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Marion Zimmer Bradley – Der “Darkover”-Romanzyklus bei EdeleBooks:

ISBN 978-3-95530-591-8 Die Landung
ISBN 978-3-95530-598-7 Herrin der Stürme
ISBN 978-3-95530-597-0 Herrin der Falken
ISBN 978-3-95530-609-0 Der Untergang von Neskaya
ISBN 978-3-95530-608-3 Zandrus Schmiede
ISBN 978-3-95530-607-6 Die Flamme von Hali
ISBN 978-3-95530-594-9 Die Zeit der hundert Königreiche
ISBN 978-3-95530-592-5 Die Erben von Hammerfell
ISBN 978-3-95530-593-2 Die zerbrochene Kette
ISBN 978-3-95530-603-8 Gildenhaus Thendara
ISBN 978-3-95530-595-6 Die schwarze Schwesternschaft
ISBN 978-3-95530-596-3 An den Feuern von Hastur
ISBN 978-3-95530-588-8 Das Zauberschwert
ISBN 978-3-95530-599-4 Der verbotene Turm
ISBN 978-3-95530-589-5 Die Kräfte der Comyn
ISBN 978-3-95530-586-4 Die Winde von Darkover
ISBN 978-3-95530-601-4 Die blutige Sonne
ISBN 978-3-95530-602-1 Hasturs Erbe
ISBN 978-3-95530-585-7 Retter des Planeten
ISBN 978-3-95530-587-1 Das Schwert des Aldones
ISBN 978-3-95530-600-7 Sharras Exil
ISBN 978-3-95530-590-1 Die Weltenzerstörer
ISBN 978-3-95530-604-5 Asharas Rückkehr
ISBN 978-3-95530-606-9 Die Schattenmatrix
ISBN 978-3-95530-605-2 Der Sohn des Verräters

Marion Zimmer Bradley 


Der verbotene Turm

Ein Darkover Roman


Ins Deutsche übertragen von Rosemarie Hundertmarck


Edel eBooks

Epilog

Du bist ein Narr, Damon«, sagte Lorenz, Lord von Serrais, angewidert. »Du bist immer ein Narr gewesen und wirst immer einer bleiben! Du hättest Regent von Alton sein und den Befehl über die Garde lange genug ausüben können, um das Recht der Altons auf dies Amt der Domäne von Serrais zu übertragen!«

Damon lachte gutmütig. »Aber ich will nicht Kommandant der Garde sein, und das ist ja auch gar nicht mehr nötig. Dom Esteban wird wahrscheinlich am Leben bleiben, bis Valdir zum Mann herangewachsen ist, und vielleicht noch länger.«

Lorenz sah ihn misstrauisch und argwöhnisch an. »Wie hast du das geschafft? Wir hatten gehört, er stehe an der Schwelle des Todes!«

»Eine Übertreibung.« Damon zuckte die Schultern. Das war jetzt zu seinem Lebenswerk geworden, das Studium der Möglichkeiten, mit Matrix und Überwachung zu heilen.

Als das Prinzip einmal entdeckt war, hatte es keine Schwierigkeiten mehr gemacht, in das beschädigte Herz einzudringen, die Blockierung zu beseitigen und die volle Funktion wiederherzustellen. Esteban Lanart, Lord Alton, würde für den Rest seines Lebens gelähmt bleiben, aber ein Mann konnte die Garde auch von einem Rollstuhl aus befehligen. Wenn es nötig war, konnte der junge Danvan Hastur oder Kieran Ridenow ihn vertreten. Damon war nur dem Namen nach Regent der Domäne, als Rückversicherung gegen ein Missgeschick oder einen Unfall. Weder bei den Altons noch bei den Ridenows war die Vorausschau die Hauptbegabung, aber gerade jetzt erhaschte Damon einen Blick auf die Zukunft. Valdir würde als erwachsener Mann Herr von Alton werden und dazu einer der Neuerungen aufgeschlossensten Altons, die je die Domäne regiert hatten.

Angeekelt fragte Lorenz: »Hast du überhaupt keinen Ehrgeiz, Damon?«

»Mehr, als du dir vorstellen kannst«, antwortete Damon, »aber mein Ehrgeiz ist ganz anders geartet als deiner, Lorenz. Und jetzt fürchte ich, wir müssen uns verabschieden, denn wir haben noch einen langen Ritt vor uns. Wir kehren nach Armida zurück. Ellemirs Sohn ist der zweite Erbe der Domäne, und er muss dort geboren werden.«

Lorenz verbeugte sich ohne besondere Anmut. Er ignorierte Andrew, der gleich hinter Damon ritt, aber er grüßte Ellemir höflich und Callista mit etwas wie echtem Respekt. Damon drehte sich um und umarmte seinen Bruder Kieran.

»Wirst du uns im Herbst, wenn du nach Serrais zurückkehrst, in Armida besuchen?«

»Das werde ich«, versprach Kieran, »und ich hoffe, dann Ellemirs Sohn zu sehen. Wer weiß, vielleicht kommandiert er eines Tages die Garde!« Er ließ die Gardisten, die Damon und seine Gesellschaft auf dem Rückweg begleiten sollten, an sich vorbeireiten. Damon wollte schon den Übrigen das Zeichen zum Aufbruch geben, als er eine schlanke Frau die Treppe herunterschreiten sah, die vor dem Hof der Comyn-Burg lag. Wie es für eine Comynara vor so vielen Männern schicklich war, hatte sie sich mit einem Kapuzenmantel verhüllt. Der Instinkt sagte ihm, wer sie war. Oder lag es daran, dass Leonie von Arilinn sich hinter nichts mehr vor ihm verstecken konnte?

So stieg er noch nicht in den Sattel, gab aber seinem Reitknecht ein Zeichen, das Pferd bereitzuhalten. Er ging der Frau entgegen.

Am Fuß der Treppe trafen sie zusammen.

»Leonie.« Er beugte sich über ihre Hand.

»Ich bin gekommen, um Lebewohl zu sagen und Callista meinen Segen zu geben«, sagte sie ruhig.

Andrew verbeugte sich tief, als Damon sie an ihm vorbei zu Callista führte, die gerade ihre graue Stute besteigen wollte. Leonie hob den Kopf, und Andrew hatte den Eindruck, aus den Augen der alten Frau brenne ihm wie aus den Höhlen eines Totenkopfes Groll entgegen. Aber sie neigte höflich den Kopf und sagte: »Das Glück möge Euch begleiten.« Dann streckte sie die Hände aus, und Callista berührte ihre Fingerspitzen in der federleichten Geste von Telepathin zu Telepathin.

Leonie sagte leise: »Nimm meinen Segen, Kind. Du weißt jetzt, wie ehrlich ich das meine und wie viel Glück ich dir wünsche.«

»Ich weiß«, flüsterte Callista. Aller Groll war verschwunden. Was Leonie ihr angetan hatte, war schwer zu ertragen gewesen, aber es hatte diesen stärkeren Durchbruch möglich gemacht, hatte ihr die höchste mögliche Erfüllung geschenkt. Sie und Andrew hätten ohne Kämpfe Zusammenkommen und glücklich miteinander leben können. Aber dann hätte sie ihr Laran für immer aufgegeben, wie man es von einer ehemaligen Bewahrerin erwartete. Jetzt wusste sie, dass dann ihr ganzes Leben nur noch halb gewesen wäre. Sie zog Leonies Fingerspitzen an ihre Lippen und küsste sie, ehrerbietig und mit tiefer Liebe.

