass Frankreich verloren gegangen,

Besiegt und zerschlagen das große Heer, –

Und der Kaiser, der Kaiser gefangen.

Da weinten zusammen die Grenadier’

10

Wohl ob der kläglichen Kunde.

Der Eine sprach: Wie weh wird mir,

Wie brennt meine alte Wunde.

Der Andre sprach: Das Lied ist aus,

Auch ich möcht’ mit dir sterben,

15

Doch hab’ ich Weib und Kind zu Haus,

Die ohne mich verderben.

Was scheert mich Weib, was scheert mich Kind,

Ich trage weit bess’res Verlangen;

Laß sie betteln gehn, wenn sie hungrig sind, –

20

Mein Kaiser, mein Kaiser gefangen!

Gewähr’ mir Bruder eine Bitt’:

Wenn ich jetzt sterben werde,

So nimm meine Leiche nach Frankreich mit,

Begrab’ mich in Frankreichs Erde.

25

Das Ehrenkreuz am rothen Band

Sollst du aufs Herz mir legen;

Die Flinte gieb mir in die Hand,

Und gürt’ mir um den Degen.

So will ich liegen und horchen still,

30

Wie eine Schildwach, im Grabe,

Bis einst ich höre Kanonengebrüll,

Und wiehernder Rosse Getrabe.

Dann reitet mein Kaiser wohl über mein Grab,

Viel Schwerter klirren und blitzen;

35

Dann steig’ ich gewaffnet hervor aus dem Grab’,

Den Kaiser, den Kaiser zu schützen.11

Die neun Strophen à vier Verse mit wechselnd männlichem und weiblichem Kreuzreim inszenieren mit ihrer aufgelockert-einfachen jambisch-daktylischen Form den Stil einer Volksballade. Das Versende fällt zumeist mit dem Abschluss einer syntaktischen Einheit zusammen, Enjambements sind die Ausnahme. Der einfache Satzbau unterstützt den volkstümlich balladesken Eindruck. Direkte Rede, durch einfache Inquit-Formeln („der Eine sprach“ „Der Andre sprach“) eingeleitet, dominiert das Gedicht (Strophen 3–9). Von einem erzählerischen Anfang (Strophe 1–3) ausgehend, wechselt die Ballade in einen Dialog (Strophe 3–4), um in einem Monolog des einen Grenadiers zu münden (Strophe 4–9), der aus der Realität ins Visionäre zielt (Strophe 7–9). Die beiden Grenadiere bleiben anonym, werden zu „der Eine“ (V. 11) und „der Andre“ (V. 13) verallgemeinert.

Inversionen und Archaismen wie „traurige Mähr“ (V. 5) und „kläglichen Kunde“ (V. 10) intensivieren den Charakter künstlich rekonstruierter Einfachheit. Altertümliche Verbformen wie „hangen“ (V. 4) und antiquiert anmutende Konstruktionen wie „wohl ob der kläglichen Kunde“ (V. 10) erzeugen die Illusion einer früheren Sprachstufe. Dazu trägt ebenfalls die dreifache Wiederholung von „der Kaiser, der Kaiser“ (V. 8, 20, 36) bei, die jeweils am Strophenende den Refrain einer Volksballade imitiert. Mit all diesen Mitteln rückt Heine einen für ihn aktuellen politischen Stoff in eine künstlich aufgebaute Ferne. Der moderne Napoleon-Stoff wird archaisiert und in eine vormodern anmutende Form eingepasst. So verdeutlicht Heine auch die Unzeitgemäßheit Napoleons selbst. Dem Anachronismus der Form entspricht der Anachronismus des Inhalts, in dem noch einmal in modernen Zeiten vormoderner Heldenmut und absolute Selbstaufgabe von fast homerischen Ausmaßen bedichtet werden.

Der zweite Grenadier steigert dabei die Selbstaufgabe zu einer Preisgabe seiner familiären Bindungen: „Was scheert mich Weib, was scheert mich Kind | Ich trage weit bess’res Verlangen; | Laß sie betteln gehen, wenn sie hungrig sind“ (V. 17–19). Während dem ersten Grenadier „Weib und Kind zu Haus“ (V. 15) Verpflichtung zum Weiterleben bedeuten, nivelliert die Not Napoleons für den zweiten Grenadier jegliche familiäre soziale Verantwortung, was sich auch syntaktisch darin verdeutlicht, dass „Weib und Kind“ (V. 15) nicht mehr wie beim ersten Grenadier syndetisch verbunden als familiäre Einheit begriffen, sondern syntaktisch zerrissen werden in zwei unabhängige Elemente: „Was scheert mich Weib, was scheert mich Kind“ (V. 17). Der intime Zusammenhalt der bürgerlichen Familie, wie er etwa im Bürgerlichen Trauerspiel als Utopie und Gegenwelt zum höfischen Absolutismus beschworen wurde, wird hier unterlaufen und in Frage gestellt. Heines Grenadier suspendiert in seiner grenzenlosen Napoleon-Verehrung die Grundregeln der bürgerlichen Gesellschaft und katapultiert sich in heroischere, vorbürgerliche Zeiten.