Es war zu spät für Leonie, aber jetzt missgönnte sie Callista ihr Glück nicht mehr.

Leonie wandte sich Ellemir zu und machte das Zeichen des Segens. Ellemir neigte den Kopf und nahm den Gruß an, ohne ihn zu erwidern. Nun standen sich Leonie und Damon gegenüber. Wieder beugte er sich stumm über ihre Hand, ohne die Augen zu ihr zu erheben. Es war alles gesagt worden; zwischen ihnen gab es nichts mehr zu sagen oder zu tun. Er wusste, sie würden sich niemals wieder sehen. Eine ungeheure, nicht zu überbrückende Entfernung lag zwischen Arilinn und dem verbotenen Turm, und so musste es bleiben. Damons Arbeit würde eine ganz neue Matrix-Wissenschaft ins Leben rufen, und die jungen Matrix-Mechaniker würden den Türmen ihre schreckliche Bürde abnehmen. Noch einmal machte Leonie das Zeichen des Segens und wandte sich ab.

Stumm bestieg Damon sein Pferd, und sie ritten durch die Tore. Andrew hatte sich mit Callista an die Spitze des Zuges gesetzt. Dann kamen die Diener, Gefolgsleute und Bannerträger. Den Schluss machte Damon mit Ellemir an seiner Seite. Ihm war, als müsse sein Herz brechen. Er hatte sich ein Glück erobert, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Aber sein Glück war auf den Opfern Leonies und anderer wie ihr aufgebaut, die das Wissen am Leben erhalten hatten. Cassilda, Mutter der Domänen, betete er, gib, dass wir das nie vergessen und ihrer immer in Ehrfurcht gedenken ...

Er ritt mit gesenktem Kopf und trauerte, bis er Ellemirs besorgten Blick auf sich ruhen fühlte und erkannte, dass er sich seinem Gram nicht hingeben durfte.

Sein ganzes Leben lang würde er sich voll Kummer erinnern, aber das musste ein privater Kummer bleiben, beinahe ein geheimer Luxus. Jetzt musste er sein Gesicht entschlossen der Zukunft zuwenden.

Es gab Arbeit zu tun. Für die Türme mochte sie zu trivial sein, und doch war sie wichtig: Arbeit wie die Reparatur von Dom Estebans Herzen, wie die Rettung der Hände und Füße bei den Männern mit den Erfrierungen. Und noch wichtiger war es, festzustellen, wo die äußersten Grenzen der Möglichkeit einer Matrix-Schulung lagen. Callista hatte Ferrika bereits wie versprochen im Überwachen unterrichtet. Ferrika war eine gute Schülerin und würde mehr lernen. Und in den kommenden Jahren würde es andere geben.

Ellemir verlagerte ihr Gewicht im Sattel, und Damon sagte besorgt: »Du darfst dich nicht übermüden, mein Liebes. Ob du jetzt wirklich noch reiten solltest?«

Ellemir lachte fröhlich. »Ferrika steht schon auf dem Sprung, mich in die Pferdesänfte zu befehlen, aber im Augenblick möchte ich durch den Sonnenschein reiten.«

Zusammen ritten sie nach vom, vorbei an den Dienern und Packtieren, bis zu Callista und Andrew.

Als sie im Pass ankamen, warf Andrew einen letzten flüchtigen Blick auf den terranischen Raumhafen. Vielleicht sah er ihn nie wieder, aber bestimmt würden die Terraner während seines ganzen Lebens dableiben. Möglich, dass Valdir eine neue Haltung gegenüber den Terranern entwickelte, weil er Andrew gut kannte – nicht als fremdes Wesen, sondern als einen Menschen wie sie alle, als Gatten seiner Schwester.

Aber all das lag in der Zukunft. Er sah nicht mehr zurück. Seine Welt lag jetzt anderswo.

Sie ritten von dem Pass hinunter, und der Raumhafen war verschwunden. Doch Callista hörte das Donnern eines der großen Schiffe und zitterte ein bisschen. Sie musste dabei zu sehr an die Veränderungen denken, die über Darkover gekommen waren und noch kommen würden, ob sie davon erfuhr oder nicht. Aber sie sagte sich, wenn sie die Veränderungen hatte ertragen können, die das letzte Jahr mit sich gebracht hatte, dann sollte sie auch getrost dem entgegenblicken, was die Zukunft bringen würde. Auch sie hatte an Damons Seite Arbeit zu tun, und außerdem musste sie an ihr ungeborenes Kind denken.

Auch sie betritt eine Welt, die sie nicht will, ebenso wie ich ...

Aber die Zukunft blieb ihren Kindern überlassen. Sie konnte sich nur bemühen, sie darauf vorzubereiten und ihnen eine bessere Welt zu hinterlassen. Sie hatte bereits damit begonnen. Callista fasste nach Andrews Hand und war glücklich, dass sie ihre Hand in seiner ruhen lassen konnte, ohne den Wunsch zu verspüren, sie wegzuziehen. Als Damon und Ellemir sich ihnen anschlossen, lächelte sie. Was an Veränderungen auch kommen mochte, sie würden sich ihnen gemeinsam stellen.

Ein Darkover-Roman

»Weit entfernt in der Galaxis
und ungefähr 4000 Jahre in der Zukunft
gibt es einen Planeten
mit einer großen roten Sonne
und vier Monden.
Willst Du nicht mitkommen
und ihn mit mir erforschen?«

Marion Zimmer Bradley

1

Damon Ridenow ritt durch ein gereinigtes Land.
Den größten Teil des Jahres über hatte die große Hochebene der Kilghardberge unter dem bösen Einfluss der Katzenwesen gelegen. Ernten verdorrten auf den Feldern unter der unnatürlichen Dunkelheit, die das Licht der Sonne auslöschte. Die armen Leute der Gegend verkrochen sich in ihren Hütten, denn sie hatten Angst, sich in das verheerte Land hinauszuwagen.

Aber jetzt arbeiteten wieder Männer im Licht der großen roten Sonne von Darkover, brachten die Ernte ein und sorgten für den kommenden Winter vor. Es war ein früher Herbst, und das Korn war zum größten Teil schon eingefahren.

Die Große Katze war in den Höhlen von Corresanti erschlagen worden, und der riesige illegale Matrix-Stein, den sie gefunden und zu so fürchterlichem Zweck gebraucht hatte, war mit ihr vernichtet worden. Was an Katzenwesen übrig blieb, floh in die fernen Regenwälder jenseits der Berge oder fiel unter den Schwertern der Krieger, die Damon gegen sie geführt hatte.

Das Land war wieder rein und frei von Schrecken, und Damon, der die meisten seiner Leute nach Hause entlassen hatte, ritt ebenfalls heimwärts. Nicht zu dem von seinen Vorvätern vererbten Besitz in Serrais. Damon war ein unwichtiger jüngerer Sohn und hatte Serrais nie als seine Heimat betrachtet. Er ritt jetzt nach Armida und zu seiner Hochzeit.

Er hielt abseits des Weges und sah zu, wie sich die letzten Männer entsprechend ihren Zielen in Gruppen zusammenfanden. Da waren Gardisten, die nach Thendara wollten, in ihren grünen und schwarzen Uniformen, da waren ein paar Männer von den Domänen Ardais und Hastur, deren Weg nordwärts in die Hellers führte, und ein paar ritten nach Süden zu den Ebenen von Valeron.

»Ihr solltet zu den Männern sprechen, Lord Damon«, sagte ein kleiner, knorrig aussehender Mann neben ihm.

»Ich bin nicht sehr gut darin, Ansprachen zu halten.« Damon war ein schmaler, schlanker Mann mit einem Gelehrtengesicht. Bis zu diesem Feldzug hatte er sich nie für einen Soldaten gehalten, und er wunderte sich immer noch, dass er diese Männer erfolgreich gegen die letzten Reste der Katzenwesen geführt hatte.

»Sie erwarten es, Lord«, drängte Eduin. Damon seufzte. Er wusste, der andere hatte Recht. Damon war ein Comyn von den Domänen – kein Lord einer Domäne, nicht einmal ein Comyn-Erbe, aber immerhin ein Comyn. Er gehörte der alten telepathischen, mit Psi-Talenten ausgestatteten Rasse an, die die Sieben Domänen seit unbekannten Zeiten regierte. Die Tage waren vorbei, als man die Comyn wie lebende Götter behandelt hatte, aber Respekt, der beinahe schon Ehrfurcht war, gab es immer noch. Und Damon war dazu erzogen worden, die Verantwortung eines Comyn-Sohnes zu übernehmen. Seufzend lenkte er sein Pferd an eine Stelle, wo die wartenden Männer ihn sehen konnten.

»Unsere Arbeit ist getan. Dank euch Männern, die ihr meinem Ruf gefolgt seid, herrscht Frieden in den Kilghardbergen und in der Heimat eines jeden von uns. Mir bleibt nur noch, euch meinen Dank und mein Lebewohl zu entbieten.«

Der junge Offizier, der die Gardisten von Thendara gebracht hatte, kam zu Damon, als die anderen Männer davonritten. »Wird Lord Alton mit uns nach Thendara reiten? Sollen wir auf ihn warten?«

»Ihr würdet lange warten müssen«, antwortete Damon. »Er wurde in der ersten Schlacht mit den Katzenwesen verwundet. Es war eine kleine Wunde, aber das Rückgrat wurde unheilbar verletzt. Er ist vom Gürtel abwärts gelähmt. Ich denke, er wird niemals mehr irgendwohin reiten.«

Der junge Offizier blickte bestürzt drein. »Wer wird die Gardisten jetzt befehligen, Lord Damon?«

Es war eine nahe liegende Frage. Generationenlang hatte der Befehl über die Gardisten in den Händen der Altons gelegen: Esteban Lanart von Armida, Lord Alton, hatte sie viele Jahre lang kommandiert. Aber Dom Estebans ältester überlebender Sohn Lord Domenic war ein Jüngling von siebzehn. Obwohl ein Mann nach den Gesetzen der Domänen, besaß er für den Posten des Befehlshabers weder das Alter noch die Autorität. Der andere noch vorhandene Alton-Sohn, der junge Valdir, war ein Junge von elf, ein Novize im Nevarsin-Kloster, und wurde von den Brüdern von Sankt-Valentin-im-Schnee unterrichtet.

Wer würde dann die Garde kommandieren? Es war eine brennende Frage, dachte Damon, aber er kannte die Antwort nicht. Das sagte er auch, und er fügte hinzu: »Der Rat der Comyn wird es im nächsten Sommer entscheiden müssen, wenn er in Thendara zusammenkommt.« Auf Darkover hatte nie ein Krieg im Winter stattgefunden, und es würde nie einen geben. Im Winter gab es einen grimmigeren Feind, die grausame Kälte, die Schneestürme, die von den Hellers herab über die Domänen hinfegten. Keine Armee konnte im Winter gegen die Domänen ziehen. Selbst Räuber blieben dann zu Hause. Man konnte bis zum nächsten Ratstreffen auf die Ernennung eines neuen Befehlshabers warten. Damon ging auf ein anderes Thema über.

»Werdet Ihr Thendara vor dem Dunkelwerden erreichen?«

»Wenn sich unterwegs nichts Besonderes ereignet, ja.«

»Dann lasst mich Euch nicht länger aufhalten.« Damon verbeugte sich. »Ihr habt den Befehl über diese Männer, Verwandter.«

Der junge Offizier konnte ein Lächeln nicht verbergen. Er war sehr jung, und dies war sein erstes Kommando, wenn es auch nur für kurze Zeit galt. Versonnen beobachtete Damon den Jungen, als dieser seine Männer versammelte und mit ihnen davonritt. Das war der geborene Offizier, und da Dom Esteban invalide war, konnten fähige Offiziere mit Beförderungen rechnen.

Damon selbst hatte sich, auch wenn er diesen Feldzug angeführt hatte, nie als Soldat gesehen. Wie alle Comyn-Söhne hatte er im Kadettenkorps gedient und zum gegebenen Zeitpunkt sein Offizierspatent erhalten, aber seine Begabung und sein Ehrgeiz lagen auf völlig anderem Gebiet. Mit siebzehn war er als Telepath in den Arilinn-Turm zugelassen und in den alten Matrix-Wissenschaften von Darkover ausgebildet worden. Viele, viele Jahre lang hatte er dort gearbeitet, an Kraft und Geschicklichkeit gewonnen und den Rang eines Psi-Technikers erreicht.

Dann war er aus dem Turm weggeschickt worden. Es sei nicht seine Schuld, hatte seine Bewahrerin ihm versichert. Er sei nur zu empfindsam, und die Gesundheit seines Körpers und sogar seines Geistes könne durch die fürchterliche Anstrengung der Matrix-Arbeit zu Grunde gehen.

Innerlich rebellierend, aber gehorsam war Damon gegangen. Das Wort einer Bewahrerin war Gesetz: Man stellte es nicht in Frage, und man lehnte sich nicht dagegen auf. Damon sah sein Leben zerstört, seine Hoffnungen in Scherben liegen. Er hatte versucht, bei der Garde von neuem anzufangen, obwohl er kein Soldat war und das wusste. Eine Zeit lang war er Kadettenmeister gewesen, dann Lazarettoffizier, Versorgungsoffizier. Und bei diesem letzten Feldzug gegen die Katzenwesen hatte er gelernt, selbstbewusst aufzutreten. Aber er hatte nicht den Wunsch, den Befehl zu führen, und er war froh, dass er ihn nun niederlegen konnte.

Er sah den davonreitenden Männern nach, bis sich ihre Gestalten im Staub der Straße verloren. Jetzt nach Armida, nach Hause ...

»Lord Damon«, sagte Eduin neben ihm, »es sind Reiter auf der Straße.«

»Reisende? Zu dieser Jahreszeit?« Es schien unmöglich. Der Schnee des Winters war noch nicht gefallen, aber jeden Tag konnte der erste Wintersturm von den Hellers herabfegen und die Straßen tagelang blockieren. Es gab ein altes Sprichwort: Nur der Wahnsinnige oder der Verzweifelte reist im Winter. Damon strengte seine Augen an, um die fernen Reiter zu erkennen, aber er war seit seiner Kindheit ein wenig kurzsichtig und konnte nur verschwommene Flecken ausmachen.

»Eure Augen sind besser als meine. Was meint Ihr, Eduin, sind es bewaffnete Männer?«

»Ich glaube nicht, Lord Damon. Es reitet eine Dame mit ihnen.«

»Zu dieser Jahreszeit? Das kann man sich kaum vorstellen«, antwortete Damon. Was konnte eine Frau veranlassen, in die Unsicherheit des sich nähernden Winters hinauszuziehen?

»Es ist ein Hastur-Banner, Lord Damon. Aber Lord Hastur und seine Dame würden Thendara zu dieser Jahreszeit nicht verlassen. Wenn sie aus irgendeinem Grund nach Burg Hastur ritten, würden sie auch nicht diese Straße nehmen. Ich kann es nicht verstehen.«

Doch noch bevor er den Satz beendete, war Damon klar, welche Frau ihm mit der kleinen Eskorte von Gardisten und Begleitern entgegenritt. Nur eine Frau auf Darkover würde allein unter einem Hastur-Banner reiten, und nur eine Hastur hatte Grund, diesen Weg zu nehmen.

»Es ist die Lady von Arilinn«, erklärte er schließlich widerstrebend und sah die Verwunderung und Ehrfurcht in Eduins Gesicht.

Leonie Hastur. Leonie von Arilinn, Bewahrerin des Arilinn-Turms. Damon wusste, die Höflichkeit erforderte, dass er seiner Verwandten entgegenritt und sie willkommen hieß. Und doch blieb er wie erstarrt auf seinem Pferd sitzen und rang nach Selbstbeherrschung. Die vergangene Zeit schien ausgelöscht. In einer gefrorenen, zeitlosen, widerhallenden Kammer seines Geistes stand ein jüngerer Damon zitternd vor der Bewahrerin von Arilinn und beugte den Kopf unter den Worten, die sein Leben zerstörten:

»Es ist nicht so, dass du uns enttäuschst oder mein Missfallen erregt hättest. Aber du bist viel zu empfindsam für diese Arbeit, zu verletzlich. Wärst du als Mädchen geboren, könntest du Bewahrerin werden. Aber wie die Dinge liegen ... Ich habe dich jahrelang beobachtet. Diese Arbeit wird deine Gesundheit, deinen Verstand zerstören. Du musst uns verlassen, Damon, zu deinem eigenen Besten.«

Damon war ohne Widerspruch gegangen, denn er hatte ein Gefühl der Schuld. Er hatte Leonie geliebt, geliebt mit all der verzweifelten Leidenschaft eines einsamen Mannes, aber in Keuschheit, ohne ein Wort oder eine Berührung. Denn Leonie hatte wie alle Bewahrerinnen gelobt, Jungfrau zu bleiben. Kein Mann durfte sie mit einem sinnlichen Gedanken ansehen, kein Mann durfte sie je berühren. Hatte Leonie das irgendwie erkannt? Hatte sie gefürchtet, eines Tages werde er die Beherrschung verlieren und sich ihr – auch wenn es nur in Gedanken war – auf eine Weise nähern, die gegenüber einer Bewahrerin verboten war?

Damon war geflohen, vernichtet. Jetzt, Jahre später, schien ein Lebensalter zwischen dem jungen Damon, der in eine unfreundliche Welt hinausgestoßen wurde, um sich ein neues Leben aufzubauen, und dem heutigen Damon zu liegen, der volle Kontrolle über sich selbst hatte und Veteran dieses erfolgreichen Feldzugs war.

Die Erinnerung war noch lebendig in ihm – der Schmerz würde ihm bis zum Tod bleiben – aber Damon wappnete sich, als Leonie näher kam, mit dem Gedanken an Ellemir Lanart, die ihn in Armida erwartete.

Ich hätte sie heiraten sollen, bevor ich ins Feld zog. Er hatte es gewollt, aber Dom Esteban hielt eine so hastig geschlossene Ehe für unschicklich unter Adligen. Er wollte seine Tochter nicht in aller Eile ins Brautbett geleitet sehen, als sei sie eine schwangere Dienstmagd! Damon hatte dem Aufschub zugestimmt. Die Existenz Ellemirs, seiner versprochenen Braut, sollte jetzt auch die schmerzlichsten Erinnerungen bannen können. Indem er die in seinem ganzen Leben errungene Willenskraft zusammenraffte, ritt Damon schließlich vorwärts. Eduin hielt sich an seiner Seite.

»Ihr erweist uns Gnade, Verwandte«, sagte er ernst und verbeugte sich im Sattel. »Es ist für eine Reise in den Bergen spät im Jahr. Wohin wollt ihr?«

Leonie erwiderte die Verbeugung mit der steifen Förmlichkeit einer Comyn-Dame in Gegenwart von Außenseitern.

»Ich grüße dich, Damon. Ich reite nach Armida – unter anderem, um an deiner Hochzeit teilzunehmen.«

»Es ist mir eine Ehre.« Die Reise von Arilinn war lang und zu keiner Zeit des Jahres ohne Mühsal. »Aber sicher ist es nicht nur meiner Hochzeit wegen, Leonie?«

»Nicht nur. Doch die Wahrheit ist, dass ich dir alles Glück wünsche, Cousin.«

Zum ersten Mal trafen sich – ganz kurz – ihre Augen, aber Damon blickte weg. Leonie Hastur, Lady von Arilinn, war eine hoch gewachsene Frau, schmal gebaut und mit dem flammend roten Haar der Comyn, das jetzt unter der Kapuze ihres Reitmantels einen Anflug von Grau zeigte. Sie war vielleicht einmal sehr schön gewesen; Damon würde nie im Stande sein, darüber ein Urteil abzugeben.

»Callista sandte mir die Nachricht, dass sie von ihrem Gelübde gegenüber dem Turm entbunden werden und heiraten möchte.« Leonie seufzte. »Ich bin nicht mehr jung; ich hatte mir gewünscht, mein Amt als Bewahrerin niederzulegen, wenn Callista ein wenig älter geworden sei und es hätte übernehmen können.«

Damon verbeugte sich schweigend. Das war ausgemacht gewesen, seit Callista als Mädchen von dreizehn in den Arilinn-Turm gekommen war. In Callistas erstem Jahr dort war Damon Psi-Techniker gewesen, und als solcher hatte er sein Urteil abgeben müssen, ob man sie zur Bewahrerin ausbilden solle.

»Doch jetzt möchte sie uns verlassen, um zu heiraten. Sie hat mir berichtet, dass ihr Liebhaber ...« – Leonie benutzte die höfliche Endung, die dem Wort die Bedeutung »versprochener Gatte« gab – «... ein Außenweltler ist, einer der Terraner, die bei Thendara ihren Raumhafen gebaut haben. Was weißt du über die Sache, Damon? Mir kommt sie verstiegen, phantastisch vor wie eine alte Ballade. Wie hat sie diesen Terraner überhaupt kennen gelernt? Sie nannte mir seinen Namen, aber ich habe ihn vergessen ...«

»Andrew Carr«, sagte Damon. Sie ritten Seite an Seite auf Armida zu. Ihre Begleiter und Leonies Dame folgten in achtungsvoller Entfernung. Die große rote Sonne hing niedrig am Himmel und warf trübes Licht auf die Gipfel der Kilghardberge hinter ihnen. Im Norden begannen sich Wolken zu sammeln, und ein kühler Wind blies von den fernen, unsichtbaren Höhen der Hellers herab.

»Ich bin mir auch heute noch nicht sicher, wie alles begann«, antwortete Damon nach einer Pause. »Ich weiß nur, als Callista von den Katzenwesen entführt wurde und voller Angst als Gefangene allein in den dunklen Höhlen von Corresanti lag, konnte keiner ihrer Verwandten ihren Geist erreichen.«

Leonie erschauerte und zog sich die Kapuze fester ums Gesicht. »Das war eine schreckliche Zeit.«

»Das war es. Und irgendwie geschah es, dass Andrew Carr, dieser Terraner, eine gedankliche Verbindung zu ihr herstellte. Bis zu diesem Tag kenne ich nicht alle Einzelheiten, aber er allein konnte ihr in ihrem Kerker Gesellschaft leisten, er allein konnte ihren Geist erreichen. Und so kamen sie sich mit Herz und Verstand näher, obwohl sie sich im Fleisch niemals gesehen hatten.«

Leonie seufzte. »Ja, solche Bande können stärker sein als die Bande des Fleisches. Und so lernten sie sich lieben, und als sie gerettet worden war, trafen sie sich –«

»Das meiste hat Andrew zu ihrer Rettung getan«, berichtete Damon, »und jetzt haben sie sich einander angelobt. Glaub mir, Leonie, das ist keine Phantasterei, die aus der Furcht eines eingekerkerten Mädchens oder dem Begehren eines einsamen Mannes geboren wurde. Callista erzählte mir, bevor ich ins. Feld zog, sie werde, sollte sie ihres Vaters und deine Zustimmung nicht erringen können, Armida und Darkover verlassen und mit Andrew zu seiner Welt gehen.«

Leonie schüttelte kummervoll den Kopf. »Ich habe die terranischen Schiffe auf dem Raumhafen bei Thendara liegen sehen. Und mein Bruder Lorill, der dem Rat angehört und mit den Terranern zu tun hat, sagt, sie scheinen in jeder Beziehung Menschen wie wir zu sein. Aber eine Ehe, Damon? Ein Mädchen von diesem Planeten, ein Mann von irgendeinem anderen? Selbst wenn Callista keine Bewahrerin wäre und kein Gelübde abgelegt hätte, wäre eine solche Ehe befremdlich und ein Risiko für beide.«

»Ich glaube, das wissen sie, Leonie. Und trotzdem sind sie entschlossen.«

»Ich habe immer die sehr starke Überzeugung gehabt«, meinte Leonie mit einer Stimme, die wie von weit her klang, »dass eine Bewahrerin niemals heiraten sollte. So habe ich mein ganzes Leben lang empfunden, und danach habe ich gelebt. Wäre dem nicht so gewesen ...« Sie sah kurz zu Damon hoch, und der Schmerz in ihrer Stimme erschreckte ihn. Er versuchte, sich dagegen abzuschirmen. Ellemir, dachte er, als sei der Name ein Schutzzauber. Doch Leonie fuhr seufzend fort: »Trotzdem, ich würde Callista nicht zwingen, sich nach meinem Glauben zu richten, wenn sie von tiefer Liebe zu einem Mann ihres eigenen Clans und ihrer eigenen Kaste erfüllt wäre. Dann würde ich sie bereitwillig freigeben. Nein ...« Leonie unterbrach sich. »Nein, nicht bereitwillig, weil ich weiß, welche Schwierigkeiten auf eine Frau warten, die als Bewahrerin eines Matrix-Kreises ausgebildet und konditioniert ist. Nicht bereitwillig. Aber freigegeben hätte ich sie, und da mir dann nichts anderes übrig bliebe, hätte ich sie dem Bräutigam mit Anstand übergeben. Aber wie kann ich sie einem Fremden übergeben, einem Mann von einer anderen Welt, der nicht einmal auf unserm Boden, unter unserer Sonne geboren ist? Der Gedanke erfüllt mich mit eisigem Entsetzen, Damon! Mich schaudert es dabei.«

Langsam antwortete Damon: »So habe ich anfangs auch empfunden. Aber Andrew ist kein Fremder. Mein Verstand weiß, dass er auf einer anderen Welt geboren ist, die um die Sonne eines anderen Himmels kreist, um einen fernen Stern, der von hier aus nicht einmal ein Lichtpünktchen an unserm Himmel ist. Dennoch ist er nicht unmenschlich, ist kein Ungeheuer, das sich als Mensch maskiert. Er ist in Wahrheit einer von unserer eigenen Art, ein Mann wie ich. Er mag uns fremd sein, aber fremdartig ist er nicht. Ich sage dir, Leonie, ich weiß es. Sein Geist ist mit meinem verbunden gewesen.« Unbewusst legte Damon seine Hand auf den Matrix-Kristall, den auf Psi-Kräfte reagierenden Stein, den er in einem isolierenden Beutel um den Hals trug. Er setzte hinzu: »Er hat Laran

Leonie sah ihn erschreckt, ungläubig an. Laran war die Psi-Kraft, die die Comyn der Domänen über das gewöhnliche Volk hinaushob, die erbliche Fähigkeit, die in das Comyn-Blut hineingezüchtet worden war. »Laran!«, rief sie beinahe zornig aus. »Das kann ich nicht glauben.«

»Glauben oder Unglauben ändert eine einfache Tatsache nicht, Leonie«, sagte Damon. »Ich habe Laran gehabt, seit ich ein Junge war, ich bin in einem Turm ausgebildet, und ich sage dir, dieser Terraner hat Laran. Ich habe meinen Geist mit dem seinen zusammengeschlossen, und ich versichere dir, er unterscheidet sich in nichts von einem Mann unserer eigenen Welt. Es gibt keinen Grund, Callistas Wahl mit Entsetzen oder Abscheu zu betrachten. Er ist ein Mensch wie wir.«

Leonie sagte: »Und er ist dein Freund.«

Damon nickte. »Mein Freund. Und um Callista zu retten, schlossen wir uns zusammen – durch die Matrix.« Es war nicht nötig, mehr zu sagen. Es war das stärkste bekannte Band, stärker als Blutsverwandtschaft, stärker als das Band zwischen Liebenden. Es hatte Damon und Ellemir zusammengebracht, und ebenso Andrew und Callista.

Leonie seufzte. »Ist das so? Dann nehme ich an, ich muss es akzeptieren, mögen seine Geburt und seine Kaste sein, was sie wollen. Da er Laran hat, ist er ein passender Gatte, wenn irgendein lebender Mann überhaupt ein passender Gatte für eine als Bewahrerin ausgebildete Frau sein kann.«

»Manchmal vergesse ich, dass er keiner von uns ist«, gestand Damon. »Und manchmal wieder kommt er mir merkwürdig, beinahe fremdartig vor, aber der Unterschied ist allein in den Sitten und in der Kultur begründet.«

»Auch das kann einen großen Unterschied bedeuten«, entgegnete Leonie. »Ich denke daran, wie Melora Aillard von Jalak von Shainsa entführt wurde und was sie zu erdulden hatte. Es hat noch nie eine Ehe zwischen den Domänen und den Trockenstädten ohne Tragödie gegeben. Und ein Mann von einer anderen Welt und einer anderen Sonne muss uns noch ferner stehen.«

»Dessen bin ich mir nicht so sicher«, meinte Damon. »Auf jeden Fall ist Andrew mein Freund, und ich werde seine Werbung unterstützen.«

Leonie sank im Sattel zusammen. »Du würdest mit einem Unwürdigen weder Freundschaft schließen noch dich mit ihm durch eine Matrix verbinden. Aber selbst wenn alles, was du sagst, wahr ist, wie kann eine solche Heirat etwas anderes als eine Katastrophe sein? Selbst wenn er einer von uns wäre und voll begriffe, welchen Einfluss der Turm auf Leib und Seele einer Bewahrerin hat, wäre es nahezu unmöglich. Hättest du so viel gewagt?«

Damon antwortete nicht gleich. Sie konnte nicht gemeint haben, was er dachte.

Man lebte nicht mehr in den Tagen vor dem Zeitalter des Chaos, als die Bewahrerinnen verstümmelt, ja sogar zu Neutren, zu weniger als Frauen gemacht wurden. O ja, Damon wusste, Bewahrerinnen wurden immer noch unter schrecklicher Disziplin dazu erzogen, ein von den Männern abgesondertes Leben zu führen. Dazu wurden in Körper und Gehirn Reflexe eingebaut. Aber verändert wurden Körper und Gehirn nicht mehr. Und bestimmt wusste Leonie nicht... andernfalls, dachte Damon, wäre er der eine Mann gewesen, dem sie jene Frage niemals gestellt hätte. Sicher war das in aller Unschuld geschehen, sicher wusste sie es nicht.

Er wappnete sich gegen Leonies Unschuld, er zwang sich, sie anzusehen und mit ruhiger Stimme zu sagen: »Mit Freuden hätte ich es gewagt, Leonie, wenn ich geliebt hätte, wie Andrew liebt.«

Sosehr er sich mühte, fest und leidenschaftslos zu sprechen, teilte sich etwas von seinem inneren Kampf Leonie doch mit. Sie blickte auf, schnell und nur für eine Sekunde oder weniger. Ihre Augen trafen sich, und Leonie wandte ihre ab.

Ellemir, erinnerte Damon sich verzweifelt. Ellemir, meine Liebste, meine versprochene Frau. Aber seine Stimme war ruhig. »Versuche, Andrew ohne Vorurteil gegenüberzutreten, Leonie, und du wirst feststellen, er ist ein Mann, dem du Callista bereitwillig zur Ehe geben kannst.«

Leonie hatte ihre Selbstbeherrschung zurückgewonnen. »Ich will deinem Rat gern folgen, Damon. Aber auch wenn alles, was du sagst, wahr ist, widerstrebt es mir trotzdem.«

»Ich weiß.« Damon blickte die Straße entlang. Sie waren jetzt in Sichtweite der großen Eingangstore von Armida, dem Erbsitz der Domäne Alton. Zu Hause, dachte er, und Ellemir wartet auf mich. »Aber auch wenn alles, was du sagst, Leonie, wahr ist, wüsste ich nicht, was wir tun könnten, um Callista an der Heirat zu hindern. Sie ist kein törichtes junges Mädchen, das sich einer Schwärmerei hingibt. Sie ist eine erwachsene Frau, im Turm ausgebildet, tüchtig, daran gewöhnt, ihren eigenen Willen zu haben. Ich bin überzeugt, sie wird ihren Willen auch durchsetzen, ohne Rücksicht auf uns alle.«

Leonie seufzte. »Ich möchte sie nicht mit Gewalt zurückholen, wenn sie nicht will. Die Bürde einer Bewahrerin ist zu schwer, um sie ohne innere Zustimmung zu tragen. Ich habe sie ein Leben lang getragen, ich weiß Bescheid.« Diese Bürde hatte sie müde gemacht, lastete auf ihr. »Aber an Bewahrerinnen kommt man nicht leicht. Wenn ich sie für Arilinn retten kann, dann, Damon, weißt du, dass ich sie retten muss.«

Damon wusste es. Die alten Psi-Gaben der Sieben Domänen, die hunderte oder tausende von Jahren lang in den Genen der Comyn-Familien herangereift waren, verflüchtigten sich jetzt, starben aus. Telepathen waren seltener als je zuvor. Es verstand sich nicht mehr von selbst, dass die Söhne und Töchter der direkten Nachkommen jeder Domäne die ererbte Psi-Kraft des betreffenden Hauses hatten. Und viele legten gar keinen Wert mehr darauf. Damons älterer Bruder, Erbe der Ridenow-Familie zu Serrais, hatte kein Laran. Damon selbst war der Einzige der Brüder, der Laran in voller Stärke besaß, und er war deswegen in keiner Weise besonders geehrt worden. Im Gegenteil, seiner Arbeit im Turm wegen hatten seine Brüder ihn verachtet, als sei er kein ganzer Mann. Es war schwer, Telepathen zu finden, die der Turmarbeit gewachsen waren. Einige der alten Türme waren geschlossen worden und standen dunkel. Dort gab es keinen Unterricht, keine Übungen, keine Arbeit mit den alten Psi-Wissenschaften von Darkover mehr. Außenseiter, solche mit nur wenigen Tropfen Comyn-Blut, waren zu den geringeren Türmen zugelassen worden, obwohl Arilinn sich an die alten Sitten hielt und nur jene aufnahm, die nahe Blutsverwandte der Domänen waren. Und wenige Frauen mit der Kraft, der Psi-Gabe, dem Durchhaltevermögen, konnten gefunden werden. Dazu mussten sie den Mut und den Willen haben, beinahe alles zu opfern, was einer Frau von den Domänen das Leben lebenswert machte, mussten sich der schrecklichen Disziplin der Bewahrerinnen unterwerfen. Wen würden sie finden, um Callistas Platz neu zu besetzen?

Also führten beide Wege zur Tragödie. Arilinn musste eine Bewahrerin verlieren – oder Andrew eine Frau, Callista einen Mann. Damon seufzte tief und sagte: »Ich weiß, Leonie«, und schweigend ritten sie auf die großen Tore von Armida zu.

2

Andrew Carr, der sich im äußeren Hof von Armida aufhielt, sah die sich nähernden Reiter. Er rief Stallknechte und Diener herbei, die sich um die Pferde kümmern sollten, und ging in die Haupthalle, um ihr Kommen anzukündigen.

»Damon kommt zurück!«, rief Ellemir aufgeregt und lief in den Hof hinaus. Andrew folgte langsamer. Callista hielt sich dicht an seiner Seite.

»Es ist nicht Damon allein«, sagte sie, und Andrew wusste, ohne zu fragen, dass sie ihr Psi-Wahrnehmungsvermögen benutzt hatte, um die Identität der Reiter festzustellen. Er war jetzt daran gewöhnt, und es erschien ihm nicht mehr unheimlich oder Angst einflößend.

Sie lächelte zu ihm auf, und von neuem war Andrew ergriffen von ihrer Schönheit. Er neigte dazu, diese Schönheit zu vergessen, wenn er sie nicht ansah. Bevor er das erste Mal seine Augen auf sie richtete, hatte er ihren Geist und ihr Herz, ihre Sanftheit, ihren Mut, ihr schnelles Verstehen kennen gelernt. Er wusste ihren Wert, ihre Fröhlichkeit und ihren Witz schon zu schätzen, als sie noch allein und verängstigt in der Dunkelheit von Corresanti eingekerkert war.

Aber sie war auch schön, sehr schön, eine schlanke, lang-gliedrige junge Frau mit kupferigem Haar, das ihr in losen Zöpfen über den Rücken hing, und grauen Augen unter geraden Brauen. Während sie mit ihm dahinschritt, stellte sie fest: »Es ist Leonie, die Leronis von Arilinn. Sie ist gekommen, wie ich sie gebeten habe.«

Er nahm ihre Hand leicht in seine, obwohl das immer ein Risiko war. Er wusste, sie war durch Methoden, die er sich nicht einmal vorstellen konnte, darauf konditioniert worden, auch die leiseste Berührung zu vermeiden. Aber diesmal ließ sie ihre Hand, wenn sie auch bebte, in der seinen liegen. Das schwache Zittern verriet, dass in ihrem Inneren, unter der anerzogenen Ruhe, ein Sturm sie schüttelte. Andrew konnte auf den schlanken Händen und Handgelenken eine Anzahl winziger Narben erkennen, die nach verheilten Schnitten oder Brandwunden aussahen. Einmal hatte er sie danach gefragt. Sie hatte es mit einem Schulterzucken abgetan. »Sie sind alt und lange verheilt. Sie waren ... Stützen für mein Gedächtnis.« Sie war nicht bereit gewesen, weiter darüber zu sprechen, aber er konnte erraten, was sie meinte, und von neuem schüttelte ihn das Entsetzen. Würde er diese Frau jemals richtig kennen lernen?

»Ich dachte, du seist die Bewahrerin von Arilinn, Callista«, bemerkte er nun.

»Leonie war schon Bewahrerin, bevor ich geboren wurde. Ich wurde von Leonie ausgebildet, um eines Tages ihren Platz einzunehmen. Ich hatte bereits begonnen, als Bewahrerin zu arbeiten. Ihre Sache ist es, mich freizugeben, wenn sie will.« Wieder war da das schwache Erschauern, der schnell zurückgezogene Blick. Welche Macht hatte diese fürchterliche alte Frau über Callista?

Andrew sah, dass Ellemir auf das Tor zurannte. Wie ähnlich war sie Callista – die gleiche hoch gewachsene Schlankheit, das gleiche kupferig-goldene Haar, die gleichen grauen Augen, dunklen Wimpern, geraden Brauen – und doch unterschied sich Ellemir so stark von ihrer Zwillingsschwester! Mit einer Traurigkeit, so tief, dass er sie nicht als Neid erkannte, beobachtete Andrew Ellemir, die zu Damon eilte. Er sah ihn aus dem Sattel gleiten und sie auffangen, sie umarmen und lange küssen. Würde Callista jemals so frei werden?

Callista führte ihn zu Leonie, der einer ihrer Begleiter vorsichtig aus dem Sattel geholfen hatte. Callistas schlanke Finger lagen immer noch in seiner Hand als Geste des Trotzes, als absichtlicher Bruch des Tabus. Er wusste, sie wollte, dass Leonie es sah. Damon stellte der Bewahrerin gerade Ellemir vor.

»Ihr erweist uns Gnade, meine Dame. Willkommen in Armida.«

Leonie schob ihre Kapuze zurück, und Andrew sah sie forschend an. Da er sich auf eine grässliche, herrschsüchtige alte Schachtel gefasst gemacht hatte, war es ein Schock für ihn, nur eine zarte, dünne, alternde Frau zu erblicken, deren Augen unter den dunklen Wimpern immer noch liebreizend waren und deren Gesicht Spuren früherer bemerkenswerter Schönheit trug. Sie sah nicht streng oder einschüchternd aus. Freundlich lächelte sie Ellemir an.

»Du siehst Callista sehr ähnlich, Kind. Deine Schwester hat mich gelehrt, dich zu lieben; ich freue mich, dich endlich kennen zu lernen.« Ihre Stimme war hell und klar und sehr weich. Dann wandte sie sich Callista zu und streckte ihr begrüßend die Hände entgegen.

»Geht es dir wieder gut, Chiya?« Es war eine ziemliche Überraschung, dass irgendwer die hoch gewachsene Callista »kleines Mädchen« nannte. Callista ließ Andrews Hand los. Ihre Fingerspitzen streiften nur eben die Leonies.

»O ja, ganz gut«, antwortete sie lachend, »aber ich schlafe immer noch wie ein Wickelkind mit einem Licht in meinem Zimmer, damit ich nicht in der Dunkelheit aufwache und glaube, wieder in den verfluchten Höhlen der Katzenwesen zu sein. Schämst du dich meiner, Verwandte?«

Andrew verbeugte sich förmlich. Er kannte die Sitten von Darkover gut genug, dass er die Leronis nicht direkt ansah, aber er fühlte Leonies graue Augen auf sich ruhen. Callista sagte mit ein wenig Herausforderung in der Stimme: »Das ist Andrew, mein versprochener Gatte.«

»Still, Chiya, du hast noch nicht das Recht, so zu sprechen«, verwies Leonie sie. »Wir wollen später darüber reden. Jetzt muss ich erst meinen Gastgeber begrüßen.«

So an ihre Pflichten als Gastgeberin erinnert, ließ Ellemir Damons Hand los und führte Leonie die Stufen hinauf. Andrew und Callista folgten. Doch als er nach Callistas Hand fasste, entzog sie sie ihm – nicht absichtlich, sondern mit langjähriger geistesabwesender Gewohnheit. Er merkte, sie wusste nicht einmal mehr, dass er da war.

Die Große Halle von Armida war ein enormer Raum mit Steinfußboden, in der alten Art mit eingebauten Bänken entlang der Wände und ehrwürdigen Bannern und Waffen über dem großen steinernen Kamin eingerichtet. Am einen Ende der Halle war ein Tisch fest eingemauert. In seiner Nähe lag Dom Esteban Lanart, Lord Alton, von Kissen gestützt auf einem fahrbaren Bett. Er war ein großer, schwerer Mann mit breiten Schultern und dichtem, lockigem rotem Haar, das reichlich mit Grau gesprenkelt war. Als die Gäste eintraten, befahl er gereizt: »Dezi, Junge, richte mich für meine Gäste hoch.« Ein junger Mann, der auf einer der Bänke saß, sprang auf, stopfte ihm geschickt Kissen in den Rücken und hob den alten Mann in sitzende Position. Damon hatte anfangs gedacht, der Junge sei einer von Estebans Leibdienern, doch dann bemerkte er die starke Familienähnlichkeit zwischen dem alten Comyn-Lord und dem Jüngling, der ihm behilflich war.

Er war noch ein Junge, dünn wie eine Peitschenschnur, mit lockigem rotem Haar und Augen, die eher blau als grau waren, aber die Gesichtszüge waren beinahe die von Ellemir.

Er gleicht Coryn, dachte Damon. Coryn war Dom Estebans erstgeborener Sohn gewesen, von seiner längst toten ersten Frau. Viele Jahre älter als Ellemir und Callista, war er Damons geschworener Freund geworden, als sie beide junge Burschen waren. Aber Coryn war seit vielen Jahren tot und begraben. Und er war nicht alt genug geworden, um einen Sohn in diesem Alter zu hinterlassen – nicht ganz alt genug. Trotzdem ist der Junge ein Alton, dachte Damon. Aber wer ist er? Ich habe ihn noch nie gesehen!

Leonie schien ihn jedoch sofort wieder zu erkennen. »Dann hast du also einen Platz für dich gefunden, Dezi?«

Der Junge antwortete mit gewinnendem Lächeln: »Lord Alton hat nach mir geschickt, damit ich mich hier nützlich mache, meine Dame.«

Esteban Lanart sagte: »Sei gegrüßt, Verwandte. Verzeih mir, dass ich mich nicht erheben kann, um dich in meiner Halle willkommen zu heißen. Du erweist mir Gnade, Domna.« Er bemerkte, in welche Richtung Damon blickte, und setzte ungezwungen hinzu: »Ich hatte vergessen, dass du unsern Dezi noch nicht kennst. Sein Name ist Deziderio Leynier. Es wird angenommen, dass er der Nedestro-Sohn eines meiner Cousins ist, doch der arme Gwynn starb, bevor er sich dazu aufgerafft hatte, ihn zu legitimieren. Wir haben ihn auf Laran getestet – er war ein paar Monate in Arilinn –, aber als ich jemanden brauchte, der sich ständig um mich kümmert, fiel Ellemir ein, dass er inzwischen nach Hause gekommen war, und so schickte ich nach ihm. Er ist ein guter Junge.«

Damon war empört. Wie gleichgültig, fast brutal hatte Dom Esteban in Dezis Anwesenheit von seinem Status als Bastard und armer Verwandter gesprochen! Dezis Mund war schmal geworden, aber er blieb ruhig, und Damon fühlte Sympathie für ihn. Also hatte der junge Dezi auch erfahren, was es bedeutet, erst die Wärme und Geborgenheit eines Turmkreises kennen zu lernen und dann ausgestoßen zu werden!

»Verdammt noch mal, Dezi, das sind genug Kissen! Hör auf, mich zu betütteln!«, befahl Esteban. »Ja, Leonie, das ist keine Art, dich nach so vielen Jahren unter meinem Dach willkommen zu heißen. Aber du musst den guten Willen für die Tat nehmen und dich als gebührend mit Verbeugungen und allen Höflichkeiten bedacht betrachten, wie ich sie dir zukommen lassen müsste und zukommen lassen würde, wenn ich mich von diesem verfluchten Bett erheben könnte!«

»Ich brauche keine Höflichkeiten, Cousin.« Leonie trat näher. »Es tut mir nur Leid, dich so wieder zu finden. Ich hatte gehört, dass du verwundet worden bist, aber ich wusste nicht, wie ernst es war.«

»Das wusste ich auch nicht. Es war eine kleine Wunde – ich habe schon tiefere und schmerzhaftere von einem Angelhaken gehabt –, aber klein oder groß, das Rückgrat war verletzt, und wie mir gesagt wird, werde ich nie wieder gehen können.«

Leonie meinte: »Das ist oft so bei Rückgratverletzungen. Du hast noch Glück, dass du deine Hände gebrauchen kannst.«

»O ja, ich glaube auch. Ich kann in einem Sessel sitzen, und Damon hat eine Stütze für meinen Rücken erfunden, so dass ich nicht umfalle wie ein Baby, das noch zu klein für sein hohes Stühlchen ist. Und Andrew hilft mir, das Gut und den Viehbestand zu beaufsichtigen, während Dezi Botengänge für mich erledigt. Ich kann immer noch von meinem Sessel aus regieren, und so bin ich wohl glücklich zu nennen, wie du sagst. Aber ich war Soldat, und jetzt ...« Er brach ab und zuckte die Schultern. »Damon, mein Junge, wie ist dein Feldzug verlaufen?«

»Da gibt es wenig zu erzählen, Schwiegervater«, antwortete Damon. »Die Katzenmänner, die nicht tot sind, haben sich in ihre Wälder geflüchtet. Ein paar leisteten noch einmal Widerstand, aber sie starben. Sonst war nichts.«

Esteban lachte trocken. »Man erkennt gleich, dass du kein Soldat bist, Damon! Auch wenn ich Grund zu der Annahme habe, dass du kämpfen kannst, wenn du musst. Eines Tages, Leonie, wird man überall erzählen, wie Damon mein Schwert gegen die Katzenmänner nach Corresanti trug, im Geist durch die Matrix vereinigt – aber dafür ist ein anderes Mal Zeit. Ich glaube, wenn ich jetzt Einzelheiten über den Feldzug und die Schlachten wissen will, muss ich Eduin fragen; er weiß, was ich hören möchte! Und du, Leonie, bist du hergekommen, um mein törichtes Mädchen wieder zur Vernunft zu bringen und sie nach Arilinn mitzunehmen, wo sie hingehört?«

»Vater!«, protestierte Callista. Leonie lächelte schwach.

»So leicht ist das nicht, Cousin, und ich bin überzeugt, das weißt du auch.«

»Verzeih mir, Verwandte.« Esteban blickte betreten drein. »Ich lasse es an Gastfreundlichkeit fehlen. Ellemir wird dir deine Räume zeigen – verdammt sei das Mädchen, wohin ist sie verschwunden?« Er hob seine Stimme zu dem Ruf: »Ellemir!«

Ellemir trat hastig durch die Tür an der Rückseite. Sie wischte sich die mehlbestäubten Hände an ihrer langen Schürze ab. »Die Mädchen riefen mich, ihnen beim Backen zu helfen, Vater – sie sind jung und unausgebildet. Verzeiht mir, Verwandte.« Sie schlug die Augen nieder und versteckte ihre mehligen Hände. Leonie sagte freundlich: »Entschuldige dich doch nicht dafür, eine gewissenhafte Haushälterin zu sein, mein Mädchen.«